Wie Tyler Wilkie mein Leben auf den Kopf stellt und was ich dagegen tun werde - Shelle Sumners - E-Book + Hörbuch

Wie Tyler Wilkie mein Leben auf den Kopf stellt und was ich dagegen tun werde E-Book

Shelle Sumners

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Beschreibung

Stell dir vor, jemand schreibt den Soundtrack deines Lebens. Jemand, der dich liebt. Die romantischste und witzigste Lovestory des Jahres! Dies ist die Geschichte von Grace und Tyler. Auch wenn Grace verzweifelt versucht, es NICHT zu Tylers und ihrer Geschichte werden zu lassen … Denn sie hat einen sicheren Plan für ihr Leben. Zumindest so lange, bis sie Tyler kennenlernt – den Dogsitter von nebenan. Mit seinem süßen Lächeln und seinen warmen, braunen Augen bringt Tyler ihren Plan durcheinander. Außerdem schreibt er umwerfend schöne Songs. Über sie. Für sie. Und irgendwann schmilzt Grace dahin. Wer kann ihr das verübeln? Doch als Ty mit seinen Songs zum gefeierten Star wird, nimmt das Schicksal eine unglaubliche Wendung und das Leben seinen Lauf … Eine Geschichte zum Lachen, zum Weinen, zum Träumen und zum einfach nur Glücklichsein. »Shelle Sumners Debüt ist romantisch, witzig und klug. Mitfiebern und Anfeuern ist angesagt, wenn Grace endlich loslässt, ihr Glück versucht und sich verliebt. Man schwärmt und wird schwach, wenn Tyler versucht, ihr Herz zu gewinnen – mit Poesie und Beharrlichkeit.« Adriana Trigiani

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Shelle Sumners

Wie Tyler Wilkie mein Leben auf den Kopf stellt und was ich dagegen tun werde

Roman

Aus dem Amerikanischen von Stefanie Schäfer

Fischer e-books

für meinen Mann und meine Tochter, die mich jeden Tag lehren, was Liebe ist

Wie Tyler Wilkie mein Leben auf den Kopf stellt und was ich dagegen tun werde

der Versuch eines Tatsachenberichts

 

Weil jeder einfach sein Leben lebt

– aufsteht, Zähne putzt, Kaffee verschüttet,

zur Arbeit geht.

Und dann verändert sich von einem auf

den anderen Tag plötzlich alles.

Wie soll man bloß damit klarkommen?

Der erste Herbst

Tag null: der Beginn meiner Entwirrung

(Entwirrung – gibt es dieses Wort überhaupt?)

Als Tyler Wilkie mich zum ersten Mal sah, war ich gestylt wie ein Callgirl.

Rein zufällig lautete meine Kleidungsstrategie an diesem Tag: Dekolleté. Große Geschütze. Oder besser, in meinem Fall, die mittleren, B-in-Richtung-C-Körbchen. Am Tag zuvor, anlässlich des Treffens mit den Lehrmittel-Lobbyisten aus Texas, hatte ich mich nämlich wie eine mennonitische Bibliothekarin angezogen und einfach nur stumm und starr daneben gesessen, als unsere Phantasie von der geballten Ignoranz der Texaner k.o. geschlagen wurde.

Forbes und Delilah Webber fanden meine Bluse mit dem Peter-Pan-Kragen entzückend. Sie nannten mich »die süße Kleine« und »reizend«. Sie versprachen, eine Empfehlung für unser Lehrbuch Gesunde Jugend auszusprechen, wenn wir:

jegliche Informationen im Zusammenhang mit Kondomen streichen würden und

das Wort Vorstellung in Annahme umänderten. Vorstellung erinnere sie zu sehr an Theater, was »gewisse Leute verärgern« könne.

Außerdem baten sie uns, ihnen Musicalkarten für König der Löwen zu besorgen, im Parkett, versteht sich.

Nach dem Treffen bekniete ich meinen Chef, den Webbers abzusagen, doch mein Lektorenkollege Ed, die falsche Schlange, der zufällig aus Texas stammte, kapitulierte und bot an, die Änderungen vorzunehmen. Nicht ohne mich daran zu erinnern, dass wir Texas und dessen Bücherbudget von vierhundert Millionen Dollar keinesfalls vergraulen dürften.

Nun war ein weiteres Treffen mit den Webbers geplant, um ihnen die Korrekturen zu zeigen. Wie sollte ich mich bloß dagegen wehren, von dieser Art verkappter Zensur wie von einer Dampfwalze überrollt zu werden? Die ganze Nacht hatte ich mir den Kopf zermartert. Mir war klar: Ich stand auf verlorenem Posten. Doch ich war entschlossen, dass die »süße Kleine« wenigstens hocherhobenen Hauptes untergehen würde. Ich würde Selbstvertrauen und Stärke ausstrahlen. Wehrhaftigkeit. Sex. Eine grausame Domina auf haushohen Absätzen.

Also so was von überhaupt nicht ich.

Ich entschied mich für das schwarze Nadelstreifenkostüm, das mir meine Mutter vor zwei Jahren zu Weihnachten geschenkt hatte. Ich hatte es genau einmal getragen: zu einer Beerdigung. Nur dass ich dieses Mal den Rock in der Taille um einige Zentimeter höher zog und einen Push-up-BH trug. Ganz hinten in der Schublade fand ich eine fast schon antike Nylonstrumpfhose. Dann quetschte ich mich in die schwarzen Zehn-Zentimeter-Absatz-Pumps, die ich passend zu dem Kostüm im Schlussverkauf bei Lord & Taylor erstanden hatte, schlang meine Haare zu einem tiefen, strengen Knoten und legte Wimperntusche und Lippenstift auf. Roten.

Ich schlüpfte in meinen Regenmantel und bewaffnete mich mit Regenschirm, Laptop und der zehn Kilo schweren, grünen Leder-Umhängetasche, die ich liebevoll die »Große Grüne« nannte. Sie enthielt alles, was ich möglicherweise (oder auch nicht) brauchen könnte, darunter:

Schlüssel

Portemonnaie

Handy

Taschenkalender

Lipgloss

Haarbürste

Haarband

große Haarspange

Papiertaschentücher

Buch (Lolita, zufälligerweise)

iPod

Wasser

Tüte mit ungerösteten Cashew-Kernen

Schokoriegel mit siebzig Prozent Kakaoanteil

Apfel

schwarzer Kuli

Rotstift

schwarzer Edding

rote Strickjacke

kitschiges Vinyltäschchen mit niedlichem Kätzchenfoto, bestückt mit:

 Pflastern in verschiedenen Größen

 einer kleinen Tube antibiotischer Salbe

 Antiallergie- und Durchfallmedikamenten

 Paracetamol

 Paracetamol mit Koffein

 Paracetamol mit Codein

 Ibuprofen

 Nagelfeile

 Tampons

 Wasserlilienöl

 Handlotion

 Deo in Reisegröße

sowie:

ein Teelicht und Streichhölzer

eine Mini-Taschenlampe

Nähset mit Faltscherchen, Nadel und schwarzem Garn

einige Beutel Ingwertee

Ohropax

Taschenbuchausgabe der Strunk & White-Grammatik (kann ich auswendig, aber angenommen, ich bin mal müde und unkonzentriert?)

Ach ja, und noch etwas: den silbernen Schutzengel, den Ed mir einmal geschenkt hatte, trug ich ebenfalls tief verborgen in einem Riss im Taschenfutter mit mir.

Derart aufgemacht und für alle Eventualitäten gerüstet, stieg ich die drei Stockwerke zur Lobby hinunter.

Hundebellen.

Als ich um den letzten Treppenabsatz bog, sah ich sie – die preisgekrönten Riesenschnauzer von Sylvia, meiner Nachbarin, die im Flur gegenüber wohnt. Sie zerrten an einem jungen Mann, der auf den unteren Treppenstufen saß, die strass-besetzten Hundeleinen um die Hand gewickelt. Er hörte mich kommen, rutschte zur Seite und murmelte »Entschuldigung«, als ich vorsichtig an ihm vorbeiging.

Als ich die Tür erreichte, drehte ich mich, warum auch immer, um. Ich hätte genauso gut weitergehen oder zur Salzsäule erstarren können.

Er strich sich über das Gesicht.

»Alles in Ordnung?«, fragte ich freundlich, in der Hoffnung, er würde ja sagen, damit ich raus auf die noch vom Regen nasse Straße konnte. Die Hunde drehten mir ihre Batman-Ohren zu.

»Äh, nein, eigentlich nicht. Sylvia hat mir eine Nachricht hinterlassen.« Er sprach mit einem etwas schleppenden, ländlichen Tonfall, der mich unangenehm an die Webbers erinnerte. »Blitzen und äh … Bismarck waren im Hundesalon, weil sie zu einer Hunde-Show gehen, und ihre Pfoten dürfen nicht nass werden.«

Sylvia war offenbar noch verrückter, als ich gedacht hatte.

Der Typ sah jämmerlich aus.

»Augenblick«, sagte ich und ging wieder rauf. Ich holte einen der vielen Regenschirme in unserer Diele, nahm eine Schachtel Gefrierbeutel aus der Küche und wühlte in der Krimskrams-Schublade, bis ich ein paar Gummiringe und eine Rolle buntes Klebeband gefunden hatte.

Auf Zehenspitzen (die Schuhe!) stelzte ich wieder hinunter, setzte mich neben den Hundesitter und begann, eine von Blitzens penibel manikürten Pfoten einzutüten, während sie mich mit ihrem Bart im Nacken kitzelte.

Als ich die erste Pfote fast erfolgreich eingewickelt hatte, gab ich ihm ein Zeichen, die Pfoten des anderen Hundes zu verpacken.

Er hob den Blick von meinem Dekolleté, sagte: »Oh, vielen Dank!«, zog eine Tüte aus der Schachtel und fing mit Bismarck an.

