Wie das Leuchten von Bernstein - Nele Blohm - E-Book
SONDERANGEBOT

Wie das Leuchten von Bernstein E-Book

Nele Blohm

0,0
9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

»Dort, wo sich Himmel und Meer küssen, geschieht etwas Magisches.«

Über Nacht verliert Marie ihren geliebten Blumenladen im Münchner Glockenbachviertel und ihren Verlobten, der sich mal eben auf einen Selbstfindungstrip nach Südostasien verabschiedet. Pleite und planlos flieht sie auf ihre Heimatinsel Hiddensee ins Reetdach-Hotel ihrer Oma Gertrud. Diese beauftragt augenblicklich die Inselschamanin, um Maries Pechsträhne mithilfe eigenwilliger Rituale zu beenden. Doch die erhoffte Wirkung bleibt aus. Stattdessen trifft Marie auf Bernsteinschmied Ole, ihre große Jugendliebe. Aber da ist noch das alte Familiengeheimnis, das sie damals von der Insel vertrieben hatte ...

Ein Roman wie der perfekte Strandtag: heiter, erfrischend und voller Möglichkeiten

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Das Buch

Marie wohnt mit ihrem Verlobten Jan im hippen Münchner Glockenbachviertel. Dort führt sie auch ihren geliebten kleinen Blumenladen, das Blumenreich. Als Jan von jetzt auf gleich verkündet, zu einem Selbstfindungstrip nach Südostasien aufzubrechen – ohne Marie –, gerät ihr Leben gewaltig aus den Fugen. Die anstehende Hochzeit will er mal eben auf unbestimmte Zeit verschieben, und die gemeinsame Wohnung soll auch von einem Tag auf den anderen aufgelöst werden. Marie ist völlig vor den Kopf gestoßen. Als sie dann auch noch ihr Blumenreich verliert, flieht sie Hals über Kopf in ihre Heimat, auf die kleine Insel Hiddensee.

Dort erwarten sie ihre gutmütige Oma Gertrud und die eifrige Inselschamanin Irmgard, die mit tröstender Hausmannskost und eigenwilligen spirituellen Ritualen bereitstehen, um Maries Leben wieder zurechtzurücken. Und dann ist da noch Ole, der Bernsteinschmied. Maries große Jugendliebe. Der ist erst einmal gar nicht begeistert von ihrer Rückkehr. Denn so plötzlich, wie sie nun wieder auf Hiddensee auftaucht, so plötzlich hat sie ihn und ihre Heimatinsel damals verlassen. Es ist Zeit, dass Marie sich ihrer Vergangenheit stellt – und damit auch dem Familiengeheimnis, über das sie eigentlich nie mit irgendjemandem hat sprechen wollen …

Ein Buch wie ein erfrischender Sprung ins Meer!

Die Autorin

Hinter Nele Blohm steht die erfolgreiche Bestsellerautorin und Selfpublisherin Mila Summers. Sie wurde 1984 in Würzburg geboren. Als Kulturwissenschaftlerin arbeitete sie lange für eine Onlinedruckerei, bevor sie in der Elternzeit zum Schreiben fand, dem sie sich nun ganz widmet. Sie liebt das Meer und Liebesgeschichten mit Happy End, die uns an wunderschöne Orte entführen. Mit Mann, Kindern und ihrem übermütigen Jack Russell Tummy lebt sie in ihrer Heimatstadt.

NELEBLOHM

Wie das Leuchten

von Bernstein

Roman

WILHELMHEYNEVERLAG

MÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Originalausgabe 05/2021

Copyright © 2021 by Nele Blohm

Copyright © 2021 by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Jil Aimée Bayer

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München,

unter Verwendung von

shutterstock/Oleksandr Lytvynenko/Natasha Pnkina

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN: 978-3-641-27218-0V001

www.heyne.de

   

Für Flo

Meine große und wahre Liebe

Kapitel 1

Graue Wolken zogen sich über dem Wasser zu einer feucht-nebligen Masse zusammen. Vereinzelt kämpfte sich die Sonne durch das bedrohlich wirkende Gebilde, ein Lichtstrahl aus Hoffnung und Zuversicht, der sich schon im nächsten Augenblick wieder verlor.

Ich starrte auf die unendlichen Weiten des Meeres, das sich tiefschwarz vor mir ausbreitete. Gleichförmige Wellen bildeten sich vom Bug aus, der das Wasser für einen Moment zu teilen vermochte.

Die See frischte auf, und der Duft aus Salz, Regen und Fisch – aus Heimat – umspielte meine Nase, während mir der Wind die Kapuze vom Kopf löste, sodass mir mein Haar regelrecht ins Gesicht peitschte. Es hatte vor wenigen Minuten angefangen zu regnen, dennoch stand ich unbewegt draußen an Deck der MS Gellen, einer Personenfähre, die mich von Schaprode auf Rügen nach Kloster auf Hiddensee bringen würde.

Der raue Wind und der unnachgiebige Regen waren mir allemal lieber als das Gerede der Leute. Und das würde unweigerlich folgen, sobald ich einen Fuß unter Deck setzte. Denn außer mir waren nur wenige Passagiere an Bord, und ich ging stark davon aus, dass es sich um diese Jahreszeit ausschließlich um Einheimische handelte, die mich sicherlich erkennen würden. Im Moment fehlte mir die Kraft, mich den neugierigen Blicken der Einwohner Hiddensees zu stellen. Statt also Vernunft anzunehmen und ins Innere des Schiffes zu gehen, zog ich mir die Kapuze wieder über den Kopf und hielt sie mit eiskalten Fingern fest.

Die See war für Anfang Mai unnatürlich stürmisch. Die Wellen schwappten mit einer solchen Wucht gegen den Rumpf des Schiffes, dass ich die Reling mit der anderen Hand umklammert hielt, um nicht den Halt zu verlieren. Mein Magen rebellierte ein wenig, doch schließlich beließ er es dabei. Besser für uns beide.

Wir hatten Schaprode kaum hinter uns gelassen, da erkannte ich schon die Umrisse der Insel, auf die ich wenige Tage nach meiner Geburt gekommen und wo ich bis zu meinem achtzehnten Lebensjahr geblieben war. Auf der Insel selbst gab es weder ein Krankenhaus noch eine Hebamme, sodass alle Frauen nach Rügen mussten, um zu entbinden. Ausnahmen gab es nur bei Notgeburten. Da half Dr. Küffner aus, der Allgemeinarzt, der ansonsten auch mal als Tierarzt fungierte.

Für einen Augenblick schloss ich die Lider und konzentrierte mich einzig und allein auf die Geräusche und Gerüche, die mich umgaben. Das dumpfe Dröhnen der Maschinen blendete ich dabei so gut es ging aus. Übrig blieben noch das Kreischen der Möwen, der pfeifende Wind, die deftige Meeresbrise, … Das alles war mir wohlvertraut, und eine bekannte Sehnsucht machte sich in mir breit. Sehnsucht nach Heimat. Nach Zugehörigkeit.

Schlagartig öffnete ich die Augen wieder und schüttelte leicht den Kopf. Hiddensee war nicht mehr meine Heimat. Schon lange nicht mehr. Wenn mir nur eine einzige andere Alternative geblieben wäre, was ich nach meiner Totalpleite – in meinem Beruf und in der Liebe! – in München hätte machen können, dann wäre ich jetzt sicher nicht mit der letzten Fähre des Tages auf dem Weg zu meiner Großmutter.

