Wer war Fernando Pessoa? - Antonio Tabucchi - E-Book

Wer war Fernando Pessoa? E-Book

Antonio Tabucchi

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Beschreibung

Eine der geheimnisvollsten Figuren der Weltliteratur, der bedeutendste portugiesische Lyriker dieses Jahrhunderts, ein unscheinbarer Angestellter, der in seiner Freizeit Gedichte schrieb: mit diesem Mann beschäftigt sich Tabucchi seit vielen Jahren. Die Texte des vorliegenden Bandes versuchen, dem Rätsel dieses Dichters auf die Spur zu kommen, der sich zeitlebens unter einer Vielzahl von Heteronymen versteckt hat.

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Über das Buch

Eine der geheimnisvollsten Figuren der Weltliteratur, der bedeutendste portugiesische Lyriker dieses Jahrhunderts, ein unscheinbarer Angestellter, der in seiner Freizeit Gedichte schrieb: mit diesem Mann beschäftigt sich Tabucchi seit vielen Jahren. Die Texte des vorliegenden Bandes versuchen, dem Rätsel dieses Dichters auf die Spur zu kommen, der sich zeitlebens unter einer Vielzahl von Heteronymen versteckt hat.

Antonio Tabucchi

Wer war Fernando Pessoa?

Aus dem Italienischen von Karin Fleischanderl

Carl Hanser Verlag

Inhalt

Vorbemerkung

Eine Truhe voller Menschen In Ermangelung von Beweisen

Ein Leben, viele Leben

Álvaro de Campos, Ingenieur der Metaphysik

Ein Kind geht durchs Land

Bernardo Soares, ein ruheloser und schlafloser Mensch

Zarter Rauch. Pessoa, Svevo und die Zigaretten

Die Liebesbriefe

Der Seemann:

Interview mit Andrea Zanzotto

Anhang

Vorbemerkung

Von Maurice Blanchot stammt die Feststellung, ein Buch habe immer, auch wenn es fragmentarisch ist, ein Zentrum, um das es kreise: »ein Zentrum, das nicht fix ist, sondern sich aufgrund des Drucks des Buches und der Umstände seiner Entstehung verlagert. Zugleich ein fixes Zentrum, das sich verlagert, sofern es ein wahres Zentrum ist, während es dasselbe bleibt und immer zentraler wird, immer verborgener, ungewisser und gebieterischer.«1

Es ist beinahe ein Pleonasmus festzustellen, die Heteronymie sei das verborgenste und gewiß das gebieterischste Zentrum des umfangreichen und geheimnisvollen Buches, das uns Pessoa hinterlassen hat. Wobei wir Heteronymie nicht nur als metaphorische Theatergarderobe verstehen, in der der Schauspieler Pessoa sich versteckt, um seine literarisch-stilistischen Verkleidungen anzulegen, sondern als wahre Freizone, als terrain vague, als magische Linie, die Pessoa überschritten hat, um ein »anderer« zu werden und dabei er selbst zu bleiben.2 Und es liegt auf der Hand, daß sich Pessoas magische Linie anders als bei Pound oder Browning, damit wir uns recht verstehen, nicht im Bereich der reinen Mystifizierung und der Maske befand (»dieser Mann, der die Biographien für die Werke und nicht die Werke für die Biographien erfand«)3 und auch nicht im Bereich des Gestalterischen, das sich aus einem Spiel entwickelt hat (obwohl die Kunst gewiß Spiel ist, ohne Spiel gäbe es keine Kunst). Pessoas Heteronymie verweist vielmehr auf die Fähigkeit, das Wesen eines Spieles zu leben;4 nicht auf die Fiktion, sondern auf die Metaphysik der Fiktion, auf einen Okkultismus der Fiktion, vielleicht auf eine Theosophie der Fiktion.5 Pessoas Fiktion ist immer eine »transzendente« Fiktion, ist Wort, aber im Sinn von ὲν αϱχῇ ό λόγος (Am Anfang war das Wort); und dieses Wort ist gewiß nicht der literarische »Text«. Pessoas Logos ist in seiner Transzendenz, in seiner Eigenschaft als Metatext eine Abweichung, verläßt die existentiell-textuelle Ebene und ereignet sich im Ontologisch-Metaphysischen.6 Mit einem Kalauer könnte man sagen, das Spiel Pessoas bestehe darin, das Spiel zu »spielen«, es zu lösen, ohne sich darauf einzulassen, auf die Ebene der reinen Mutmaßung überzuwechseln. Man könnte über Pessoa sagen, was Benjamin über Kafka geschrieben hat, daß nämlich »Kafkas ganzes Werk einen Kodex von Gesten darstellt, die keineswes von Hause aus für den Verfasser eine sichere symbolische Bedeutung haben, vielmehr in immer wieder anderen Zusammenhängen und Versuchsanordnungen um eine solche angegangen werden«.7

