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Der Schuleintritt ist für jedes Kind und seine Eltern ein besonderer Moment. Ein gelingender Schulstart kann Auswirkungen auf die gesamte Schullaufbahn haben, ebenso wie Lernschwierigkeiten das Selbstbewusstsein, die Lernmotivation und Einstellung zur Schule beeinflussen. Inwieweit kann sonderpädagogische Förderung dabei helfen, schulischen Lernschwierigkeiten entgegenzuwirken? Welche Kriterien umfasst das aktuelle Konzept der Schulfähigkeit im deutschsprachigen Raum? Inwiefern ist es kompatibel mit methodisch-didaktischen Konzepten der Grundschule? Ist eine Anschlussfähigkeit gewährleistet? Julia Buck untersucht, inwiefern es möglich ist, die Schulfähigkeit zu fördern, um gravierenden schulischen Lernschwierigkeiten vorzubeugen. Dabei analysiert sie das aktuelle Konzept der Schulfähigkeit und die Strukturen des Übergangs vom Kindergarten in die Grundschule und leitet daraus Konsequenzen für die sonderpädagogische Praxis ab. Aus dem Inhalt: - Sonderpädagogik; - Schulfähigkeit; - Schulreife; - Anschlussfähigkeit; - Lernförderung; - Förderschwerpunkt Lernen; - Kindergarten; - Grundschule
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Seitenzahl: 167
Veröffentlichungsjahr: 2021
Inhaltsverzeichnis
Abstract
1 Einleitung
1.1 Relevanz für den Förderschwerpunkt Lernen
1.2 Zielsetzung
1.3 Fragestellung
2 Methodisches Vorgehen
2.1 Inhaltlicher Ablauf
3 Das Konzept Schulfähigkeit
3.1 Theorien und Perspektiven
3.2 Individuelle Voraussetzungen / Schulfähigkeitskriterien
3.3 Zwischenfazit
3.4 Wichtigste Erkenntnisse
4 Übergang Kindergarten – Grundschule
4.1 Einschulung – rechtliche Rahmenbedingungen (BW)
4.2 Schuleingangsdiagnostik
4.3 Kooperation Kindergarten – Schule
4.4 Rolle / Auftrag der Sonderpädagogik (Förderschwerpunkt Lernen)
4.5 Anschlussfähigkeit
4.6 Wichtigste Erkenntnisse
5 Schulische Lernschwierigkeiten
5.1 Definition
5.2 Ursachen
5.3 Übergänge – potenziell riskante Situationen
5.4 Prävention gravierender Lernschwierigkeiten
5.5 Vorschulische Förderung
5.6 Wichtigste Erkenntnisse
6 Synthese
6.1 Konzept Schulfähigkeit und Übergang Kindergarten – Grundschule
6.2 Übergang Kindergarten – Grundschule und Prävention Lernschwierigkeiten
6.3 Konzept Schulfähigkeit und Prävention Lernschwierigkeiten
6.4 Rolle und Auftrag sonderpädagogischer Förderung
7 Beantwortung der Fragestellungen
7.1 Beantwortung der Hauptfragestellung 1
7.2 Beantwortung der Hauptfragestellung 2
8 Reflexion
8.1 Arbeitsprozess und forschungsmethodisches Vorgehen
8.2 Grenzen und Ausblick
Verzeichnisse
Literaturverzeichnis
Abbildungs- und Tabellenverzeichnis
Abbildung 1: Ökosystemisches Schulreifemodell
Abbildung 2: Transition als ko-konstruktiver Prozess
Abbildung 3: Transitionskompetenz als Kompetenz des sozialen Systems
Abbildung 4: Raum der Zusammenarbeit zwischen Kindergarten und Grundschule
Abbildung 5: Synthese der Themenbereiche
Tabelle 1: Forschungsmethodisches Vorgehen in Anlehnung an Dahinden et al.
