Wenn die Frau Mensch wird. Campe, Holst und Hippel im Vergleich - Andrea Gerhardt - E-Book

Wenn die Frau Mensch wird. Campe, Holst und Hippel im Vergleich E-Book

Andrea Gerhardt

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Beschreibung

Die drei Texte "Väterlicher Rat für meine Tochter" (Campe), "Über die Bestimmung und Bildung des Weibes zur höheren Geistesbildung" (Holst) und "Über die bürgerliche Verbesserung der Weiber" (Hippel) werden ausführlich miteinander verglichen Eine besondere Aufmerksamkeit liegt dabei auf den verwendeten sprachlichen Mitteln, den textimmanenten Beleg- und Begründungsstrukturen, sowie auf der Argumentation insgesamt. Die gewählte Untersuchungsmethode fokussiert dabei die innere Wirksamkeit der Texte und damit ihre Überzeugungskraft. Auf diese Weise kann gezeigt werden, warum sich das Rollenbild der Hausfrau, Gattin und Mutter um das Jahr 1800 schließlich etablieren konnte und warum die "Gegenstimmen" zu diesem Geschlechtermodell kaum Gehör finden konnten.

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Andrea Gerhardt (*1971) studierte Erziehungswissenschaften, Wirtschafts- und Sozialgeographie und Soziologie an der Universität Kassel. Von 2003 bis 2009 arbeitete sie dort als Wissenschaftliche Bedienstete und Dozentin am Fachbereich 05, Gesellschaftswissenschaften. Die Dissertationsschrift zur Erlangung des akademischen Grades eines Doktors der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften (Dr. rer. pol.) erschien 2007 unter dem Titel ‚Ex-klusive Orte und normale Räume’ – Versuch einer soziotopologischen Studie am Beispiel des öffentlichen Friedhofs.

Nachdem die Autorin 2011 den pädagogischen Vorbereitungsdienst für das Lehramt an Gymnasien absolviert hatte, arbeitete sie zunächst an unterschiedlichen Schulen als Lehrerin im Angestelltenverhältnis, bis sie 2014 eine Stelle als Studienrätin an einem Gymnasium in Niedersachsen antrat.

Inhalt

Einleitung

1.1 Meinungsbildung und „überzeugende Rede“. Zur Wahl der Untersuchungsmethode

1.2 Zum Forschungsstand

1.3 Problematische Sachverhalte und Vernunftgründe. Zur Zielsetzung

1.4 Soziologisch-Historische Positionierung. Zur Auswahl der Texte

Joachim Heinrich Campe – Zur Person

2.1 Väterlicher Rat für meine Tochter. Ein Gegenstück zum Theophon

2.2 Die zweifache Bestimmung der Frau

2.3 Die Macht der Machtlosigkeit – „Eiche und Efeu“

2.4 Die Kenntnis vom Menschen

2.5 Gesellschaftskritik im Väterlichen Rat

2.6 „Tue Recht und scheue niemand“ – Sprachliche Aspekte und Überzeugungsstrategien

2.7 Einschätzung zur Wirksamkeit des Campe-Textes

Amalia Holst – Zur Person

3.1 Amalia Holst: Über die Bestimmung des Weibes zur höheren Geistesbildung (1802)

3.2 Zuerst ist die Frau Mensch. Das Gleichheitspostulat bei Amalia Holst

3.3 Bestehende Ungleichheiten. Das Faustrecht des Stärkeren

3.4 Der Einfluss von Frauen auf die Menschheit. Das zentrale Belegmuster des Textes

3.5 Zwischen Rousseau-Kritik und einer Angleichung an Campe: Die Auseinandersetzung mit Opponenten

3.6. Einschätzung zur Wirksamkeit des Holst-Textes

Gottlieb von Hippel – Zur Person

4.1 Theodor Gottlieb von Hippel: Über die bürgerliche Verbesserung der Weiber (1793) und Nachlass über weibliche Bildung (1801)

4.2 Ursprung und Mechanismen der Macht und der Überlegenheit. Hippels implizite Machttheorie

4.3 Die Überhöhung der weiblichen Natur

4.4 Auswirkungen des postulierten Gleichheitsanspruchs

4.5 Bildung und Erziehung

4.6 Die Mühsal des Verstehens: Zur Textgestaltung bei Hippel

4.7 Einschätzung zur Wirksamkeit des Hippel-Textes

Bildung befördert die Vernunft. Zusammenfassung und Ausblick

Literatur und Quellen

Primärliteratur

Sekundärliteratur

Literatur zur Argumentationsanalyse und Buchwirkungsforschung

Zeitschriftenartikel

1. Einleitung

In der vorliegenden Arbeit möchte ich drei vielzitierte Texte aus den Anfängen der Diskussion um weibliche Bildung neu lesen und interpretieren, da ich der Meinung bin, dass sie bisher vorwiegend unter dem Aspekt der angeblich von Männern geplanten und konstruierten Unterdrückung der Frau und dem gesellschaftlichen Machterhalt der Männer zur Kenntnis genommen worden sind. Wenn den Autoren Rousseau, Campe, und anderen unterstellt wird, es gehe ihnen in ihren Schriften „um eine möglichst effiziente und stringente Beantwortung der Frage der Unterlegenheit der Frau gegenüber dem Mann“,1 dann wird die m.E. doch beträchtliche Mühe unterschätzt, die sich gerade Campe mit der Begründung seines Geschlechterrollen- und Gesellschaftsentwurfes gemacht hat. Der Aspekt der Unterdrückung der Frau durch den Mann ist zwar unbestritten ein wichtiger Aspekt, verkürzt aber die Betrachtung auf eine Gleichsetzung von Mann und Täter. Der Frau kommt dann ausschließlich die Opferrolle zu. Aus einer solchen Perspektive kann aber der soziologische Prozess der Bildung einer ganzen Gesellschaft nur unzureichend abgebildet werden. Auch eine Modifizierung des Täter-Opfer-Modells, wie sie beispielsweise von Viktoria Schmidt-Linsenhoff vorgeschlagen wird, kann keine wirkliche Forschungsalternative sein, da hier nun die „Analyse der Mittäterschaft zum Zentrum feministischer Bildung und Wissenschaft“2 gemacht wird. Schmidt-Linsenhoff konstatiert zwar eine relativierte Sicht auf den „mehr oder weniger brachialen ‚Ausschluss’ der Frauen aus der ‚Männergesellschaft’ und das Bild der Frauen als unschuldiges, ohnmächtiges Opfer“,3 festigt in der Folge ihrer Ausführungen jedoch das Täter-Opfer-Modell mit der Darstellung kollaborierender Frauen, ohne sich ernsthaft die Frage zu stellen, was diese Frauen von der Richtigkeit des hierarchischen Geschlechtermodells überzeugt haben könnte. Ich möchte einen Beitrag dazu leisten, aus den Texten selbst heraus ein Verständnis dafür zu entwickeln, warum manche Ideen oder auch Rollenvorbilder einen größeren Reiz auf Leserinnen und Leser ausübten als andere und damit eine stärkere Wirkung oder Wirksamkeit erzielen konnten.