Um diese immer wieder anderen Zusammenhänge und Versuchsanordnungen beziehungsweise um das Wesen von Pessoas »Spiel«, um seine wahre Fiktion, kreist, wie ich glaube, der Großteil der hier versammelten Aufsätze. Diese Aufsätze sind das Ergebnis einer jahrelangen Beschäftigung, und es schien mir sinnvoll, sie gemeinsam zu veröffentlichen. Sie erheben gewiß nicht den Anspruch, ein endgültiges Bild des Dichters mit den tausend Gesichtern zu liefern, nicht zuletzt deshalb nicht, weil ich glaube, daß Pessoa eine Lesart erfordert, die auf präpotente Interpretationen verzichtet, sondern vielmehr in der Lage ist, ihm auf den Boden der Mutmaßung zu folgen. Und als kritische Mutmaßungen möchte ich diese meine Aufsätze über den geheimnisvollsten Dichter des zwanzigsten Jahrhunderts auch verstanden wissen.

In letzter Zeit ist die kritische Bibliographie zu Pessoa um einiges angewachsen. Vielleicht wäre es nötig, Text und Anmerkungen mancher dieser Aufsätze in dieser Hinsicht zu ergänzen. Ich habe dennoch beschlossen, sie in ihrer ursprünglichen Form zu veröffentlichen, als Zeugnis der Jahre, in denen sie geschrieben wurden.

A. T.

Eine Truhe voller Menschen In Ermangelung von Beweisen

Das erste, was einem an der Biographie des Portugiesen auffällt, der wahrscheinlich im Lauf der Zeit als einer der bedeutendsten Dichter des zwanzigsten Jahrhunderts in die Literaturgeschichte eingehen wird, ist eine Übertreibung: eine maßlose Übertreibung, die jeden, der sich auf seine Spuren begibt, mißtrauisch macht, wenn nicht gar beunruhigt. Es handelt sich jedoch nicht um ein Zuviel, sondern um ein Zuwenig, um einen völligen Mangel an Beweisen, um eine, wenn man so will, zum Paradigma gewordene Evidenz, um ein perfektes Alibi: um etwas, das — wie der entwendete Brief in Poes Erzählung — versteckt wird, indem es deutlich zur Schau gestellt wird, und das im Fall Pessoas ein Zuviel an Anonymität bedeutet, Banalität in Reinform. Zwar ist die Banalität in der großen Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts weit verbreitet: Von Musil bis Beckett, von Valéry bis Svevo und Montale mit seinem »fünfprozentigen« Leben (der Ausdruck stammt von Montale selbst) leben viele der bedeutendsten Schriftsteller unseres Jahrhunderts ein von grauem Alltagstrott bestimmtes Leben. Bei Pessoa allerdings läuft der Lebensmotor so untertourig wie nur möglich, Montales fünfprozentige Leistung sinkt noch weiter ab, und irgendwann glaubt man nicht einmal mehr das Brummen des Motors zu hören; es regt sich der Verdacht, Pessoa sei vor seinem offiziellen Todestag gestorben und habe Vorkehrungen getroffen, daß »alles« so weiterginge wie zuvor. Beziehungsweise der Verdacht, Pessoa habe nie existiert, er sei nur die Erfindung eines gewissen Fernando Pessoa, dessen gleichnamiges Alter ego in einem frenetischen Reigen von Personen, die in bescheidenen Lissaboner Pensionen wohnten, zusammen mit Fernando, der dort dreißig Jahre lang das höchst banale, anonyme und exemplarische Leben eines kleinen Angestellten führte.