Wir brauchten zu zweit ein paar Minuten, um alle acht Pfoten einzutüten. Anschließend stellte ich mich mühsam wieder auf die Zehenspitzen, zurrte den Gürtel meines Regenmantels fest und nahm meine Laptoptasche. Der Typ stand ebenfalls auf, reichte mir mein grünes Marschgepäck und überraschte mich mit einem strahlend süßen Lächeln. Ich musste blinzeln, und dann rutschte der Trageriemen der Tasche ab, doch der Typ erwischte ihn und schob die Tasche wieder sicher auf meine Schulter.

Er sagte: »Danke, Sie sind meine Rettung.«

Ich hielt ihm den Regenschirm hin. »Hier, nehmen Sie den. Ich glaube, es hat inzwischen fast aufgehört, aber vielleicht brauchen Sie ihn später noch.«

Wieder lächelte er das Lächeln und verstaute den Schirm in einer Tasche seiner Armee-Funktionsjacke.

»Ich bringe ihn wieder zurück«, versprach er. »Welche Apartmentnummer haben Sie?«

Ich winkte ab. »Ach, das ist nicht nötig.«

Er nahm die Hunde wieder an die Leine und hielt mir die Tür auf. Blitzen und Bismarck zerrten ihn in Richtung Park, und ich trippelte in Zeitraffer in die andere Richtung zur U-Bahn.

»Hey!«, rief er mir nach.

Ich drehte mich um. Er war schon eine Querstraße weiter. Stumm formte er die Worte »vielen Dank«.

Ich lächelte achselzuckend. Nichts zu danken.

Tag null, Teil zwei: Ich begegne meinem Schicksal zum zweiten Mal

Verdammt. Die Webbers sagten das Treffen ab, weil sie lieber an einer Hafenrundfahrt teilnehmen wollten, bevor sie wieder nach Hause flogen – aber sie erklärten sich telefonisch mit allem einverstanden. Ich hatte mich völlig umsonst wie eines der Models aus Robert Palmers Video zu Addicted to Love angezogen.

Ed kam aus seinem Büro und sah mich den Flur hinunterhinken. Die Schuhe waren mörderisch. »Ah, eine modische Provokation!«, bemerkte er. »Jammerschade, dass sie abgesagt haben, es sieht fast überzeugend aus.«

»Warum nur fast?«, fragte ich trotzig.

»Du bist ungefähr dreißig Zentimeter zu klein und wirkst nicht die Spur einschüchternd.«

»Und was noch?«

»Die Schwarztöne passen nicht zusammen. Das Kostüm ist blauschwarz, die Strümpfe grünschwarz.«

»Argh.«

»Außerdem zeichnen sich die Ränder deiner Oma-Unterhose ab.«

»Das ist ein ganz normaler Slip!«

»Den man aber nicht sehen sollte.« Er tätschelte mir die Schulter. »Bleib lieber deinem eigenen Stil treu, Grace.«

 

Ich war immer noch sauer, als wir einige Stunden später in Herman’s Piano Bar eintrafen. Seit fast zwei Jahren gingen Ed (eigentlich hieß er Edward, aber niemand nannte ihn so) und ich fast jeden Dienstagabend hierher. Früher gesellte sich ab und zu meine Freundin Peg zu uns, wenn sie nicht gerade an einer Show arbeitete, aber momentan war sie Stellvertretende Bühnenmanagerin des neuen Broadway Musicals Fessle mich!, in dem Antonio Banderas dieselbe Rolle spielte wie im gleichnamigen Film. Die Show war ein Riesenerfolg, deshalb würde Peg uns für eine Weile nicht ins Herman’s begleiten können.

Ich zog einen fettigen panierten Zwiebelring durch die Pfütze aus Ranch Dressing und Ketchup auf meinem Teller. »Warum seid ihr Texaner eigentlich alle so bekloppt?«, fragte ich mit vollem Mund.

Ed starrte mich finster an. »Willst du mich etwa mit diesen Deppen in einen Topf werfen?«

»Du kommst aus Houston. Genau wie sie.«

»Und, bin ich so wie sie?«

Nein. Das war er keineswegs. Was in mir die Hoffnung schürte, es gäbe auch normale Texaner. »Entschuldigung, ich halte ab jetzt den Mund«, sagte ich.

»Das wäre auch besser so!« Er war angefressen.

Ich schob sein Glas beiseite. »Mehr Gemüse essen, weniger Alkohol trinken.«

Ed stieß sein typisches, bellendes Lachen aus, das an ein Walross erinnerte, und die Frau, die auf der anderen Seite neben ihm saß, drehte sich um und bat uns, etwas leiser zu sein. »Wir wollen dem Sänger zuhören!«, flüsterte sie.

Ed und ich sahen uns ehrlich erstaunt an. Wer hörte schon einem Barsänger zu?

Offenbar alle. Im Lokal herrschte tatsächlich Ruhe, kaum jemand redete.

Die Stimme klang … wie soll man das erklären? Eindringlich. Gefühlvoll. Es war eine Ballade, die ich noch nie zuvor gehört hatte, und der Text – irgendetwas darüber, nach Hause zu finden – in Verbindung mit der Stimme, fesselte mich. Die Musik war einnehmend, aber nicht unangenehm aufdringlich, ganz im Gegenteil. Ich fragte mich, wer da wohl solche Gefühle in mir wachrufen konnte.

Ich stellte mich auf die Strebe meines Barhockers und stützte mich auf Eds Schulter ab, so dass ich einen Blick auf den Sänger werfen konnte. Er war über das Keyboard gebeugt, den Mund dicht am Mikrofon, die Augen geschlossen, und wiegte sich im Takt seiner Musik – passend, nie unkontrolliert.

Als er geendet hatte, applaudierte das Publikum begeistert, schrie und pfiff. Er blickte ein wenig überrascht in die Menge. Die Leute beruhigten sich wieder, und er stimmte den nächsten Song an.

Ed sah mich an. »Der ist richtig gut, was?«

»Ja, und ich kenne ihn!« Ich konnte es selbst kaum glauben.

Heute Abend trug er keine Strickmütze. Dafür hatte er eine furchtbare Frisur. Viel zu kurz und kantig. Aber er war es zweifellos.

Der Hundesitter.

Er beendete seinen zweiten Song, und ich sah, wie er sich durch die Menge drängte. Mehrmals blieb er stehen, um jemandem die Hand zu schütteln oder aufmerksam zuzuhören, doch endlich schaffte er es an die Bar. Nur wenige Leute trennten uns voneinander. Der nächste Musiker war bereits auf der Bühne und sprach ins Mikro, weshalb der Barkeeper laut reden musste, als er dem Hundesitter ein Bier zapfte.

Barkeeper: Sind die Songs von dir?

Hundesitter: Ja.

Barkeeper: Super. Hast du noch mehr auf Lager?

Hundesitter: Jede Menge.

Der Barkeeper beugte sich näher zu ihm und sagte noch etwas, doch ich konnte ihn nicht länger verstehen. Ich wartete, bis er ausgeredet hatte und bat Ed, einen Augenblick auf mich zu warten.

Während ich mich näherte, betrachtete ich ihn etwas genauer als heute Morgen. Er war sehr blass und wirkte ziemlich provinziell mit seinem großen Adamsapfel und der miesen Frisur. Ein schlaksiger Junge, irgendwie.

Ich streckte den Arm aus und tippte ihm auf die Schulter. Er drehte sich um.

»Hi«, sagte ich.

»Hey!«, rief er. »Sie sind es!«

Wieder schenkte er mir dieses strahlende Lächeln, und auf einmal fühlte ich mich ungelenk. Plötzlich wirkte er selbstsicherer als ich.

»Heute Morgen waren Sie irgendwie größer«, stellte er fest.

»Kann sein.« Meine Wangen glühten. Mist! »Heute Morgen hatte ich nämlich hohe Pumps an.«

»Ja, echt hoch.«

»Ich wollte damit … Also, ich trage so was nicht jeden Tag.«

Er nickte. »Die Schuhe haben toll ausgesehen, aber ziemlich unbequem.«

»Wie heißt du?«, fragte ich. So jung wie er aussah, war das Du bestimmt o.k.

»Tyler Wilkie.« Ja, er sprach definitiv ein wenig schleppend, wie ein Südstaatler. »Und du?«, duzte er zurück. Na gut.

»Grace. Barnum.«

Sein Gesicht hellte sich auf. »Wie der Zirkus?«

»Genau.«

»Cool!«

Wir sahen einander an, und mir fiel auf, dass alles an ihm herbstfarben war. Kastanienbraune Haare. Haselnussbraune Augen. Er legte den Kopf schief und zog einen Mundwinkel hoch. Ich wusste, dass es Zeit wurde zu gehen. Ed war noch verabredet und wollte bestimmt los, und mein Freund Steven war inzwischen wahrscheinlich von der Arbeit nach Hause gekommen.

»War nett, dich wiederzusehen, Tyler. Ich finde, du hast eine gute Stimme.«

»Danke, Grace«, antwortete er höflich.

Ich wandte mich zum Gehen, aber er zupfte mich am Ärmel. »Deine Augen haben genau dieselbe Farbe wie dein Pullover«, stellte er fest.

Ich sah an mir hinunter. Fast richtig. Blaugrau.

»Und dein Gesicht hat die Form von einem Herz«, fügte er hinzu.

Was für eine charmante Art von Smalltalk! »Ach, wirklich?«

»Ja. Ist mir schon heute Morgen aufgefallen.« Ohne mich zu berühren, folgte er mit einem Finger den Konturen meiner Wange.