Meine Reise nach Hiddensee kam einer Bankrotterklärung gleich. Ich hatte nicht mal versucht, gegen mein Schicksal anzukämpfen. Aber wie hätte ich das mit leeren Taschen und fehlender Unterstützung auch tun sollen?

Meine Freundinnen Caro und Silke hatten mir zwar geholfen, den Laden auszuräumen und die Wände weiß zu streichen. Aber sie hatten ihre eigenen Leben zu bestreiten. Silke würde bald ein Kind bekommen, und Caro trauerte noch immer um ihren Vater, der erst vor wenigen Wochen verstorben war. Nein, ich musste es alleine schaffen. Irgendwie.

Die Überfahrt dauerte gerade mal fünfundvierzig Minuten. Ein paar Fischerboote und der ein oder andere Segler, der verwegen dem Wetter trotzte, kreuzten unseren Weg. Die bunten Bojen im Wasser signalisierten wie kleine Leuchtpunkte die Strecke zum Ziel. Ein Ziel, das ich mir nicht selbst gesteckt hatte, und das sich im Moment eher wie ein Rettungsring anfühlte.

Ein Raucher verirrte sich zu mir aufs Deck. Ich kannte ihn. Natürlich kannte ich ihn. Die Urlaubssaison auf Hiddensee würde erst in ein paar Wochen starten. Die vielen Tagesgäste, die wie Heuschrecken auf die Insel strömten, würden noch eine Weile auf sich warten lassen, auch die meisten Ferienwohnungen standen noch leer. Die Leute, die zusammen mit mir auf der Fähre waren, lebten auf Hiddensee, arbeiteten aber auf Rügen oder dem Festland.

So wie Herr Schwiecker, der sich nun wenige Meter entfernt von mir an die Reling lehnte. Sein Sohn Max war mit mir in die Inselschule gegangen. Gerade einmal sechzig Schüler waren wir gewesen, alle Jahrgänge zusammengezählt, die kleinste Schule Mecklenburg-Vorpommerns. Unser ganz eigenes Bullerbü … Astrid Lindgren wäre stolz auf uns gewesen.

Früher hatte Max’ Vater auf Rügen als Altenpfleger gearbeitet. Die Menschen auf Hiddensee waren beständig. Gut möglich, dass er seinem Job noch immer nachging. Vielleicht war er aber inzwischen schon in Rente.

Er grüßte mich freundlich. Ich erwiderte den Gruß und zog mir anschließend die Kapuze etwas weiter in die Stirn. Was lächerlich war. Schließlich würden spätestens morgen früh alle wissen, dass ich zurück war.

Als die MS Gellen in Kloster festmachte, ließ ich zunächst die übrigen Passagiere vom Schiff gehen, ehe auch ich es wagte, den Fuß an Land zu setzen. Ich schwankte leicht. Früher hätte mir eine Überfahrt nichts ausgemacht, aber jetzt dauerte es einige Minuten, bis ich meinen Körper wieder davon überzeugt hatte, dass ich mich auf festem Boden bewegte.

Im Hafen von Kloster standen vier Pferdekutschen der Fuhrmannsfamilie Altenthal bereit. Je zwei Kaltblüter scharrten ungeduldig mit den Hufen und wieherten, während die Kutscher ihre Hinterlassenschaften vom Boden aufklaubten und in einem Eimer sammelten. In der Hochsaison waren es mindestens ein Dutzend mehr, besonders zu den Stoßzeiten morgens und abends, wenn die Inselbesucher auf das süße Ländchen – wie Hiddensee im Volksmund auch genannt wurde – drängten und nach ihren Tagesausflügen aufs Festland zurückgebracht werden mussten. Hiddensee bot nicht ausreichend Platz zum Übernachten für die Vielzahl an Gästen, die jedes Jahr auf die Insel strömten. Also waren viele der Urlauber gezwungen, die Insel am Abend wieder zu verlassen.

Um dieses stete Kommen und Gehen reibungslos über die Bühne zu bringen, hatte man die Altenthals beauftragt. Hiddensee war autofrei. Ein Idyll für jeden Umweltaktivisten und Aussteiger, aber auch für Familien mit kleinen Kindern und Rentner. Für jüngere Leute konnte es ganz schnell langweilig werden. Irgendwann hatte man den wuchernden Sanddorn und die beiden großen Naturschutzgebiete einfach nur satt. Ich hatte sie zumindest sattgehabt.

»Marie, was machst du denn hier?«, ertönte eine mir nur zu vertraute Stimme.

»Hallo, Jette«, grüßte ich meine ehemalige Klassenkameradin, die in Friesennerz und Gummistiefeln plötzlich neben mir stand und mich unverfroren von oben bis unten musterte. »Ich besuche meine Großmutter.«

Hinter uns trugen Arbeiter des einzigen Transportunternehmens auf der Insel Kartons mit Obst und Gemüse vom Schiff und verstauten diese auf den Pferdekutschen. Richtig – heute war Freitag. Daran hatte ich gar nicht gedacht. Am Freitag wurden per Fähre die Lebensmittel für die Bewohner von Hiddensee gebracht. Jede Kiste war dabei mit einer Nummer versehen, die zuvor einem Haus zugewiesen worden war. Offenbar hatte sich auch daran in den letzten Jahren nichts geändert.

»Da wird sich Gertrud aber freuen«, sagte Jette nun mit einem halbherzigen Lächeln auf den Lippen. »Die ersten Feriengäste kommen schon nächste Woche, hab ich gehört. Da kann sie jede Hilfe gut gebrauchen.«

Hilfe, die sie in all den Jahren nicht von dir bekommen hat, erinnerte mich mein schlechtes Gewissen. Ich übertünchte meine Betroffenheit mit einem aufgesetzten Lächeln, ehe ich mich rasch von ihr verabschiedete.

Jette und ich hatten uns noch nie besonders gut verstanden. Wobei das vielleicht etwas zu hart ausgedrückt war. Sie war mehr an Pferden und später an Jungs interessiert gewesen, während ich die meiste Zeit am oder noch besser im Wasser verbracht hatte. Es gab einfach so gut wie keine Berührungspunkte zwischen uns. Hatte es nie. Obwohl wir in dieselbe Klasse gegangen waren, hatten wir jahrelang nur wenig Kontakt miteinander gehabt. Dennoch war sie mit ein Grund dafür gewesen, warum ich damals gegangen war.

Mein Blick schweifte hinüber zu den Segelbooten, die im Hafen lagen. Oma Gertrud war früher auch gesegelt. Sie hatte es mir beigebracht, als ich zwölf Jahre alt gewesen war – trotz Mamas Protest. Ich war ihr nach wie vor sehr dankbar für diese Erfahrung. Und für die Zeit, die wir dort auf dem offenen Meer zusammen verbracht hatten.

Oma hatte mich meist besser verstanden als meine Mutter. Nicht selten hatte sie zwischen uns vermittelt. Besonders während meiner Pubertät. Wo Mama vielleicht eine Spur zu streng gewesen war, hatte Oma Gertrud Gnade vor Recht walten und mich meine eigenen Erfahrungen und Fehler machen lassen. In ihren Augen gehörte das zum Leben dazu. Ob das wohl auch noch dazu zählte, wenn man mit fast dreißig beinahe mittellos dastand und keine Ahnung hatte, wie es weitergehen sollte?