Tatsächlich ist die Hypothese, Fernando Pessoa sei das Alter ego eines mit ersterem völlig identischen Fernando Pessoa, sehr verführerisch und absurderweise vielleicht gar nicht so unwahrscheinlich, auch wenn sie im Zeichen eines Paradoxes à la Borges zu stehen scheint (Ménard als wahrer Autor des Don Quijote); freilich hat uns Pessoa selbst bereits 1931 das Paradox geliefert, auf das sich unser Verdacht gründet:

Der Poet verstellt sich, täuscht

so vollkommen, so gewagt,

daß er selbst den Schmerz vortäuscht,

der ihn wirklich plagt.1

Und wenn Fernando Pessoa bloß so getan hätte, als sei er Fernando Pessoa? Das ist nur ein Verdacht. Beweise wird es dafür natürlich nie geben. Und in Ermangelung von Beweisen müssen wir den biographischen Angaben dessen Glauben schenken (oder so tun, als würden wir ihnen Glauben schenken), der die Erfindung eines mit sich selbst identischen Schwindlers war: Die Rede ist von Fernando António Nogueira Pessoa, Sohn von Joaquim und Madalena Pinheiro Nogueira, teilzeitbeschäftigter Übersetzer von Handelskorrespondenz in Lissaboner Import-Export-Firmen. In seiner Freizeit Dichter.

Eine Truhe voller Menschen

Zum Thema Dichtung und Ruhm hat Montale einmal mit dem ihm eigenen Witz festgestellt, das Haus der Unsterblichkeit (und er fügte hinzu, daß er die irdische Unsterblichkeit meine, die unter Umständen nur ein paar Jahrhunderte währt und pro Generation bloß zehn »Spezialisten« zu interessieren vermag) könne man durch das Hauptportal oder durch den Dienstboteneingang betreten; manche würden jedoch durch das Fenster oder den Schornstein hineinkommen.2 Pessoa gehört gewiß zu jenen Dichtern, die in Montales allegorisches Haus auf ungewöhnliche und halbillegale Weise eingedrungen sind, ob aus Gleichgültigkeit oder Kalkül (oder aus kalkulierter Gleichgültigkeit), und er hat dabei seine zahlreichen Phantasmen eingeschmuggelt, in einer gewöhnlichen Wäschetruhe versteckt und gut verpackt in mit Bindfaden verschnürte und verschieden signierte Manuskripte. Stellen wir uns doch einen Augenblick lang vor, angeregt von der Literatur, was geschehen wäre, wenn die Truhe aufgrund einer Laune des Schicksals versiegelt durch die Jahrhunderte getrieben und am Ufer einer Epoche gestrandet wäre, in der sich die Spuren Pessoas als realer Person bereits verloren hätten: jene hypothetischen Nachfahren hätten wohl nicht schlecht darüber gestaunt, daß es im zwanzigsten Jahrhundert in einem kleinen und kaum bekannten Land, das von Europa vergessen worden war und das Europa vergessen hatte, ein merkwürdiges perikleisches Zeitalter der Dichtung gegeben hatte, eine Glanzzeit von zwanzig Jahren (so lange waren die verschiedenen Pessoas tätig: von 1914 bis 1935), während der vier verschiedene und in Hinblick auf Ton und Temperament sogar gegensätzliche, in bezug auf die Komplexität ihrer Themen und die Qualität ihrer Gedichte jedoch gleich bedeutende und faszinierende Dichter gewirkt hatten, die in Briefen gegeneinander polemisierten, öffentlich diskutierten, freundliche, jedoch höflich distanzierte Vorworte zu den Werken der jeweils anderen verfaßten (wobei sie sich jedoch stets siezten: das waren eben noch andere Zeiten), bis schließlich alle unerklärlicherweise zur selben Zeit verstummten und im Nichts verschwanden. In diesem Fall hätte es vielleicht einen umgekehrten »Fall Homer« oder einen umgekehrten »Fall Shakespeare« gegeben: anstatt eines einzelnen Namens als Sammelbegriff vieler Leben und vieler Erfahrungen viele Namen und viele Erfahrungen anstelle eines einzelnen Dichters.

