Kleine Mißverständnisse ohne Bedeutung - Antonio Tabucchi - E-Book

Kleine Mißverständnisse ohne Bedeutung E-Book

Antonio Tabucchi

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Beschreibung

Tabucchi erzählt scheinbar harmlose Geschichten, die jedoch bei längerem Hinsehen rätselhaft sind, voller Unerhörtheiten dicht unter der Oberfläche, und die schleichend eine haarsträubende Wendung nehmen.

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Über das Buch

Tabucchi erzählt scheinbar harmlose Geschichten, die jedoch bei längerem Hinsehen rätselhaft sind, voller Unerhörtheiten dicht unter der Oberfläche, und die schleichend eine haarsträubende Wendung nehmen.

Antonio Tabucchi

Kleine Mißverständnisse ohne Bedeutung

Erzählungen

Aus dem Italienischen von Karin Fleischanderl

Carl Hanser Verlag

Inhalt

Vorbemerkung

Kleine Mißverständnisse ohne Bedeutung

Rätsel

Zauber

Any where out of the world

Der Haß und die Wolken

Warten auf den Winter

Inseln

Zimmer

Die Züge nach Madras

Ablöse

Kino

Vorbemerkung

Das Barock liebte Irrtümer und Mißverständnisse. Calderon und andere erhoben den Irrtum zur Metapher der Welt. Wahrscheinlich beseelte sie die Zuversicht, unser Irrtum hier auf Erden werde sich an dem Tag in Nichts auflösen, an dem wir endlich aus unserem Traum, am Leben zu sein, erwachen. Ich wünsche Calderon und den anderen, nicht einen Irrtum entdeckt zu haben, für den es keine Abhilfe gibt. Das jedoch wird sich noch zeigen.

Auch ich erzähle von Irrtümern, obwohl ich glaube, daß ich sie nicht liebe; es reizt mich vielmehr, sie aufzuspüren. Mißverständnisse, Unsicherheiten, verspätete Einsichten, unsinnige Sehnsüchte, möglicherweise trügerische Erinnerungen, dumme, nicht wieder gutzumachende Irrtümer: Die Dinge, die fehl am Platze sind, üben eine unwiderstehliche Anziehung auf mich aus — als handele es sich um eine Berufung, um eine Art armseliges Stigma, das jeder Erhabenheit entbehrt. Zu wissen, daß die Anziehung auf Gegenseitigkeit beruht, ist nicht unbedingt ein Trost. Vielleicht könnte mich die Überzeugung trösten, das Leben selbst sei mißverständlich und halte für uns alle Mißverständnisse bereit, aber das wäre möglicherweise ein anmaßendes Axiom, nicht unähnlich der barocken Metapher.

Zu den hier versammelten Erzählungen möchte ich nur etwas hinsichtlich ihrer ›Erscheinung‹ (wie Gespenster) sagen. Die Geschichte mit dem Titel Rätsel habe ich an einem Abend des Jahres 1975 in Paris gestohlen und sie lange genug in mir aufbewahrt, um sie in einer Version wiederzugeben, die einen unheilvollen Verrat am Original begeht. Ich hätte nichts dagegen, Zauber und Any where out of the world als fantastische Geschichten im weitesten Sinn des Wortes zu bezeichnen; was jedoch niemand daran hindern soll, sie auf andere Weise zu lesen. Erstere kann den Einfluß einer faszinierenden Theorie von Françoise Dolto nicht ganz verleugnen, während ich vielleicht nicht darauf hinzuweisen brauche, daß letztere im Zeichen von Baudelaires Le spleen de Paris und im besonderen des Prosagedichts steht, dessen Titel ich mir angeeignet habe. Der Haß und die Wolken ist eine realistische Erzählung. Kino verdankt viel einem regnerischen Abend, einem kleinen Bahnhof an der Riviera und dem Gesicht einer verstorbenen Schauspielerin.

Zu den anderen Erzählungen habe ich nicht viel hinzuzufügen. Ich möchte nur sagen, daß es mir lieber wäre, wenn Warten auf den Winter von Henry James und Die Züge nach Madras von Kipling stammten. Das Resultat wäre bestimmt besser. Das ist weniger eine Abbitte für das, was ich geschrieben habe, als eine Trauer um das, was ich nie werde lesen können.