»Jetzt muss ich aber wirklich gehen.«

Er steckte die Hände in die Hosentaschen. »Okay, Grace Barnum. Bis bald.«

 

Ich hakte mich bei Ed unter, als wir die Columbus entlanggingen. Die Temperatur musste seit heute Morgen um fünf Grad gefallen sein.

»Die Sache mit dem Gesundheitslehrbuch liegt mir schwer im Magen, Ed. Angenommen, wir wären Teenager in Texas?«

»Ich war mal einer.«

»Und woher hast du etwas über Kondome gelernt?«

»Vom Hörensagen«, antwortete Ed achselzuckend.

»So ein Schwachsinn! Die Leute sind gegen Abtreibung, wollen aber auch nicht, dass die Jugendlichen erfahren, wie man verhütet!«

»Mädchen, ich bin auch nicht gerade glücklich damit!«

»Und Vorstellung! Ich meine – wie kommen die denn bloß darauf? Warum spielen wir bei dieser Farce mit?«

»So ist es nun mal.«

»Und was ist mit Bill? Es scheint ihn überhaupt nicht zu interessieren! Ist ihm denn alles egal?«

»Er muss eben Geld verdienen.«

»Das ist widerlich!«

»Wenn du Bill gegenüber zu aufsässig wirst, versetzt er dich in das Büro drüben in New Jersey, und ich würde dich vermissen.«

Ich seufzte. »Es fühlt sich einfach so absolut falsch an, Ed.«

»Jetzt hör mir mal gut zu. Natürlich wollen wir den Kindern helfen, aber zuerst müssen wir die Sauerstoffmaske über unsere eigene Nase ziehen.«

»Wie bitte?«

»Du weißt schon, die Sicherheitsinstruktionen im Flugzeug …«

»O Mann, du gehst mir echt auf den Geist!«

»Aber du musst dich damit abfinden, Grace. Wir können diese Leute nicht ändern.«

Dass er so einfach aufgab, trieb mich in den Wahnsinn. Doch Ed war in Texas aufgewachsen und damals, Ende der Siebziger, als Teenager schwarz und schwul zu sein, musste ihn geprägt haben. Vermutlich war er sein Leben lang dazu gezwungen gewesen, Ungerechtigkeiten zu schlucken und daran zu reifen, anstatt daran zu ersticken. Meine Kindheit war auch kein Zuckerschlecken gewesen, aber meine Mutter hatte immer aus allem das Beste gemacht, und ich würde nicht so leicht über die Wortklauberei der einflussreichen Bigotten hinwegkommen.

Wir verabschiedeten uns an der Ecke 79th Street und Columbus.

»Grace!«

Ich drehte mich um. Es war Tyler Wilkie, eine Querstraße hinter mir. Ich wartete, bis er mich eingeholt hatte.

»Hi«, sagte ich.

»Hey.«

Er trug seine Armeejacke, seine Strickmütze und eine Gitarre in einer Segeltuchtasche auf dem Rücken. »Bist du unterwegs nach Hause?«

Ich nickte.

»Du solltest lieber nicht alleine gehen«, meinte er. »Komm, ich begleite dich.«

»Danke, aber das ist wirklich nicht nötig«, versicherte ich ihm. »Ich bin meistens allein unterwegs.«

»Ich muss sowieso in diese Richtung.«

Achselzuckend ging ich weiter.

Er hielt mit mir Schritt, und ich sah ihn von der Seite an. »Du spielst auch Gitarre?«

»Ja. Meistens eigentlich. Aber wenn ein Klavier oder so da ist, begleite ich mich darauf.«

Unser Atem bildete weiße Wölkchen. Ich wickelte meinen Wollschal noch einmal um den Hals und zog ihn über die Ohren. »Kommst du aus Texas?«

Er lachte. »Nein!«

»Woher denn?«

»Aus den Poconos, Monroe County. Warum?«

»Na ja, du klingst ein bisschen … als kämst du aus den Südstaaten, irgendwo vom Land oder so.«

»Vielleicht verwechselst du unseren Pennsylvania-Kleinstadtdialekt mit Südstaatenslang.«

»Kann schon sein. Und jetzt wohnst du in der Stadt?«

»Ja, genau, und zwar seit sechs Tagen.« Ich sah ihn an, wahrscheinlich ein bisschen skeptisch, und er lächelte. »Du bist bei weitem der netteste Mensch, der mir bis jetzt begegnet ist.«

Ich lachte. »Seit sechs Tagen? Ist das dein Ernst?«

»Mein voller Ernst.«

»Warum bist du hergekommen?«

»Um herauszufinden, ob sich die Leute meine Musik anhören wollen. Und um mit Auftritten ein bisschen Geld zu verdienen.« Er sah mich an. »Wie lange sollte ich mir geben, was meinst du?«

»Hm, keine Ahnung.« Wie alt konnte er sein? Neunzehn? »Vielleicht solltest du erst mal aufs College gehen.«

»Hab ich schon probiert, aber das war nichts für mich.«

»Ach? Wo warst du denn?«

»An einem ganz normalen. Ein Jahr. Länger habe ich es nicht ausgehalten.«

»Na ja – vielleicht war es einfach nicht das richtige College?«

Er schüttelte den Kopf. »Nein, das ist irgendwie nichts für mich. Im Moment zumindest nicht.«

Wir erreichten die Ecke der Amsterdam Avenue und überquerten die Straße. Für mich war es unvorstellbar, ein so hohes Risiko einzugehen und ohne Ausbildung nach Manhattan zu ziehen.

»Ich wünsche dir jedenfalls viel Erfolg«, sagte ich. »Du bist wirklich sehr talentiert.«

»Danke.«

»Du solltest dir vielleicht ein bisschen Zeit geben.«

»Ich habe an etwa fünf Jahre gedacht.«

»Gute Idee!« Das beruhigte mich ein wenig. »Dann bist du immer noch jung genug, um zurück aufs College zu gehen.«

»Oh, so jung nun auch nicht mehr!«, lachte er. »Ich bin achtundzwanzig.«

Achtundzwanzig? Er konnte unmöglich in meinem Alter sein, mit diesen knabenhaften Gesichtszügen. »Dann sind wir gleich alt«, bemerkte ich. »Irgendwie habe ich dich wesentlich jünger geschätzt.«

»Wirklich?«, fragte er. »Ich habe mir gleich gedacht, dass wir ungefähr im selben Alter sind, du vielleicht etwas jünger als ich. Wann hast du Geburtstag?«

Es stellte sich heraus, dass er älter war. Ungefähr zwei Monate.

Als wir den Broadway erreicht hatten, nahm er mich an der Hand und zog mich über die Straße, noch bevor die Ampel auf Grün sprang. In der Mitte mussten wir uns mit einem Sprint zur nächsten Ecke vor einem mörderischen Taxifahrer retten. Die Chancen, dass Tyler Wilkie auch nur die nächsten fünf Tage überleben würde, standen nicht gut. Fünf Jahre würde er auf diese Weise jedenfalls nicht überstehen.

Ich wohnte nur ein paar Häuser weiter. »Von hier aus kann ich wirklich alleine gehen. Hab vielen Dank.«

»Wie du willst«, sagte er, blies in seine hohlen Hände und schlug den Jackenkragen hoch.

»Wo wohnst du denn?«, fragte ich.

»An der 47th, zwischen der Neunten und der Zehnten.«

»Dann kannst du gleich da drüben in die U-Bahn einsteigen«, sagte ich und zeigte zur Haltestelle auf der anderen Straßenseite.

»Aha, danke. Tschüs, Grace.« Er beugte sich zu mir herunter. Automatisch wich ich aus, und der Kuss, den er mir wahrscheinlich auf die Wange drücken wollte, landete peinlicherweise auf meiner Nasenspitze. Wir mussten beide lachen.

»Mach’s gut. Vielen Dank fürs Nachhausebringen.« Ich überquerte die 79th.

Ein paar Häuser weiter blickte ich zurück. Er war am U-Bahn-Eingang vorbeigelaufen und eilte jetzt den Broadway hinunter, den Kopf gesenkt, die Hände unter die Achseln geklemmt.

 

Steven saß auf dem Sofa, und die DVD von Matrix lief. Vermutlich hatte er einen harten Tag hinter sich. Er sah Matrix aus denselben Gründen, aus denen ich mir immer mal wieder Chocolat ansah.

»Seit wann bist du zu Hause?«, fragte ich und schlüpfte aus meinem Mantel.

»Seit ein paar Stunden.«

Steven ist ein Mann wie ein Bär. Ein Meter fünfundneunzig. Kräftig. Sanft, mit freundlichen blauen Augen.

Ich hauchte ihm einen Kuss auf die Wange und ging zu Bett. Ich wollte ihn nicht mitten in der »Ich kann Kung-fu!«-Szene stören, die ihn hoffentlich wieder mal seinen ganzen Frust vergessen ließ.

 

In den nächsten Tagen wartete ich jeden Morgen auf das Bellen von Bismarck und Blitzen und trödelte sogar noch zehn Minuten herum, bevor ich zur Arbeit ging. Dieser Nasenkuss war einfach zu peinlich.

Als ich am Freitagmorgen zur Tür hinaustrat, stolperte ich über einen Gegenstand auf unserer Fußmatte. Es war mein Regenschirm, an dem mit einem Gummiband eine einzelne rosafarbene Gerbera befestigt war. Unter dem Schirm lag ein gefaltetes Blatt Notizbuchpapier. Die Rechtschreibung war fragwürdig, aber der Inhalt sehr nett.

Grace!

Hier ist dein Schirm. Nett von dir, das du ihn mir gelihen hast! Es tut gut, wenigstens von einem in dieser Stadt wie ein menschliches Wehsen behandelt zu werden. Ich habe jetzt noch einen anderen Job, nicht nur Hundesiter. Wenn du Zeit hast, komm doch mal ins Cafe Sofiya und ich geb dir einen Cappechino aus!