Die Klasse der schlimmen Buben

1942, sieben Jahre nach Fernandos Tod, beschließt der Lissaboner Verlag Ática, unter dem wachsamen Blick der Literaten und Philologen, die mit dem Dichter befreundet gewesen waren und die Zugang zu der Truhe haben, in der sich seine Manuskripte befinden, Pessoas Gesamtwerk herauszugeben: in diesem Augenblick nimmt eine der ungeheuerlichsten Schriftstellerpersönlichkeiten des zwanzigsten Jahrhunderts Gestalt an, die noch bei weitem übertrifft, was Pessoa bereits zu Lebzeiten versprochen hatte. Immerhin war Pessoa in allen bedeutenden zeitgenössischen Zeitschriften Portugals vertreten gewesen (»A Águia«, »Exílio«, »Centauro«, »Portugal Futurista«, »Presença«), er selbst hatte mindestens zwei Zeitschriften gegründet (»Orpheu« und »Athena«), hatte die Avantgarde und verschiedene europäische Literaturströmungen (Orphismus, Futurismus, Kubismus, die écriture automatique der Surrealisten) in Portugal eingeführt und selbst drei Strömungen gewissermaßen aus dem Boden gestampft (Paulismus, Sensationismus, Intersektionismus); und schließlich hatte er die größten Errungenschaften der zeitgenössischen europäischen Kultur, von der Psychoanalyse bis zur Phänomenologie, in Portugal heimisch gemacht. Seinen Ruhm als Dichter verdankte er allerdings nur einem unvollständigen dichterischen Werk, das in diversen, kaum erhältlichen Zeitschriften mit niedriger Auflage erschienen war, vier Gedichtbänden in englischer Sprache (die praktisch unter Ausschluß der Öffentlichkeit in schmucklosen Ausgaben erschienen waren und öffentlich kaum wahrgenommen wurden) und einer Broschüre, die er ein Jahr vor seinem Tod eigens hatte drucken lassen, um sich damit um einen Literaturpreis zu bewerben (den er jedoch nicht gewann), und die den Titel Mensagem (Botschaft) trug. Kinkerlitzchen, verglichen mit dem Schatz, der postum entdeckt wurde. Als Dichter hatte Pessoa zwar bei seinen Freunden, die sich um die Zeitschrift »Presença« scharten, für Aufmerksamkeit gesorgt, als er auf die Fragen eines befreundeten Kritikers eine luzide und peinlich genaue Darstellung der Heteronymie abgab, die sich wie eine Mischung aus psychoanalytischer Sitzung und klinischem Krankenbericht liest.3 Trotzdem ist anzunehmen, daß Pessoa in der zeitgenössischen portugiesischen Kultur eher als Intellektueller denn als Dichter Geltung besaß, ganz zu schweigen von seiner Rolle als heftiger und umstrittener Polemiker (als der er schon damals mit Vorsicht zu genießen war: man denke zum Beispiel an seine provokanten Theorien zum »Fünften Reich« und an seinen unseligen Artikel aus dem Jahr 1928: »Das Interregnum. Verteidigung und Rechtfertigung der Militärdiktatur in Portugal«).

