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»Das kühnste Debüt des Jahres« (The Observer) von einer aufregenden Newcomerin der Weltliteratur »Wie viel von diesen Hügeln ist Gold« ist eins von Obamas Lieblingsbüchern 2020 Mit einer Pistole in den Händen und der Leiche des Vaters auf dem Rücken des Pferdes sind die chinesischen Waisenkinder Lucy und Sam auf der Flucht durch die Prärie. Amerika ist ein unbarmherziges Land, von Bisonknochen übersät und dem Goldrausch verfallen. Die Geschwister wollen den Vater gemäß dem chinesischen Ritual begraben – mit zwei Silberdollars auf den Augen. Nur auf diese Weise kann Ba nach Hause finden. Doch wo in dieser fremden Welt ist für Lucy und Sam das Zuhause, das so unerreichbar scheint wie das versprochene Gold in den Hügeln? Mit wilder Sprachmagie erzählt C Pam Zhang, Tochter chinesischer Einwanderer in Amerika, in ihrem Roman »Wie viel von diesen Hügeln ist Gold« von der Sehnsucht anzukommen – an einem Ort und in einer Identität, die sich über die Grenzen von Herkunft und Gender hinwegsetzt.
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Seitenzahl: 397
C Pam Zhang
Roman
Mit einer Pistole in den Händen und der Leiche des Vaters auf dem Rücken des Pferdes, durchqueren die chinesischen Waisenkinder Lucy und Sam die Prärie. Es ist ein unbarmherziges Land, von Bisonknochen übersät und dem Goldrausch verfallen. Die Geschwister wollen den Vater gemäß des chinesischen Rituals begraben – mit zwei Silberdollars auf den Augen. Nur auf diese Weise kann Ba ›nach Hause finden‹. Doch wo in diesem fremden Land ist für Lucy und Sam das Zuhause, das so unerreichbar scheint wie das versprochene Gold in den Hügeln?
Mit wilder Sprachmagie erzählt C Pam Zhang, Tochter chinesischer Einwanderer in Amerika, von der Sehnsucht anzukommen – an einem Ort und in einer Identität, die sich über die Grenzen von Herkunft und Gender hinwegsetzt.
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
C Pam Zhang wurde 1990 in Peking geboren, ist aber hauptsächlich ein Geschöpf der Vereinigten Staaten. Sie hat bislang in dreizehn Städten gelebt und ist immer noch auf der Suche nach einem Zuhause. Zahllose Schreibstipendien wurden ihr verliehen, darunter das des renommierten Iowa Writer’s Workshops. Ihre Literatur erschien u.a. in Harper's Bazaar und im New Yorker. »Wie viel von diesen Hügeln ist Gold« ist ihr Debütroman, der in den USA zur hochgelobten Überraschungssensation des Frühjahrs wurde. Der Bestseller schaffte es sogar auf die Longlist des Booker und wurde 2020 zu einem von Obamas Lieblingsbüchern. Zhang lebt zurzeit in San Francisco.
Eva Regul, geboren 1974 in Kiel, studierte Literaturwissenschaft in Berlin und lebte anschließend ein Jahr in London. Nach ersten Übersetzungen während des Studiums arbeitete sie mehrere Jahre als Untertitlerin. 2019 kehrte sie in die Welt der Bücher zurück und überträgt seither Literatur aus dem britischen und amerikanischen Englisch ins Deutsche.
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Quotes
Widmung
Motto
TEIL EINS
GOLD
PFLAUME
SALZ
SCHÄDEL
WIND
ERDE
FLEISCH
WASSER
BLUT
TEIL ZWEI
SCHÄDEL
ERDE
FLEISCH
PFLAUME
SALZ
GOLD
WASSER
ERDE
WIND
BLUT
WASSER
TEIL DREI
WIND WIND WIND WIND WIND
TEIL VIER
ERDE
WASSER
FLEISCH
SCHÄDEL
PFLAUME
WIND
BLUT
GOLD
SALZ
GOLD
GOLD
DANK
Gespräch mit C Pam Zhang
»Das kühnste Debüt des Jahres.« The Observer
»Eine faszinierend schöne Erzählung, die an Steinbeck und Faulkner erinnert, in einer Sprache, die ganz ihre eigene ist.« The New York Times
»Zhangs Sprache ist nicht nur einfach hinreißend, sie ist revolutionär. Abwechselnd schön und brutal, ist dieses Debüt eine Wucht und eine visionäre Ergänzung zur amerikanischen Literatur.« Star Tribune
»Wenn es jemals eine Zeit gibt, sich kopfüber in Zhangs Saga zu werfen, dann jetzt. Eine dringliche Hommage an die unerzählten Geschichten amerikanischer Einwanderer.« The San Francisco Chronicle
»Ein wildes und glänzendes Buch, das aus den Zwischenräumen zwischen Mythos und Traum hervorbricht.« Lauren Groff
»Ein umwerfender, wilder Gesang auf die Familie und die Sehnsucht nach Herkunft und Zugehörigkeit. C Pam Zhang ist eine furchtlose Autorin, das Buch ein Wunder.« Garth Greenwell
»Außergewöhnlich« Chigozie Obioma
»Dieser Roman ist fesselndes Abenteuer, zarte Coming-of-Age-Geschichte und die Ankunft eines neuen großen Talents.« Esquire
»Herausragend« The Washington Post
»Unvergesslich« The Times
»Gehört in ein Bücherregal ganz für sich allein.« NPR
Für meinen Vater,
Zhang Hongjian,
geliebt, doch nie recht gekannt.