Der Schuleintritt ist für jedes Kind und seine Eltern ein besonderer Moment. Ein gelingender Schulstart kann, ebenso wie frühe schulische Misserfolge, Auswirkungen auf die gesamte Schullaufbahn haben. Einige Kinder haben bereits im Anfangsunterricht Schwierigkeiten, die Lernziele zu erreichen und mit der den anderen Kindern Schritt zu halten. Anhaltende Lernschwierigkeiten können Auswirkungen auf das Selbstbewusstsein, die Lernmotivation und Einstellung zur Schule haben. Nicht selten ziehen schulische Lernschwierigkeiten emotionale und soziale Folgestörungen nach sich. Lernschwierigkeiten werden dann sichtbar, wenn Leistungsanforderungen an Kinder gestellt und Leistungen gemessen werden (Barth, 2012). Der Übergang vom Kindergarten in die Grundschule stellt in Bezug auf die Entwicklung von Lernschwierigkeiten eine potenziell riskante Situation dar. In der Schule werden Kinder mit neuen Anforderungen im sozial-emotionalen und sprachlich-kognitiven Bereich sowie in der Selbstregulation konfrontiert. Die Kinder wechseln von einem eher spielerisch unstrukturierten Setting in ein formal strukturiertes Lernumfeld. Nicht allen Kindern gelingt dieser Übergang problemlos (Gold, 2018). Barth (2012, S.11) stellt zum Thema Übergang zwei Thesen auf:
1. „Der Übergang vom Kindergarten zur Grundschule hat in Deutschland bisher noch keine überzeugende Struktur und pädagogische Konzeption gefunden.
2. Viele Kinder versagen in der Grundschule, weil die Ursachen ihrer Lernschwierigkeiten zu spät erkannt werden.“
Der Kindergarten und die Grundschule stellen in Deutschland historisch bedingt zwei getrennte und strukturell wenig aufeinander abgestimmte Bildungsinstitutionen dar (Faust, Wehner & Kratzmann, 2013). Trotz zahlreicher Bemühungen einer besseren Kooperation und Anschlussfähigkeit zwischen den Institutionen in den letzten Jahren stellt der Übergang vom Kindergarten in die Schule immer noch eine besondere Herausforderung dar. Etwa 15 Prozent aller Kinder zeigen bereits im Anfangsunterricht beständige Lernschwierigkeiten. Diese Zahlen weisen darauf hin, dass die Übergangsproblematik auch den Anschluss an das schulische Lernen beeinflusst (Barth, 2012). Barth (2012) hält weiterhin fest, dass häufig viel zu spät nach den Ursachen und Wurzeln von Lernschwierigkeiten gesucht wird. Nämlich erst dann, wenn „das Kind durch seine Misserfolge und [die] Reaktionen seiner sozialen Umwelt bereits zusätzlich neurotisiert wurde“ (Barth, 2012, S.35).
Es stellt sich also die Frage, wie vermieden werden kann, dass so viele Kinder am Übergang scheitern und Lernschwierigkeiten entwickeln. Welche Anforderungen stellen der Eintritt in die Schule und das schulische Lernen an Kinder? Über welche Verhaltensmerkmale und Lernvoraussetzungen muss ein Kind verfügen, um den Übergang vom Kindergarten in die Schule erfolgreich zu bewältigen? Inwiefern sind Eltern, Kindergarten und Schule daran beteiligt, den Übergang gemeinsam mit dem Kind zu bewältigen? Antworten auf diese Fragen werden in der Theorie schon lange gesucht. Das Konzept „Schulfähigkeit“ soll all die Dimensionen erfassen, welche beim Eintritt in die Schule relevant sind. Schulfähigkeit entsteht im Zusammenwirken aller am Übergang beteiligten Personen. Die konkreten Vorstellungen von Schulfähigkeit unterscheiden sich aber je nach Interessensgruppe und spiegeln unterschiedliche Erwartungshaltungen und Perspektiven auf das Konzept (Stamm, 2019).
Was das aktuelle Konzept der Schulfähigkeit ausmacht, wie der Übergang vom Kindergarten in die Schule geregelt ist und gestaltet wird und welche Möglichkeiten schulischer Prävention im Hinblick auf die Schulfähigkeit bestehen, soll Gegenstand dieser Arbeit sein.