Es wird wohl noch eine Weile dauern, bis man Pessoas Rolle als »Intellektueller« kritisch aufgearbeitet haben wird beziehungsweise bis man sein theoretisches und publizistisches Werk im weitesten Sinn des Wortes innerhalb der zeitgenössischen (vor allem der portugiesischen, aufgrund von Pessoas Bedeutung aber auch der europäischen) Kultur eingeordnet haben wird, bis man mit Sicherheit sagen kann, worin die Wechselbeziehungen und Ähnlichkeiten bestehen, die Übereinstimmungen und Abweichungen. Und zwar, wie ich glaube, aus drei einleuchtenden Gründen: Erstens aufgrund des Umfangs und der Komplexität des dichterischen Werkes, das das theoretische Werk mittlerweile in den Schatten gestellt hat; zweitens aufgrund der legitimen Überzeugung aller Kritiker, die Hypothek, die auf Pessoas Werk lastet, ein noch »offenes« Werk zu sein (nicht nur aus werkimmanenten Gründen, auch wenn es in dieser Hinsicht ein modernes »offenes Kunstwerk« par excellence ist, sondern aus äußerlichen, eigentlich ganz banalen Gründen: Ich meine die zahlreichen noch unveröffentlichten Texte), würde ein plausibles oder gar endgültiges Urteil über Pessoas Aktivität als zeitgenössischem Intellektuellem und komme de lettres unmöglich machen; und schließlich darf man auch das Unbehagen der Kritik angesichts einer so unbequemen Gestalt wie Pessoa nicht unterschätzen: womit genug gesagt wäre über die Vorurteile und Hemmungen jener Kritik, die nur den Dichter sehen will und den politischen und philosophischen Denker unter den Tisch fallenläßt, die Pessoa spaltet (als ob er zusätzlich zu seinen inneren Spaltungen noch welche von außen brauchte) und sich ihn dabei klammheimlich vom Hals schafft, indem sie ihn in die Sonderschule abschiebt, in die bunt zusammengewürfelte und nicht näher definierte Klasse der »schlimmen Buben« der Moderne. Bekanntlich tummeln sich in dieser Klasse die merkwürdigsten und unterschiedlichsten Gestalten: Hegelianer und Anti-Hegelianer, Totalitäre und Liberale, solche, die zum Anarchismus tendieren, und Mystiker; Nietzsche und Pound, Céline, Bataille und Kafka sind hier allen Unterschieden zum Trotz versammelt; und schließlich sitzen hier auch noch die überraschendsten, die schwierigsten Fälle: die, die sich im Gewand der konservativsten und biedersten Bürger präsentieren, in Zweireiher und Weste, sich bei den Schulaufgaben jedoch als wahre Revolutionäre entpuppen (Beispiele dafür gibt es, angefangen bei Carlo Emilio Gadda, mehr als genug). Neben den Klassenbesten gibt es aber auch die ungestümen und schlampigen Dummköpfe aus den letzten Reihen, die ihre Hefte vollschmieren und mit Tinte bekleckern. Pessoa allerdings hat selbst in seinen schlimmsten und beunruhigendsten Momenten, weder beim freigewählten Aufsatz noch beim Thema Tagespolitik, nichts mit bestimmten mittelmäßigen Gestalten gemein — wie es etwa die Autoren rund um die italienische Literaturzeitschrift »La Voce«*1 waren —, die ebenfalls die Klasse der »bösen Buben« der Moderne bevölkern: lautstarke, vulgäre, aggressive Schwätzer in ihrer Jugend, unterwürfig und konformistisch in ihren reifen Jahren, demütig und verklärt-bekehrt nach der Pensionierung. Pessoa ist sowohl in intellektueller als auch in moralischer Hinsicht aus anderem Holz geschnitzt: nie in seinem Leben ließ er sich zu lauten Reden und Deklamationen hinreißen (und wenn doch, beauftragte er Álvaro de Campos damit: was für eine aristokratische Haltung, einen anderen vorzuschicken! Wie der Herr, der den Majordomus damit beauftragt, die aufmüpfigen Diener zu rügen); er, der so zurückhaltend und nach außen hin ungerührt war, so kalt und so einsam, verachtete Vulgarität, Rhetorik, Massen und Parolen. Er verteidigte die militärische Diktatur und den Grundsatz der Ungleichheit; gleichzeitig verabscheute er den Faschismus und Salazar, den er in einem Gedicht verhöhnte; er prophezeite das »Fünfte Reich« und den Sebastianismus*2, und gleichzeitig machte er sich über Kipling lustig, den er als »Plunder-Imperialisten« bezeichnete; er deklarierte sich als Futurist und »Sensationist«, verachtete jedoch den Lärm der Granaten, machte sich über Marinetti lustig und besang die aseptische Vollkommenheit von Newtons Fernglas.