A. T.

Kleine Mißverständnisse ohne Bedeutung

Als der Saaldiener sagte: Erheben Sie sich, das Hohe Gericht erscheint, und im Saal einen Augenblick lang Stille herrschte, und als Federico an der Spitze des kleinen Zuges aus der Tür trat, im Talar und mit beinahe weiß gewordenen Haaren, in genau diesem Augenblick fiel mir »Strada anfosa« ein. Ich sah zu, wie sie sich setzten, als bobachtete ich ein unverständliches, fernes, in der Zukunft ablaufendes Ritual, und das Bild der ernsthaften Herren hinter der von einem Kruzifix überschatteten Balustrade wich dem Bild einer Vergangenheit, die für mich die Gegenwart war, wie in einem alten Film, und meine Hand schrieb fast von allein auf den Notizblock: »Strada anfosa«, während ich bereits woanders war, der Erinnerung überlassen. Und auch Leo, der in seinem Käfig saß wie ein gefährliches Tier, verlor den kranken Blick, den alle extrem unglücklichen Menschen an sich haben, und ich sah ihn, wie er sich auf die Empirekonsole seiner Großmutter lehnte, mit dem üblichen gelangweilten und gleichzeitig schlauen Blick, den nur er hatte und der seinen Charme ausmachte, und er sagte: Tonino, leg noch einmal »Strada anfosa« auf. Und ich legte für ihn die Platte auf: Leo verdiente es, mit Maddalena zu tanzen, auch die »Große Tragödin« genannt, weil sie bei der Schulaufführung zum Jahresende die Antigone gespielt hatte und dabei in ein nicht enden wollendes Schluchzen ausgebrochen war; und die Platte war wirklich wie für die beiden geschaffen: für leidenschaftliche Tänze im Empiresalon von Leos Großmutter. Und so begann der Prozeß: mit Leo und mit Federico, die abwechselnd mit der »Großen Tragödin« tanzten und ihr dabei verliebt in die Augen sahen, als wären sie keine Rivalen, als machten sie sich gar nichts aus diesem Mädchen mit den roten Haaren, als ginge es ihnen bloß ums Tanzen, und dabei waren sie unsterblich in sie verliebt, ich natürlich nicht ausgeschlossen, auch wenn ich die Platten auflegte, als ob nichts wäre.

Zwischen zwei Tänzen begann das Neue Jahr: ein Jahr im Zeichen eines Satzes, der zu einem Sinnbild werden sollte; wir strapazierten ihn bis aufs äußerste, denn er paßte auf die verschiedensten Gelegenheiten: wenn wir eine Verabredung nicht einhielten, wenn wir mehr Geld ausgaben, als wir hatten, wenn wir einen feierlichen Anlaß vergaßen, wenn wir ein Buch lasen, das als hervorragend galt, in Wirklichkeit jedoch sterbenslangweilig war: Alle Irrtümer und Fehler, die uns passierten, waren ein »kleines, unbedeutendes Mißverständnis«. Als ersten traf es Federico, und es war zum Totlachen, denn Federico schmiedete, wie übrigens wir alle, Pläne für die Zukunft: Er hatte klassische Literatur inskribiert, in Griechisch war er schon immer ein Genie gewesen, und in der »Antigone« hatte er den Kreon gespielt; wir hatten moderne Literatur inskribiert, das ist aktueller, sagte Leo, was sind schon diese faden Klassiker gegen Joyce? Wir saßen im Caffè Goliardico, jeder mit seinem Studienbuch, und lasen die auf dem Billardtisch ausgebreiteten Studienpläne; Memo hatte sich unserer Gruppe angeschlossen, er kam aus Lecce und war politisch engagiert; es war ihm ein großes Anliegen, daß die Politik korrekt betrieben wurde, weshalb wir ihm den Spitznamen »Abgeordneter« gaben, und schließlich nannte ihn der ganze Jahrgang so. Plötzlich kam Federico hereingestürzt und schwenkte sein Studienbuch; er keuchte und konnte vor Aufregung kaum sprechen: Man hatte ihm irrtümlicherweise ein Studienbuch für Jura gegeben, er konnte es kaum fassen. Als Trost begleiteten wir ihn ins Sekretariat, wo uns ein freundlicher und gleichgültiger Beamter empfing; er war ein alter Mann und hatte schon Tausende von Studenten kommen und gehen sehen; er musterte das Studienbuch Federicos und sein besorgtes Gesicht: Das ist ein kleines, nicht wieder gutzumachendes Mißverständnis, sagte er, Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Federico sah ihn verstört an, mit hochrotem Gesicht, und stammelte: Ein kleines, nicht wieder gutzumachendes Mißverständnis? Der Alte ließ sich nicht aus der Ruhe bringen: Entschuldigen Sie, sagte er, ich habe mich versprochen, ein kleines, unbedeutendes Mißverständnis, wollte ich sagen, noch vor Weihnachten lasse ich Ihnen die richtige Inskription zukommen; wenn Sie wollen, können Sie inzwischen die eine oder andere Juravorlesung belegen, so vergeuden Sie wenigstens nicht Ihre Zeit. Beim Hinausgehen hielten wir uns den Bauch vor Lachen: ein kleines, unbedeutendes Mißverständnis! Und wir brüllten aufs neue los über Federicos wütendes Gesicht.