Liebe Grüße,

Tyler Graham Wilkie

Handy 5702439134

Ich faltete den Brief wieder zusammen, grub Lolita aus der Großen Grünen und schob das Blatt zwischen die Seiten.

Mittagessen mit Julia und mein darauffolgender Drang nach klösterlicher Abgeschiedenheit

Einmal im Monat, immer freitags, kommt meine Mutter nach Manhattan, um mit mir Mittagessen zu gehen und Regie über mein Leben zu führen. Sie wohnt schon seit zwanzig Jahren nicht mehr in New York, deshalb nutzt sie unsere Verabredungen unter anderem als Vorwand, neue Restaurants auszuprobieren. Gestern erhielt ich per E-Mail Instruktionen, sie in einem malaiischen Restaurant in Midtown zu treffen, ganz in der Nähe meiner Arbeitsstelle.

Ich bin eine pünktliche Frau. Ich komme immer zur verabredeten Zeit oder sogar ein bisschen zu früh. Aber ich werde niemals irgendwo früher eintreffen als Julia Barnum.

Als ich zu ihr an den Tisch trat, stand auf meinem Tischset bereits ein milchig-beschlagener Thai-Eistee. Meine Mutter stand auf und umhüllte mich mit dem Duft von Freesien und teuren Haarpflegeprodukten, als sie mich in ihre sehnigen Arme schloss. Sie trainiert täglich und hat mich schon mehr als einmal im Armdrücken geschlagen. Wir setzten uns und breiteten unsere Servietten aus.

»Ist etwas passiert?« Sie strich sich besorgt einige kupferfarbene Ponysträhnen aus dem Gesicht.

»Nein!«, erwiderte ich. »Warum fragst du mich das jedes Mal?«

»Weil du immer ein bisschen bedrückt wirkst, wenn wir uns treffen. Allmählich befürchte ich, ich sollte das persönlich nehmen.«

Jetzt bloß nicht zu vehement leugnen! Lächelnd nippte ich an meinem Tee. »Nein, alles in bester Ordnung.«

Meine Mutter studierte die Speisekarte. »Du müsstest mal wieder zum Friseur, findest du nicht auch?«

»Stimmt«, sagte ich.

»Was willst du nehmen?«, fragte sie.

»Das Ingwerhühnchen?«

»Möchtest du nicht lieber etwas Scharfes probieren? Vielleicht das Rindfleisch in Chilisauce?«

»Okay, das klingt gut.«

»Oder lieber etwas mit Tofu?«

»Einverstanden.«

Sie knallte ihre Karte auf den Tisch. »Hör auf, mir nach dem Mund zu reden!«

Meine Mutter ist County-Staatsanwältin in Trenton, New Jersey. Sie ist klug, überzeugend und unermüdlich bestrebt zu gewinnen. Was immer ich von der Speisekarte wähle – sie versucht mich zu etwas anderem zu überreden, nur so zum Spaß.

»Tut mir leid«, erwiderte ich achselzuckend.

Sie verdrehte die Augen und bestellte für uns, als der Kellner kam.

»Und, wie geht es Steven?« Wieder strich sie ihre Haare zurück, und ihre Silberarmbänder klirrten. Meine Mutter ist eine Schönheit, die mit fünfzig auf die dreißig zugeht, immer makellos gestylt, ob als Staatsanwältin bei Gericht oder als Anklägerin, so wie heute (kleiner Scherz!), in Jeans, Pullover und Boots.

»Ihm geht es gut. Er muss immer noch oft nach München und Washington D. C.«

»Das klingt doch gar nicht schlecht. Im Gegenteil, sogar ideal, findest du nicht auch?«

Für meine Mutter waren Männer ein notwendiges Übel. Sie ärgerte sich darüber, dass sie sich zu ihnen hingezogen fühlte, betrachtete es aber von der praktischen Seite. Wir brauchten nun mal ihre Spermien und ihre Bereitschaft, einen überfluteten Keller mit einer Pumpe trockenzulegen. Im Gegenzug erwarteten sie von uns ein paar Annehmlichkeiten.

Wenn wir aber über Steven sprachen, strahlte sie Wohlwollen aus. Sie störte sich nicht daran, dass er geschieden und zehn Jahre älter war als ich und konnte sich für seine Arbeit als Patentanwalt für ein bedeutendes Pharmaunternehmen begeistern. Ich weiß, das klingt jetzt, als sei meine Mutter durch und durch materialistisch. Aber sie beweist eben ihre Liebe zu mir unter anderem dadurch, dass sie sich über meine potentiell gesicherte Zukunft freut.

Als Nächstes erzählte ich ihr etwas, von dem ich glaubte, dass es sie richtig begeistern würde.

»Aber wie kannst du so viel von deinem Gehalt zurücklegen? Was ist denn mit der Miete?«, fragte sie.

»Steven zahlt die monatlichen Raten für die Wohnung.«

»Aber du beteiligst dich doch wohl zur Hälfte?«

»Ich habe es versucht, aber er hat meine Schecks zerrissen. Er sagte, das sei ungerecht, denn es sei seine Wohnung, wir seien noch nicht verheiratet und er brauche mein Geld nicht. Also zahle ich die Nebenkosten und die Einkäufe und lege den Rest aufs Sparkonto.«

»Aber ihr wollt doch heiraten, oder?«

»Vielleicht. Wir überlegen es uns, wenn wir ein Jahr zusammengelebt haben.«

»Und wann ist das? Im Frühjahr?«

»Ja, im April.«

Meine Mutter schüttelte den Kopf.

»Wo liegt denn das Problem?«, fragte ich.

»Ich weiß nicht so recht.« Das Essen kam. Sie pickte mit der Gabel grüne Chilistückchen aus ihrem Rindfleischcurry und legte sie auf den Tellerrand. »Einerseits freut es mich, dass du ein bisschen was zurücklegen kannst, falls es nicht mit ihm klappen sollte. Aber eine gemütliche eigene Wohnung ist die Grundlage einer dauerhaften Beziehung. Wenn du dabei hilfst, die Hypothek abzuzahlen, wird er dich unbewusst stärker wertschätzen, wenn’s ums Heiraten geht.«

Wie immer bei unseren monatlichen Mittagessen bekam ich Sodbrennen, obwohl ich meine Chilishrimps noch gar nicht angerührt hatte. »Mom, so ist es nicht zwischen uns. Muss man denn immer so berechnend sein?«

Meine Mutter legte die Gabel hin und beugte sich über ihren Teller zu mir herüber. »Grace. Kannst du dich denn nicht mehr daran erinnern, wie es war, als du klein warst?«

»Doch.«

»Da bin ich mir nicht so sicher. Wir hatten es schwer.«

»Ich weiß.«

»Ich möchte damit ja nur sagen, dass du dir einen klaren Blick bewahren und vorausschauend denken solltest. Wenn ich das getan hätte, wäre vielleicht nicht alles so schlimm für uns gewesen.«

»Aber so schlimm war es doch gar nicht, Mom.«

Sie nahm ihr Besteck wieder zur Hand und schnitt ein Stück Curryrindfleisch in mundgerechte Bissen. »Wie lieb von dir, das zu sagen.«

»Mom, warum ist dir die Ehe so wichtig? Du warst auch mal verheiratet, und das war ziemlich schrecklich, oder?«

»Erst am Ende. Du wirst die Sache außerdem klüger angehen als ich. Sieh es als eine geschäftliche Vereinbarung, Grace. Entwickle eine Strategie.«

Auf ihre Art und Weise liebte sie mich, und sie tat mir wegen der Erfahrungen leid, die sie so verhärtet hatten. Dennoch brauchte ich einen Augenblick, um mich zu der Reaktion durchzuringen, die ich seit meinem dreizehnten Lebensjahr unzählige Male gezeigt hatte. Lächelnd und nickend hörte ich ihr zu. Und dankte im Stillen Gott oder dem Himmel oder wem auch immer überschwänglich dafür, dass ich nicht so war wie sie.

 

Es war Samstag, und ich hatte Lust, ins Cloisters zu gehen, das Museum für mittelalterliche Kunst im Fort Tryon Park. Der Park war inzwischen winterlich kahl, aber in den Kreuzgängen konnte ich für eine Weile allein sein und die Stille genießen, im Museum die Reliquien und Wandteppiche betrachten, zur Ruhe kommen und meine Batterien aufladen.

Einmal hatte Steven mich ins Cloisters begleitet und fand wohl, dass diese Ration mittelalterlicher Kunst für den Rest seines Lebens ausreichte. An den Wochenenden wollte er sich entspannen, und so blieb er lieber zu Hause und spielte mit seiner Wii. Ich küsste ihn, mummelte mich ein und ging genau in dem Moment zur Tür hinaus, als Tyler Wilkie Blitzen und Bismarck in Sylvias Wohnung ließ.

»Hey, Grace!«

»Hi.« Ich erwiderte sein Lächeln.

Er stand in der Tür und hakte die Hunde von der Leine. »Wohin gehst du?«

»Ins Cloisters.«

Er warf die Leinen beiseite und zog die Tür hinter sich zu. »Was ist das?«

»Ein Museum. Mittelalterliche Kunst.« Gemeinsam gingen wir die Treppe hinunter.

»Hört sich cool an. Kann ich mitkommen?«

Auf dem ersten Treppenabsatz blieb ich stehen. Gab es einen Weg, seine Bitte höflich abzulehnen? »Na klar … wenn du Lust dazu hast. Es ist aber ziemlich weit mit der Bahn und vielleicht hast du heute Nachmittag schon etwas anderes vor …«

»Nein, ich habe den ganzen Tag nichts zu tun!« Er winkte ab.