Ich halte mich nicht für einen Kulturhistoriker, sondern schlicht und einfach für einen Literaturliebhaber: Deshalb sind meine Angaben, den sogenannten kulturellen »Kontext« betreffend, ungenau und ungefähr. Es scheint mir trotzdem sinnvoll, Pessoas Haltung (die sich bei genauerem Hinsehen als nichts anderes als eine heftige antibürgerliche Polemik entpuppt) in bezug auf die Kulturpolitik der Ersten Republik (1910—26) zu untersuchen, die zwar Ausdruck eines politisch gefestigten Bürgertums im Rahmen einer parlamentarischen Republik liberaler Prägung, andererseits jedoch von einer heftigen und erbitterten Mißachtung der provokanten intellektuellen Außenseiter gekennzeichnet war. Die Gründe für diese Mißachtung sollen die dafür zuständigen Historiker herausfinden; ich möchte hier einfach darauf hinweisen, daß der Machtergreifung durch das portugiesische Bürgertum keine Revolution vorangegangen war, sondern ein Königsmord und ein überstürzter Aufstand, der zwar vom Volk unterstützt wurde, gewiß aber nicht zu den kulturellen und ideologischen Umwälzungen einer wirklichen Revolution führte. Die Tatsache, daß der Prozeß der Ideologisierung ausblieb und es zu keiner kulturellen Reife und Veränderung kam, ist meiner Meinung nach daran schuld, daß die bürgerliche Revolution in Portugal so kraftlos und schwach ausfiel und eher als Wachablösung erscheint denn als der Beginn einer neuen und innovatorischen Epoche. Da ihr die Kraft einer legitimierenden Ideologie fehlte (vielleicht weil sie sich gerade am Höhepunkt der Werte- und Identitätskrise des europäischen Bürgertums ereignete, in einem Augenblick der Verwirrung, aber auch der Angst und Hysterie), konnte sie natürlich nicht die Sympathien der unruhigsten und unzufriedensten portugiesischen Intellektuellen gewinnen, die, von der Katastrophe des Ersten Weltkriegs traumatisiert, sich von radikalen Ideen und Utopien nährten und unsicher, neurotisch und zutiefst verstört waren.