Ich schüttelte leicht den Kopf und schob die trüben Gedanken beiseite. Das Wetter spielte freundlicherweise mit, die Sonne drängte sich zwischen den dunklen Regenwolken hervor. Der Anblick entlockte mir ein Lächeln. Das war Hiddensee. Hier änderte sich das Wetter oft Schlag auf Schlag.

Neben der Anlegestelle standen Bollerwagen für die Urlaubsgäste bereit. Doch ich zog es vor, alles, was mir von meinem Leben in München geblieben war, eigenständig zum Inselhotel meiner Großmutter zu bringen. Als mein Rollkoffer laut scheppernd über das Kopfsteinpflaster ratterte, war ich froh, dass ich meinen geliebten Kofferschallplattenspieler vernünftigerweise bei Silke und Frank untergestellt hatte.

Ich vermied den Weg durch Kloster selbst und schlängelte mich am Hafen entlang. Segelschiffe und kleinere Motorboote standen dicht beieinander und wiegten sich rhythmisch im Gleichklang der Wellen.

Als ich noch klein war, hatte ich Oma gefragt, warum der Ort, in dem wir lebten, Kloster hieß, wenn es dort doch überhaupt kein Kloster gab. Oma Gertrud hatte gelacht und mir erklärt, dass es hier sehr wohl mal ein Zisterzienserkloster gegeben hatte und unsere Inselkirche noch ein Relikt davon war.

Willis Fischbarkasse am Hafen war noch immer geöffnet. Schon in meiner Kindheit hatte der eigenwillige Seebär Fischbrötchen aus seinem Schiff heraus verkauft. Die Preise hatten dabei deutlichen Schwankungen unterlegen. Je nach Sympathiefaktor hatte er seine Brötchen verkauft, was bei so manchem Urlauber nicht selten zu Unmut geführt hatte. Aber seine Fischbarkasse war eine Institution auf Hiddensee. Ähnlich wie das Gerhart-Hauptmann-Haus oder das Heimatmuseum.

Ich nahm einen Umweg in Kauf, als ich in den Weißen Weg einbog. Auf diese Weise hoffte ich, nicht so vielen Inselbewohnern zu begegnen, die mich erkennen und mit Fragen löchern könnten. Fragen, auf die ich selbst keine Antwort hatte.

Jan. München. Das Blumenreich. Das alles hatte ich hinter mir gelassen. Vor mir lag nur das weite Meer. Und sonst nichts.

Je weiter ich auf den Strand zulief, desto lauter wurde das Kreischen der Möwen. Über den Kirchweg, der zu beiden Seiten von Sanddorn und üppigen Büschen bewachsen war, kam ich schließlich zu Oma Gertruds Inselhotel.

Erleichtert darüber, endlich angekommen und keiner Menschenseele über den Weg gelaufen zu sein, öffnete ich das alte Holztor ihres Gartens. In München kannte man teilweise nicht einmal die Menschen, die mit einem im selben Haus wohnten. Die plötzliche Vertrautheit hier behagte mir nicht.

Das stattliche reetgedeckte Haus mit den kleinen blau umrandeten Fenstern sah wie immer einladend aus. Auf dem Rasen davor stand eine weiß gestrichene Holzgarnitur, bestehend aus einer Bank mit verschnörkelten Ornamenten im Rückenteil, vier Stühlen und einem Tisch, an dem ich schon Erdbeeren für die selbst gemachte Marmelade meiner Großmutter geschnippelt und so manchen Geburtstag gefeiert hatte.

Von der Wucht der Erinnerungen überrollt, hielt ich einen Moment inne, stellte den Koffer ab und nahm mir kurz Zeit, um meine Umgebung ganz bewusst wahrzunehmen. Die Sanddornbüsche ragten weit in den Garten hinein. Der alte Walnussbaum spendete mit seinen langen knorrigen Ästen Schatten. Am Baum daneben, einer Esche, hing noch immer eine Schaukel. Mein Opa hatte sie dort für mich angebracht.

Dahinter befand sich ein kleiner Schuppen, in dem Oma Fahrräder für ihre Gäste bereithielt. Der Lack bröckelte, und das Holz wirkte an manchen Stellen verwittert, was mich die Stirn runzeln ließ. Das hätte es früher nicht gegeben. Meine Großmutter war immer sehr bedacht darauf gewesen, dass alles ordentlich war. Vermutlich war sie das auch noch immer. Doch es fehlte ihr die Kraft, und wahrscheinlich auch die Zeit, diese Arbeiten alleine zu erledigen.

Oma Gertrud war fast achtzig Jahre alt. Und sie führte das Inselhotel ganz allein. Natürlich halfen sich die Nachbarn untereinander. Aber in den Sommermonaten hatten alle genug mit sich selbst und den Touristen zu tun. Die meisten Hiddenseer vermieteten Zimmer oder Wohnungen an Feriengäste, um mit dem erträglichen Einkommen daraus über den Winter zu kommen.

Als ich die Finger erneut um den Griff meines Koffers schloss, nahm ich mir fest vor, meiner Oma in der Zeit, die ich auf der Insel war, tatkräftig unter die Arme zu greifen. Es gab einiges, was ich hier machen konnte. Der Rasen musste auch dringend gemäht werden, und die Fensterrahmen konnten mal wieder einen frischen Anstrich vertragen.

Voller Tatendrang lief ich auf die Haustür zu. Doch noch bevor ich die halbe Strecke hinter mich gebracht hatte, riss Oma Gertrud die Tür schwungvoll auf und warf freudig ihre Hände in die Höhe.

»Da bist du ja endlich, mein Kind! Musste es denn unbedingt die letzte Fähre sein?«

Ich lachte bei ihren ungeduldigen Worten.

»Du weißt doch, Oma, das Beste kommt zum Schluss«, alberte ich herum und fiel meiner Großmutter eine Spur zu stürmisch um den Hals. Wir beide taumelten lachend und wären fast gefallen.

Oma Gertrud löste sich von mir und ließ ihren prüfenden Blick über mich wandern. »Lass dich mal ansehen. Dünn bist du geworden! Und blass«, sagte sie mit besorgter Stimme. »Aber nichts, was wir nicht wieder hinkriegen würden.« Dabei tätschelte sie mir die Wange und sah mich mit so viel Wärme aus ihren wässrig blauen Augen an, dass ich mich geborgen und geliebt fühlte wie schon lange nicht mehr.

»Ich hab dir frischen Dorsch besorgt und Wirsing dazu gemacht. Das war doch früher immer dein Leibgericht.« Mit einem Lächeln auf den Lippen und ohne meine Antwort abzuwarten, zog Oma Gertrud mich mitsamt dem Koffer ins Haus. Anschließend dirigierte sie mich in die Wohnküche mit der gedrungenen Decke, die neben ihrem Schlafzimmer und meinem ehemaligen Kinderzimmer lag. Die übrigen fünf Doppelzimmer sowie die Ferienwohnung mit eigenem Zugang zum Haus standen ausschließlich den Gästen meiner Großmutter zur Verfügung. Oma Gertrud stand ihren Besuchern gerne mit Rat und Tat zur Seite. Für sie war es daher unabdingbar, dass sie mit ihnen unter einem Dach wohnte.