Wie seltsam die Dinge doch sind. Nach ein paar Wochen erschien Federico eines Morgens mit selbstzufriedener Miene im Goliardico. Er kam gerade aus einer Vorlesung über Rechtsphilosophie, in die er einfach so gegangen war, um etwas zu tun zu haben. Also, Leute, ob wir ihm glaubten oder nicht, er hatte in einer einzigen Stunde Dinge kapiert, die er in seinem ganzen bisherigen Leben nicht verstanden hatte, im Vergleich dazu wußten die griechischen Tragiker rein gar nichts über das Leben; er würde bei Jura bleiben, die Klassiker kannte er ohnehin schon.

Die Stimme Federicos eben war fragend, sie klang metallisch und wie aus weiter Ferne, als käme sie aus dem Telefon; die Zeit geriet ins Schwanken und versank wie in einem Wirbel: Und umgeben von Luftbläschen, treibend im Tümpel der Jahre, tauchte das Gesicht Maddalenas auf. Vielleicht sollte man das Mädchen, in das man einmal verliebt war, nicht an dem Tag besuchen, an dem ihr die Brüste wegoperiert werden. Wenn auch nur aus Selbstschutz. Aber ich hatte keine Lust, mich zu schützen, ich hatte mich bereits ergeben. Und so ging ich hin. Ich wartete im Korridor auf sie, vor dem Operationssaal, wo der jeweilige Patient ein paar Minuten warten mußte, bis er an der Reihe war. Sie brachten sie auf dem Rollbett, und auf ihrem Gesicht lag die unschuldige Fröhlichkeit der Vornarkose, die, glaube ich, eine Rührseligkeit ohne Bewußtsein erzeugt. Ihre Augen glänzten, und ich drückte ihr die Hand. Ich begriff, daß sie noch immer Angst hatte, eine von der Chemie gedämpfte Angst. Sollte ich etwas sagen? Am liebsten hätte ich gesagt: Maddalena, ich war immer in dich verliebt, keine Ahnung, warum ich dir das nicht früher habe sagen können. Aber einem Mädchen, das gerade in den Operationssaal gebracht wird, zu einer derartigen Operation, kann man so etwas nicht sagen. Also flüsterte ich so schnell ich konnte: Vielgestaltig ist das Ungeheure, und nichts ist ungeheurer als der Mensch, auch über das graue Meer im winterlichen Südwind geht er und unter rings aufbrüllendem Wogenschwall kommt er hindurch — ein Satz aus »Antigone«, den ich bei der Aufführung vor vielen Jahren zu ihr gesagt hatte; keine Ahnung, warum er mir so deutlich vor Augen stand und ob sie sich an ihn erinnerte, ob sie imstande war zu verstehen; sie drückte mir die Hand, und sie brachten sie weg. Ich ging hinunter zum Krankenhausbüffet; an Alkoholischem gab es nur Amaro Ramazzotti, und ich brauchte ein Dutzend davon, um mich zu betrinken; als mir übel wurde, setzte ich mich auf eine Bank vor dem Krankenhaus, und ich mußte mir einreden, daß es ein Wahnsinn wäre, zum Chirurgen zu gehen, daß es der Alkohol war, der dieses Bedürfnis in mir verursachte, denn ich wollte tatsächlich zum Chirurgen gehen und ihm sagen, er solle die Brüste nicht verbrennen lassen, sondern sie mir geben, denn ich wollte sie aufheben, und es machte mir auch nichts, wenn sie innerlich krank waren, denn in uns allen ist immer irgendeine Krankheit, und ich hatte sie gern, die Brüste, sie hatten — nun, wie soll ich sagen? — eine Bedeutung, ich hoffe, Sie verstehen. Aber der letzte Funke von Verstand hielt mich davon ab, und ich schaffte es, ein Taxi zu erreichen; zu Hause schlief ich den ganzen Nachmittag; das Telefon weckte mich, als es bereits dunkel war, ich sah nicht einmal auf die Uhr, und die Stimme Federicos sagte: Tonino, ich bins, hörst du mich, Tonino? Wo bist du?, fragte ich mit belegter Stimme. In Catanzaro, antwortete er. Ich: in Catanzaro, was treibst du in Catanzaro? Er: Ich bewerbe mich als Staatsanwalt, ich habe gehört, daß es Maddalena nicht gut geht, daß sie im Krankenhaus ist. Genau, sagte ich, erinnerst du dich, was sie für Brüste hatte? Es gibt sie nicht mehr: zack! Und er sagte: Was redest du da, Tonino, bist du betrunken? Sicher bin ich betrunken, sagte ich, stockbesoffen bin ich, und mir graut vor dem Leben, und auch vor dir mit deinem Staatsanwaltsposten in Catanzaro, warum hast du sie nicht geheiratet? Sie war in dich verliebt und nicht in Leo, und das hast du immer gewußt; du hast sie nicht geheiratet, weil du Angst hattest, weshalb hast du diese Klugscheißerin von einer Frau geheiratet, kannst du mir das sagen? Ein Arschloch bist du, mein lieber Federico. Ich hörte, wie es klick machte, als er auflegte, sagte noch ein paar Unflätigkeiten ins Leere, und dann ging ich zurück ins Bett und träumte von einem Feld voller Mohn.