In der Pädagogik der Lernschwierigkeiten erweisen sich die Prävention und Frühförderung zunehmend als zentrales Arbeitsfeld, was unter anderem mit neueren Erkenntnissen der Lern- und Entwicklungspsychologie zusammenhängt. Probleme im Lernen sollten rechtzeitig erkannt und behandelt werden (Heimlich, 2016). Ansonsten besteht die Gefahr, dass aus Problemen im Lernen Lernschwierigkeiten werden und damit Bildungsrisiken entstehen. Lernschwierigkeiten können sich in einem gravierenden schulischen Leistungsversagen manifestieren (Gold, 2018). In den „Empfehlungen zur schulischen Bildung, Beratung und Unterstützung von Kindern und Jugendlichen im sonderpädagogischen Schwerpunkt Lernen“ der Kultusministerkonferenz vom 14.03.2019 ist festgehalten, dass sonderpädagogische Bildungs-, Beratungs- und Unterstützungsangebote mit der Phase des Übergangs in die Primarstufe beginnen und die Schulzeit bis zum Übergang in die berufliche Bildung abdecken. Zu sonderpädagogischen Bildungs-, Beratungs- und Unterstützungsangeboten mit präventiver Wirkung macht die Kultusministerkonferenz (2019, S.9) folgende Aussagen:
Durch frühzeitige und präventiv wirkende sowie systematisch angelegte und systembezogene Bildungs-, Beratungs- und Unterstützungsangebote der allgemeinen Schule sowie der Sonderpädagogik gelingt es, grundlegende Bereiche der Lernentwicklung von Kindern und Jugendlichen so zu stärken, dass eine ihren Voraussetzungen entsprechende schulische Bildung möglich wird. Dies ist Aufgabe aller Schulen und erfordert im Einzelfall entsprechende personelle, pädagogische und räumlich-sächliche Voraussetzungen. Grundlage frühzeitiger Unterstützungsangebote und vorbeugender Maßnahmen ist ebenfalls eine Planung individueller Bildungsangebote (Förderplanung).
Je früher man Lernschwierigkeiten entdeckt, desto früher können Beratungs- und Förderangebote erfolgen und umso geringer fallen die negativen Auswirkungen auf die weitere Persönlichkeitsentwicklung aus. Früherkennung und Prävention sind zentral, wenn es um die Vermeidung eines Teufelskreises von Lernschwierigkeiten, Schulversagen, Schulunlust und Verschlechterung des Selbstwertgefühls geht (Barth, 2012). In Bezug auf das Risiko einer Entwicklung von Lernschwierigkeiten stellt der Übergang vom Kindergarten in die Grundschule eine riskante Situation dar. Laut Albers und Lichtblau (2014) weisen Forschungsergebnisse nach, dass Kinder aus bildungsfernen und benachteiligten Familien übermäßig häufig Probleme beim Übergang zeigen. Die Autoren halten fest, dass es daher besonders wichtig ist, diese Kinder intensiv zu unterstützen. Das Wissen um die Problematik von Übergängen im Bildungssystem sowie um Risikofaktoren individueller Lernentwicklung muss dazu führen, dass Lernsituationen, -umwelten und -hilfen so gestaltet werden, dass Lernschwierigkeiten in ihrem Ausmaß und Schweregrad möglichst geringgehalten werden (Gold, 2018).
Eine Analyse des Konzepts der Schulfähigkeit kann Ansatzpunkte für die sonderpädagogische Prävention im Förderschwerpunkt Lernen bieten.
Diese Arbeit soll im Sinne der Prävention von Lernschwierigkeiten untersuchen, inwiefern es möglich ist, die Schulfähigkeit zu fördern, um gravierenden schulischen Lernschwierigkeiten vorzubeugen. Ziel dieser Masterarbeit ist die Verknüpfung der drei Themenbereiche „Konzept der Schulfähigkeit“, „Übergang Kindergarten – Grundschule“ und „Prävention von Lernschwierigkeiten“.
Die Analyse des Konzepts der Schulfähigkeit sowie der Strukturen des Übergangs vom Kindergarten in die Grundschule soll aufzeigen, an welchen Stellen sonderpädagogische Prävention ansetzen kann, um schulischen Lernschwierigkeiten vorzubeugen. Aus den Erkenntnissen sollen Schlussfolgerungen für die sonderpädagogische Praxis im Förderschwerpunkt Lernen gezogen werden.
Aus den oben dargestellten Überlegungen ergeben sich folgende zwei Fragestellungen. Die erste Fragestellung wird durch mehrere Unterfragestellungen präzisiert.
1) Inwieweit kann sonderpädagogische Förderung im Hinblick auf das Konzept der Schulfähigkeit einen Beitrag zur Prävention von schulischen Lernschwierigkeiten leisten?