This land is not your land.
XX62
Ba stirbt in der Nacht, und so machen sie sich auf die Suche nach zwei Silberdollars.
Sam klopft am Morgen einen zornigen Rhythmus, aber Lucy hat das Bedürfnis, etwas zu sagen, bevor sie gehen. Die Stille lastet schwer auf ihr, drängt sie, bis sie nachgibt.
»Tut mir leid«, sagt sie zu Ba in seinem Bett. Das Laken, das ihn einhüllt, ist das einzig Saubere in der schummrigen Hütte, in der schwarzer Kohlenstaub alles bedeckt. Um den Dreck hat Ba sich schon zu Lebzeiten nicht geschert, und auch im Tod geht sein schmaler, giftiger Blick daran vorbei. Und an Lucy. Direkt zu Sam. Sam, das Lieblingskind, rundes Bündel Ungeduld, das in übergroßen Stiefeln an der Tür auf und ab geht. Sam hat Ba von früh bis spät an den Lippen gehangen – und kann dem Mann jetzt nicht mehr in die Augen sehen. Da trifft es Lucy wie ein Schlag: Ba ist wirklich fort.
Sie bohrt einen nackten Zeh in den lehmigen Boden, schürft nach Worten, damit Sam zuhört. Damit sich Gnade über Jahre der Verletzungen legt. Im Licht, das durch das einsame Fenster fällt, schwebt geisterhaft der Staub. Kein Hauch von Wind.
Etwas drückt sich Lucy ins Kreuz.
»Peng«, sagt Sam. Sam ist elf, Lucy zwölf; Sam ist Holz, Lucy Wasser, hat Ma immer gesagt. Trotzdem ist Sam einen ganzen Kopf kleiner, sieht jung aus, sanft, aber das täuscht. »Zu langsam. Du bist tot.« Sam streckt zwei Finger aus der speckigen Faust und bläst auf die Mündung des imaginären Revolvers. Genau wie Ba immer. Gehört sich so, hatte Ba gesagt, und als Lucy einwandte, Lehrer Leigh hätte gesagt, diese neuen Revolver verstopften nicht und man müsse nicht mehr pusten, war Ba der Meinung, es gehöre sich, ihr eine zu scheuern. Sternexplosion vor den Augen, stechender Schmerz in der Nase.
Die Nase ist danach nie mehr ganz gerade geworden. Gedankenverloren legt Lucy den Finger daran. Gehört sich so, hatte Ba gesagt, heilt von alleine. Als der farbenprächtige Bluterguss verblich, hatte er Lucy angesehen und kurz genickt. Als hätte er das von Anfang an so geplant. Gehört sich so, da hast du nen Denkzettel fürs Frechsein.
Sams braunes Gesicht ist zwar verdreckt und mit Schießpulver eingerieben (indianische Kriegsbemalung für Sam), aber darunter ist es makellos.
Ausnahmsweise, weil Bas Fäuste machtlos unter der Decke liegen – und vielleicht ist sie ja doch brav, doch klug, vielleicht glaubt sie insgeheim, Ba könnte aufstehen und sie schlagen, wenn sie ihn reizt –, tut Lucy, was sie sonst nie tut. Sie formt selbst die Hand zum Revolver, richtet die Finger auf Sam. Drückt sie gegen Sams Kinn, wo die Bemalung dem Babyspeck weicht. Gegen den Unterkiefer, den man zierlich nennen könnte, wenn Sam ihn nicht immer so hochrecken würde.