Ich gehe im Folgenden davon aus, dass es sich bei den drei hier behandelten Texten um argumentative Texte handelt, die sich mit den Mitteln der Argumentationsanalyse unter der Zielsetzung, die Art und Form der Absicherung der vertretenen Thesen, d.h. ihre Begründungsstrategie nachzuvollziehen, untersuchen lassen. Auch die sehr frühen Positionen zum Thema der weiblichen Bildung waren inhaltlich differenziert und fielen nicht nur in zwei große, einander diametral gegenüberstehende Positionen auseinander. So stellt beispielsweise Elke Spitzer fest: „Das Bewusstsein für die zum Teil erhebliche Differenz zwischen den Positionen ist noch kaum ausgebildet”.4 Zudem enthalten die Schriften, vornehmlich die von Campe, Holst und Hippel, Grundannahmen und argumentative Begründungsstrategien, die im Laufe des 19. Jahrhunderts nicht einheitlich und im ursprünglichen Zusammenhang rezipiert und fortgeführt worden sind. Diese Brüche und Diskontinuitäten sichtbarer zu machen, kann neue Erkenntnisse bezüglich des weiteren Diskurses über das Geschlechterverhältnis nach 1848 bringen.

Ich gehe davon aus, dass die überzeugende Rede im Zuge der Ereignisse nach der Französischen Revolution einen zentralen Stellenwert einzunehmen beginnt, da gerade im deutschsprachigen Raum um ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Reform, also notwendiger gesellschaftlicher Erneuerung einerseits und Stabilität von gesellschaftlicher Ordnung andererseits gerungen wird. Beim Etablieren des Bürgerlichen stützt sich die Gesellschaft auf die Grundlagen der Selbstkontrolle gesellschaftlicher Normen – der Einzelne muss wollen, was er soll. Um dies zu erreichen, muss der Einzelne davon überzeugt werden, dass das eine Handeln und Verhalten richtig, im Sinne von erwünscht und damit für die gesamte Gesellschaft nützlich und förderlich ist und das andere falsch, im Sinne von nicht erwünscht und damit schädlich für die Gesellschaft. Damit erhalten die Themen Bildung und Erziehung eine zentrale Position innerhalb dieses Spannungsfeldes des möglichst konfliktfreien Zusammenlebens der Menschen und sozialer Sicherheit, da der Einzelne bei allen Rechten und Freiheiten davon überzeugt werden muss, sich dem Wohl(ergehen) der ganzen Gesellschaft unterzuordnen. Die Bildung sorgt dabei für die nötige rationale Einsicht, die Erziehung sichert die Tradierung bewährter Verhaltensmuster durch Sozialisation – damit also sind zwei zentrale Stabilitätsfaktoren für die Konstitution einer Gesellschaft benannt, die beginnt, sich allmählich nicht mehr auf Obrigkeitsbefehl und gottgewollte Hierarchie zu stützen.

Für das neue Menschenbild war die Frau noch für Rousseau pädagogisch gesehen wenig interessant – der Mann war der Mensch, den es zu bilden und zu erziehen galt. Die Stellung der Frau war abhängig von der des Mannes, dem sie zur allgemeinen Unterstützung, zur Produktion und Versorgung der Nachkommen und zur Unterhaltung lediglich beigeordnet wurde. Ein pädagogisches Interesse an der Frau wird erst da relevant, wo die Frau freiwillig auf ihr prinzipiell zustehende Rechte verzichten soll, um die bisherige Geschlechterordnung zu erhalten (z.B. bei Campe). Das heißt: Sobald die Frau dem Manne in der Eigenschaft des Mensch-Seins gleichgestellt wird, hat sie vom Prinzip her die gleichen Rechte auf ein selbstbestimmtes Leben oder einen eigenen Lebensentwurf. Wenn die Frau Mensch wird, muss sie daher aus eigenen, freien Willen darauf verzichten, die gleichen Rechte einzufordern, die der Mann für sich geltend macht. Um in der Sprache der Zeit zu bleiben: Die Frau hat als Mensch ein Recht auf eine gleichmäßige Entwicklung all ihrer Fähig- und Fertigkeiten.

Ausgehend von verschiedenen Grundannahmen, ergeben sich nun unterschiedliche pädagogische Konsequenzen. Eine erste Grundannahme könnte nun lauten, dass die Frau sich prinzipiell in den meisten ihrer Fähig- und Fertigkeiten vom Mann unterscheidet, so dass die bisherige gesellschaftliche Arbeitsteilung als quasi-natürlich beibehalten werden kann und muss. Eine entsprechende Argumentation ließe sich daher wie folgt skizzieren: Die Frau hat von Natur aus weniger Verstand als der Mann, ist daher auf die Versorgung durch den Mann angewiesen und ihre verminderten geistigen Fähigkeiten legitimieren daher auch seine Vormundschaft über sie. Des Weiteren erhält die Frau ihre natürliche Aufgabe in der Gesellschaft durch die Fähigkeit zur Mutterschaft. In diesem Fall gälte es, die Frau davon zu überzeugen, dass sie, wie Campe es nennt, zu Glückseligkeit nur kommen kann, indem sie ihrer spezifisch „weiblichen Bestimmung“ folgt und der Pädagoge hat dafür zu sorgen, dass sie in der Ausbildung ihrer spezifischen Fähigkeiten und Fertigkeiten alle nötigen Hilfen erhält und schädliche Einflüsse von ihr ferngehalten werden.