· Welche Kriterien/Dimensionen umfasst das aktuelle Konzept der Schulfähigkeit im deutschsprachigen Raum?
· Inwiefern ist das aktuelle Konzept der Schulfähigkeit kompatibel mit methodisch-didaktischen Konzepten der Grundschule? Ist eine Anschlussfähigkeit gewährleistet?
· Welche Rolle spielt und welchen Auftrag hat die sonderpädagogische Förderung im Übergang vom Kindergarten in die Grundschule?
· Wie werden gravierende schulische Lernschwierigkeiten definiert, wie entstehen diese und wie kann ihnen präventiv entgegengewirkt werden?
2)
Die vorliegende Masterarbeit wird als Literaturarbeit verfasst. In Anlehnung an Dahinden, Sturzenegger und Neuroni (2014) wird diese Literaturarbeit anhand der nachfolgend vorgestellten Arbeitsschritte verfasst. Es werden einzelne Schritte hinzugefügt, weggelassen oder kombiniert. In nachfolgender Tabelle werden die Arbeitsschritte einzeln vorgestellt und ihre Umsetzung in dieser Masterarbeit erläutert.
Tabelle 1: Forschungsmethodisches Vorgehen in Anlehnung an Dahinden et al. (2014)
Grundlage der Arbeit bildet zunächst die theoretische Auseinandersetzung mit Konzepten und Theorien zur Schulfähigkeit. Ziel der Analyse ist eine Definition eines aktuellen Konzepts der Schulfähigkeit im deutschsprachigen Raum. Es soll aufgezeigt werden, was Schulfähigkeit ausmacht und wie Schulfähigkeit erreicht werden kann.
In einem zweiten Schritt wird der Übergang zwischen Kindergarten und Grundschule sowie deren Anschlussfähigkeit fokussiert. Zunächst einmal wird dargestellt, wie der Übergang im Bundesland Baden-Württemberg abläuft und welche rechtlichen Rahmenbedingungen gelten. Um den Umfang dieser Arbeit nicht zu überschreiten, wird sich bei der Darstellung der Theorie auf das Bundesland Baden-Württemberg beschränkt. In Bezug auf die Anschlussfähigkeit von Kindergarten und Schule wird dargestellt, wo die Herausforderungen liegen und welche Aussagen zu methodisch-didaktischen Konzepten in der Schuleingangsphase in den Grundschulcurricula zu finden sind. In der Synthese soll später dargestellt werden, inwiefern das Konzept der Schulfähigkeit mit aktuellen methodisch-didaktischen Konzepten der Grundschule kompatibel ist und eine Anschlussfähigkeit in dieser Hinsicht gewährleistet ist. Danach wird die Kooperation zwischen Kindergarten und Grundschule näher betrachtet. Es wird erläutert, welche Akteure an der Kooperation zwischen Kindergarten und Grundschule beteiligt sind und welche Vorgaben bezüglich der Kooperation in Baden-Württemberg existieren. In diesem Zusammenhang soll die Rolle der sonderpädagogischen Förderung im Förderschwerpunkt Lernen beleuchtet werden.
Die Prävention schulischer Lernschwierigkeiten bildet den dritten Teil der theoretischen Grundlagen. Auch hier soll über ein umfassendes Literaturstudium eine Auseinandersetzung mit den theoretischen Grundlagen und aktueller Forschung zur Prävention von schulischen Lernschwierigkeiten stattfinden. Zunächst wird dargestellt, wie schulische Lernschwierigkeiten zu definieren sind, welche Ursachen sie haben und welche Kinder besonders gefährdet sind, schulische Lernschwierigkeiten zu entwickeln. Anschließend wird auf die Prävention gravierender Lernschwierigkeiten eingegangen. Es werden zunächst die Ebenen der Prävention vorgestellt, bevor auf konkrete Maßnahmen im Bereich des letzten Kindergartenjahres eingegangen wird. In der Synthese werden die drei Themenbereiche „Konzept der Schulfähigkeit“, „Übergang Kindergarten – Grundschule“ und „Prävention von Lernschwierigkeiten“ verknüpft.