Unten hielt er mir die Tür auf, und als wir draußen auf dem Bürgersteig waren, zeigte er auf meine Große Grüne. »Soll ich die für dich tragen?«

Ich hängte die Tasche über die andere Schulter. »O nein danke, das geht schon.«

»Sie sieht ziemlich schwer aus.«

»Da drin sind nur mein Portemonnaie, das Handy, der Haustürschlüssel und ein Buch.«

»Was, mehr nicht?«

»Na ja, auch etwas Notfallproviant und so.«

Wir gingen hinunter in die U-Bahn. »Notfallproviant? Aber in dieser Stadt kann man an jeder Ecke was zu essen kaufen!«

»Ich bin eben gerne auf alles vorbereitet.« Da ich womöglich etwas eingeschnappt klang, erklärte ich es ihm. »Einmal habe ich auf dem Nachhauseweg von der Arbeit drei Stunden lang zwischen zwei Haltestellen im Zug festgesessen. Da war ich froh, dass ich einen Müsliriegel dabei hatte.«

»Echt wahr? Drei Stunden?«

Ich zog meine Fahrkarte durch das Lesegerät und passierte das Drehkreuz. Da er auf der anderen Seite stehenblieb und in seinen Hosentaschen wühlte, reichte ich ihm meine Karte hinüber.

»Hey, danke, du bekommst das Geld zurück.«

Lächelnd winkte ich ab. »Ich geb heute einen aus. Willkommen in New York.« Ich steckte die Karte ein, und wir gingen den Bahnsteig entlang.

Wir mussten eine Weile warten. Er trug dieselbe Kleidung wie an dem Tag, als wir uns zum ersten Mal begegnet waren, eine praktische, warme Jacke, Converse Sneakers und eine Strickmütze. Unter dem hochgeschlagenen Jackenkragen lugte ein Stück kariertes Flanellhemd hervor. Er sah verletzlich aus in der Kälte. Er brauchte einen warmen Schal.

Er bemerkte, dass ich ihn anschaute, zog die Augenbrauen hoch und warf mir sein wahnsinnig bezauberndes Lächeln zu. Er sah so nett aus, so gutmütig. Unwillkürlich erwiderte ich sein Lächeln.

»Du siehst hübsch aus«, sagte er.

Ich winkte mit beiden Händen ab und murmelte etwas über meine alte, abgewetzte Lammfelljacke.

»Als ich dich das letzte Mal gesehen habe, warst du ziemlich stark geschminkt. Und deine Haare.« Er nahm eine Strähne und befühlte sie mit Daumen und Zeigefinger. »Ich hab gar nicht gewusst, dass sie so lang sind.«

Aha, der Typ war also ein Player. Damit konnte ich umgehen. Es war nicht das erste Mal, dass jemand mit mir flirtete.

»Zu lang«, sagte ich, holte ein Zopfgummi aus der Tasche und zog meine Haare zu einem Pferdeschwanz hindurch. »Ich muss zum Friseur.«

»Ich habe mir die Haare erst noch geschnitten, bevor ich hergekommen bin.«

»Du hast es selbst gemacht, oder?«

»Stimmt. Mein Freund Bogue hat gesagt, ich sähe wie ein beknacktes Landei aus, und so könne ich nicht nach New York gehen. Wir waren betrunken. Er hat mir ein paar Bilder im GQ gezeigt und gemeint, ich müsse versuchen, möglichst metrosexuell auszusehen.«

Ich konnte mir das Lachen nicht verbeißen. »Wie lang waren deine Haare?«

Er hielt die flache Hand knapp unterhalb seiner Schulter.

»Ziemlich lang also. Womit hast du sie abgeschnitten?« Ich dachte an ein Steakmesser.

»Mit der Nagelschere meiner Schwester. Es hat verdammt lange gedauert! Besonders hinten. Jetzt bin ich hier, und alle Männer haben lange Haare! Außerdem kümmert sich hier kein Arsch um die Haare anderer Leute.«

Es sei denn, die Frisur sieht aus wie deine, dachte ich, als ich mich daran erinnerte, wie er ohne Mütze im Herman’s aufgetreten war. Ich lächelte.

»Was denn?«, fragte er.

»Ich bin … bloß so froh, dass du die Mütze hast.«

Während der zwanzigminütigen Bahnfahrt zu den Washington Heights erzählte er mir viel von sich. Sein ältester sowie bester Freund und Modeberater Bogue (reimt sich passenderweise auf Vogue) war mit ihm in die Stadt gekommen. Sie hatten in den Kleinanzeigen im Internet ein Ein-Zimmer-Apartment gefunden, fünfter Stock ohne Aufzug, zwanzig Quadratmeter. Sie teilten es sich mit einer Performance-Künstlerin namens Kassandra.

»Kassandra?«, fragte ich. »Wie die Unheilsseherin in der griechischen Mythologie? Die vor dem Trojanischen Pferd gewarnt hat?«

»Was für’n Pferd?«

»Das große Holzpferd, in dem sich Odysseus mit seinen Männern versteckt hat?!«

»Ach ja, Odysseus …«, sinnierte er mit einem angedeuteten Lächeln. Dann stupste er mich mit seinem Bein an. »Du weißt eine Menge, oder? Bist du vielleicht Lehrerin?«

»Knapp daneben. Ich bin Lektorin für Schulbücher und Lehrmaterial.«

»Wahnsinn!« Er legte einen Arm über meine Sitzlehne. »Also verbirgt sich ein kluges Köpfchen hinter diesem hübschen Gesicht.«

Ich warf ihm einen, wie ich hoffte, missbilligenden Blick zu.

»Was denn?«, fragte er lachend.

»Weißt du, der Begriff ›kluges Köpfchen‹ hat nicht ganz den gewünschten Effekt bei mir. Ich muss dabei unwillkürlich an Filme mit Doris Day aus den Fünfzigern denken, so in dem Tenor.«

»Das habe ich aber gar nicht so gemeint«, erwiderte er und drückte sein Bein gegen meines.

»Ich habe einen Freund.«

Er zog seinen Arm zurück und lehnte sich nach vorn, die Ellbogen auf den Knien, die Hände verschränkt. Dann sah er mich von der Seite an. »Hab ich mir schon gedacht. Sorry.«

»Schon okay.«

Wir erreichten unsere Haltestelle. Wahrscheinlich bereute er es inzwischen, so weit mit mir gefahren zu sein. »Du musst nicht mitkommen, wenn du nicht willst. Die Bahn zurück ins Zentrum müsste bald fahren.«

»Aber warum sollte ich nicht mitkommen? Ich möchte dich gerne begleiten und mir mittelalterliche Kunst ansehen!« Es klang ehrlich, vielleicht sogar ein wenig beleidigt.

Der Anblick der Cloisters auf dem Hügel im Fort Tryon Park schien ihn gebührend zu beeindrucken. Als Eintritt zu den Kreuzgängen zahlte man, was man erübrigen konnte. Ich gab die empfohlenen zwanzig Dollar und sah, wie Tyler fünf bezahlte, die er sich wahrscheinlich gar nicht leisten konnte.

Während wir die vielen Stufen der Eingangstreppe hinaufstiegen, verspürte ich eine freudige Nervosität. Normalerweise kam ich allein hierher, aber wenn ich schon mal einen Begleiter hatte, konnte ich ihm auch gleich einige Dinge zeigen, die mir besonders am Herzen lagen.

Ich führte ihn sofort zu den Einhornjagd-Tapisserien, sieben großen, kunstvoll gewebten Wandteppichen, die wahrscheinlich einst ein feudales mittelalterliches Schlafgemach geschmückt hatten. Ich nahm mir Zeit, Tyler ein Bild nach dem anderen zu zeigen, die die Geschichte von der Gefangennahme und der Tötung des mythischen Einhorns erzählten.

Eingehend betrachtete er den letzten Teppich. Das wundervolle Geschöpf ist in einen runden Pferch unter einem Granatapfelbaum eingesperrt, umgeben von einer üppigen Vielfalt bunter Blumen und Pflanzen.

»Das ist mein Lieblingsstück«, sagte ich. »Das Einhorn wird nicht getötet. Es könnte ein alternatives Ende der Geschichte sein. Obwohl dieses Werk den anderen ähnelt, glauben manche Fachleute nicht, dass es ursprünglich zu der Serie gehört hat.«

»Das Einhorn sieht ganz friedlich aus.«

»Angeblich soll es einen erfolgreich umgarnten Bräutigam darstellen. Siehst du, dass es an den Baum gekettet ist? Das ist die Liebeskette.«

Tyler sah näher hin. »Sind das Blutstropfen in seinem Fell?«

»Nein, das ist Granatapfelsaft. Siehst du die aufgeplatzte reife Frucht über ihm? Möglicherweise bedeuten die Tropfen Fruchtbarkeit.«

»Toll!« Er grinste.

Ihm gefielen besonders die typisch männlichen Ausstellungsstücke, allen voran die Grabsteinplastik des jungen Ritters, der von seinem Schwert und seinem Schild bedeckt wird. Doch er verharrte auch lange schweigend vor dem rührenden, bekümmerten Gesicht der trauernden Mutter mit dem toten Christus in den Armen in der kleinen böhmischen Pietà. Er erwies sich als äußerst angenehmer Museumsbegleiter.

Wir gingen hinaus in den Bonnefort-Kreuzgang und setzten uns auf eine Bank am Kräutergarten, der um diese Jahreszeit brachlag. Der taubengraue Himmel hing tief.

»Du solltest den Park mal im Sommer sehen«, sagte ich.