Und so flogen die Jahre wahllos vor und zurück, und Leo und Federico tanzten noch immer mit Maddalena im Empiresalon. Und während die beiden da vorne saßen, der eine im Talar und der andere in seinem Käfig, begann die Zeit plötzlich wie wild durcheinanderzuwirbeln, wie in einem alten Film, in der Art von Kalenderblättern, die davonfliegen und sich aufs neue zusammenfügen, und inzwischen tanzten die beiden mit Maddalena und blickten ihr tief in die Augen, und ich legte die Platten auf. Und weiter: wir alle eines Sommers im Gebirgscamp des Nationalen Olympiakomitees, die Spaziergänge im Wald, die Tennisleidenschaft, die uns alle gepackt hatte, aber Leo spielte als einziger ernsthaft: der Leo mit seiner unschlagbaren Rückhand und dennoch so elegant, mit den anliegenden Leibchen, den schweißnassen Haaren und dem nach dem Match um den Hals geschlungenen Handtuch. Am Abend lagen wir auf der Wiese und philosophierten über das Leben: Wem würde Maddalena den Kopf auf die Brust legen? Und dann dieser Winter, der uns alle überraschte, vor allem, was Leo betraf. Wer hätte sich das gedacht: Er, so elegant und betont oberflächlich, der an die Statue im Vorraum des Rektorats geklammert, vor den versammelten Studenten eine enthusiastische Rede hielt? Er trug einen grünlichen, militärisch geschnittenen Parka, der ihm hervorragend stand; meiner war blau, weil ich dachte, blau passe besser zu meinen hellen Augen, aber Maddalena achtete gar nicht darauf, jedenfalls sagte sie nichts; sie betrachtete nur den Parka Federicos, der ihm zu weit war und ihn plump machte; ich fand diesen zu groß geratenen, steifen Jungen mit den zu langen Ärmeln lächerlich, aber den Frauen schien er offensichtlich zu gefallen.