Zunächst wird das Konzept der Schulfähigkeit dargestellt und mit den Übergangsbedingungen in Bezug gesetzt. Dabei wird insbesondere auf die Anschlussfähigkeit der Schuleingangsstufe und des Konzepts der Schulfähigkeit eingegangen. Die Anforderungen der Schuleingangsphase werden den Kriterien der Schulfähigkeit gegenübergestellt. Es werden Schnittstellen identifiziert und Herausforderungen aufgezeigt.
Anschließend werden der Übergang vom Kindergarten in die Grundschule und die Prävention von Lernschwierigkeiten in Bezug gesetzt. Es wird aufgezeigt, wo Verbindungen bestehen, welche Risiken für die Entstehung von Lernschwierigkeiten im Übergang bestehen und an welchen Stellen im Übergang Prävention einsetzen kann/soll.
Danach werden die theoretischen Grundlagen zum Konzept der Schulfähigkeit und der Prävention der Lernschwierigkeiten miteinander verglichen und vernetzt. Es wird aufgezeigt, an welchen Variablen des Konzepts der Schulfähigkeit Prävention ansetzen kann.
In diesem Kapitel wird ein Überblick über die historische Entwicklung des Konzepts der Schulfähigkeit gegeben. Darüber hinaus werden unterschiedliche Vorstellungen und Perspektiven von Schulfähigkeit näher beleuchtet. Zuletzt wird auf individuelle Voraussetzungen beziehungsweise Schulfähigkeitskriterien eingegangen.
Zunächst wird die historische Entwicklung des Konzepts der Schulfähigkeit beleuchtet. Es wird dargestellt, wie die Einschulung geregelt war und welche Kriterien ein Kind erfüllen musste, um in die Schule eintreten zu können. Es werden verschiedene Perspektiven und zugrunde liegende Theorien der Schulfähigkeit erläutert.
Bereits im 16. Jahrhundert enthielten die Schulordnungen Hinweise auf die Regelung der Einschulung und forderten Eltern dazu auf, ihr Kind in die Schule zu schicken, wenn es vernünftig genug sei. In der Braunschweigischen Schulordnung von 1528 heißt es: „Wenn aber die Zeit kommt, dass sie beginnen vernünftig zu werden … Dann ist es Zeit! Dann wird von uns gefordert, dass man sie belehren soll“ (Dietrich & Klink, 1964, S. 5; zit. nach Rüdiger, Kormann & Peez, 1976, S. 14). Die Schulreife wurde zu dieser Zeit auch durch den ersten Schulreifetest, den „Gulden-Apfel-Test“, festgestellt. Ein Kind galt als schulreif, wenn es statt eines Apfels einen Pfennig wählte. Die Schulreife hing damals stark mit der allgemeinen Lebensreife zusammen (Kammermeyer, 2000).
Im 17. Jahrhundert gewann das Lebensalter im Hinblick auf die Einschulung immer mehr an Bedeutung. In verschiedenen Schulordnungen wurden das fünfte beziehungsweise das sechste Lebensjahr als Einschulungszeitpunkte festgelegt. Die Braunschweigische Schulordnung von 1651 setzte als Maßstab für die Einschulung „eine gewisse für den Unterricht erforderliche Sprachtüchtigkeit“ (Rüdiger et al., 1976, S.14). Auch Comenius verband die beiden Kriterien Lebensalter und Entwicklungsstand in seiner Empfehlung für die Einschulung. Die Einschulung sollte mit dem vollendeten sechsten Lebensjahr erfolgen. Der richtige Zeitpunkt der Einschulung hinge aber mit der „Beherrschung der in der „Mutterschul“ vermittelten Fähigkeiten, aufmerksamer und vernünftiger Beantwortung von Fragen und einer gewissen Motivation für „höhere“ Unterweisung“ (Rüdiger et al., 1976, S.14) zusammen. Das reale Einschulungsalter schwankte daher damals zwischen dem fünften und siebten Lebensjahr.
Zur Zeit der Aufklärung kam es zur Verstaatlichung des Schulwesens. Der Zugang zur verbindlichen Pflichtschule war nun staatlich-gesetzlich geregelt. Die Frage einer Regelung zur Einschulung wurde zunehmend bedeutsamer. Der Anfang und das Ende der Schulpflicht wurden exakter festgelegt. Die Einschulung in der Zeit vor dem 20. Jahrhundert erfolgte in Deutschland zwischen dem vollendeten fünften und dem siebten Lebensalter. Neben dem Einschulungsalter spielten auch der allgemeine Entwicklungsstand und kognitive Kompetenzen eine Rolle. Bis zu den 50er Jahren wurde die Schulreife nach einer körperlichen und geistigen Reife beurteilt. Es gab wie heute die drei Optionen altersgemäße Einschulung, Zurückstellung oder vorzeitige Einschulung (Rüdiger et al., 1976).