Als ich den Raum betrat, umfing mich eine wohlbekannte Wärme. Die niedrigen Zimmer fühlten sich an wie ein wohliges Nest, das mich behütete und in dem ich sein konnte, wie ich war, ohne mich für jemanden verstellen zu müssen.

Auf dem Herd köchelte der Wirsing vor sich hin. Der Fisch war bereits filetiert und mehliert. Er musste nur noch in Butter gebraten werden. Eine feine, würzige Note lag in der Luft. Meine Großmutter machte seit jeher ihre Gemüsebrühe selbst. Mir lief das Wasser bei dem herrlichen Duft im Mund zusammen. Mein Magen knurrte. Ich konnte mich gar nicht mehr daran erinnern, wann ich das letzte Mal etwas gegessen hatte. Ich verspürte schon seit einiger Zeit keinen besonderen Appetit mehr. Spätestens seit Jans Offenbarung vor drei Wochen war er mir gänzlich abhandengekommen.

»Oma, das duftet himmlisch!«

Oma Gertrud lächelte, wenn überhaupt möglich, noch eine Spur breiter.

»Dann will ich dich nicht länger warten lassen. Geh ruhig erst rüber in dein altes Zimmer und mach dich frisch. Die Reise war doch lang. Ich mach derweil das Abendessen.«

»Soll ich dir nicht lieber dabei helfen?« Ich wollte meiner Großmutter keine unnötige Arbeit machen. Auch wenn ich wusste, dass sie es sehr genoss, für ihre Lieben zu kochen.

»Papperlapapp! Das bisschen mach ich doch mit links.« Sie zwinkerte mir zu und schwang den Kochlöffel. »Also hopp, beeil dich! Lange wird es nicht dauern.«

Gehorsam folgte ich ihren Anweisungen und stand wenig später in meinem Jugendzimmer. Seit meiner Abreise vor so vielen Jahren hatte sich nichts verändert. Der Staub hatte sich wie eine Patina auf meine Möbel gelegt und eine Zeit konserviert, an die ich mich kaum noch erinnern konnte. Oder wollte.

An der Wand neben der Tür hingen noch die Poster von Lady Gaga und den Black Eyed Peas. Sie strahlten nicht mehr ganz so wie früher, wirkten matt und fahl.

Gedankenverloren stellte ich meinen Koffer neben meinem viel zu schmalen Bett ab, von dem aus mich ein riesiges Micky-Maus-Stofftier grinsend begrüßte.

Neben meinem Schreibtisch war ein Fenster in die Wand gelassen, das zum Meer hinausging. Ich öffnete es und sog die frische Brise ganz fest in meine Lungen. Der Geruch war wunderbar vertraut und legte sich trotz der Kälte wie ein wärmender Mantel um mich.

Wenn ich mich auf die Zehenspitzen stellte und mich ein wenig aus dem Fenster lehnte, konnte ich am Haus vorbei sogar bis zum Meer sehen. Die Strandkörbe waren vom Wasser abgewandt. Noch hatte die Saison nicht begonnen. Aber bald.

Die Wellen rollten unnachgiebig auf den noch vollkommen leeren Sandstrand zu. Hiddensee nannte ganze achtzehn Kilometer Strand ihr Eigen. Ein nicht unerheblicher Teil gehörte allerdings zu einem Naturschutzgebiet und konnte nur auf festen Pfaden erkundet werden.

Ich hatte in den vergangenen Jahren keine Reportage über Hiddensee im Fernsehen ausgelassen. Es war schon komisch, wie sehr man sich mit der Heimat beschäftigte, wenn man in der Ferne war. Zurück mit den Füßen auf dem Boden der Tatsachen, blickte ich verträumt aufs Meer hinaus, beobachtete die kreisenden Möwen und die vereinzelten Segelboote und Surfer. Das Wetter zeigte sich nun von seiner besten Seite. Als hätte die Insel nur darauf gewartet, die verschollen geglaubte Tochter wieder in ihrem Schoß aufzunehmen.

Wie damals in meiner Kindheit stützte ich meine Ellbogen auf dem Fensterrahmen ab und sah hinaus. Stundenlang hatte ich dasitzen und dem Schilf dabei zusehen können, wie es sich in den Dünen sanft im Wind wiegte. Oma Gertrud hatte mich manchmal eine Träumerin genannt und mich dann aus meinem Zimmer an die frische Luft geschickt. Dabei sollte man meinen, dass ich am offenen Fenster genug frische Luft abbekommen hätte.

Ich spürte, wie die Anspannung der letzten Tage und Wochen allmählich von mir abfiel. Wie ich ruhiger wurde. Außer dem Rauschen des Meeres und dem Pfeifen des Windes hörte man nur das Lachen einiger Kinder, die etwas von mir entfernt am Strand spielten. Hiddensee war vermutlich einer der wenigen Orte auf Erden, an dem man noch wirklich zur Ruhe kommen konnte. Die sanfte Dünenlandschaft und die Weitläufigkeit, die eher gefühlt war als real – schließlich war die Insel gerade mal neunzehn Quadratkilometer groß, aber eben nur sehr spärlich besiedelt –, machten Hiddensee zu einem wahren Paradies auf Erden.

Als ich am Fenster lehnte und nach draußen sah, wusste ich gar nicht mehr so genau, warum ich damals nicht schnell genug von der Insel hatte verschwinden können. Schließlich war das hier mein Zuhause.

»Marie! Kommst du?«

Omas Worte rissen mich aus meinen Gedanken. Ich ließ das Fenster offen und ging zurück in die Wohnküche. Der Fisch brutzelte in der Pfanne. Meine Großmutter war gerade dabei, den Topf mit dem Wirsing auf ein Tuch auf den Tisch zu stellen.

»Kannst du noch den Tisch decken?«, bat sie mich und berührte mich dabei kurz mit ihren warmen Fingern am Handgelenk.

»Aber klar doch«, erwiderte ich, dankbar dafür, dass ich mich einbringen konnte.

Außerdem rechnete ich es ihr hoch an, dass sie mich nicht gleich zu Beginn mit solch quälenden Fragen bedrängte, wie: Wie lange wirst du bleiben? Wie sehen die Vorbereitungen zur Hochzeit aus? Wann machst du dich endlich auf die Suche nach einem neuen Hühnergott?

Während Oma ein Lied vor sich hin summte, öffnete ich das alte Küchenbüfett neben dem Herd und holte zwei Teller und zwei Gläser heraus. Aus der Schublade unter der Tischplatte kramte ich schließlich noch das Besteck hervor. Es war uralt. Ein Geschenk zur Hochzeit von Oma Gertruds Großeltern. Echtes Silber, blank poliert, das sie wie einen Schatz hütete.

»Na«, sagte Oma, kaum dass wir nebeneinander am Tisch Platz genommen hatten und ich mir den ersten Bissen in den Mund schob. »Wie schmeckt es dir?«

Erwartungsvoll sah sie mich an, während ich damit begann, mein Essen zu kauen.

»Vorzüglich«, murmelte ich mit vollem Mund.