»Meine Eltern haben einen Garten«, erzählte er. »Einen großen, hinter unserem Haus.«

»Was pflanzen sie an?«

»Gemüse, Blumen. Jedes Frühjahr sind sie draußen, hacken und pflanzen.«

Ich war beeindruckt. »Leben sie auf dem Land?«

»Bei uns ist praktisch überall ›auf dem Land‹.«

»Das muss schön sein«, sinnierte ich. »Zusammen im Garten zu arbeiten.«

»Bei ihnen scheint es zu funktionieren, sie sind seit dreißig Jahren verheiratet.«

»Wow, das ist eine Leistung. Meine Eltern haben sich getrennt, als ich vier war.«

Er sah mich an. »Und bei wem bist du aufgewachsen?«

»Bei meiner Mutter. Als Kind habe ich meinen Vater kaum gesehen, erst als ich älter wurde, ist es besser geworden.«

»Warum?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Er ist Künstler und hat wohl alles andere seinem Beruf untergeordnet.«

»Ein Künstler? Was, ein Maler oder so?«

Ich nickte. »In der Kunstszene ist er ziemlich bekannt. Dan Barnum, sagt dir der Name was?« Ich rechnete nicht damit, dass er von meinem Vater gehört hatte. »Die Käsekuchen-Serie?«

Er sah mich verständnislos an.

»Du weißt schon, die Bilder mit den Präsidenten, die Nachspeisen essen? Das von Reagan, auf dem ihm Erdbeersauce über das Kinn läuft?«

»Ach so!«

Ich sah ihm an, dass er keine Ahnung hatte, wovon ich redete.

»Und wo hast du mit deiner Mom gewohnt?«, fragte er.

»In einer winzigen Wohnung in Queens, in der Nähe der Steinway-Klavierfabrik.«

»Eine Klavierfabrik. Cool.«

»Stimmt. Cool. Meine Mutter hatte keine Ausbildung. Sie hat gekellnert und das College abgeschlossen. Danach hat sie Jura studiert.«

»Ist sie Anwältin?«

»Staatsanwältin.«

»Wo?«

»In New Jersey.«

»Also besuchst du sie manchmal?«

»Wir sehen uns regelmäßig.«

»Und was ist mit deinem Vater?«

»Hin und wieder treffen wir uns.«

»Wenigstens hat er Kontakt zu dir gehalten.« Tyler stieß mich mit dem Ellbogen an und lächelte.

»Ja, stimmt schon.« Ich blickte hinauf zum Himmel. »Es sieht nach Schnee aus.«

Schweigend blickten wir nach oben. Tyler begann, mit zwei Fingern auf seinen Oberschenkel zu trommeln und summte leise vor sich hin. Als existiere nichts anderes.

Dann kam er wieder zu sich und holte einen Zettel aus der Jackentasche. »Hast du vielleicht einen Stift?«

Ich wühlte in meiner Tasche herum, reichte ihm einen Kuli und beobachtete, wie er etwas auf den Zettel kritzelte, ihn wieder zusammenfaltete und einsteckte. Er hielt den Kuli hoch. »Kann ich den behalten?«

»Klar«, sagte ich. »Mit besten Grüßen von Spender-Davis Education.«

»Was ist das, dein Verlag?«

»Genau.«

»Wo arbeitest du?«

»In Midtown. Avenue of the Americas.«

»Das ist nicht weit von meiner neuen Arbeitsstelle. Du kommst doch mal vorbei, oder?«

»Okay, ich versuch’s.«

Er sah mich lange an. Dann sang er leise ein paar Worte. Über die nahende Weihnachtszeit, gefällte Tannen und den Wunsch, auf einem zugefrorenen Fluss Schlittschuh zu laufen.

Joni Mitchell. Das traurigste Lied überhaupt. Noch nie hatte jemand für mich gesungen, geschweige denn jemand mit einer solchen Stimme. Deswegen sagte ich nichts. Bestimmt sah ich aus wie vor den Kopf geschlagen.

»Wo hast du deinen Freund kennengelernt?«, fragte er.

»Bei einem Ehemaligen-Picknick. Wir, äh, haben dasselbe College besucht. Allerdings nicht zur gleichen Zeit.«

»Wohnt ihr zusammen?«

»Ja.«

»Wie lange schon?«

»Acht Monate.«

»Wow, das ist ordentlich.«

Große Flocken schwebten auf uns herunter, und ich fing eine auf meinem Handschuh.

Er beugte sich vor und hauchte sie an. Wir sahen zu, wie sie schmolz.

Eine Leseratte, eine geheimnisvolle Nachbarin und der Duft von Vanille

Ich nahm Ty mit zu uns in die Wohnung und dachte, Steven wäre da. Er war allerdings unterwegs, aber es würde schon okay sein. Tyler wanderte im Wohnzimmer umher und betrachtete meine Bücher und Stevens CDs, während ich Tee kochte.

Ich stellte Tassen, Zucker, Milch, Zitronenscheiben und Cookies auf den Esszimmertisch, bat Tyler, sich zu setzen, und holte die Teekanne in der Küche.

»Hast du vielleicht Honig?«, fragte er und nahm sich direkt ein Plätzchen.

»Ich glaube schon«, sagte ich, ging in Richtung Küche und fragte zurück: »Möchtest du ein Sandwich? Es ist schon fast Zeit fürs Abendessen.«

»Ja, gerne.« Er stand auf. »Soll ich welche machen?«

Ich winkte ab. »Magst du Schinken und Käse?«

»Lecker!«

Ich schnitt den Schinken in dicke Scheiben und bereitete für Tyler zwei Sandwichs aus dem knusprigen Sauerteigbrot zu, das Steven am Abend zuvor in der Brotbackmaschine gebacken hatte. Ich servierte Honig, Tee, Sandwichs und eine große Tüte Doritos und setzte mich zu ihm an den Tisch.

Ich fragte Tyler: »Habt ihr eine Küche in eurem Apartment?«

»Eine Kochecke«, antwortete er. »Aber sie ist eklig.«

»Ist Kassandra keine gute Hausfrau?«

»Die Kochecke ist eklig, seitdem ich und Bogue eingezogen sind. Kassandra hat schon gedroht, uns rauszuschmeißen. Bogue sollte sie heute sauber machen.«

»Bogue und ich.«

Er zog eine Augenbraue hoch.

»Es heißt nicht ›ich und Bogue‹, sondern ›Bogue und ich‹.«

»Isst du die nicht?«, fragte er und zeigte auf die Krusten, die ich von meinem Brot abgepult hatte. Ich sah zu, wie er sie gierig verschlang, ebenso wie alles andere auf seinem Teller, eine Dreivierteltüte Chips und die restlichen Plätzchen. Das Ganze spülte er mit zwei Tassen Earl-Grey-Tee hinunter.

»Was hast du vor, wenn sich deine Hoffnungen nicht erfüllen?«

Er zuckte mit den Schultern. »Darüber mache ich mir jetzt noch keine Gedanken. Ich konzentriere mich erst mal auf meine Musik.«

Der Schlüssel drehte sich im Wohnungstürschloss, und Steven kam herein, Schnee in den Haaren und auf dem Mantel. Er war sichtlich überrascht, dass ich einen Gast hatte, noch dazu einen ihm unbekannten Mann. Wenn ich es mir recht überlegte, auch einen mir unbekannten Mann. Die Situation war ein bisschen merkwürdig.

Tyler wischte sich die Hände an den Jeans ab und stand auf.

»Steven, das ist Tyler Wilkie. Er kümmert sich um Sylvias Hunde.«

Steven schüttelte Tyler die Hand. »Nett, dich kennenzulernen.« Er zog den Mantel aus und hängte ihn über einen der Esszimmerstühle.

»Wir haben uns vor ein paar Tagen getroffen«, erklärte ich. »Möchtest du ein Sandwich, Schatz?«

»Ach so?«, erwiderte Steven. »Nein danke, ich habe gerade einen Burger gegessen.« Er zog sich einen Stuhl heran und setzte sich. Auch Tyler nahm wieder Platz, höflich und zurückhaltend.

»Sylvias Hunde …«, sinnierte Steven. »Bist du ihr mal persönlich begegnet?«

»Nein, wir telefonieren nur miteinander«, antwortete Tyler. »Die Schlüssel habe ich von der Agentur bekommen.«

»Ich wohne jetzt seit fast drei Jahren auf demselben Flur und habe sie auch noch nie gesehen«, sagte Steven.

»Komisch«, bemerkte Tyler.

Ich lehnte mich zu ihm. »Wie sieht denn ihre Wohnung aus? Hat sie Fotos aufgestellt?«

»Die Wohnung ist ganz schön. Aber so genau habe ich sie mir nicht angeschaut. Fotos gibt es aber, glaube ich.«

Ich lehnte mich zurück und lächelte Steven an. »Sie ist unsere geheimnisvolle Nachbarin, unser Boo Radley.«

Tyler lächelte verständnislos.

»Der verhuschte Nachbarjunge aus Wer die Nachtigall stört«, erklärte ich.

»Ach so. Ich habe den Film noch nie gesehen.«

»Die Grundlage für den Film ist ein Buch«, erklärte ich. »Und zwar ein ganz besonderes.«

Steven tätschelte meine Hand. »Grace hat einen Tick. Sie liest immer zuerst das Buch.«

»Ja, das stimmt. Augenblick mal …« Ich stand auf, ging ans Regal und zog das Buch heraus. Ich hielt es Tyler hin. »Hier, du kannst es behalten.«

Er nahm es und betrachtete den Einband.

»Überfahr ihn doch nicht so«, mahnte Steven. »Immer langsam, Leseratte.«

Ich ärgerte mich über ihn. Man reißt keine Witze über Wer die Nachtigall stört. »Ich möchte ihm etwas schenken. Und es ist etwas sehr Schönes – falls er es annehmen möchte.«

Tyler stand auf. Wahrscheinlich wollte er nichts wie weg von diesen verrückten Leuten. »Ich muss jetzt los. Eine Bar im Village veranstaltet heute eine Open Mic Session, und ich will versuchen, auf die Liste zu kommen.«

Steven stand auf. »Du bist Musiker?«

Tyler zog seine Jacke an, steckte das Buch in die Tasche und knöpfte die Jacke zu. »Ja.«

»Jazz?«

»Nein, eher Rock, Soul, selbstkomponierte Lieder.«

»Ach so«, sagte Steven höflich. Wieder schüttelten sie sich die Hand.