Eine zweite Grundannahme könnte besagen, dass die geistigen Fähigkeiten von Frauen denen der Männer gleichrangig sind. Dennoch wird sich die Frau – so die Position von Amalia Holst – immer für ihren „natürlichen Beruf“ der Mutterschaft entscheiden, sofern sie die Möglichkeit dazu hat. Eine Geistesbildung werde sie in der Ausübung dieses Berufes nicht behindern, vielmehr bestehe begründeter Anlass anzunehmen, dass diese Geistesbildung sie dafür sogar weiter qualifiziere. Sie werde, so die Argumentation, klüger haushalten können und sehr viel verständiger auf den Ehemann und die Kinder eingehen können, wenn sie auch ihre geistigen Fähigkeiten entwickelt habe. Pädagogisch gesehen bedeutet dies, dass es keine wirklich schädlichen Einflüsse für die Frau geben kann. Da im Kindesalter ja noch nicht festgestellt werden kann, ob die Frau ihren natürlichen Beruf als Mutter wird ausüben können, müssen ihr die gleichen Inhalte und Arbeitsweisen vermittelt werden, die auch die Knaben lernen. Die junge Frau darf nicht durch väterliches Gebot von etwas abgehalten werden, für das sie sich von sich aus interessiert.

Eine dritte Prämisse formuliert, dass das bestehende Geschlechterverhältnis ein Ergebnis gesellschaftlicher Machtverhältnisse ist, die sich ändern werden, wenn Frauen die gleichen Möglichkeiten zur Entwicklung ihrer Fähig- und Fertigkeiten erhalten wie die Männer. In der Argumentation von Theodor Hippel scheint zwar ebenfalls die Grundannahme durch, dass Frauen über spezifische Fähig- und Fertigkeiten verfügen, diese sind bei ihm allerdings nicht exklusiv auf den privaten Haushalt und die Kindererziehung beschränkt, sondern lassen sich auf alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens übertragen, wenn Frauen die entsprechenden Möglichkeiten dazu erhalten.

Diese Positionen sind nur auf den ersten Blick direkt miteinander vergleichbar, d.h. man kann nicht davon ausgehen, dass die zitierten Autoren, obwohl sie sich inhaltlich durchaus aufeinander beziehen, miteinander über das gleiche Thema diskutieren. Alle drei gehen von unterschiedlichen Grundannahmen aus, von denen aus sich ihre Argumentation entfaltet. Dieser Sachverhalt wird aber erst deutlich, wenn man ihre Positionen und Begründungszusammenhänge auseinander nimmt und damit die bisher oft verschwiegene oder vernachlässigte inhaltliche Differenz aufdeckt.

Aus dieser argumentativen und inhaltlichen Differenz ergeben sich Rückschlüsse auf die normbildende Kraft der Texte und damit auf ihre Wirkung oder Wirksamkeit im Prozess der Konstituierung von Gesellschaft, die ja direkt zusammenhängt mit der Überzeugungskraft, Begründung und Plausibilität eines argumentativen Textes. Nicht nur die Wahrheit einer Aussage überzeugt die Leser, sondern auch die Praktikabilität einer möglichen Umsetzung und die Rhetorik des Vorgetragenen spielen dabei eine Rolle. Plausibel und damit auch überzeugend wird eine Argumentation einmal durch die verwendete Rede, beziehungsweise den Text selbst. Um diesen Aspekt näher beleuchten zu können, wird der Frage der Buchwirkungsforschung: „Was macht das Medium mit den Menschen?“ nachgegangen. Ein besonderes Augenmerk wird dabei auf den Aspekten der inneren Wirkung liegen. Zudem überzeugt eine Argumentation durch die mögliche Relevanz, die die vertretene oder abgelehnte Meinung beziehungsweise Einstellung für das eigene Leben hat. Dabei stellt sich die Frage, ob das besprochene Thema für wichtig oder eben für nicht so wichtig gehalten wird. Erkenntnisse darüber lassen sich aus dem soziologischen, historischen und kulturellen Kontext herleiten. Die präferierte Vorgehensweise könnte als Diskursanalyse bezeichnet werden.

1.1 Meinungsbildung und „überzeugende Rede“. Zur Wahl der Untersuchungsmethode

Die drei von mir zur Untersuchung ausgewählten Texte werden im Verlauf der vorliegenden Arbeit nach dem gleichen Muster befragt. Der Schwerpunkt meiner Untersuchung liegt jedoch nicht in einer Datensammlung technischer historischer Argumente für oder gegen die Mädchen- und Frauenbildung, sondern in der Frage, warum einige Argumentationen offenbar stärkere Wirksamkeit entfaltet haben als andere. Diese Wirksamkeit bezieht sich auf die normierende Funktion normativer Argumente. Es geht in diesem Zusammenhang nicht so sehr um die Identifikation faktischer Richtigkeit von Argumenten, sondern um die Wirkung von überzeugender Rede auf das Verhalten, Handeln und Denken von Menschen. Von zentraler Bedeutung dabei ist, dass Menschen ihre Meinungen ändern können. Deshalb könnte man auch sagen, ich möchte herausfinden, inwieweit Argumentationen als überzeugende Rede zur Änderung und / oder Festigung von Meinungen und Einstellungen beigetragen haben.

Meinungsbildung und öffentliche Willensbildung können nur unter der „Voraussetzung einer rational motivierenden und kollektiv bindenden Zustimmungsnötigung“5 bestehen. Die Motivation für Handeln und Verhalten wird meist durch überzeugende Rede, die Rhetorik, erzeugt. Gerade weil die Argumentation das entscheidende Werkzeug ist, „Menschen gewaltlos, durch den ‚zwanglosen Zwang’ überzeugender Rede (Persuasion) für gemeinsame Ziele zu gewinnen“,6 ist sie ein Werkzeug der Normbildung.7 Normen beruhen auf einem hohen Maß an Konsens und Freiwilligkeit – die Wirksamkeit einer Normierung besteht darin, dass sich Individuen selbst auf Erfüllung der Norm kontrollieren. Die gesellschaftlichen Veränderungen im Zuge der französischen Revolution bedeuteten vor allem die Neueröffnung von Handlungsoptionen und damit das Entstehen neuer Verhandlungspositionen. Erhöhte gesellschaftliche Kontingenz bedeutet eine erhöhte Notwendigkeit der Verwendung von überzeugender Rede, um normbildende Kräfte zu mobilisieren, die als Grundlage der modernen Gesellschaft gelten können. Um 1800 vollzieht sich nicht nur im Geschlechterverhältnis ein wichtiger Wandel in der gesellschaftlichen Definitionsmacht,8 auch die später als Humanwissenschaften bezeichneten Fächer konstituieren sich in diesem Zeitraum, waren allerdings noch weit von einer Ausdifferenzierung einzelner Disziplinen entfernt.