Ein seliges Lächeln umspielte Oma Gertruds Mundwinkel bei meinen Worten. »So soll es sein.«

»Hast du schon viele Gäste?«, fragte ich nach einer Weile des Schweigens.

Oma schüttelte den Kopf. »Nein, bisher ist nur ein Student da, der bei Dr. Küffner ein Sommerpraktikum absolvieren will. Nächste Woche kommen die Brandts aus Karlsruhe und die Woche drauf die Steiners aus Franken.«

Oma hatte vor allem treue Stammgäste, manche von ihnen reisten schon in der zweiten oder dritten Generation an. Wer einmal hier Urlaub gemacht hatte, war Hiddensees Charme meist so sehr erlegen, dass er immer wiederkam. Sie musste also nicht darum bangen, ob sie die Ferienwohnung und die einzelnen Zimmer ihres Inselhotels vermietet bekam.

»Wie geht es denn den Brandts und den Steiners?«, fragte ich zwischen zwei Bissen. Das Essen war wirklich vorzüglich und konnte problemlos mit jeder piekfeinen Sterneküche mithalten. Der Wirsing war saftig und gut gewürzt. Der Fisch war dermaßen zart, dass ich nicht einmal ein Messer brauchte.

Erst jetzt wurde ich mir der Tatsache bewusst, wie sehr ich ihr Essen vermisst hatte. Wie sehr ich sie vermisst hatte. In Gedanken versunken, blickte ich auf die Gabel, auf der sich der Dorsch auf dem Wirsing türmte.

»Gut, gut. Sie kommen ja jetzt mit ihren Enkelkindern. Die alte Frau Brandt hat leider körperlich etwas abgebaut. Ich bin gespannt, wie es ihr im letzten Jahr ergangen ist.« Dann fing Oma meinen Blick ein. Besorgt fragte sie: »Schmeckt es dir nicht? Sind noch zu viele Gräten drinnen? In letzter Zeit übersehe ich sie oft. Vielleicht sollte ich Dr. Küffner mal nach meinen Augen sehen lassen.«

»Nein, nein, alles bestens«, wich ich ihrem prüfenden Blick aus und bemühte mich um ein freudiges Lächeln.

Doch so leicht kaufte mir Oma Gertrud das nicht ab. »Nimm dir doch ein anderes Stück Fisch. Es ist genügend da.«

»Es geht nicht um den Fisch«, sagte ich schließlich.

»Es geht nie um den Fisch«, erwiderte Oma, während sie ihre warme, von Altersflecken überzogene Hand auf meine legte.

»Ich bin nur …« Ich ließ die Gabel zurück auf den Teller gleiten. »… müde und erschöpft von der Reise. Die letzten Wochen waren sehr anstrengend«, hielt ich mich bedeckt.

Seit mir mein Hühnergott – ein Stein mit einem Loch, den ich als Kind am Strand hier auf Hiddensee gefunden hatte – abhandengekommen war, geriet mein Leben jeden Tag ein wenig mehr aus den Fugen. Oder zumindest würde meine Oma es wahrscheinlich so sehen. Ich sehnte mich einfach nach Ordnung und Zuversicht. Und das dermaßen, dass ich sogar dazu bereit gewesen war, in die Heimat zurückzureisen.

Oma Gertrud sah mich aufmunternd an, und schon meldete sich mein schlechtes Gewissen. Sie kannte den wirklichen Grund für meinen Aufenthalt auf Hiddensee nicht. Vermutlich ging sie davon aus, dass ich kalte Füße vor der Hochzeit bekommen und mir kurzerhand eine Auszeit genommen hatte. Aber ich würde meiner Großmutter schon noch alles erzählen. Ich wollte nur erst ankommen und ein wenig durchatmen.

Ihre hellblauen Augen hatten mit den Jahren und den Schicksalsschlägen etwas an Strahlkraft eingebüßt, aber sie leuchtete noch immer von innen heraus. So wie früher. Ihr schlohweißes Haar kräuselte sich auf ihrem Kopf, und ihr rundliches Gesicht war voller Wärme.

»Lass dir Zeit, Marie! Wenn man eines auf der Insel massig hat, dann das. Es wird sich ein Weg finden. Für alles.«

Ich seufzte bei ihren Worten.

»Ja, mal sehen …«

»Bis dahin könntest du Irmgard in ihrem Hexenhäuschen einen Besuch abstatten.«

Ich schüttelte den Kopf und seufzte. »Wenn es doch nur so einfach wäre.«

»Das ist es, mein Kind«, behauptete Oma Gertrud im Brustton der Überzeugung. »Und jetzt iss besser weiter, sonst ist es kalt und schmeckt nicht mal mehr halb so gut.«

Kapitel 2

Drei Wochen zuvor

»›Pleite und planlos in Paderborn.‹« Meine beste Freundin Silke schüttelte den Kopf. »Wer zum Kuckuck denkt heutzutage noch, solche abgedroschenen Schlagzeilen seien toll?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Jemand, der ziemlich planlos und voraussichtlich auch schon sehr bald pleite sein wird, wenn er weiterhin nichts Innovatives liefert.«

Silke lachte, während sie mit der Weißwurst auf mich deutete, die sie sich als kleinen Snack für zwischendurch bei Metzger Bauernfeind um die Ecke geholt hatte. Er war definitiv Münchens beste Adresse, wenn es um Weißwürste ging.

»Die Wievielte ist das heute?«, fragte ich mit schiefem Blick auf die Wurst, die wenig Standfestigkeit zeigte und deren Spitze immer weiter nach unten absackte.

»Jetzt fang du nicht auch noch damit an.« Silke verdrehte genervt die Augen, legte das Handy, auf dem sie eben noch die Nachrichten gelesen hatte, zur Seite und strich sich fürsorglich über den Bauch. »Der Kleine hat eben Hunger.«

»Ich frage doch nur, weil du Weißwürste vor deiner Schwangerschaft nicht mal riechen konntest. Du bist wunderschön. Ich hoffe, du weißt das!« Ich lächelte und wählte ein paar pinke und gelbe Gerbera für den Strauß von Frau Winter aus. Die nette alte Dame kam jeden Mittwochnachmittag und holte sich frische Blumen. Sie war eine der wenigen Stammkundinnen, die mir noch geblieben waren, nachdem schräg gegenüber eine große Blumenladenkette eröffnet hatte und seither mit Dumpingpreisen lockte, denen ich nichts entgegenzusetzen hatte. Außer der Liebe zu meinem Beruf, natürlich. Aber die würde mich, wenn es so weiterging, leider auch nicht über die Runden bringen.

Ich seufzte.

»Alles okay bei dir?«, fragte Silke schmatzend.

»Das Übliche«, erwiderte ich mit festem Blick auf die Blumen. Die lila-weißen Orchideen mit den zarten karamellfarbenen Sprenkeln machten sich wirklich ausgezeichnet in meiner Kreation.

Silke legte die Wurst zurück auf das Packpapier und kam von dem Verkaufstresen, an dem sie bis eben noch gelehnt hatte, zu mir herüber. Die Hand, die sie mir auf die Schulter legte, drückte sanft, aber bestimmt zu.

