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Mit diesem Band schließt Arno Gruen, einer der führenden Psychoanalytiker unserer Zeit, seine Trilogie ab. Er beleuchtet pointiert und eindringlich, wie gefährlich es ist, alles der abstrakten Rationalisierung zu unterwerfen. Sobald wir sprechen können, lernen wir, gehorsam und vernünftig zu sein. Aber es ist eine kalte Vernunft, die unser Leben entfremdet und unsere Welt vernichtet. Nach und nach nehmen wir unsere Gefühle zurück, lassen sie verkümmern, verlieren unser Selbst. Wir sind in der modernen Welt nicht frei, obwohl wir uns dafür halten. Freiwillig begeben wir uns von einer Abhängigkeit in die nächste: Es sind die Zwänge der durchrationalisierten Gesellschaft, die anonym verwaltet und gesteuert wird. Immer mehr Menschen geraten in einen Teufelskreis von Gehorsam, Gewalt, Terror und kalter Vernunft. Unsere Welt wird durch diese unmenschliche Rationalität in den Abgrund gerissen, wenn wir uns dieser Entwicklung nicht entgegenstellen und umkehren.
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Arno Gruen
Wider die kalte Vernunft
Klett-Cotta
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Diese Publikation basiert auf dem Beitrag: »The Role of Empathy and Mother-Child Attachment in Human History and the Development of Consiousness. The Neanderthal’s Gestation«, in: Jahrbuch für Psychodynamische Forschung, Nr. 6, 2005. Dieser ins Deutsche übersetzte Beitrag wurde von Arno Gruen völlig überarbeitet und erheblich erweitert.
Klett-Cotta
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© 2016 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung
Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart
Alle Rechte vorbehalten
Umschlag: Rothfos & Gabler, Hamburg
Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell
Printausgabe: ISBN 978-3-608-94903-2
E-Book: ISBN 978-3-608-10945-0
Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.
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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
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Worüber es in diesem Buch geht . . .
. . . und warum die Empathie eine so entscheidende Rolle spielt
Die Rolle des Besitzes
Bindung und Kooperation
Empathie
Linke und rechte Gehirnhälfte
Der Neandertaler
Aggressivität
Schwangerschaft und Sicherheit
Empathie, Sicherheit und Gehorsam
Sprache und Identität
Bewusstsein ist mehr als Kognition
Stress, Angst, Versorgung und Bewusstsein
Schwangerschaft, Sicherheit und die Evolution des Menschen
Die Bedürfnisse des Kindes und das empathische und kognitive Lernen
Bewusstsein
Die Emotionen des Empathischen
Schmerz als Wahrnehmung des lebendigen Organismus
Schluss
Danksagung
Anmerkungen
Literatur
In Wahrheit ist die dunkle Kammer,
in der die reine Vernunft thronen soll,
vollkommen leer.
Theodor Lessing,
am 31. August 1933 in Marienbad von den Nazis ermordet.