Dann begann Leo mit leiser und monotoner Stimme zu sprechen, als erzählte er ein Märchen, und das war die Ironie Leos, ich wußte das; im Gerichtssaal hätte man eine Stecknadel fallen hören, die Journalisten machten gebannt ihre Notizen, als verkündete er ihnen das Große Geheimnis, und auch Federico hörte ihm mit äußerster Aufmerksamkeit zu; Gott im Himmel, dachte ich, warum tust du, als hörtest du ihm wie gebannt zu, er erzählt dir doch nichts Neues, in diesem Winter warst auch du dabei. Und fast stellte ich mir vor, daß Federico plötzlich inmitten des Hohen Gerichts aufstand und sagte: Meine Herren Geschworenen, mit Ihrer Erlaubnis möchte ich diesen Teil erzählen; er ist mir bestens bekannt, da ich ihn selbst erlebt habe: Die Buchhandlung hieß »Nuovo Mondo« und lag an der Piazza Dante, heute befindet sich an ihrer Stelle eine elegante Parfümerie, wenn ich nicht irre, die auch Taschen von Gucci verkauft. Sie bestand aus einem großen Zimmer und zwei Nebenräumen rechts: einem Abstellraum und dem Klo. Im Abstellraum haben wir niemals Bomben aufbewahrt und auch keine sonstigen Sprengstoffe, sondern die Salzringe aus Apulien, die Memo mitbrachte, wenn er in den Ferien in seinem Dorf gewesen war, und dort trafen wir uns jeden Abend und aßen Salzringe aus Apulien und Oliven. Unser Gesprächsthema war fast immer die kubanische Revolution, und über dem Kassentisch hing auch tatsächlich ein Poster von Che Guevara; aber wir beschäftigten uns auch mit den anderen historischen Revolutionen; und ich mußte über sie berichten, denn was die Geschichtsphilosophie anbelangt, so wußten meine Freunde recht wenig; ich hingegen hatte die Geschichte des politischen Gedankens für eine Prüfung studiert, die ich mit Auszeichnung bestand, und so hielt ich einige Vorlesungen über Babeuf, Bakunin und Carlo Cattaneo, die wir Seminare nannten; in Wirklichkeit waren mir die Revolutionen jedoch ziemlich egal, ich machte das alles nur wegen eines Mädchens mit roten Haaren, die Maddalena hieß und in die ich verliebt war, aber ich war davon überzeugt, daß sie in Leo verliebt war, oder besser gesagt, ich wußte, daß sie in mich verliebt war, hatte aber Angst, sie könnte in Leo verliebt sein; kurz und gut, es war ein kleines, unbedeutendes Mißverständnis — ein Satz, der zwischen uns üblich war in dieser Zeit, und dann war da Leo, der mich andauernd auf den Arm nahm; Leo hatte schon immer die Gabe besessen, die Leute auf den Arm zu nehmen, er ist schlagfertig und hat das Talent zur Ironie, und so stellte er mir leicht böswillige Fangfragen, damit alle sahen, daß ich ein Reformist war und er ein wahrer, ein radikaler Revolutionär; aber so radikal war er in Wirklichkeit gar nicht, der Leo, er wollte mich bloß vor Maddalena bloßstellen, und so geschah es, daß er — teilweise aus Überzeugung und teilweise aus Zufall — in den Vordergrund rückte, daß er der Wichtigste wurde in unserer Gruppe, aber auch für ihn war das ein kleines Mißverständnis, das er für unbedeutend hielt. Und Sie wissen ja, wie es ist: Die Rolle, die man spielt, wird zur Wirklichkeit; das Leben ist tüchtig, wenn es darum geht, die Dinge zu verhärten, und die Haltungen werden zu Lebensentscheidungen.

Aber Federico sagte kein Wort davon, er verfolgte nur aufmerksam die Fragen des Staatsanwaltes und die Antworten Leos, und ich dachte: Das ist doch nicht möglich, das ist eine Aufführung. Aber es war keine Aufführung, nein, es war die Wirklichkeit, sie prozessierten gegen Leo, und auch die Dinge, die Leo gemacht hatte, waren wirklich, und er gestand sie offen und gleichmütig ein, und Federico hörte ihm gleichmütig zu, und da dachte ich, daß auch er nicht anders konnte, denn dies war seine Rolle in der Komödie, die man gerade spielte. Und in diesem Augenblick spürte ich einen Impuls der Rebellion; den Wunsch, mich dieser Handlung, die bereits festgelegt schien, zu widersetzen — einzugreifen, sie zu verändern. Was kann ich tun?, dachte ich, und mir fiel nur Memo ein, das war alles, was ich tun konnte; ich verließ den Gerichtssaal und ging in die Vorhalle hinaus, wo ich den Carabinieri meinen Ausweis zeigte; während ich die Nummer wählte, dachte ich hektisch darüber nach, was ich sagen sollte: Sie prozessieren gegen den Leo, würde ich sagen, komm, du mußt etwas unternehmen, er gräbt sich sein eigenes Grab, es ist absurd, natürlich weiß ich, daß er schuldig ist, aber nicht in diesem Ausmaß; er ist nur ein Rädchen in einem Getriebe, das ihn zermalmt hat, aber er spielt die Rolle dessen, der die Hebel des Getriebes bedient hat, aber er tut es nur, um sich selbst treu zu bleiben, er hat niemals eine Maschinerie betätigt und wahrscheinlich hat er nicht einmal Geheimnisse auszuplaudern, er ist nur er selbst, derselbe Leo wie damals, als er mit dem Handtuch um den Hals Tennis spielte, aber er ist auch intelligent, er ist ein intelligenter Idiot, und das alles ist absurd.