»Selber peng«, sagt Lucy. Sie schiebt Sam wie einen Banditen zur Tür.
Die Sonne dörrt sie aus. Mitten in der Trockenzeit ist Regen nur noch eine ferne Erinnerung. Ihr Tal besteht aus nackter, staubiger Erde, durch die sich ein Creek schlängelt. Hier die dürftigen Hütten der Bergarbeiter, drüben die reichen Häuser mit richtigen Wänden und Fensterscheiben. Und ringsherum die endlosen, zu Gold verbrannten Hügel; und dort draußen, versteckt im hohen, trockenen Gras, verstreute Lager von Goldgräbern und Indianern, Grüppchen von Vaqueros und Planwagenfahrern und Banditen, und das Bergwerk, und noch mehr Bergwerke, und die Weite, die Weite.
Sam drückt die schmalen Schultern durch und stapft los zur anderen Seite des Creeks, das rote Hemd ein Schrei in der Ödnis.
Als sie hier ankamen, wuchs noch langes, gelbes Gras im Tal, Straucheichen standen auf den Hügeln, und nach dem Regen blühte der Mohn. Die Überschwemmung vor dreieinhalb Jahren hat die Eichen entwurzelt, die Hälfte der Menschen ertrank oder floh. Ihre Familie aber blieb, ganz allein am Rande des Tals. Ba wie ein vom Blitz gespaltener Baum: in der Mitte tot, die Wurzeln noch festgekrallt.
Und jetzt, wo Ba fort ist?
Lucy setzt die nackten Füße in Sams Stiefelabdrücke und schweigt, spart sich die Spucke. Das Wasser ist schon lange fort, die Welt nach der Flut umso durstiger.
Und Ma. Schon so lange fort.
Auf der anderen Seite des Creeks liegt das breite Band der Hauptstraße, schillernd und staubig wie Schlangenhaut. Falsche Fassaden ragen in die Höhe: Saloon und Hufschmiede, Handelsposten und Bank und Hotel. Menschen lungern im Schatten wie Eidechsen.
Im Gemischtwarenladen sitzt Jim und kritzelt in sein Kassenbuch. Es ist genauso breit wie er selbst und halb so schwer. Es heißt, er notiere die Schulden eines jeden Mannes im Territorium.
»Entschuldigt bitte«, murmelt Lucy und schlängelt sich zwischen ein paar Kindern durch, die sich bei den Süßigkeiten herumdrücken und mit gierigen Augen etwas suchen, das sie aus ihrer Langeweile rettet. »Verzeihung. Entschuldigung.« Sie schrumpft sich klein. Zögerlich machen die Kinder Platz, Arme stoßen gegen ihre Schultern. Wenigstens wird sie heute nicht gekniffen.
Jim ist immer noch in sein Kassenbuch vertieft.
Etwas lauter jetzt: »Entschuldigen Sie, Sir?«
Ein Dutzend Augen durchbohren Lucy, aber Jim ignoriert sie weiter. Obwohl sie sofort merkt, dass es keine gute Idee ist, schiebt sie die Hand auf den Ladentisch.
Jims Blick zuckt hoch. Rote Augen, die Haut an den Rändern rau. »Pfoten weg«, sagt er schneidend. Drahtpeitschenstimme. Seine Hand schreibt weiter. »Hab den Ladentisch heute früh gewischt.«
Gehässiges Lachen hinter ihrem Rücken. Das ist Lucy egal, nach all den Jahren in solchen Städten gibt es nichts mehr in ihr, was verletzt werden könnte. Was ihr das leere Gefühl im Magen gibt, genau wie damals, als Ma starb, sind Sams Augen. Sam hat den schmalen, giftigen Blick von Ba.
Ha!, lacht Lucy, denn von Sam wird nichts kommen. Haha! Ihr Lachen schützt sie, macht sie zu einem Teil der Meute.
»Heute nur ganze Hühner«, sagt Jim. »Keine Füße für euch. Kommt morgen wieder.«
»Wir brauchen kein Essen«, lügt Lucy und schmeckt schon die zart schmelzende Hühnerhaut auf der Zunge. Sie macht sich groß, ballt die Fäuste. Dann sagt sie, was sie braucht.
Ich verrate dir die einzigen Zauberworte, auf die es ankommt, hatte Ba gesagt, als er Mas Bücher in den sturmgepeitschten See warf. Er gab Lucy eine Ohrfeige, damit sie das Weinen ließ, aber seine Hand war langsam. Fast sanft. Er hockte sich hin und sah zu, wie Lucy sich den Rotz aus dem Gesicht wischte. Ting wo, Lucymädchen: Auf Kredit.