John Lennon: »Working Class Hero«
Du bist kaum auf der Welt, da sorgen sie schon dafür, dass du dich klein fühlst
Indem sie dir überhaupt keine Zeit schenken statt alle Zeit der Welt
Bis der Schmerz so groß ist, dass du gar nichts mehr fühlst
Ein Held der Arbeiterklasse, das wär doch was
Ein Held der Arbeiterklasse, das wär doch was
Zu Hause tun sie dir weh, und in der Schule schlagen sie dich
Sie hassen dich, wenn du clever bist, und einen Dummen verachten sie
Bis du so . . . verrückt bist, dass du ihren Regeln nicht mehr folgen kannst
Ein Held der Arbeiterklasse, das wär doch was
Ein Held der Arbeiterklasse, das wär doch was
Wenn sie dich dann über zwanzig Jahre lang gefoltert und eingeschüchtert haben
Erwarten sie von dir, dass du dich für eine Karriere entscheidest
Wo du doch mittlerweile so voller Angst bist, dass du gar nicht mehr richtig funktionierst
Ein Held der Arbeiterklasse, das wär doch was
Ein Held der Arbeiterklasse, das wär doch was
Sie stellen dich ruhig mit Religion und Sex und Fernsehen
Und du meinst, du bist so clever und klassenlos und frei
Aber so wie ich das sehe, murkst du immer noch Bauern ab
Ein Held der Arbeiterklasse, das wär doch was
Ein Held der Arbeiterklasse, das wär doch was
An der Spitze ist noch Platz, jedenfalls behaupten sie das immer noch
Aber erstmal musst du lernen, wie du lächelst, während du tötest
Wenn du so sein willst wie die Leute da oben
Ein Held der Arbeiterklasse, das wär doch was
Ein Held der Arbeiterklasse, das wär doch was
Wenn du ein Held sein willst, folge einfach mir
Wenn du ein Held sein willst, folge einfach mir
Die zentrale Bedeutung der Mutter-Kind-Bindung, der Empathie und der Kooperation
Die Geschichte der Menschheit ist nur zu verstehen, wenn wir die Entwicklung der Mutter-Kind-Bindung berücksichtigen. Empathie und Kooperation bilden den Kern dieser Entwicklungsgeschichte. Für die Leserinnen und Leser, die meiner Arbeit zugetan sind, ist die Kenntnis wichtig, dass das eigene, verdrängte Empathische wieder bewusst gemacht, und da, wo Kinder involviert sind, die Beziehung zu ihnen vertieft werden kann. Leider wurden diese Grundsätze des menschlichen Verhaltens sowie ihre Entstehung, Entdeckung und Bestimmung bis heute versäumt.
Wie, fragt Peter Gstettner in seinem Buch »Die Eroberung des Kindes durch die Wissenschaft: Aus der Geschichte der Disziplinierung«, konnte die Humanwissenschaft dieses, ihr eigentliches Thema, verfehlen? Weshalb hängen Wissenschaftler, wie in der Anthropologie, immer noch fest an Modellen menschlicher Entwicklung, die davon ausgehen, dass »Wilde« primitiv und »Primitive« naiv sind, »Naivität« kindlich ist und dass frühe Entwicklungsphasen die Grundlage der darauffolgenden, also höheren Entwicklung sind.
Eine Kultur zeichnet sich durch Menschlichkeit aus.
Historiker wie Jürgen Osterhammel (2009) dagegen erkennen, dass die Entwicklung einer Gesellschaft nicht abhängig ist von solch einem Denken, »sondern davon, wie sie ihre schwächeren Mitglieder behandelt, ihre Kinder, ältere Menschen, die Behinderten und die chronisch Kranken«. Wie wir eine Kultur bewerten sollten, darf nicht von ihrer technischen und organisatorischen Qualität abhängen, sondern davon, ob und wie sie Menschen menschlich macht. Kultur sorgt dafür, dass die Menschen geistig gesund bleiben und nicht gesellschaftlich entfremdet werden. Aus dieser Sicht mündet die menschliche Entwicklung nicht in der Frage, ob das Früher-Existierende zu einer späteren höheren Entwicklung führt, sondern führt zur Erkenntnis, dass Entwicklung auch ein Verlust des Menschlichen bedeuten kann. Selbst Samuel Johnson, der Rosseau und seine Betonung des Primitiven kritisiert, schrieb:
»Als der Mensch anfing, nach Privateigentum zu streben, traten Gewalt, Betrug, Diebstahl und Raub auf den Plan. Bald danach brachen Stolz und Neid in der Welt aus und brachten einen neuen Maßstab des Reichtums mit sich, denn die Menschen, die sich bis dahin für reich gehalten hatten, wenn ihnen nichts fehlte, schätzten nun ihr Verlangen nicht nach den natürlichen Bedürfnissen, sondern nach dem Überfluss der anderen ein, und fingen an, sich für arm zu halten, wenn sie gewahr wurden, dass ihre Nachbarn mehr Besitztümer hatten als sie selbst (. . .).«1
Verlagerung der Bewusstseinsvorgänge von der rechten auf die linke Gehirnhälfte und die Zurückdrängung der Empathie.