Der sich entwickelnde politische und wirtschaftliche Liberalismus spielt gerade für Deutschland eine wichtige Rolle als geistiger Impuls der bürgerlichen Revolutionen von 1830 und 1848 und nationalen Einigungsbewegungen. Die bürgerlichen Emanzipationsbestrebungen gingen aus Protesten gegen Privilegien hervor, die mit der Geburt eines Menschen innerhalb eines gesellschaftlichen Standes einhergingen. An diesen Privilegien des Adels und des Klerus rieben sich die neuen Ideale der individuellen Leistung und der prinzipiellen Gleichheit aller Menschen. Da nun diese Privilegien von Gottes Gnaden obsolet zu werden drohten, mussten neue theoretische Entwürfe für die gesellschaftliche Differenzierung entwickelt werden. Die zentralen Fragen drehten sich um die Positionierung des Einzelnen zur und innerhalb der Gesellschaft. Es muss neu ausgehandelt werden, wie ein Zusammenleben von prinzipiell gleichen Individuen möglich ist und zugleich regulierbar, lenkbar und kontrollierbar bleibt.

Die Idee der Erziehbarkeit des Menschen zu Handlungen, die auf vernünftigen Entscheidungen beruhen, gewann im Zuge dieser Theoriebildung einen wichtigen Stellenwert. Adam Smith9 begann sich in der Mitte des 18. Jahrhunderts mit diesen Fragen auseinander zu setzen. Die Gesellschaft wird bei Smith zum ersten Mal zu einem sich selbst regulierenden Handlungszusammenhang. In diesem Zusammenhang erhält der gesellschaftliche Kontext, wie etwa Herkunft, Familie, Milieu, aber auch die Anforderungen der wirtschaftlichen Selbsterhaltung (wenn nicht sogar diese vor allen anderen) eine andere Gewichtung und Betonung als zuvor. Smith war nicht nur Ökonom, sondern Gesellschaftswissenschaftler – seine Ideen wirkten weit in gesellschaftsbildende Prozesse auch im deutschsprachigen Raum hinein, denn:

„Nicht die sanfte Macht der Menschenliebe, sagt Smith, nicht der schwache Funke des Wohlwollens können unsere Leidenschaften kontrollieren. Dazu ist eine stärkere Macht nötig, nämlich unsere innere Abhängigkeit von den Urteilen der Gesellschaft”.10

Nach Smith eignet sich jedes Individuum die Verhaltenserwartungen, die an ihn gerichtet werden an, und diese Aneignung führt zu der Errichtung eines unabhängigen Subjekts im Innern, zu einem „man within“, also zu einer inneren Instanz, die unser Verhalten kontrolliert. Nach Smiths Theorie werden gültige gesellschaftliche Normen durch einen sozialen Lernprozess in den Individuen selbst kontrolliert errichtet. Dieser „Inwohner in unserer Brust“ ist für Smith eine Art Tribunal, das jedes Individuum in sich selbst aufbaut und vor dem alle Handlungen gerechtfertigt werden müssen. Smiths gesellschaftstheoretischer Entwurf mit der Abhängigkeit des Einzelnen von den Urteilen der Gesellschaft und mit dem inneren Tribunal, welches selbstkontrolliert dafür Sorge trägt, dass vom Einzelnen die geltenden Normen auch eingehalten werden, war eine wesentliche Voraussetzung für die praktische Arbeit der Pädagogen und die „deutschen Pädagogen versuchten allererst, ein solches inneres Tribunal aufzubauen”.11

Die Idee von der Kraft der Normierung oder Normbildung in Bezug auf gesellschaftsbildende Prozesse wird von Jeremy Bentham12 und damit zeitnah zu den hier behandelten Texten, weiterentwickelt. Benthams Ziel, das „größtmögliche Glück für die größtmögliche Zahl von Menschen“ erreichen zu wollen, wird ein wichtiges Paradigma der bürgerlichen Emanzipationsbewegung. Er formulierte das Nützlichkeitsprinzip des Utilitarismus, dessen Anziehungskraft so groß war, dass sein Einfluss bis weit in das öffentliche Leben reichte und das wir als Argument in vielen – auch und vor allem pädagogischen – Schriften der Zeit wiederfinden.

Die Themen rund um die Bildung und Erziehung des Menschen rückten zusammen mit den damit verbundenen Normierungsprozessen innerhalb einer Gesellschaft von Gleichen immer stärker ins Zentrum der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit. So setzten sich bereits John Locke,13 Jean Jacques Rousseau14, der Marquis de Condorcet15 und auch Immanuel Kant,16 zum Teil ausführlich mit diesen Themen auseinander. Der neue Mensch ist ein sich selbst regulierender Organismus, vernunftbegabt und daher zu rationalem Verhalten und Handeln fähig, wenn er dazu erzogen wird. Individuelle Leistung bestimmen seine Nützlichkeit für die Gesellschaft, nicht die Privilegien der Geburt. Smiths Konzept des „man within“ ist eine wichtige Verknüpfung zwischen der individuellen Erziehung des Einzelnen und den zentralen gesellschaftsbildenden Prozessen, da dieser neue Mensch kraft seiner Vernunftbegabtheit von richtigem, d.h. gesellschaftlich erwünschtem Handeln und Verhalten überzeugt werden kann.