Das Telefon läutete eine Zeitlang und dann antwortete eine höfliche und kühle Frauenstimme mit deutlich römischem Akzent: Nein, der Herr Abgeordnete ist nicht da, er ist in Straßburg, was wünschen Sie? Ich bin ein Freund, sagte ich, ein alter Freund, könnten Sie ihn bitte ausfindig machen? Es handelt sich um etwas sehr Wichtiges. Es tut mir leid, sagte die höfliche und kühle Stimme, aber das wird leider nicht möglich sein, der Herr Abgeordnete ist in einer Sitzung, aber wenn Sie möchten, können Sie eine Nachricht hinterlassen, ich werde sie ihm so bald wie möglich übermitteln. Ich legte auf und ging in den Saal zurück, aber anstatt mich auf meinen Platz zu setzen, blieb ich am oberen Ende des halbkreisförmigen Saales stehen, hinter der Reihe der Carabinieri; ein Raunen ging gerade durch die Reihen; Leo hatte wohl eine seiner typischen Bemerkungen gemacht, auf seinem Gesicht lag noch der böswillige Ausdruck dessen, der gerade etwas Hinterhältiges gesagt hat, und in diesem Ausdruck spürte ich eine große Traurigkeit. Und auch Federico, der die Unterlagen vor sich ordnete, schien mir von einer großen Traurigkeit befallen zu sein, als lastete ein Gewicht auf seinen Schultern, und in diesem Augenblick verspürte ich den Wunsch, im Blitzlichthagel der Fotografen durch den Saal zu gehen, bis hin zur Balustrade, und mit den beiden zu sprechen, ihnen die Hand zu drücken, nun, irgend etwas Ähnliches. Aber was hätte ich sagen sollen? Daß es sich um ein kleines, nicht wiedergutzumachendes Mißverständnis handelte? Denn während ich das dachte, hatte ich tatsächlich das Gefühl, das alles sei nur ein riesiges kleines nicht wiedergutzumachendes Mißverständnis, das vom Leben vereinnahmt worden war: Die Rollen waren inzwischen zugeteilt, und es war unmöglich, sie nicht zu spielen; und auch ich mit meinem Notizblock, auch ich, der ich einfach zusah, wie sie ihre Rollen spielten, spielte eine Rolle, und darin bestand meine Schuld: daß ich gute Miene zum bösen Spiel machte, denn man spielt überall mit und hat an allem Schuld, jeder auf seine Weise. Und in diesem Augenblick überkam mich eine große Müdigkeit und eine Art Scham, und gleichzeitig nahm mich eine Vorstellung in Besitz, die ich nicht entschlüsseln konnte: etwas, das ich als das Bedürfnis nach Vereinfachung bezeichnen könnte. In einem Sekundenbruchteil, in dem sich ein Knäuel mit atemberaubender Geschwindigkeit aufrollte, begriff ich, daß wir aufgrund einer Sache da waren, die sich Kompliziertheit nennt, und die in Hunderten, Tausenden und Millionen von Jahren Schicht für Schicht immer kompliziertere Kreisläufe, immer kompliziertere Systeme kondensiert hat, bis das entstanden war, was wir sind und was wir erleben. Und mich überkam die Sehnsucht nach der Vereinfachung, als ob die Millionen von Jahren, die die Wesen hervorgebracht hatten, die da sind: Federico, Leo, Maddalena, der »Abgeordnete« und ich — als ob diese Millionen von Jahren sich wunderbarerweise in ein aus Nichts bestehendes Stäubchen Zeit auflösten: Und ich stellte mir vor, wie wir alle auf einem Blatt saßen. Das heißt, nicht gerade saßen, denn unsere Körper waren mikroskopisch klein und mononuklear geworden: ohne Geschlecht, ohne Geschichte und ohne Verstand; und dennoch mit einem Funken von Bewußtsein, der es uns möglich machte, uns zu erkennen, zu wissen, daß wir fünf es waren, die da auf einem Blatt saßen und kleine Schlückchen Tau tranken, als säßen wir mit einem Getränk an einem Tischchen im Caffè Goliardico, und unsere Funktion bestand einzig und allein darin, dazusitzen, während ein anderes Grammophon für uns eine andere »Strada anfosa« spielte, in einer anderen Form, die aber im wesentlichen dieselbe war.