Bas Worte scheinen tatsächlich eine Art Zauberkraft zu entfalten. Jims Stift hält inne.
»Wie war das, Mädchen?«
»Zwei Silberdollars. Auf Kredit.« Bas Stimme dröhnt hinter ihr, in ihren Ohren. Lucy riecht seine Whiskeyfahne. Wagt nicht, sich umzudrehen. Wenn seine Pranken ihr jetzt auf die Schultern fallen, weiß sie nicht, ob sie schreien oder lachen wird, weglaufen oder ihm um den Hals fallen, so fest, dass er sie nicht abschütteln kann, wie sehr er auch flucht. Bas Worte rutschen aus dem Tunnel ihrer Kehle wie ein Geist, der aus dem Dunkel steigt. »Montag ist Zahltag. Ist nur für ein paar Tage. Ehrlich.«
Sie spuckt in die Hand und streckt sie ihm hin.
Natürlich hat Jim dieses Sprüchlein schon von vielen Bergleuten gehört, von ihren vertrockneten Ehefrauen und ausgemergelten Kindern. Arm wie Lucy. Dreckig wie Lucy. Jeder hier kennt das, Jim knurrt, schiebt das Benötigte über den Ladentisch und berechnet am nächsten Zahltag den doppelten Zins. Hat er nicht sogar einmal nach einem Grubenunglück Verbandszeug auf Kredit herausgegeben? An Leute, die genauso verzweifelt waren wie Lucy.
Aber keiner wirklich wie Lucy. Jim mustert sie. Nackte Füße. Verschwitztes, etwas zu kleines Kleid, genäht aus Resten von Bas dunkelblauem Hemdenstoff. Dürre Arme, die Haare rau wie Kaninchendraht. Und dieses Gesicht.
»Getreide gebe ich deinem Pa auf Kredit«, sagt Jim. »Und alles, was ihr an einem Tier so für essbar haltet.« Er zieht die Oberlippe hoch und entblößt feuchtes Zahnfleisch. Bei jedem anderen könnte das als Lächeln durchgehen. »Aber wenn du Geld willst, geh mit ihm zur Bank.«
Die Spucke trocknet in Lucys Handfläche fest. »Sir …«
Sams Stiefelabsätze auf dem harten Boden übertönen Lucys leise Stimme. Erhobenen Hauptes marschiert Sam aus dem Laden.
So klein ist Sam. Macht aber Männerschritte in diesen Kalbslederstiefeln. Sams Schatten tanzt noch auf Lucys Zehen; für Sam ist der Schatten die wahre Größe, der Körper nur ein lästiges Zwischenstadium. Wenn ich ein Cowboy bin, sagt Sam. Wenn ich ein Abenteurer bin. Und in letzter Zeit: Wenn ich ein berühmter Bandit bin. Wenn ich groß bin. Jung genug, um zu glauben, dass man die Welt aus Wünschen erschafft.
»Solchen wie uns hilft die Bank nicht«, sagt Lucy.
Keine Reaktion. Staub kitzelt Lucy in der Nase, sie hustet, bleibt stehen. Es wabert in ihrem Rachen. Sie würgt und erbricht das Essen vom Vorabend auf die Straße.
Sofort kommen die streunenden Hunde, um die Lache aufzulecken. Einen Moment lang zögert Lucy, obwohl Sams Stiefel schon ungeduldig trommeln. Am liebsten würde sie ihr letztes Familienmitglied allein lassen und sich zu den Hunden kauern, um das, was ihres ist, bis zum letzten Tropfen gegen sie zu verteidigen. Bauch und Beine, das ist das Leben der Streuner, fressen und flüchten. Ein einfaches Leben.
Sie richtet sich auf, zwingt sich auf zwei Beinen zu gehen.
»Kann’s losgehen, Partner?«, fragt Sam. Die Frage ist ernst gemeint, keine irgendwo aufgeschnappte und nachgeplapperte Phrase. Zum ersten Mal an diesem Tag kneift Sam die dunklen Augen nicht zusammen. Im Schutz von Lucys Schatten sind sie weit geöffnet, der Blick wird weich. Lucy beugt sich vor und berührt die kurzen schwarzen Haare unter dem verrutschten roten Tuch. Sie erinnert sich an den Duft von Sams Babykopfhaut: hefesüß und wahrhaftig, Sonne und Öl.