Warum wurden nun also einige Meinungen beziehungsweise Überzeugungen normbildend und damit als handlungsleitende Prinzipien von den meisten Menschen akzeptiert und andere nicht? Ralph-Rainer Wuthenow bemerkt im Nachwort des Textes Über die bürgerliche Verbesserung der Weiber:

„Immerhin steht Hippel nicht völlig allein mit seinen oft kühnen Überlegungen; wenn sie uns heute überraschen, dann doch vor allem, weil sie erstaunlicherweise von so geringer Wirkung waren, dass man sie hat vergessen können”.17

Bisher hat sich, nach meiner Kenntnis, noch niemand daran versucht, das Erstaunliche dieser geringen Wirkung näher zu erkunden. Statistiken über Auflagenzahlen der einschlägigen Schriften können bei diesem Unternehmen lediglich ein Anhaltspunkt, aber keine inhaltlich erschöpfende Antwort sein.

Die Wahl eines argumentationsanalytischen Untersuchungsansatzes liegt, wie ich versucht habe zu zeigen, nahe, da überzeugende Rede ein wichtiges Moment im normbildenden gesellschaftlichen Prozess ist, der sich als (mit-)konstitutiv für die entstehende bürgerliche Gesellschaft erwiesen hat. Zudem greife ich damit eine Richtung der Erziehungswissenschaft auf, die an der „These, dass die Pädagogik eine argumentativ orientierte Disziplin ist und die Erziehungswissenschaft argumentationsanalytisch zu arbeiten hat“18 orientiert ist. Um eine rein technische Analyse kann es in dieser Arbeit allerdings nicht gehen. In einem standardisierten, inhaltsanalytischen Verfahren fallen die rhetorischen Wendungen aufgrund des unzumutbar hohen Aufwands heraus, weshalb die Zielsetzung einer argumentationsanalytischen Untersuchung also im Vordergrund stehen muss.

1.2 Zum Forschungsstand

Diese von mir angestrebte genauere Untersuchung historischer Quellen zur Mädchen- und Frauenbildung ist in der bisherigen Forschung zu diesem Bereich als defizitär einzustufen. Es gilt zwar als allgemein bekannt – und anerkannt – dass sich eine bestimmte Argumentation durchgesetzt hat. Diese kann auch als Mainstream bezeichnet werden und umfasst im Kern die naturrechtlich begründete Unterlegenheit der Frau. Allerdings wurde den Mechanismen der Durchsetzung dieser Argumentation bisher wenig oder gar nicht nachgegangen. Dieser Umstand mag verwundern, vor allem, weil Forscherinnen auf dem Gebiet der historischen Mädchen- und Frauenbildung und der Geschichte der Emanzipationsbewegung immer wieder anführen, dass es Alternativen zum Mainstream durchaus gegeben hat. Die frühen Schriften der Umbruchszeit um 1800 finden, so Elke Spitzer, „keinen Platz in der Geschichte der Emanzipation, obwohl die Schriften von Amalia Holst und Gottlieb von Hippel bekannt waren und durch Neuauflagen zugänglich blieben”.19

Im Zentrum der Aufmerksamkeit der meisten Forscherinnen stehen die Schriften, die um die Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden sind und im Zusammenhang mit der Gründung des Allgemeinen deutschen Frauenvereins (1865) und damit der organisierten Frauenbewegung stehen. Der Grund, warum das Gleichheitspostulat, welches u.a. Hippel vertrat, ausgeblendet wurde, liegt in der Betonung der Differenz, die u.a. von Helene Lange vorgenommen wurde. Auch die Studie von Ann Taylor Allen belegt, dass in der Betonung der Geschlechterdifferenz eine Chance für die Frauen lag:

„Ihre Aufgaben als Familienmütter schränkten einerseits ihre Möglichkeiten ein, lieferten ihnen andererseits ein Modell, mit dem sie sich einen Machtzuwachs verschaffen und ethische Autonomie erlangen konnten”.20

Da also die ersten Vertreterinnen der alten Frauenbewegung selbst kaum Bezug auf die Schriften von Amalia Holst und Gottlieb Hippel nahmen, finden diese auch bei Margit Twellmann21 und Ute Gerhard.22 kaum Erwähnung. Der Schwerpunkt des vielzitierten Buches von Margit Twellmann liegt auf der Eigengeschichtsschreibung der deutschen Frauenbewegung. Von Historikerinnen wurde das Thema der Geschlechtlichkeit Mitte der siebziger Jahre aufgegriffen. Gisela Bock schrieb 1976 über Arbeit aus Liebe – Liebe als Arbeit. Zur Entstehung der Hausarbeit im Kapitalismus23 und Barbara Duden über Das schöne Eigentum. Zur Herausbildung des bürgerlichen Frauenbildes an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert24, sowie Karin Hausen über Die Polarisierung der Geschlechtscharakters25. Die Germanistin Silvia Bovenschen griff 1979 Die imaginierte Weiblichkeit auf und die Sozialwissenschaftlerin und Juristin Ute Gerhard begann 1978 über Die Verhältnisse und Verhinderungen der Frauenarbeit und Frauenrechte im 19. Jahrhundert nachzudenken. Boventschen unterstrich mit ihrer Arbeit vor allem die Richtung des Forscherinnenblicks auf die Konstruktion des Mannes als Täter und der Frau – dem entsprechend – als Opfer.26

Das Mädchenschulwesen in Deutschland, und damit den engeren Bereich der Frage nach der Erziehung und Bildung des weiblichen Geschlechts, hat Elisabeth Blochmann bereits in Das ‚Frauenzimmer’ und die ‚Gelehrsamkeit’. Eine Studie über die Anfänge des Mädchenschulwesens in Deutschland 1966 analysiert und dabei die Bedeutung Rousseaus und der deutschen Philanthropen sowie die Idealisierungen von Weiblichkeit in der deutschen Klassik unterstrichen. Die Rolle der Frau als Bürgerin hat Monika Simmel 1980 in ihrer Schrift Erziehung zum Weibe. Mädchenbildung im 19. Jahrhundert aufgegriffen.