Ein portugiesischer Traum

Genau in diesem Kontext — um das fragliche Wort wieder aufzugreifen — muß man Pessoas ideologische Haltung sehen, seine aristokratischen Neigungen und seine imperialistischen Träumereien: in einem Kontext, in dem republikanische und progressive Ideale vom altmodischen Typ des positivistischen Intellektuellen (etwa dem wackeren Teofilo Braga, dem Präsidenten der Republik) verkörpert wurden, der aufrecht, optimistisch und dogmatisch war und natürlich von den schwierigen Zeiten völlig überfordert. Die zeitgenössische kulturelle Elite Portugals war ja durchwegs aristokratisch gesinnt: wie zum Beispiel die laizistisch-nationalistischen Kräfte der Renascença Portuguesa, die ganz unter dem Einfluß der für die Iberische Halbinsel typischen metahistorischen Ideologie standen, deren Vertreter zur selben Zeit in Spanien Unamuno und Ortega y Gasset waren; aristokratisch war die Gesinnung der »Saudosisten«, an deren Spitze Teixeira de Pascoaes stand (obwohl aus ihren Reihen auch Antifaschisten wie Jaime Cortesão hervorgehen sollten) und die sich ebenfalls auf mystische und metahistorische Kategorien wie die Saudade oder den Sebastianismus bezogen; und aristokratisch, elitär und antibürgerlich war schließlich auch »Orpheu«, die Zeitschrift, um die sich die portugiesische Avantgarde scharte und die in Portugal die gleiche Attacke gegen den Bourgois, den »Pantoffelhelden« (den von Sá-Carneiro so hart angegriffenen lepidóptero), ritt wie in Italien die Zeitschriften »La Voce« und »Lacerba«*3. Damit wir uns recht verstehen: die jungen Leute von »Orpheu« hielten sich für Revolutionäre, oder vielleicht war es ihnen als braven Rebellen gar nicht so wichtig, welche zu sein. Ihre Revolte richtete sich sowohl gegen die reaktionärsten Auswüchse der Kultur als auch gegen den müden Positivismus des Bürgertums, das zwar guten Willens, jedoch nur oberflächlich gebildet und schrecklich rückständig war und das in Fragen der Ästhetik unbeirrbar am Modell des Naturalismus à la Zola festhielt. Die Revolte des »Orpheu« orientierte sich an Europa: sie importierte alle Ismen, die am Seineufer gerade en vogue waren (Dadaismus, Futurismus, Kubismus, Orphismus, Simultaneismus), und machte sie an der Mündung des Tejo heimisch, und darüber hinaus erfand sie noch ein paar eigene (Sensationismus, Paúlismus, Intersektionismus): avantgardistische Seifenblasen, die, heftig beklatscht im stets gleichbleibenden Freundeskreis, etwas melancholisch zerplatzten, nachdem sie sich vom Strohhalm ihres Erfinders — immer wieder er, der unvergleichliche Fernando — gelöst hatten. Die Vermutung liegt nahe, das antidemokratische Element der portugiesischen Avantgarde hätte — die Zeiten sind ja auch danach — den Keim latenter (oder manifester) Gewalt in sich getragen, wie Marinettis Manifest mit seiner Kolben- und Kanonen-Mystik, das ja auch tatsächlich hielt, was es versprach. Dem ist jedoch nicht so. Der portugiesische Futurismus, der mit Geschwindigkeit, Lokomotiven, Granaten und Explosionen aller Art (auch denen der Wörter, die sehr wenig Freiheit genossen) wenig anzufangen wußte, ist ein verinnerlichter, psychologischer und paradox introvertierter Futurismus, der sich den Menschen der Zukunft möglicherweise als Ergebnis einer Flucht aus oder einer Befreiung von einer Gegenwart vorstellte, in der man wahrscheinlich ein großes Unbehagen verspürte. Das scheint mir das auffälligste Merkmal des portugiesischen Futurismus zu sein, der vom Dekalog Marinettis so sehr abwich und einer ganzen Generation von Intellektuellen als Abschreckungsmittel (aber auch als Zuflucht) diente, die mit seiner Hilfe ihre Rebellion und ihre Wut, ihr Unbehagen und ihre Trauer zum Ausdruck brachten, auch wenn sie nie völlig die Deckung aufgaben, um dem verhaßten lepidóptero und seiner Ästhetik einmütig den Krieg zu erklären, sondern sich in vielen Nebengefechten verzettelten und Privatduelle ausfochten (und verloren), die einem würdevollen und etwas altmodischen Ritual gehorchten: das finanzielle Desaster der Zeitschrift »Orpheu« bereits nach der zweiten Nummer; »Portugal futurista«, das noch druckfrisch von der Polizei beschlagnahmt wurde; Sá-Carneiro, der im Frack in einer bescheidenen Pariser Pension Selbstmord beging; Almada Negreiros, der nach Europa ins Exil ging, wie vor ihm bereits Souza Cardoso und Santa-Rita Pintor; ganz zu schweigen von Pessoas Niederlage (die jedoch keine existentielle, sondern eine ontologische Niederlage war), der sich immer mehr mit seiner bescheidenen Rolle eines kleinen Angestellten zufriedengab.4