Der Studienrat Artur Kern erregte 1951 mit seinem Buch „Sitzenbleiberelend und Schulreife – ein psychologisch-pädagogischer Beitrag zu einer inneren Reform der Grundschule“ (Kern, 1951) großes Aufsehen und entfachte eine bildungspolitische Diskussion. Anlass für seine Überlegungen war die zu der Zeit sehr hohe Quote der Sitzenbleiber. Gut ein Drittel aller Schülerinnen und Schüler wurde während seiner achtjährigen Schullaufbahn nicht versetzt. Die Zahlen in der ersten Klasse waren dabei besonders hoch. Kern sah als Ursache nicht die mangelnde Begabung, was bis anhin als Grund angenommen wurde, sondern eine fehlende Reife zum Zeitpunkt des Schuleintritts. Dies spiegelt sich auch in einer seiner bekanntesten Aussagen wider: „… jedes Kind, extrem schwache Begabung (Idiotie und Imbezilität ausgenommen), erreicht im Laufe seiner Entwicklung einmal eine Entwicklungsphase, der jenes Leistungsgefüge zugeordnet ist, das als Voraussetzung für ein erfolgreiches Durchlaufen der Schule angesetzt werden muss. Das eine Kind kommt lediglich früher, das andere später zu diesem Entwicklungszeitpunkt“ (Kern, 1951, S.67; zit. nach Knörzer, Grass & Schumacher, 2007, S.118) Seine Hypothese war, dass eine Verringerung der Quote der Sitzenbleiber nur möglich ist, wenn die Kinder zu einem Zeitpunkt eingeschult werden, an dem sie „reif“ für die Schule sind (Knörzer et al., 2007).
Kern stellte diese Überlegungen vor dem Hintergrund des damals aktuellen psychologischen Forschungsstands namhafter Entwicklungspsychologen an. Die Grundannahmen der damals gültigen Reifetheorie lassen sich laut Knörzer et al. (2007, S.117) wie folgt zusammenfassen:
· Endogene Faktoren beeinflussen die Entwicklung. Die Entwicklung kann durch Umweltfaktoren zwar gebremst, aber nicht beschleunigt werden.
· Ein innerer Bauplan gibt vor, wie sich die Entwicklungsschritte vollziehen.
· Eine Entwicklungsstufe muss vollständig abgeschlossen sein, bevor die nächste begonnen wird. Keine Entwicklungsstufe kann ausgelassen werden.
· Die Entwicklung unterschiedlicher Kompetenzen erfolgt im Gleichschritt. Daher kann vom Entwicklungsstand einer Kompetenz auf den Entwicklungsstand einer anderen Kompetenz geschlossen werden.
Hacker (1998) hält fest, dass Kern diese Annahmen auf seine Theorie zur Schulreife übertrug. Er war der Ansicht, dass zum Schuleintritt jedes Kind einen gewissen Reifezustand erreichen muss, um die schulischen Anforderungen bewältigen zu können. Der Reifezustand bezieht sich vorwiegend auf kognitive Kompetenzen. Kern entwickelte auch einen Grundleistungstest zur Überprüfung des Reifegrades. Nach damaligen Kriterien galt der Test als weitgehend objektiv. Überprüft wurden die visuelle Gliederungsfähigkeit, die feinmotorischen Fertigkeiten, die simultane Mengenerfassung sowie das Symbol-, Regel- und Sprachverständnis ( Rauer, 1984; zit. nach Hacker, 1998). Die biologische und geistige Reife waren nach Kerns Ansicht weitestgehend genetisch bedingt und von außen nicht forcierbar. Kinder mit Entwicklungsverzögerungen sollten deshalb vom Schulbesuch zurückgestellt werden und ein Jahr „nachreifen“. Niesel, Griebel & Netta (2008) halten fest, dass als Konsequenz dieser Überlegungen das Einschulungsalter in Deutschland auf fast sieben Jahre angehoben wurde. So wollte man die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass alle Kinder die Schulreife erreichten.