Zu den wichtigsten und meist zitierten Arbeiten gehört aber wohl noch immer Die Ordnung der Geschlechter. Die Wissenschaft vom Menschen und das Weib 1750-1850, welches 1991 von Claudia Honegger verfasst wurde. Bei ihr wird u.a. deutlich, wie sehr die konstruierte Weiblichkeit durch herrschende gesellschaftliche Diskurse beeinflusst worden ist und die Erkenntnisse der beginnenden Ausdifferenzierung der wissenschaftlichen Disziplinen quasi überschwappten in den moralisch-sittlichen Diskurs der Geschlechterrollen. Die Sonderanthropologie der Frau lieferte eine wissenschaftlich legitimierte Grundlage für die Hierarchie der Geschlechter. Auch Ute Frevert diskutiert bereits 1986 in Frauen-Geschichte zwischen bürgerlicher Verbesserung und Neuer Weiblichkeit das ideologische Spannungsfeld zwischen bürgerlich-freiheitlichen Gleichheitsansprüchen und dem hierarchischen Geschlechtermodell: „Der Versuch, geschlechtliche Ungleichheit als ‚natürlich’ zu rechtfertigen, fand aber am Selbstverständnis der bürgerlichen Gesellschaft seine Grenze”.27

Der Ausstellungskatalog des Historischen Museums Frankfurt Sklavin oder Bürgerin? Französische Revolution und Neue Weiblichkeit 1760-1830, den Viktoria Schmidt-Linsenhoff 1989 herausgegeben hat, liefert schließlich vielfältige Einblicke über die Konstruktion von Weiblichkeit um 1800. Umfassen die Beiträge vor allem den literarisch-künstlerischen Bereich, so stellt er doch eine facetten- und umfangreiche Materialsammlung dar. Im theoretischen Teil wird die neue Perspektive der feministischen Forschung verkündet, die darin bestehe, die Mittäterschaft der Frauen am Konstruktionsprozess der Weiblichkeit zu fokussieren. Diese Perspektive blendet den Aspekt der Wirksamkeit verschiedener theoretischer Ansätze nicht direkt aus, weigert sich aber die Konsequenzen einer offenbar funktionierenden Normalitätsproduktion anzuerkennen.

Pia Schmidt beschäftigt sich in ihrer Habilitationsschrift von 1993 Der Beitrag der Pädagogik bei der Durchsetzung der bürgerlichen Geschlechtertheorie schließlich mit der Rolle der pädagogischen Hauptströmung und den Konzeptionen der Gegenstimmen, zu denen die Schriften von Holst und Hippel gehören. Ebenso wie Hannelore Schröder in Die Frau ist frei geboren. Texte zur Frauenemanzipation werden die Hauptaussagen der zitierten Texte so sehr reduziert, dass eine adäquate Einschätzung der textimmanenten Begründungsstrategien und eine Beantwortung der Frage, warum diese Texte von Holst und Hippel so wenig wirksam waren, nicht möglich ist. Als wichtiges Standardwerk zum Thema der weibliche Bildung muss an dieser Stelle die Geschichte der Mädchen- und Frauenbildung herausgegeben von Elke Kleinau und Claudia Opitz Erwähnung finden. Diese Aufsatzsammlung beinhaltet, in thematischen Schwerpunkten zusammengefasst, die wichtigsten Eckpunkte und bietet einen ausführliche Überblick. Elke Spitzer konstatiert zutreffend:

„Damit liegt eine große Zahl sozialhistorischer und literaturwissenschaftlicher Studien vor, die zeigen, dass sich die ideengeschichtliche Auseinandersetzung mit dieser Zeit überwiegend auf den Geschlechterdualismus beschränkt hat”.28

Dem Aspekt der Gleichheit der Geschlechter, welcher den Schwerpunkt in Spitzers Arbeit bildet, wurde ebenso wenig Aufmerksamkeit geschenkt, wie der Frage, warum sich diese alternativen Entwürfe zur weiblichen Bildung, für die exemplarisch die Schriften von Holst und Hippel stehen, so wenig wirksam durchgesetzt haben. Die Frage, die Jürgen Kocka aufwarf, bleibt weiterhin unbeantwortet:

„Die Mechanismen und Legitimationsmuster, die verhinderten, dass diese Ungleichheit [im Geschlechterverhältnis] stärker und früher als Ungerechtigkeit definiert und bekämpft wurde, sind mindestens so interessant wie die Ungleichheit selber. Woher nahmen die Familie, die Kirchen, das Schulwesen, Ideologie und Kultur die Kraft und die Macht, die Umsetzung von sozialer Ungleichheit in Proteste im Fall des Geschlechterverhältnisses zu verhindern oder doch sehr klein zu halten, während doch gleichzeitig eine andere Furche sozialer Ungleichheit, nämlich die zwischen den Klassen, zur Front härtester Proteste und Verteidigungen wurde?“29

Woher nahm die entstehende bürgerliche Gesellschaft die Kraft und die Macht die Geschlechter dualistisch und hierarchisch zueinander zu stellen und bei dieser offensichtlichen Ungleichheit keine umfassenden Proteste und Gegenbewegungen heraufzubeschwören? Eine mögliche Annäherung an die Beantwortung dieser Frage liegt m.E. in der, mit der Überzeugungskraft und damit normierenden Kraft zusammenhängenden, Wirksamkeit der einschlägigen frühen Texte – die also zu einem Zeitpunkt entstanden, als die Weichen für ein neues Paradigma gestellt wurden.

1.3 Problematische Sachverhalte und Vernunftgründe. Zur Zielsetzung

Ich versuche die Texte Väterlicher Rat für meine Tochter (Campe 1796), Über die bürgerliche Verbesserung der Weiber (Hippel 1795) und Über die Bestimmung des Weibes zur höheren Geistesbildung (Holst 1802) also unter dem Gesichtspunkt der argumentativen Begründungszusammenhänge zu betrachten, um dem Geheimnis ihrer Wirksamkeit, die sich zu großen Teilen auf die Stärke der angeführten Argumente stützt, ein Stück näher zu kommen.

Die unterlegten Rollenbilder der Geschlechter spielen dabei eine ebenso große Rolle wie die Lösungsvorschläge für ein möglichst konfliktfreies Gesellschaftsmodell. Ich denke, ich habe ausreichende Gründe gefunden, die oben genannten Texte als argumentative Texte betrachten zu können. Ich gehe im nächsten Abschnitt näher darauf ein. Zunächst möchte ich näher definieren, von welchen Arbeitsbegriffen ich ausgehe und wie diese sich zu den Fragestellungen der Plausibilität, Überzeugungskraft, Glaubwürdigkeit und letztlich Wirksamkeit verhalten.