Die Brille für die Große Reise

So sieht das kulturelle Klima aus, in dem Pessoa agiert und das sich bei ihm, auf ideologischer Ebene, fortsetzt im Bekenntnis zu nationalistischem, imperialistischem und sogar pro-diktatorischem Gedankengut. Der Vergleich mit einem Autor unserer Tage, Borges, ist allerdings müßig, auch wenn er auf den ersten Blick zwingend erscheinen mag. Pessoas Dichtung ist die komplexeste, schmerzvollste und tragischste, gleichzeitig aber auch die luzideste und unbarmherzigste Analyse, die ein Mensch des zwanzigsten Jahrhunderts anstellen kann: ein gequälter Mensch, der sich über alles, nicht zuletzt über sich selbst, lustig macht und der mit seiner Wahrhaftigkeit und seiner Boshaftigkeit, seiner auf die Spitze getriebenen Lust am Paradox und seiner Gabe, ironisch das Gegenteil einer ohnehin schon ironischen Feststellung zu behaupten, eines der revolutionärsten dichterischen Werke des zwanzigsten Jahrhunderts schafft. Um nicht Gefahr zu laufen, ein derart kontroverses, komplexes, unbequemes und sogar Unbehagen verursachendes Denksystem mit oberflächlichen und wahrscheinlich auch überflüssigen politischen Etiketten zu versehen, wollen wir uns auf die Feststellung beschränken, Pessoa sei der »negativen« Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts verpflichtet, und allenfalls versuchen, auf die Grundpfeiler dieses Gedankengebäudes hinzuweisen. Als erstes fällt uns dabei die Anti-Vernunft (beziehungsweise die Freisetzung des Traumhaften und des Unbewußten) auf, die an die Oberfläche kommt und sich über die Vernunft hinwegsetzt; und sofort darauf der Triumph der Synchronie über die Diachronie, der durch den Mechanismus der Heteronymie ermöglicht wird und es gestattet, daß alle Ichs gleichzeitig dichten (was, auf ästhetischer Ebene, die Zertrümmerung der Hegelschen Kategorien bedeutet). Und schließlich der Triumph innerer Zeit- und Raumkategorien, die nicht den äußeren, aristotelisch-kartesianischen entsprechen: der Riß, der zwischen dem »Innen« und dem »Außen« des Menschen verläuft.

In unserem so menschenfreundlichen und gleichzeitig so ruchlosen Jahrhundert fürchtet sich Pessoa vor jeglicher Menschenliebe und vor jeglicher Ruchlosigkeit. Er mag weder die tröstlichen, barmherzigen Theorien, deren beunruhigende Kehrseite er zum Vorschein bringt, noch die feierlichen charismatischen Utopien — beinahe als würde er die Greuel und Gemetzel voraussehen, die in ihrem Namen begangen werden sollten. Pessoa ist ein vielfaches, ungeheures schlechtes Gewissen: meines, unseres, eures, das aller Menschen, die guten Willens sind, um was für einen guten Willen es sich auch immer handeln mag. Pessoa ist ein Schmerzensschrei und ein Gewinsel, ein lauter Gesang und eine Grimasse, ein Nagel, der über die Schiefertafel kratzt, auf der ein wackerer Professor gerade den beruhigenden Nachweis seines Theorems erbringen will. Pessoa ist eine Konkretion, eines jener Wesen, die offenbar vom Schicksal ausersehen sind, Leiden auf sich zu nehmen, die nicht die ihren sind. »Morse transmitindo o nǎo do sim«: Wie bei den Morsezeichen in dem Gedicht, das ihm Murilo Mendes gewidmet hat, bei denen das Ja nur als Verneinung existiert, besteht die »Negativität« Pessoas vielleicht darin: In seiner Scheu vor dem affirmativen Zeichen, in seiner Ablehnung des allgemein Gültigen. Denn er weiß, daß sich in jedem Ja, selbst im vollsten und überzeugtesten, ein winziges Nein verbirgt, ein winziges Teilchen, das, auf einer dunklen Umlaufbahn kreisend, das gegenteilige Zeichen transportiert und auf diese Weise ebenjenes Ja hervorbringt, das sich Geltung verschafft. Und er hat beschlossen, die dunkle Umlaufbahn zu erforschen, wie ein verrückter Wissenschaftler, der die krankhafte Seite der Gesundheit erkunden will. Ist er, der absolut nichts lehren will, dieser »feierliche Erforscher der nichtigen Dinge«, als der er sich selbst bezeichnet, eine Warnung oder eine Drohung, ein freundlicher Wink oder ein Gelächter im Dunkeln?