Die Reifungstheorie von Artur Kern wurde bald angezweifelt. Laut Niesel et al. (2008) zeigten empirische Untersuchungen, dass schulrelevante Kompetenzen durch Umweltfaktoren stärker beeinflussbar waren als durch Reifung. Es wurde nachgewiesen, dass sich unter anderem die Aufmerksamkeit, die Wahrnehmungsdifferenzierung, die Gestaltgliederungsfähigkeit und die Problemlösefähigkeit durch Übung verbessern ließen. Auch ein Zusammenhang zwischen Elternhaus und Schulfähigkeit wurde belegt. Untersuchungen ergaben, dass Kinder aus Familien mit einem höheren sozio-ökonomischen Kapital früher schulreif waren. Ausschlaggebendes Argument für die Widerlegung Kerns Theorie war die Tatsache, dass die Quote der Sitzenbleiber nicht abnahm, sondern tendenziell anstieg (Hasselhorn & Lohaus, 2008; zit. nach Niesel et al., 2008). Kerns Annahme von der Schulreife als Ergebnis genetisch vorgegebener, von der Umwelt nicht beeinflussbarer Entwicklung, konnte nicht lange aufrechterhalten werden. Dennoch gilt auch heute noch mancherorts die Überzeugung, dass Kindern durch ein höheres Alter der Schuleintritt erleichtert werden kann (Niesel et al., 2008).
Laut Niesel et al. (2008) beruht das eigenschaftstheoretische Konzept auf der Annahme, dass der Schulerfolg aus den Eigenschaften und Fähigkeiten eines Kindes vorhergesagt werden kann. Die Eigenschaftstheorie geht davon aus, dass Menschen über eine Reihe relativ stabiler Eigenschaften verfügen, über die man ziemlich genaue Vorhersagen über das Verhalten eines Menschen treffen kann. Mittels Tests wurde versucht, unterschiedliche Aspekte der Schulfähigkeit zu messen. Verfügte ein Kind in einem ausreichenden Maß über diese Fähigkeiten, wurde es als schulfähig angesehen. Nach Kammermeyer (2000) hatten die auf der Grundlage dieser theoretischen Vorstellung konzipierten Schulfähigkeitstests das Ziel der Selektion. Die Tests überprüften unterschiedliche Schulfähigkeitskriterien, wie Gliederungsfähigkeit, Mengenerfassung, Wahrnehmung (Formdifferenzierung), Sprache, Gedächtnis, Konzentration (Kammermeyer, 2000, S.20). Aufgrund des Testergebnisses wurde dann die Entscheidung über eine Aufnahme in die Schule oder eine Zurückstellung gefällt. Kammermeyer (2000, S.20) hält dazu fest: „Wenn von solchen Leistungen auf Schulfähigkeit geschlossen wird, bedeutet dies, dass es weitgehend vorbestimmt ist, was ein Kind in der Schule leisten wird und dass dies nur wenig verändert werden kann“. Verschiedene empirische Untersuchungen zeigten aber bald, dass eine Vorhersage des Schulerfolgs mit Hilfe der Schulfähigkeitstests nicht gelang. Rund die Hälfte der noch nicht schulfähig eingestuften Kinder, schaffte die Grundschule ohne Probleme (Krapp, 1989; Griebel & Minsel, 2007; zit. nach Niesel et al., 2008).
In den 60er Jahren wurden die bisherigen Vorstellungen von Schulreife und Schulfähigkeit durch einen lerntheoretischen Ansatz abgelöst. Der Begriff Schulreife wurde weitläufig durch den Begriff Schulfähigkeit ersetzt. Das lernorientierte Entwicklungskonzept beruht auf der Annahme, dass die Vielfalt und Qualität von Anregungen durch die Umwelt die Entwicklung eines Kindes maßgeblich beeinflussen. Frühkindliche und vorschulische Lernerfahrungen gewannen hinsichtlich der Schulfähigkeit stark an Bedeutung (Barth, 2012). Kemmler und Heckhausen (1969) konnten bereits 1962 die Trainierbarkeit der Gliederungsfähigkeit nachweisen. Somit konnte widerlegt werden, dass es sich bei dieser Fähigkeit um ein stabiles Persönlichkeitsmerkmal oder ein reifungsabhängiges Merkmal handelte.