Der Begriff des argumentativen Textes meint im Folgenden keine Textgattung; die Argumentation ist ein vom Inhalt weitgehend unabhängiges Textmuster, eine Superstruktur. Dieses Textmuster äußert sich vor allem in der Art und Weise der Darstellung von Begründungszusammenhängen:

„Unter ‚Argumentation’ soll eine geregelte Abfolge (Sequenz) von Sprechhandlungen verstanden werden, die zusammen ein mehr oder weniger komplexes, kohärentes und intentionales Beziehungsnetz zwischen Aussagen bilden, das der methodischen Einlösung von problematisierten Geltungsansprüchen dient”.30

Unter einem Geltungsanspruch ist dabei eine Aussage, beziehungsweise eine Behauptung über das Sosein eines Sachverhaltes zu verstehen. Dabei geht es nicht nur um die Richtigkeit einer Aussage oder eines Faktums, sondern auch um den Wahrheitsgehalt. Der Wahrheitsanspruch und der Richtigkeitsanspruch sind aber auch zwei strukturell voneinander zu unterscheidende Geltungsansprüche:

„Während der Wahrheitsanspruch die Verlässlichkeit informativer Rede sichert, verbürgt sich der Richtigkeitsanspruch für die Verbindlichkeit von handlungsleitenden Orientierungen”.31

Wahrheitsanspruch und Richtigkeitsanspruch strukturieren allerdings nur eine „spezifische Warum-Frage“, nämlich die Geltungsfrage. Diese muss von der Sachfrage, die nach Erklärung und Deutung fragt und damit durch die Anführung von Ursachen und Motiven beantwortet wird, strukturell unterschieden werden. Mit Argumenten, die als spezifische Art von Gründen gelten können, wird also ein Begründungszusammenhang entworfen, der einen behaupteten Anspruch auf Geltung möglichst überzeugend darlegt.

Wird ein Geltungsanspruch problematisiert, dann wird mit dieser Infragestellung der Behauptung entweder die implizit mit behauptete Wahrheit einer Behauptung (Wahrheitsanspruch) oder aber ihre Richtigkeit (Richtigkeitsanspruch) in Bezug auf die handlungsleitende Orientierung bestritten. Ist letzteres der Fall, dann bedeutet dies, dass „ein tragendes Einverständnis zwischen den Kommunikationspartnern nicht weiter naiv unterstellt werden kann”.32 Das Problematisieren von Geltungsansprüchen ist für die vorliegende Arbeit deshalb von Bedeutung, weil zweierlei Aspekte dabei deutlich werden: 1.) diese allgemeinere Bestimmung von Argumentation erlaubt es, das was Frevert „Kampf um die Definitionsmacht“ innerhalb des Geschlechterrollendiskurses genannt hat, als Aushandlungsprozess mit argumentativen Mitteln zu betrachten und 2.) verknüpft dieser Ansatz der Argumentationsanalyse in anschaulicher Weise die Geschlechterrollendebatte mit den normbildenden gesellschaftlichen Prozessen. Der Begriff Geltungsanspruch beinhaltet das, worum es geht; es geht um das, was gelten soll – und was nicht.

Die Plausibilität von Argumenten ist ein wichtiges Moment ihrer Überzeugungskraft. Für diese Plausibilität lassen sich Begründungssprachen rekonstruieren, denn „Argumente können für die Bewältigung einer Problemlage nur dann einschlägig sein, wenn sie material dem gleichen Bereich bzw. ‚der selben Sprache’ angehören”.33 Aus diesem Grund schenke ich in meiner Interpretation einer Argumentationsanalyse auch den jeweils verwendeten Plausibilitätsressourcen besondere Beachtung. Aus diesen Quellen werden schließlich die Argumente für die formulierten Thesen generiert. Die alltägliche, praktische Erfahrung aller Beteiligten Akteure oder auch die herrschende Normalität des gesellschaftlichen Hier und Jetzt, spielt als Plausibilitätsressource eine evident wichtige Rolle. Sie garantiert die Anknüpfung der Argumentation an bereits Bekanntes und stellt damit eine gesicherte argumentative Basis dar.34 Im Gegensatz dazu ist eine argumentative Anknüpfung an zukünftig vorgestellte gesellschaftliche Zustände weit weniger sicher; weshalb eine solche Argumentation als utopisch charakterisiert werden könnte.35 Es wird also ersichtlich, dass die verwendete Ressource der täglichen praktischen Anschauung einerseits und die der bloß vorgestellten, möglichen Zukunft andererseits, sich stark voneinander unterscheiden. Während eine Argumentation, die sich aus der ersteren schöpft, ihre überzeugende Wirkung dadurch erzielen kann, dass die Wahrheit gewissermaßen direkt vor den Füßen des zu Überzeugenden liegt, muss sich letztere auf die Vorstellungskraft des zu Überzeugenden verlassen.

Als weitere Plausibilitätsressourcen müssen die Erkenntnisse aus verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen betrachtet werden. Um 1800 beginnen sich die Wissenschaften, wie bereits erwähnt, gerade zu spezialisieren. Die Erkenntnisse aus der vergleichenden Anthropologie beispielsweise, konstituieren etwa ab der Mitte des 18. Jahrhunderts ein wichtiges Wissensfeld über die Geschlechter. Dieses Wissen führt im Laufe des 19. Jahrhunderts zur Entstehung einer weiblichen Sonderanthropologie,36 welche auch außerhalb der wissenschaftlichen Disziplin als Argument immer wieder auftaucht; d.h. wissenschaftliche Spezialdiskurse beeinflussen immer auch andere Diskurse, wie z.B. den um die Partizipation von Mädchen und Frauen an höherer Bildung. Die im Vergleich zum Mann sich unterscheidende Organisation des weiblichen Körpers wird mithilfe der sich langsam entwickelnden biologischen, zoologischen und medizinischen Forschung immer mehr zur allgemein akzeptierten Tatsache. Da die Erkenntnisse aus diesen wissenschaftlichen Disziplinen zunehmend als gesicherte Erkenntnisse gelten, stellt eine Berufung darauf argumentativ eine sichere Option dar – d.h., es stärkt jede Argumentation, wenn sich diese auf wissenschaftliche Erkenntnisse berufen kann. Ob und inwiefern es jedoch erlaubt, beziehungsweise angebracht ist, eine soziologisch-normative Forderung mit z.B. medizinischen Argumenten zu stützen und wie sich dies tatsächlich auf die Glaubwürdigkeit auswirkt, wird noch zu zeigen sein. Denn das Heranziehen von Expertenwissen stellt nicht nur eine sichere Plausibilitätsressource dar, sondern demonstriert auch den Zugang zu einer Machtressource, da Experten immer mehr wissen, als andere. Dennoch bleibt an dieser Stelle zunächst festzuhalten, dass die Plausibilitätsressource als Basis für die entworfene Argumentation dient und vor allem dann wirksam werden kann, wenn es gelingt, diese auf die Inhalte, die vermittelt werden sollen, abzustimmen.