»Hey, meine Süße, lass den Kopf nicht hängen. Die Leute werden bald schon einsehen, wie viel Herzblut du in deine Arbeit steckst. Da kann keine noch so billige Kette mithalten. Und dann werden sie Schlange stehen, damit sie in dem In-Blumenladen der Stadt einen Strauß bekommen. Wirst sehen.«

Der Versuch eines Lächelns verunglückte auf meinen Lippen, die sich heute nicht dazu durchringen ließen, sich nach oben zu biegen.

»Das ist lieb von dir. Aber das ist leichter gesagt als getan. Wenn es so weitergeht, dann sehe ich echt schwarz. Herr Seidel hat auch schon gedroht, mich rauszuwerfen.«

Silkes Augenbrauen schnellten nach oben, während sie sich in einer unbewussten Bewegung über den Bauch strich.

»Wieso denn das?«

Schlagartig bekam ich ein schlechtes Gewissen. Silke war hochschwanger und sollte sich auf Anraten ihrer Ärztin in den letzten Wochen vor der Geburt besonders schonen, da sie zu Bluthochdruck neigte. Und was tat ich? Statt Rücksicht auf meine Freundin zu nehmen, regte ich sie nur noch mehr auf.

»Ich bin heute wahrscheinlich einfach nur mit dem falschen Fuß aufgestanden. Nichts weiter. Morgen sieht die Welt bestimmt schon wieder ganz anders aus«, lenkte ich ab und versuchte nun doch, meine Mundwinkel zu einem Lächeln anzuheben. Mit nur mäßigem Erfolg. Trotzdem wollte ich nichts unversucht lassen, um Silke auf sorgenfreiere Gedanken zu bringen.

Silke sah mich durchdringend an. Da ich ihrem Blick schon nach wenigen Sekunden nicht weiter standhalten konnte, gab ich mich überaus vertieft in meine Arbeit und sortierte die einzelnen Blumen in meiner Hand noch mal neu. Ich hatte heute keine weiteren Bestellungen vorzubereiten, also blieb mir ausreichend Zeit, den Strauß für Frau Winter ein ums andere Mal neu anzuordnen. Sie würde eh erst am späten Nachmittag vorbeischauen. Und bis dahin blieben mir noch mehr als vier Stunden. Lange vier Stunden, auch wenn Silke mir heute wenigstens für einige Zeit Gesellschaft leistete.

Denn seit der Blumenkaiser in meine unmittelbare Nachbarschaft ins Glockenbachviertel gezogen war, verirrten sich nur noch selten Kunden in meinen Laden. Der Preis war nun mal ein nicht unerheblicher Faktor, wenn es darum ging, die Menschen für sich und seine Ware zu begeistern.

Lange Zeit hatte ich mir eingeredet, dass sich Qualität irgendwann durchsetzen würde. Aber wenn mir vorher die Luft ausging, weil ich meine Lieferanten und vor allem den Pachtgeber nicht weiter vertrösten konnte, brachte mir das auf lange Sicht leider auch nichts.

»Wann beginnt dein Geburtsvorbereitungskurs?«, wechselte ich unvermittelt das Thema.

»In einer Dreiviertelstunde. Willst du mich loswerden?«, fragte Silke scherzhaft.

»Nein! Natürlich nicht. Ich wollte dich nur nicht mit meinen Erzählungen stressen. Das ist alles«, erwiderte ich ein wenig kleinlaut.

Silke grinste. »Mach dir mal wegen mir keine Sorgen. Ich steck das weg. Den Aufreger des Tages hatte ich ohnehin schon heute Morgen, als Herr Kowalsky von gegenüber mit dem Laubbläser durch den Garten gestürmt ist. Um sechs Uhr dreißig. Kannst du das glauben?«

»Im April?«

»Ja. Im April. Man weiß ja nie, wann diese bösartigen Blätter von den Bäumen fallen. Aber mal im Ernst: Wenn jemand für meinen zu hohen Blutdruck verantwortlich ist, dann dieser Rentner, der eindeutig nichts mit seiner Zeit anzufangen weiß. Außer seine Nachbarn in den Wahnsinn zu treiben. Was er, wohlgemerkt, echt perfektioniert hat. Ich meine: sechs Uhr dreißig! Aber ganz sicher nicht meine beste Freundin.« Silke nahm mich fest in ihre Arme. »Ich will alles wissen. Hörst du? Geteiltes Leid ist halbes Leid und so.«

Ich lächelte, ehe ich Mut fasste und Silke mein Herz ausschüttete.

»Jan hat sich überlegt, noch mal die Schulbank zu drücken. Na ja, wohl mehr die Vorlesungsbank. Er will noch mal studieren.«

»Oh«, erwiderte Silke irritiert, während sie sich von mir löste. »Wie kommt er denn darauf?«

Das war noch so ein Thema, das mir in letzter Zeit ziemliche Bauchschmerzen bereitete. Und das nicht, weil Jan momentan derjenige von uns beiden war, der die Miete für unsere gemeinsame Wohnung zahlte.

»Jan ist grade total unzufrieden. In der Firma haben sie ihn bei der Vergabe eines besser bezahlten Jobs übergangen. Und jetzt zweifelt er halt an allem und jedem, macht sich Vorwürfe, dass er nach der Ausbildung nicht weitergemacht und gleich studiert hat«, erklärte ich etwas lapidar.

Tatsächlich hatte sich mein sonst eher ausgelassener und immer gut gelaunter Verlobter in den letzten Monaten ziemlich verändert. Er war miesepetrig und antriebslos geworden. Seine schlechte Laune hatte er dabei nicht selten an mir ausgelassen, auch wenn er sich im Nachhinein meist entschuldigt hatte und selbst ganz unglücklich über seine eigene Unzufriedenheit zu sein schien.

Insofern war ich ja froh darüber, dass er nun beschlossen hatte, aktiv etwas dagegen zu unternehmen. Andererseits belastete mich die Tatsache ungemein, dass uns bei seinen ambitionierten Plänen das Gehalt seines gut bezahlten Jobs als Buchhalter flöten ging.

Die Freude für meinen Freund und die gleichzeitige Zukunftsangst, die mich immer öfter nachts aus dem Schlaf riss, machten mich noch fertig. Und tagsüber stand ich in meinem schlecht laufenden Blumenreich und wusste nicht wohin mit meiner Zeit und meinen Sorgen.

»Der Arme! Das tut mir total leid für ihn. Jan kam mir bisher immer so vor, als wäre er derjenige von uns allen, der total happy mit seinem Leben ist.«

Bei den Worten meiner Freundin fuhr mir ein Stich ins Herz. Doch noch bevor ich nach einer angemessenen Antwort suchen konnte, kündigte das Glöckchen über der Tür einen neuen Kunden an. Sofort nahm ich Haltung an und lächelte freundlich. Bis ich erkannte, wer dort in der Tür stand.

»Jan? Was machst du denn hier?«

Mein Puls schoss schlagartig in die Höhe, als ich meinen Verlobten in der Tür stehen sah. Es war mitten am Tag. Er sollte im Büro sein.

»Hey, ihr beiden«, begrüßte uns Jan freudig. Auf dem Kopf trug er einen wahrhaftigen Tropenhelm, und über seinen Schultern ragte ein nigelnagelneuer Backpacker-Rucksack in die Höhe.

Während ich noch überlegte, wie ich meine Verwunderung möglichst diplomatisch zum Ausdruck bringen konnte, begann Silke aus vollem Hals zu lachen.