Und während ich gedankenverloren auf diesem Blatt saß, erhob sich das Gericht und auch das Publikum; nur der Leo blieb in seinem Käfig sitzen und zündete sich eine Zigarette an; vielleicht war das eine Verhandlungspause, ich wußte es nicht; aber ich ging auf Zehenspitzen hinaus; draußen war die Luft glasklar und der Himmel türkisblau; vor dem Justizpalast stand verloren das Wägelchen eines Eisverkäufers, und hin und wieder fuhr ein Auto vorbei; ich machte mich auf den Weg in Richtung Hafen; auf dem Kanal lag ein verrosteter Lastkahn, der lautlos dahinglitt, wie ohne Motor; ich ging an ihm vorbei, und darauf standen der Leo und Federico, der eine mit seinem spöttischen Gesicht und der andere ernsthaft und nachdenklich; sie blickten mich fragend an, und es war deutlich, daß sie auf einen Satz von mir warteten; und hinten auf dem Kahn stand Maddalena, als führe sie das Steuer, strotzend vor Jugend, und lächelte wie ein Mädchen, das weiß, daß es vor Jugend strotzt. Kinder, wollte ich zu ihnen sagen, erinnert ihr euch an »Strada anfosa«? Aber die drei waren steif und unbeweglich, und ich begriff, daß sie in realistischer Manier geschaffene und zu bunt bemalte Gipsfiguren waren, in extravaganten und karikaturenhaften Posen, wie sie manchmal die Puppen in den Schaufenstern haben. Und ich sagte nichts, natürlich nicht, sondern winkte ihnen nur mit der Hand, während der Kahn mit ihnen davonfuhr, und ging weiter auf die Mole hinaus, langsam und zögernd, und dabei versuchte ich, nicht auf die Zwischenräume zwischen den Pflastersteinen zu treten, wie ich es auch als Kind getan hatte, als ich mit einem unschuldigen Ritual versuchte, der Symmetrie der Steine meine kindliche Dechiffrierung der Welt anzupassen, die noch keinen Rhythmus kannte und kein Maß.

Rätsel

Heute nacht habe ich von Miriam geträumt. Sie trug ein langes, weißes Kleid, das von weitem wie ein Nachthemd wirkte, sie kam am Strand auf mich zugelaufen, die Wellen waren erschreckend hoch und die Brandung lautlos: Es war wohl der Strand von Biarritz, auch wenn er völlig leer war, und ich saß in einem Liegestuhl, im ersten der endlos langen Reihe leerer Liegestühle, aber vielleicht war es auch ein anderer Strand, ein imaginärer Strand, denn soweit ich mich erinnere, gibt es keine solchen Stühle in Biarritz, und ich winkte ihr und lud sie ein, sich zu setzen, aber sie ging mit starr nach vorne gerichtetem Blick weiter, als habe sie mich gar nicht bemerkt, und als sie an mir vorbeiging, spürte ich einen eisigen Hauch, als wäre sie von einem kalten Schein umgeben, und da begriff ich mit dem in Träumen selbstverständlichen Staunen: Sie war tot.

Manchmal leuchtet uns eine Lösung nur auf diese Weise ein: im Traum. Vielleicht weil die Vernunft feige ist, weil es ihr nicht gelingt, die Leere zwischen den Dingen zu füllen und eine Vollständigkeit herzustellen, die eine andere Form der Einfachheit ist und eine Kompliziertheit voller Löcher vorzieht: Und somit überläßt der Wille dem Traum die Lösung. Aber morgen oder sonst einmal werde ich träumen, daß Miriam lebt: Sie wird am Meer entlanggehen und auf meinen Ruf hören, sie wird sich neben mich in einen Liegestuhl setzen, am Strand von Biarritz oder an irgendeinem anderen imaginären Strand, und sich mit einer langsamen, müden, durch und durch sinnlichen Bewegung das Haar zurückstreichen, wie es ihre Art ist, sie wird aufs Meer hinausblicken und mir ein Segelschiff zeigen, oder eine Wolke, lachend, und wir werden beide darüber lachen, daß wir es geschafft haben, daß wir gemeinsam hier sind, daß wir uns zu unserem Rendezvous eingefunden haben.