Ich brachte Tyler zur Tür und öffnete sie für ihn. Er trat hinaus auf den Flur, beugte sich noch einmal verschwörerisch zu mir und flüsterte: »Danke, dass du mich durchgefüttert hast, Grace.«

»Gern geschehen!«

Er klopfte auf die Jackentasche. »Und danke für das Geschenk.«

 

Peg rief mich an. Bei Fessle mich! war Technikprobe in einem der großen alten Kinos nur wenige Straßen von meinem Bürogebäude entfernt. Ob ich Lust hätte, mich irgendwann nachmittags mit ihr auf einen Kaffee zu treffen? Ich bat sie, im Café Sofiya auf mich zu warten. So schlug ich zwei Fliegen mit einer Klappe – ich hatte Tyler seit mehreren Tagen nicht gesehen und war neugierig, wie es bei ihm lief.

Als ich nach dem College nach New York ging, war ich als Untermieterin in Pegs Wohnung eingezogen. Damals war sie Ende dreißig gewesen und eine Bohemien durch und durch. Ungeschminkt, braune Locken, weite Baumwollblusen zu Jeans und Birkenstocks. Ein bisschen wie Stevie Nicks, nur ohne die Plateauschuhe. Sie war praktizierende Heidin. In den fünf Jahren, die ich bei ihr gewohnt hatte, war sie an vielen Wochenenden raus aufs Land oder rüber nach New Jersey verschwunden, um in der Natur und ihrer pantheistischen Community aufzugehen, wenn sie nicht gerade Bühnenshows managte.

Peg und ich kannten einander in- und auswendig. Ich hätte noch immer bei ihr gewohnt, wenn ich nicht mit Steven zusammengezogen wäre.

Als ich ankam, saß sie bereits an einem Tisch, über eine Riesentasse Kaffee gebeugt, einen dicken, knubbeligen Schal in allen Regenbogenfarben um den Hals geschlungen. Das Café war klein, modern und leer bis auf einen Herrn, der am Tresen saß und an einem Laptop arbeitete. Ich warf meinen Mantel über einen Stuhl, küsste Peg und nahm Platz.

»Was trinkst du da?«, fragte ich.

»Einen dreifachen Mochaccino. Wir rackern uns seit zwei Tagen mit dem Beleuchtungsplan ab, da brauchte ich unbedingt eine chemische Keule.«

Ich sah mich um. »Gibt’s hier keine Bedienung?«

»Doch.« Mit einem kurzen Kopfnicken deutete sie in Richtung Kuchenvitrine. »Da hinten irgendwo.«

Ich stand auf und tat so, als betrachte ich die Auslagen, spähte dabei aber durch eine Tür, die in ein Hinterzimmer führte. Tyler kam aus dem Raum, den Arm voller Schachteln, die er neben der Kasse auf den Boden stellte. Als er mich sah, strahlte er.

»Hey!« Er trug die typische Kellneruniform – weißes Smokinghemd, schwarze Hosen und Schuhe, schwarze Schürze. Er kam hinter dem Tresen hervor und umarmte mich begeistert. Er duftete nach Vanille und frisch gebackenem Brot.

»Wie nett, dass du mich besuchen kommst!« Seine Stimme erschien mir so laut – als hätte er von Natur aus einen eingebauten Verstärker. Der Typ an der Theke beobachtete uns. Ich klopfte Tyler leicht auf den Rücken und löste mich sanft aus seiner Umarmung.

»Grace, ich habe eine feste Anstellung als Barsänger! Und ich habe einen Manager gefunden! Jemand, der mich bei einer Open Mic Session gehört hatte, hat ihm von mir erzählt, und da hat er sich meinen Auftritt angesehen und mir anschließend angeboten, am nächsten Tag in sein Büro zu kommen und ihm vorzuspielen.«

»Wow, Tyler, das klingt ja phantastisch!«, sagte ich. »Und wie schnell das ging!«

Er grinste. »Komm doch am Montagabend mal vorbei und hör mir zu.« Er lehnte sich über unseren Tisch und schrieb die Adresse auf eine Serviette. »Das ist die Bar, auf der Bleecker Street.«

»Das liegt ganz bei mir in der Nähe«, stellte Peg fest. »Und montagabends habe ich frei.«

»Cool. Ich spiele von halb zehn bis zwölf. Wie heißt du denn?«

»Entschuldigung«, sagte ich. »Das ist Peg.«

Er schüttelte ihr die Hand. »Hallo, Peg. Grace, was ist dein Lieblingssong?«

Ich hasse solche Überraschungsfragen. Auf so etwas kann man doch keine spontane Antwort geben! Man braucht ein bisschen Bedenkzeit.

»Hm … kann ich es dir später sagen?«

»Klar. Überleg einfach mal und sag mir Bescheid.«

»Mein Lieblingssong ist Take Me to the River«, sagte Peg.

»Super, das kenne ich«, sagte Tyler.

»Spielst du es für mich, wenn ich zu deinem Auftritt komme?«, fragte Peg lächelnd.

»Na klar.«

»Tyler!«, mahnte der Mann mit dem Laptop an der Theke.

»Ich muss«, sagte Tyler. »Das ist der Chef.«

Er zog ein Handtuch aus seiner Schürze und wischte einen imaginären Krümel von unserem Tisch. Dann war er weg.

Neue Gesichter, alte Songs, schmachtende Mädchen und fehlende Apostrophe

Ich holte Peg zu Hause ab, und wir gingen die paar Straßen bis zu der Bar auf der Bleecker Street zu Fuß. Abgesehen von ein paar Mädchen vorne vor der Bühne war der Laden ziemlich leer. Ed und ein blonder Mann, der für Michelangelos David hätte Modell gestanden haben könnte, erwarteten uns in einer Sitzecke.

Der Schönling hieß Boris. Das irritierte mich. Ein Boris hätte einen krummen Rücken, eine Glatze und schwarze Nasenhaare haben müssen. So einer, der unauffällige Päckchen zu abgelegenen Lagerhäusern bringt und im Austausch Koffer voller Bargeld mitnimmt. Er hätte eine künstliche Hand haben müssen, getarnt mit einem Lederhandschuh, mit der er einen plötzlich an der Kehle packen und einem die Luft abdrücken konnte. Außer man war Daniel Craig. Dann hätte Boris sein Testament machen können.

»Hi, Boris«, grüßte ich. »Und, was machst du so?«

»Ich bin Forschungstechniker in der Neurologie.«

Na klar.

Ich ging an die Bar, um ein paar Bier zu holen, und fühlte plötzlich Hände auf meinen Schultern. Warme, starke Hände, die den Wunsch in mir weckten, auf einen Barhocker zu sinken und an Ort und Stelle gemütlich einzuschlummern. Ich verdrängte die Vorstellung und drehte mich um. Tyler.

»Oh. Hallo!«, sagte ich.

»Und, ist dir inzwischen eingefallen, was dein Lieblingslied ist?«, fragte er.

»Nein, ich weiß es immer noch nicht genau. Mir sind acht Stücke eingefallen, die ich alle ungefähr gleich gern mag.«

»Welche denn? Sag mir einfach ein paar.«

»Tja …« Irgendwie war mir das zu intim. Ein bisschen peinlich. »Ich mag ältere Sachen.« Ich musste ihm ja nicht unbedingt auf die Nase binden, dass ich an der Brown beinahe die Musik der Sechziger- und Siebzigerjahre im Nebenfach studiert hätte. Als junges Mädchen waren diese Oldies jahrelang meine Zuflucht gewesen, in einem Ausmaß, wie es viele meiner Grunge-versessenen Freunde nicht verstehen konnten.

»Ich auch! Was denn zum Beispiel?«

»Hm, zum Beispiel ein Stück, das ganz oft in dem Oldie-Sender gelaufen ist, den meine Mom immer hört. Ich habe es auf meinem iPod.«

Er nickte aufmunternd.

»Bell Bottom Blues.«

Er torkelte rückwärts, die Hand aufs Herz gedrückt. »Ist das wahr? Derek and the Dominos! Ich liebe dieses Stück!«

»Aber ich bin mir nicht sicher, ob das wirklich mein absolutes Lieblingsstück ist«, fügte ich hastig hinzu.

Er zog sein Handy aus der Tasche, prüfte die Uhrzeit und zog mich mit nach vorne zur Bühne, die an der Fensterfront lag. »Warum gibst du mir nicht einfach deine ganze Liste?«

»Na gut, vielleicht schreibe ich ein paar Stücke auf.«

Ich ging zu unserem Tisch, er auf die Bühne.

Zuerst setzte er sich ans Klavier. Nach zwei umwerfenden eigenen Stücken von ihm sah mich Peg mit großen Augen an. »Er ist wirklich begabt. Warum sind nicht mehr Leute hier?«

»Es kennt ihn doch keiner«, erwiderte ich.

Anschließend setzte er sich mit seiner Gitarre auf einen Barhocker, eine Mundharmonika in einem Gestell um den Hals und spielte einen Blues, den ich noch nie zuvor gehört hatte.

»Verdammt nochmal!«, bemerkte Ed anschließend. »Das hat er gesungen wie ein alter Schwarzer!«

»Einer, mit dem man gerne Sex hätte«, fügte Boris hinzu.

»Stimmt«, sagte Ed. »Nur seine Haare könnten abtörnend wirken.«

»Das kann man ja ändern«, meinte Boris. »Zum Beispiel durch einen neuen Schnitt.«

»Nur Geduld, er lässt sie wachsen«, verteidigte ich ihn.