Aber durch ihre Bewegung wird Sam plötzlich vom Sonnenlicht getroffen. Sofort sind die Augen schmal. Sam macht einen Schritt zurück. An der ausgebeulten Hosentasche erkennt Lucy, dass die Hand wieder zum Revolver geformt ist.
»Kann losgehen«, sagt Lucy.
Der Fußboden in der Bank ist aus glänzendem Holz. Blond wie das Haar der Kassiererin. So glatt, dass Lucy sich keine Splitter in die Füße reißt. Sams Stiefel klingen hier hart wie Revolverschüsse. Der Hals unter der Kriegsbemalung wird rot.
Ta-tap, hallt es durch die Bank. Die Kassiererin blickt starr.
Ta-TAP. Die Kassiererin lehnt sich zurück. Hinter ihr taucht ein Mann auf. An seiner Weste baumelt eine Kette.
TA-TAP TA-TAP TA-TAP. Sam stellt sich vor dem Schalter auf die Zehenspitzen, Stiefelleder knarzt. Jeder Schritt mit Bedacht gesetzt.
»Zwei Silberdollars«, sagt Sam.
Der Mund der Kassiererin zuckt. »Habt ihr ein …«
»Sie haben kein Konto.« Sagt der Mann und sieht Sam an wie eine Ratte.
Sam ist verstummt.
»Auf Kredit«, sagt Lucy. »Bitte.«
»Euch beide kenn ich doch. Hat euer Vater euch zum Betteln geschickt?«
Könnte man so sagen.
»Montag ist Zahltag. Es ist nur für ein paar Tage.« Ehrlich lässt Lucy weg. Käme bei diesem Mann nicht gut an.
»Wir sind hier kein Wohltätigkeitsverein. Ab nach Hause, ihr kleinen …« Die Lippen des Mannes bewegen sich noch kurz weiter, nachdem er aufgehört hat zu sprechen, wie bei der Frau, die in Zungen redete, Lucy hat das einmal gesehen, eine fremde Macht hatte von ihr Besitz ergriffen. »… Bettler! Haut ab, sonst rufe ich den Sheriff.«
Panische Angst kriecht Lucy mit kalten Fingern über den Rücken. Nicht Angst vor dem Mann. Angst vor Sam. Da ist wieder dieser Blick in Sams Augen. Sie muss an Ba denken, steif in seinem Bett, die Augen einen schmalen Spalt geöffnet. Sie war heute früh als Erste wach. Sie hat die Leiche entdeckt und in den Stunden, als Sam noch geschlafen hat, die Totenwache gehalten, sie hat ihm die Augen, so gut sie konnte, zugedrückt. Sie hatte gedacht, Ba sei zornig gestorben. Jetzt weiß sie es besser: Aus seinen zusammengekniffenen Augen starrte der berechnende Blick des Jägers auf seine Beute. Sie sieht schon die Zeichen der Besessenheit. Bas schmaler Blick in Sams Augen. Bas Zorn in Sams Körper. Und da ist noch mehr, wodurch Ba Macht über Sam hat: die Stiefel. Die Stelle, wo Ba Sam die Hand auf die Schulter gelegt hat. Lucy weiß, wie es weitergeht. Ba wird langsam in diesem Bett verrotten, während sein Geist aus seinem Körper in Sams wandert, bis Ba Lucy eines Morgens aus Sams Augen ansieht. Sam auf ewig verloren.
Sie müssen Ba ein für alle Mal begraben, ihm die Augen mit Silbergewichten verschließen. Das muss Lucy diesem Mann begreiflich machen. Sie wappnet sich fürs Betteln.
Sam sagt:
»Peng.«
Lass den Unsinn, will Lucy sagen. Sie will Sams kleine braune Finger packen, aber die haben plötzlich einen seltsamen Glanz. Schwarz. Sam hält Bas Revolver in der Hand.
Die Kassiererin fällt in Ohnmacht.
»Zwei Silberdollars«, sagt Sam mit tiefer Stimme. Ein Echo von Ba.
»Bitte entschuldigen Sie, Sir«, sagt Lucy. Sie zieht die Mundwinkel hoch. Haha! »Sie wissen schon, Kinder machen immer Unsinn. Bitte verzeihen Sie …«
»Verzieht euch, bevor ich euch lynchen lasse«, sagt der Mann. Er sieht Sam direkt ins Gesicht. »Verzieh dich, du dreckiges … kleines … Schlitzauge.«
Sam drückt ab.