Um zu verstehen, was der Mensch im Laufe seiner Geschichte erreicht oder versäumt hat, müssen Empathie und Kooperation als bedeutsame Faktoren berücksichtigt werden. So muss die Entwicklung des Gehorsams als Merkmal der sozialen Entwicklung erkannt werden, weil der Gehorsam sich wohl erst zu einem späten Zeitpunkt der menschlichen Evolution herausgebildet haben muss, als Herrschaft, Aggression und Besitz das gesellschaftliche Leben änderten. Es muss, wie ich es deute, eine Verlagerung der Bewusstseinsvorgänge von der rechten auf die linke Gehirnhälfte stattgefunden haben, wodurch empathische Vorgänge zurückgedrängt wurden. Diese Veränderung hängt auch mit der Entwicklung unserer Sprachen als bestimmender Faktor unseres Erlebens zusammen. Untersucht wurde auch, welche Rolle die verlängerte Schwangerschaft der Neandertaler in ihrer Bewusstseinsentwicklung spielte. Die Berücksichtigung der Interaktion zwischen Mutter und Kind beim Menschen legt eine Veränderung unseres Bewusstseins nahe, da die Entwicklung von Wettbewerb und Konkurrenzkampf sowie das Bedürfnis nach Macht die Mutter-Kind-Beziehung änderten.
Die menschliche Evolution basiert nicht nur auf archäologischen Funden.
Die erstaunlichen Fossilienfunde der vergangenen Jahrzehnte haben uns zu einer Fülle von Wissen über unsere Vorfahren verholfen.1 Paläontologen konzentrierten sich dabei vor allem auf Erkenntnisse über das »Aussehen und Verhalten des frühen Menschen«2. Bedenken an dieser Fokussierung äußerte Derek Bickerton, indem er darauf hinwies, dass sich die Forscher mehr für das Äußere der Schädel als für das, was in ihnen vorgegangen ist, interessierten.3
Bickertons Einwand hat Widerspruch hervorgerufen. Er macht jedoch auf ein wichtiges Problem aufmerksam: Dass nämlich unsere Vorstellungen über das, was in den Köpfen unserer Vorfahren vorging, auf Mutmaßungen von Archäologen und Paläontologen beruhen, und dass diese Hypothesen nicht mit der Realität der frühen Menschen übereinstimmen müssen. So nehmen zahlreiche Paläontologen unter anderem an, der Schlüssel zum Verständnis des urmenschlichen Verhaltens liege in einer genetisch vorbestimmten Intelligenz, die vom Überlebenskampf geprägt sei. Demnach habe sich das menschliche Verhalten im Zusammenhang mit einer verbesserten Informationsverarbeitung und einer neuartigen Reaktionsfähigkeit entwickelt, die sich durch Wettkampf herausbildeten und zu einer natürlichen Auslese im Sinne des »Überlebens des Stärkeren« führten.
Kampf, Rivalität und Wettbewerb sind neuartige Entwicklungen zwischenmenschlicher Umgangsformen.
So sieht Gibbons4, der sich auf O. Bar-Yosef 5 bezieht, die menschliche Evolution als eine Abfolge von Menschenarten, wobei die eine die andere auslöschte. Das zentrale Verhaltensmuster der Evolution wäre demnach der Wettkampf um Ressourcen6, was hieße, dass Rivalität und Wettkampf evolutionäre Veränderungen verursachten. Gegen einen von Rivalität und Kampf geprägten plötzlichen Umbruch spricht jedoch die lange Dauer der Evolution. Es scheint also eher eine allmähliche Entwicklung stattgefunden zu haben. Dafür spricht auch Diamonds7 Erkenntnis, dass Naturvölker für gewöhnlich ein ausgeglichenes, nicht von Wechseln charakterisiertes Leben führen.