»Wie siehst du denn aus? Du erinnerst mich an einen Möchtegern-Archäologen. Nur der Rucksack … passt nicht ganz ins Bild. Was hat dich denn da geritten?«

Genau das wollte ich auch sehr gerne wissen. Und das nicht nur im Hinblick auf unsere schwierige finanzielle Lage, die ganz sicher keine solchen Anschaffungen brauchte. Jan und ich wollten in vier Monaten heiraten. Aber irgendwie verlor ich von Sekunde zu Sekunde immer mehr den Glauben daran, dass der Tag unserer Hochzeit auch wirklich kommen würde.

»Ich werde mir eine kleine Auszeit nehmen und eine Tour durch Südostasien machen.« Jan strahlte bei seinen Worten übers ganze Gesicht.

Seit Monaten hatte ich ihn nicht mehr derart glücklich gesehen. Ich wollte mich wirklich für ihn freuen, wollte dankbar dafür sein, dass er einen Weg aus seiner aufkommenden Depression herausgefunden hatte. Doch stattdessen rollte eine Panikattacke wie eine Dampfwalze über mich hinweg. Ich bekam kaum noch Luft. Bis vor wenigen Minuten glaubte ich noch, Jans Wunsch, noch einmal zu studieren, und mein schlecht laufendes Geschäft seien meine größten Probleme. Aber Jans Worte sorgten dafür, dass mir hier, mitten in meinem Blumenladen, plötzlich übel wurde.

»Was?«, rief Silke viel zu schrill.

Ich schüttelte leicht den Kopf und bemühte mich abermals um Haltung. Silke legte ihren Arm um meine Schultern und zog mich an sich.

»Wusstest du davon?«, fragte sie besorgt und deutete dabei auf Jan.

Ich wollte nicken, den Kopf schütteln, alles gleichzeitig und im Grunde nichts davon. Es dauerte einige Augenblicke, bis ich meine Sprache in dem Maße wiedergefunden hatte, dass ich Silke antworten konnte.

»Es … es stand mal zur Debatte. Aber eigentlich dachte ich, seitdem du wieder studieren wolltest, wäre die Reise vom Tisch?«

Jan winkte ab. »Mit dem Studium kann ich ja frühestens im Oktober beginnen. Bis dahin bleibt mir noch viel Zeit, um die Welt zu entdecken.«

Silke sah zwischen uns beiden hin und her, während ich nichts zu erwidern wusste. Ich fühlte mich vollkommen überrumpelt. Jan hatte ganz offenkundig eine Entscheidung getroffen. Für sich. Gegen mich. Gegen uns. Und er schien gar nicht zu kapieren, wie ich mich dabei fühlte. Oder vielleicht interessierte es ihn auch einfach nicht. Ich spürte, wie meine Kehle bei dem Gedanken immer enger wurde, und japste nach Luft.

»Und Marie? Willst du sie etwa hier allein zurücklassen? Was wird aus dem Blumenladen? Was wird aus eurer Wohnung?«, stellte Silke all die Fragen, die kreuz und quer durch meine Gehirnwindungen sausten und die ich dabei einfach nicht zu fassen bekam.

Jan schwebte in anderen Sphären. Zumindest ließ das sein breites Grinsen vermuten. Er verstand offenbar gar nicht, dass es hier ans Eingemachte, ja um meine bloße Existenz ging. Ich stand vor einem Berg aus Sorgen und Ängsten, und er kaufte sich einen Tropenhelm und wollte Abenteuer erleben? Was war bloß schiefgelaufen, dass Jan alles, was wir uns in den letzten Jahren gemeinsam aufgebaut hatten, ohne mit der Wimper zu zucken, über Bord warf? Denn wenn ich mir das hier so besah, ging es auch um uns als Paar. Vor allem darum.

Jan winkte ab. »Marie schafft das alles locker.« Dann wurde er ein wenig ernster. Nur einen Hauch. »Klar, wir werden die Wohnung aufgeben müssen. Schließlich brauche ich das Geld für die Reise. Und das mit der Hochzeit lässt sich ja auch noch ein wenig aufschieben.«

»Aufschieben?!« Das eine Wort kam viel zu schrill aus meinem Mund. Silke zog mich noch enger in ihre Umarmung.

Jan richtete derweil seinen Helm. »Nur um zwei, drei Monate. Höchstens ein halbes Jahr. Wolltest du nicht eh viel lieber im Frühjahr heiraten?«

So langsam platzte mir der Kragen. Jan kam mir gerade vor wie der berüchtigte Elefant im Porzellanladen. Und das Schlimmste daran: Er merkte es nicht einmal. Keine Ahnung, was er eingeworfen hatte oder wie sich seine überaus heitere Stimmung sonst erklären ließ. Das war definitiv nicht mehr der Mann, mit dem ich die letzten sieben Jahre verbracht und zu dem ich, ohne zu zögern, Ja gesagt hatte, als er mich an meinem Geburtstag fragte, ob ich den Rest meines Lebens mit ihm verbringen wolle.

Mein Herz schlug immer schneller, während mein Verstand sich an hanebüchenen Gedanken festkrallte, um die mehr als verstörende Situation auch nur ansatzweise deuten zu können. Lag es vielleicht an dem berühmten verflixten siebten Jahr? Aber war das nicht schon vorbei? Okay, mein Versuch war mehr kläglich als hilfreich. Aber irgendwie schaffte ich es, in diesem Moment nicht durchzudrehen. Was einem Wunder gleichkam, wenn man bedachte, dass ich keine Ahnung hatte, wie mein Leben nun weitergehen sollte.

Ich sollte wütend sein, mit Vasen und Kübeln um mich werfen. Alles wäre besser, als einfach nur stumm dazustehen und mit anzusehen, wie mein Leben eine Wendung nahm, die ich kein Stück hatte kommen sehen.

In Jans Selbstfindungsphase, die, je länger ich darüber nachdachte, verdammt viel Ähnlichkeit mit einer Midlife-Crisis hatte – und das mit gerade einmal dreißig Jahren! –, war er immer wieder mit neuen Veränderungswünschen gekommen. Die Hochzeit war eine davon gewesen. Wenn es nach ihm gegangen wäre, dann hätten wir noch am selben Tag im Rathaus angefragt, wann der nächste freie Termin verfügbar war. Damals hatte ich das noch reichlich romantisch gefunden – wenn auch etwas übereilt, weshalb wir Jans stürmischen Plan dann auch nicht in die Tat umsetzten. Zum Glück! Denn während Jan mich noch vor einigen Monaten nicht schnell genug hätte heiraten können, schien es nun beinahe so, als könne er nicht schnell genug von mir wegkommen.

»Du spinnst ja!«

Wieder war es Silke, die auf den Punkt brachte, was ich mir dachte.

Jan lächelte noch immer selbstbewusst. Wahrscheinlich erwartete er sogar unser vollstes Verständnis. Und Begeisterungsstürme. Mindestens. Schließlich war das ja der beste Einfall seit Menschengedenken.

Das Ganze mutierte zusehends zur Freakshow. Wenn ich nicht selbst von der Situation betroffen wäre, würde ich wahrscheinlich laut loslachen. Doch es betraf mich. Es war mein verdammtes Leben, das da den Bach runterging. Schlagartig musste ich an den Eisbach denken, den wir erst am Samstag zusammen besucht hatten, um den Surfern zuzusehen. Seither waren gerade einmal vier Tage vergangen.