1.4 Soziologisch-Historische Positionierung. Zur Auswahl der Texte

Meine Auswahl der Schriften beschränkt sich bewusst auf die historische Phase vor 1830, da ich der Meinung bin, dass um 1800 die Grundlagen der Legitimierung des vorherrschenden Diskurses ab diesem Zeitraum gelegt worden sind. Auch die Argumentationen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, vornehmlich die der alten Frauenbewegung, mussten sich auf Bekanntes – wo schon nicht auf Anerkanntes – beziehen, um an Sachverhalte anknüpfen zu können, die bereits viel früher, wenn auch in anderer Form, behandelt worden sind. Für die Auswahl der Texte ist zunächst die grobe Positionierung der darin geäußerten Meinungen vor dem sozial-historischen Hintergrund ausschlaggebend.

Die zeitliche Phase nach 1789 und vor 1830 ist vor allem in Deutschland im Wesentlichen durch ein Sicherheitsdenken bezüglich der gesellschaftlichen Ordnung geprägt. Einerseits muss die gesellschaftliche Ordnung neue, bindende Grundlagen erhalten, andererseits wurde man auf der deutschen Seite durch ten, andererseits wurde man auf der deutschen Seite durch die Gräueltaten der Revolutionäre in Frankreich vor allzu grundlegenden Forderungen abgehalten – der anfänglichen Euphorie über die Französische Revolution folgte rasch eine Ernüchterung, die vor allem durch die unverhohlene Gewaltbereitschaft und Gewaltanwendung ausgelöst wurde. Der Tenor in den Schriften der deutschen Reformer ist demnach ein klares „Ja“ zu den Menschenrechten, aber ein ebenso klares „Nein“ zu gewaltsamer gesellschaftlicher Veränderung. Diese Hoffnung auf eine möglichst gewaltfreie Reformbewegung ist einer der Hintergründe, vor dem die um 1800 entstandenen Schriften gesehen werden müssen.

Die Themen der gesellschaftlichen Sicherheit, die durch eine kontrollierte Reform erreicht werden sollte und der Erneuerung, die mit der notwendigen Modernisierung der Gesellschaft einhergeht, lassen sich nur mit Mühe miteinander vereinbaren. Allen von mir ausgewählten Autoren ist die Überzeugung gemeinsam, dass die Art der Bildung und Erziehung im Kern das friedliche Zusammenleben der Menschen sichern können. Bildung befördert die Vernunft – und ein aus Vernunftgründen heraus handelnder Mensch ist die sicherste Option auf sozialen Frieden. Die richtige Erziehung befördert die Bildung zur Vernunft und gewöhnt den Einzelnen an die nötige Kooperation, die für das Leben in der Gemeinschaft mit anderen Menschen erforderlich ist.

In Bezug auf die weibliche Bildung ergibt sich ein deutliches, unübersehbares Konfliktpotenzial hinsichtlich dieser gemeinsamen Überzeugung. Wo einige (z.B. Hippel und Holst) der Ansicht sind, dass Frauen nicht aufhören werden, Mütter, Gattinnen und Hausfrauen zu sein, ja sie sogar besser ihre Aufgaben erfüllen werden, gesteht man ihnen den uneingeschränkten Zugang zu (höherer) Bildung zu, verweisen andere (z.B. Campe) auf die Gefahren, die von zu viel und zu gründlicher (Geistes-)Bildung der Frau ausgehen. Während die eine Seite davon überzeugt ist, dass eine bessere Bildung der Frau sich als ein Vorteil für die gesamte Gesellschaft erweisen wird, will die andere Position möglichst wenig dem Zufall überlassen. Strikte, ausführliche Regeln bezüglich des Handelns, des Verhaltens und des Denkens von Frauen werden hier formuliert und nur diese allein können nach dieser Überzeugung eine ausreichende Garantie hinsichtlich der angestrebten gesellschaftlichen Sicherheit liefern. Dass es sich bei dieser Formulierung der einen und anderen Seite nur um eine äußerst grobe und, wie ich meine, unzureichende Zuordnung handelt, wird im Verlauf der Arbeit deutlich werden.

Bildung selbst ist ein ambivalenter Prozess im Spannungsfeld von sozialer Sicherheit und gesellschaftlicher Erneuerung. Für die weibliche Bildung gilt dies in mindestens doppelter Weise, da mit der Frage nach weiblicher Bildung die Frage nach der Stellung der Frau in der Gesellschaft verbunden ist. Schließlich ist damit auch die Frage nach der gesamten sozialen Ordnung auf das Engste verknüpft. Und nicht zuletzt ist jede Frage nach der gesellschaftlichen Ordnung auch und zugleich eine Machtfrage.

Hippel betont diesen Zusammenhang gesellschaftlicher Macht immer wieder und er bekräftigt dennoch seine Grundhaltung der Gewaltfreiheit. Frauen haben ihm zufolge ihre gesellschaftliche Macht ohne ihre Schuld verloren und sie haben bisher keinen gewaltsamen Versuch unternommen, sie wiederzuerlangen. Dies, soviel ist nach Hippel offenkundig, liege auch gar nicht in ihrem Bestreben. Ich interpretiere Hippel an dieser Stelle dahingehend, dass frau sich mit dieser Haltung als vernunftbegabte Kooperationspartnerin qualifiziert, die für friedliche Verhandlungen offen ist. Deshalb appelliert Hippel an die Vernunft der Männer, bestehendes Unrecht einzusehen und etwas daran zu ändern. Hippel braucht allerdings nicht extra zu betonen, dass das Teilen von Macht direkt mit einem Machtverlust einhergeht