Womöglich war das menschliche Verhalten über Tausende von Jahren hinweg recht ausgeglichen, was hieße, dass Kampf und Rivalität oder Wettbewerb als Kennzeichen zwischenmenschlicher Umgangsformen eine relativ neuartige Entwicklung darstellen, die vor etwa zehntausend Jahren begann und in der Herausbildung einer archaischen Form staatlicher Organisation und Zivilisation resultierte.8
Renggli9 betont, dass der Mensch vor 12 000 Jahren durch die Entwicklung der Agrikultur sesshaft wurde. Dadurch trennten sich Mütter von ihren Babys, eine Verhaltensweise, die alle Hochkulturen charakterisiert und sie von dem ununterbrochenen Körperkontakt zwischen Mutter und Kleinkind anderer Kulturen unterscheidet.
Die Auffassung, dass Veränderung und Fortschritt für die Evolution des Verhaltens entscheidend gewesen seien, und dass die Evolutionsgeschichte darin bestanden habe, dass eine Hominiden-Art die andere verdrängte, spiegelt wohl eher die Werte und Interessen der Beobachtenden wider, die wiederum in der Struktur der historisch verhältnismäßig jungen Sozialordnung, in der wir leben, begründet ist.10 Diese Auffassung drückt die gängige Überzeugung aus, Wettbewerb sei ein Naturgesetz.
Mensch zu sein bedeutet mehr, als sprechen zu können.
Aussagen über die Vergangenheit des Menschen beruhen auf Interpretationen, Vermutungen und Spekulationen. Sie dürfen sich nicht – und das gilt für jede historische Disziplin – auf die oberflächliche Beschreibung sozialer Interaktionen beschränken, sondern müssen sich damit auseinandersetzen, was diese für das Leben der Menschen und im Sinne der Evolution bedeuteten. Isabel Azevedo schreibt in ihrem Brief an die Zeitschrift Science11, ein Mensch zu sein, bedeute weit mehr, als sprechen zu können. Sie plädiert für einen Paradigmenwechsel 12 unserer Wahrnehmung und fordert eine Neuorientierung der wissenschaftlichen Erforschung der Menschheit. Solch eine Neuorientierung würde nicht nur auf die von Azevedo zitierten neuen Untersuchungsergebnisse zurückgreifen, die hauptsächlich aus dem jungen Bereich der Neuropsychologie stammen, sondern auch frühere anthropologische Studien berücksichtigen.
Das Leben der Neandertaler: dauernder Überlebenskampf oder empathische Interaktion?
Laut Irven Devore und Melvin J. Konner13 hat die ganze Menschheit mehr als 99 Prozent der drei Millionen Jahre, die sie diesen Planeten bewohnt, als Jäger und Sammler gelebt. 50 000 Jahre bevor die menschliche Spezies begann, Pflanzen anzubauen, Tiere zu züchten und die Umgebung auf jede erdenkliche Art und Weise zu verändern, entstand die moderne Form des Homo sapiens. Dieser bildete die Verhaltensmuster der Aggression, der Zuneigung und der Stressbewältigung sowie Strukturen des Familien- und Gruppenlebens aus. Aus den jetzigen harten Existenzbedingungen der Jäger und Sammler schlossen Forscher, dass deren früheres Leben ein dauernder Überlebenskampf war. Solche Rückschlüsse offenbaren eher, wie Devore und Konner zeigen konnten, die einseitige Ausrichtung der Forscher, erklären aber nicht die Realität. Die menschliche Evolution lässt sich also nicht einfach auf der Basis archäologischer Funde verstehen. Was den evolutionären Prozess auch geprägt und die Entwicklung des menschlichen Bewusstseins beeinflusst hat und immer noch beeinflusst, ist die lebendige Interaktion zwischen Mutter und Kind.
Besitz bedeutet Bewusstseinswandel.
Wir scheinen nicht in Erwägung zu ziehen, dass der Gedanke des Besitzes als Ausdruck von Überfluss oder Armut unsere eigene Sozialordnung widerspiegelt – und nicht das tatsächliche Erleben von Menschen.1 Schon im 18. Jahrhundert hatte Samuel Johnson darauf hingewiesen, dass sich in solchen Missverständnissen der kulturelle Hintergrund der Forscher ausdrückt. Und Johnson erkannte, schon der Begriff des Besitzes bewirke einen Bewusstseinswandel. Ganz ähnlich meinte Joseph Wood Krutch2