»Silke, ich kann deine Aggressivität mir gegenüber überhaupt nicht verstehen. Nimm dir mal ein Beispiel an Marie. Sie versteht mich.«

Ich wollte widersprechen, doch der Kloß in meinem Hals war so riesig, dass ich ihn einfach nicht hinuntergeschluckt bekam.

Hilflos schielte ich hinüber zu Silke, die jetzt mit absoluter Sicherheit zu hohen Blutdruck hatte. Die pulsierende Ader an ihrem Hals war ein ziemlich eindeutiger Indikator. Verdammt!

»Musst du nicht zum Geburtsvorbereitungskurs?« Meine etwas atemlos ausgesprochene Frage war ebenso unpassend wie wirkungsvoll: Prompt drehte Silke sich zu der Wanduhr in ihrem Rücken um.

»Mist!«, schimpfte sie, als ihr bewusst wurde, dass sie nur mit viel Mühe noch rechtzeitig zu ihrem Termin kommen würde.

Wie ein Tornado wirbelte sie durch meinen Laden, griff sich Handy, ihre Jacke und die Tasche. Auch die angeknabberte Weißwurst vergaß sie nicht. Wie eine Waffe hielt sie sie in Jans Richtung. Leider hatte sie nach wie vor nur wenig Standfestigkeit. Und dennoch.

»Du bringst das hier in Ordnung, Jan Sauerwald. Haben wir uns verstanden? Du wirst Marie nicht einfach im Stich lassen und einen Selbstfindungstrip durch Südostasien machen. Wenn du auch nur noch einen Funken Verstand und vor allem Anstand in dir hast, wirst du diesen ganzen Kram da wieder zurückgeben.« Die Wurst in ihrer Hand vibrierte bei ihren Worten und schlug wie eine Wünschelrute zu allen Seiten hin aus, während Silke auf Jans Helm und den Rucksack deutete. Die Wanderschuhe waren ebenfalls neu. Das war mir bisher gar nicht aufgefallen.

Dann brauste sie an ihm vorbei hinaus auf die Straße und verschwand sogleich in der Menschenmenge.

»Seit Silke schwanger ist, ist sie irgendwie nicht mehr sie selbst. Findest du nicht auch?«, meinte Jan mit einem verständnislosen Kopfschütteln.

Und ich hatte das ungute Gefühl, dass das hier gerade der Anfang war von etwas, das ich auf keinen Fall wollte.

Kapitel 3

Heute

»Wie ist das denn jetzt mit der Hochzeit?«

Kaum dass das Geschirr abgetragen war und ich Oma Gertrud mit dem Abwasch half, brachte sie die Sprache nun doch auf eines der Themen, die mich seit einiger Zeit umtrieben.

»Seid ihr euch denn wirklich ganz sicher, dass ihr im August in München feiern wollt? Ich dachte nur, ihr könntet ja auch zu uns auf die Insel kommen. Da gibt es genügend Platz für alle. Und ihr hättet keine Probleme mit all diesem bayrischen Formalitätenkram.«

Oma Gertrud war eine resolute Frau. Sie wusste, was sie wollte. Gleichzeitig hatte sie das Herz am rechten Fleck. Ich war mir darüber im Klaren, dass sie es nur gut mit uns meinte und uns helfen wollte. Aber das war gerade der denkbar schlechteste Zeitpunkt, um sich über die Organisation einer Hochzeit Gedanken zu machen, die voraussichtlich eh verschoben werden würde. Wenn sie denn überhaupt jemals stattfand. Im Moment war ich mir nicht einmal mehr sicher, ob es überhaupt noch ein Uns gab.

»Das ist total lieb von dir, Oma, aber …«

Meine Großmutter ließ mich gar nicht erst ausreden. Das hier war nicht unsere erste Diskussion über den Ort der Hochzeit, und ich hatte den Eindruck, dass sie sich eine längere Rede zurechtgelegt hatte. Ich polierte derweil das Glas in meiner Hand auf Hochglanz.

»Kind, überleg dir das doch noch mal! Ihr spart euch doch richtig was, wenn ihr hier bei mir heiratet.«

Oma Gertruds Inselhotel hatte sich über die Jahre zu so etwas wie einem Geheimtipp gemausert, auch wenn sie nach Opas Tod alle Hände voll damit zu tun gehabt hatte, den Betrieb am Laufen zu halten. Besonders stolz machte sie die Tatsache, dass das Inselhotel bereits in dritter Generation in Familienbesitz war. Da meine Mutter bereits tot war und ich meinen Vater nicht kannte, war mir klar, dass Oma Gertrud insgeheim den Wunsch hegte, dass ich ihr Lebenswerk fortführen würde. Dabei wusste sie ganz genau, dass das mit Hiddensee und mir auf Dauer nichts werden konnte. Nicht nachdem, was in der Vergangenheit alles vorgefallen war. Eigentlich. Schließlich war ich ja zurückgekommen.

»Oma Gertrud, es wird erst mal keine Hochzeit geben«, schmetterte ich ihr ungehalten entgegen. Die Wucht meiner Worte ließ mich selbst zusammenzucken, und das Glas fiel mir klirrend aus der Hand in die Spüle. Himmel. Hatte ich das gerade wirklich gesagt?

»Keine Hochzeit? Ich verstehe nicht. Was ist denn passiert? Habt ihr euch gestritten?«

Oma Gertrud sah mich bestürzt an. Und besorgt. Das war wirklich das Letzte, was ich gewollt hatte.

Ich seufzte. Im Moment war mir kein bisschen danach, einen Seelenstriptease hinzulegen.

»Jan hat … erst mal andere Pläne«, gab ich mich nebulös und verkrallte mich dabei mit den Fingern im Geschirrtuch, als könnte es mir den Halt im Leben geben, den ich dringend benötigte.

»Andere Pläne? Wie sehen die denn aus? Und warum gerade jetzt? Bekommt er etwa kalte Füße?«

Mein Kopf schwirrte. Kalte Füße, hallte es durch meine Gehirnwindungen. Ich versuchte, den Moment zu greifen zu bekommen, an dem Jan und ich uns voneinander zu entfernen begannen. Aber es gelang mir einfach nicht.

»Ich weiß es nicht«, gestand ich Oma Gertrud.

»Ist denn dein Hühnergott zwischenzeitlich wieder aufgetaucht?«

Nun ließ ich mich mit einem lauten Seufzer auf der Eckbank nieder. Oma Gertrud folgte mir, und ich rutschte ein wenig auf.

Wenn ich eines zutiefst bereute, dann die Tatsache, dass ich ihr überhaupt von meinem verlorenen Hühnergott erzählt hatte. Seither wurde sie nicht müde, mir zu erklären, wie wichtig es war, dass ich ihn wiederfand. Denn der Verlust eines solchen Steines war in ihren Augen ein ganz schlechtes Zeichen und mindestens mit dem Zerbrechen eines Spiegels gleichzusetzen. Sieben Jahre Pech. Eine Ewigkeit, wenn man bedachte, dass ich meinen Talisman erst vor wenigen Wochen verloren hatte.

»Also nicht. Ich werde Irmgard fragen, was in deinem Fall zu tun ist.«