Dann zwinkerte Tyler mir zu und kündigte einen Song namens This Sign an, den er erst vor kurzem geschrieben habe.

Melodie und Text waren heiter und leicht, wie der Soundtrack zu einem sonnigen Nachmittag. Ich war wie verzaubert. Und nicht nur ich, sondern auch die sechs Mädchen am Tisch vor der Bühne. Sie waren sichtlich hingerissen von ihm, trotz seiner scheußlichen Frisur.

»Erzähl mir noch mal, wie du ihn getroffen hast«, bat mich Peg.

»Er arbeitet als Hundesitter für unsere Nachbarin.«

»Die Mädchen da vorne sehen aus, als wollten sie ihn auf der Stelle vernaschen«, bemerkte Ed.

Tatsache. Und er wirkte, als sei ihm diese Art von Aufmerksamkeit keineswegs unangenehm.

 

In den Pausen plauderte Tyler einige Minuten mit den Mädchen vor der Bühne. Dann zog er zwei Stühle an unseren Tisch, einen für sich und einen für einen muskulösen Jungen, der sich als sein berühmt-berüchtigter Punkstylistenfreund Bogue herausstellte.

Bogue setzte sich neben mich. Mir war schon Tyler jung erschienen, aber Bogue wirkte nicht älter als siebzehn, wie einer dieser kräftigen, süßen Jungs von der Highschool, die in der Footballmannschaft und der Theater-AG waren. Dazu passten auch sein halblanger Topfschnitt und die etwas unreine Haut.

Ich streckte ihm die Hand hin. »Hi, ich bin Grace Barnum.«

»Ach, hallo Grace, ich habe mir schon gedacht, dass du es bist. Du siehst genauso aus, wie Ty dich beschrieben hat.«

Ich warf Tyler einen prüfenden Blick zu, der gerade Pegs Elogen über seine Musik lauschte. Ich starb fast vor Neugier. »Wie hat er mich denn beschrieben?«

»Klein. Süß. Kurvig. Sanfte Augen. Lange dunkle Haare. Und, äh, ich glaube, er hat etwas von ›zum Fressen‹ gesagt. Oder etwas in der Art.« Bogue lief rosafarben an, lehnte sich aber näher zu mir und fuhr leise, verführerisch und mit etwas schleppender Zunge fort. »Und ich muss sagen, er hat recht!«

Bogue war einer von der betrunkenen, aber charmanten Sorte. Sein Gesicht war inzwischen knallrot. Süß! Vielleicht war ich auch ein bisschen beschwipst. Ich rutschte näher und gab ihm einen Kuss auf die Wange. Er grinste.

»Was machst du da, Bogue?«, fragte Tyler. Er und Peg starrten uns an.

»Ich folge nur dem biologischen Imperativ, Mann«, antwortete Bogue.

»Warum folgst du ihm nicht raus vor die Tür, und zwar ein bisschen fix?«

»Jetzt mach dir mal nicht ins Hemd«, sagte Bogue.

»Du wirst dir gleich ins Hemd machen!«, drohte Tyler.

»Und wie willst du das anstellen?«

»Du willst nicht, dass ich dir das zeige.«

»Doch, zeig’s uns!«, fiel Boris ein.

Ein Mädchen kam rüber und tippte Tyler auf die Schulter. Er stand auf, entfernte sich mit ihr, zog sein Handy heraus und tippte eine Nummer ein.

»Typisch!« Bogue beobachtete ihn mürrisch. »Er baggert die Mädels an, aber ich darf ihm nicht in die Quere kommen. Neue Stadt, der gleiche alte Scheiß. Warum gebe ich mich überhaupt noch mit ihm ab?«

»Du scheinst schon ziemlich anders zu sein als er.«

Interessiert sah er mich an. »Inwiefern?«

»Na ja, ›biologischer Imperativ‹. Ich glaube, Tyler würde dieselbe Sache anders ausdrücken.«

»Stimmt«, antwortete Bogue grinsend. »Er würde sagen: ›das Bedürfnis nach einer schnellen Nummer‹. Ich bin wesentlich gebildeter als er. Und habe viel bessere Umgangsformen. Möchtest du noch ein Bier?«

»Nein, danke. Er kann froh sein, dass er dich hat. New York kann ganz schön hart sein, wenn man allein herkommt.«

»Was du nicht sagst. Er wäre wahrscheinlich gar nicht gekommen, wenn ich ihn nicht in den Hintern getreten hätte. Ich habe ihm gepredigt, mit seiner Stimme müsse er raus aus Pennsylvania und versuchen, etwas aus sich zu machen. Ich habe ihm sogar angeboten, mich schlau zu machen und ihn zu managen, aber inzwischen hat er schon jemand anderen gefunden. Miese Ratte.«

»Und was machst du? Hast du schon einen Job gefunden?«

»Nein, ich suche noch. Ich gehe noch ein Bier holen, bin gleich wieder da.«

Peg musste zur Toilette, und Ed und Boris gingen zu einer Verabredung mit Freunden in einer Bar weiter die Straße runter.

Tyler verabschiedete sich von dem Mädchen und setzte sich auf Bogues Stuhl. »Sie heißt Jennifer und hat mir angeboten, mit den andern Mädchen zusammen ein Streetteam für mich zu gründen.«

»Was ist das denn?«

»Ich glaube, sie wollen Flyer für meine Auftritte austeilen und so mehr Publikum anlocken. Ach, übrigens, könntest du mir vielleicht dabei helfen, eine Facebook-Fanseite zu entwerfen? Ich habe keinen Computer.«

»Ich könnte es schon versuchen … Viel verstehe ich aber nicht davon. Wir fragen einfach Peg, ob sie …«

»Ach, wir beide schaffen das schon. Wann kann ich vorbeikommen?«

»Ich … Ich muss mal in meinem Kalender nachsehen.« Ich stand auf. »Können wir ein andermal darüber reden? Ich muss jetzt gehen.«

Er sah aufrichtig enttäuscht aus. »Kannst du nicht noch ein bisschen bleiben?«

»Nein, heute nicht«, sagte ich entschuldigend.

Er wich zur Seite, um mich aus der Ecke herauszulassen. »Dann nächstes Mal. Vielleicht habe ich dann eine Überraschung für dich, aber nur wenn du mir deine Liste gibst. Du kannst sie mir doch per SMS schicken. Komm, ich gebe dir meine Nummer.«

»Ich glaube, die habe ich sogar schon.« Ich wusste, dass ich sie hatte, verborgen in der Großen Grünen. Inzwischen als Lesezeichen in Zeit der Unschuld.

Er zückte sein Handy. »Okay, gib mir deine. Ich verspreche, dich nicht öfter als zwei Mal pro Tag zu stören.«

Ich bekam Magenschmerzen.

»Grace?« Er wartete. Ich gab ihm die Nummer.

Einige Tage später trat ich auf dem Weg zur Arbeit morgens aus der Wohnungstür und schlitterte ungeschickt und mit rudernden Armen quer durch den Flur. Ich konnte mich gerade noch am Geländer festhalten, sonst hätte ich die achteckigen Bodenfliesen geküsst. Hatte Mr Rojas etwa frisch geputzt? Nein, ich sah kein verräterisches Glänzen. Die Ursache für meinen Beinahe-Unfall war nicht etwa graue Putzbrühe, sondern ein lebensgefährlicher Ausweis – ein glitschiges laminiertes Rechteck, ausgestellt vom Pocono Community College.

Tylers Foto darauf haute mich um. Grinsend, mit Wuschelhaaren, ein Grübchen in der Wange. Angeberisch. Absolut hinreißend. Wie konnte jemand nur auf einem Passfoto seines Studentenausweises dermaßen gut aussehen?

Der Ausweis war offenbar mit einer Büroklammer an einem etwas mitgenommenen Blatt aus einem Taschenkalender befestigt gewesen. Ich faltete es auseinander, setzte mich auf die Treppe und versuchte, seine furchtbare Handschrift zu entziffern. Es war ein Gedicht. Oder besser: ein Songtext.

this sign

 

would you like to take a walk with me

hold hands see what we can see

come back and take a cup of tea with me

 

suns leavin would you like to stay

I didn’t expect it to go this way

but theres all sorts of games that we can play if you stay

 

I wanna be with you rain or shine

theres nobody elses heart on my mind

and if I went lookin, lord, I’d never find this sign

 

theres nothin else that we can do

but to look at each other without a clue

and what if the others thinkin I love you?

well I do

Es war das bezaubernde Lied, das er am Montagabend gespielt hatte. Ich las den Text mehrmals hintereinander.

Vielleicht konnte ich ihm Nachhilfe in der Verwendung des Apostrophs geben.

Alkohol bei der Arbeit: Traum und Wirklichkeit

Ed und ich hatten eine Besprechung mit Bill wegen eines Lesebuchs für die dritte Klasse, das wir zusammenstellten. Habe ich erwähnt, dass Bill eine irritierend orangefarbene Haut hat? Entweder er benutzt zu viel Selbstbräuner, oder er trinkt zu viel Karottensaft. Jedenfalls beißt sich sein Teint ziemlich mit seinem blonden Bürstenschnitt. Und übrigens: Bill lächelt nie. Niemals.

»Ich habe Folgendes zu sagen«, begann Bill.

Wir hatten noch gar nicht richtig Platz genommen. Ich holte ein Klemmbrett heraus und zog die Kappe von meinem Stift.

»In einer der Geschichten müssen wir einen älteren Menschen auftreten lassen. Vielleicht in der über den Latino-Jungen, der im Park Inliner fährt. Anstatt des halbwüchsigen Bruders soll sich die Oma seiner annehmen.«

»Okay«, sagte ich gedehnt. »Das Problem ist allerdings, dass die Geschichte aus einem Buch stammt, das mit der Newbery Medal