Das Leben ist ein Rendezvous, ich weiß, Monsieur, das ist eine Banalität, nur wissen wir nie wann, mit wem, wie und wo. Und so denken wir uns: Hätte ich dieses statt jenem gesagt, oder jenes statt diesem, wäre ich spät aufgestanden anstatt früh, oder früh anstatt spät, dann wäre ich heute unmerklich anders, oder die ganze Welt wäre unmerklich anders. Oder sie wäre wie immer, nur ich wüßte es nicht. Aber ich wäre zum Beispiel nicht hier, um Ihnen eine Geschichte zu erzählen, um Ihnen ein Rätsel zu stellen, das keine Lösung hat, oder doch eine, die nur diese eine sein kann und die ich nicht kenne, und manchmal, hin und wieder, erzähle ich die Geschichte einem Freund, bei einem Gläschen, und sage: Ich stelle dir ein Rätsel, vielleicht kannst du es lösen. Aber warum interessieren Sie sich eigentlich für Rätsel? Haben Sie eine Leidenschaft für Kreuzworträtsel, oder ist es nur die kalte Neugier dessen, der das Leben der anderen beobachtet?

Ein Rendezvous und eine Reise, auch das ist eine Banalität, ich spreche natürlich vom Leben, wie oft mag das wohl schon gesagt worden sein?, und während der großen Reise machen wir wiederum Reisen: kleine unbedeutende Fahrten auf der Kruste dieses Planeten, der ebenfalls reist, aber wohin? Die ganze Welt ist ein Rätsel, jetzt halten Sie mich wohl für verrückt. Aber damals stand ich still, ich befand mich in einer Periode der Stagnation, meine Zeit versickerte in einem Tümpel der Apathie, und ich besaß die Ruhe derer, die nicht mehr allzu jung, aber auch noch nicht allzu erwachsen sind, und die einfach auf das Leben warten. Stattdessen kam Miriam. Ich bin die Gräfin von Terrail, ich muß nach Biarritz. Und ich bin der Marquis von Carabas, aber normalerweise verlasse ich meine Ländereien nicht. Es begann tatsächlich so, mit diesen Sätzen. Wir waren im ›Chez Albert‹, in der Gegend von Porte Saint-Denis, nicht gerade ein Ort für Gräfinnen. Am Nachmittag, nachdem ich die Werkstätte zugesperrt hatte, ging ich immer auf ein paar Gläschen in dieses Bistro, inzwischen existiert es nicht mehr, an seiner Stelle befindet sich einer dieser Läden, die menschliches Fleisch auf Film verkaufen, das sind die Zeiten. Albert hätte sich gerne am Friedhof Père Lachaise begraben lassen, weil Proust dort liegt, aber dann reichte es, glaube ich, nur für Ivry, an der Peripherie, auch das sind die Zeiten. Früher, das war etwas anderes, ich will nicht nostalgisch werden, aber das war wirklich etwas anderes: Sie brauchen sich ja nur die Autos heutzutage anzusehen, sie haben einen Motor, der ist so klein, daß er in ein Taschentuch paßt, man hat nicht einmal genug Platz, um den Vergaser abzumontieren. Albert war nicht wirklich mein Kompagnon, aber so gut wie, er beschaffte auch einen guten Teil der Autos; als die Straßen noch nicht geteert waren und man Schutzbrillen gegen den Staub trug, war er Rallyepilot gewesen, ein winziges Männchen, das an der Bartheke melancholisch geworden war und nur lachte, wenn er ein Gläschen zuviel getrunken hatte, aber dann zapfte er das Elsäßerbier und schmiß dir den Krug wie in einem Cowboyfilm über die Theke und rief: la vitesse! Die vitesse war sein Ruin gewesen, aber es war halb so schlimm, er hinkte bloß ein wenig, und mit der Linken konnte er nicht gut zupacken. Ihm war es gelungen, das Auto von Agostinelli zu bekommen. Von Proust, wollte ich sagen. Keine Ahnung, wie er das angestellt hatte. Agostinelli war der Chauffeur von Proust gewesen, ein braver Junge, und mit ihm hatte Proust die Normandie durchquert, von einer gotischen Kathedrale zur anderen, keine Ahnung, ob zwischen den beiden was war, ist ja auch Nebensache, wie Sie wissen, hatte Proust so seine Vorlieben. Wie dem auch sei, um auf unser Gespräch von vorhin zurückzukommen: Ich hatte etwas geschrieben, vor ein paar Jahren, als ich das erste Jahr Literatur studierte, und ich hatte gedacht, das könnte meine Dissertation werden, aber dann ließ ich alles sausen, die Sorbonne und die Professoren, die mir wie Invaliden vorkamen; meine Dissertation hätte heißen sollen: Les impressions de Proust en automobile,