Getöse. Ein Knall. Ein Sausen. Etwas Gewaltiges rauscht an Lucys Ohr vorbei. Streichelt sie mit rauer Hand. Als sie die Augen aufmacht, ist die Luft grau von Qualm. Sam ist zurückgetaumelt, die Hand an der Wange, getroffen vom Rückstoß des Revolvers. Der Mann liegt auf dem Boden. Zum ersten Mal im Leben widersetzt sich Lucy den Tränen auf Sams Gesicht, zieht jemand anderen vor. Sie kriecht von Sam weg. Dröhnen in den Ohren. Sie ertastet den Knöchel des Mannes. Seinen Oberschenkel. Seine Brust. Seine lebendige, unversehrte Brust, in der sein Herz schlägt. Er hat eine Beule an der Schläfe, weil er zur Seite gesprungen und mit dem Kopf gegen ein Regal geknallt ist. Davon abgesehen ist der Mann unverletzt. Der Revolver hatte eine Fehlzündung.
Aus der Wolke von Qualm und Pulver hört Lucy Bas Gelächter.
»Sam.« Sie bekämpft den Drang, auch zu weinen. Muss jetzt so stark sein wie nie. »Sam, du Schwachkopf, bao bei, du kleiner Scheißhaufen.« Süß und sauer gemischt, zärtliche Flüche. Wie bei Ba. »Los, weg hier.«
Man könnte fast darüber lachen, dass Ba als Goldgräber in diese Hügel gekommen war. Wie tausende anderer dachte er, das gelbe Gras dieses Landes, glänzend wie Münzen im Sonnenschein, verspräche einen noch glänzenderen Lohn. Aber keiner von denen, die im Westen zu graben begannen, hatte mit dem unbarmherzigen Durst dieses Landes gerechnet, das Schweiß und Kraft aus einem saugte. Keiner von ihnen hatte mit seinem Geiz gerechnet. Die meisten kamen zu spät. Die Reichtümer waren schon ausgegraben, weggetrocknet. Die Flüsse trugen kein Gold. Die Erde trug keine Früchte. Stattdessen fanden sie tief in den Hügeln einen weit glanzloseren Schatz: Kohle. Von Kohle konnte ein Mann nicht reich werden, sie ließ ihm nicht die Augen übergehen und beflügelte nicht seine Fantasie. Sie ernährte seine Familie mit mageren Spatzenportionen und zusammengekratzten Stückchen Fleisch, bis seine Frau, vom Träumen erschöpft, bei der Geburt eines Sohnes starb. Danach konnte er das Geld für ihr Essen in Alkohol umsetzen. Das war alles, was nach Monaten der Hoffnung und des Sparens übrig blieb: eine Flasche Whiskey und zwei Gräber, die keiner mehr fand. Man könnte fast darüber lachen – haha! –, dass Ba mit ihnen hierhergekommen war, um reich zu werden, und jetzt sind sie drauf und dran, für zwei Silberdollars zu töten.
Also klauen sie. Nehmen sich, was sie brauchen, um aus der Stadt zu fliehen. Sam will erst nicht, stur wie immer. Hartnäckig. »Wir haben keinem was getan.«
Aber du warst kurz davor, denkt Lucy. Laut sagt sie: »Solchen wie uns drehen sie aus allem einen Strick. Machen einfach ein Gesetz. Genau wie damals.«
Sam streckt das Kinn vor, zögert aber. Selbst an diesem wolkenlosen Tag spüren sie beide noch den peitschenden Regen. Erinnern sich an den Sturm, der in der Hütte tobte und gegen den selbst Ba machtlos war.
»Wir müssen hier weg«, sagt Lucy. »Wir haben keine Zeit mehr, um ihn zu begraben.«
Endlich nickt Sam.
Den Bauch im Dreck robben sie zum Schulhaus. Viel zu einfach, das zu werden, was die anderen ihnen nachrufen: Tiere, gemeine Diebe. Lucy schleicht um das Gebäude bis zu einer Stelle, die man von der Tafel aus nicht sehen kann. Drinnen erklingen Stimmen. Das rhythmische Rezitieren hat etwas Heiliges, die Anrufung in der sonoren Stimme von Lehrer Leigh, dann die Antwort der Schüler im Chor. Um ein Haar stimmt Lucy mit ein.
Aber es ist Jahre her, dass sie ins Schulhaus durfte. An ihrem Tisch sitzen zwei neue Schüler. Lucy beißt sich in die Wange, bis es blutet, und bindet Lehrer Leighs graue Stute Nellie los. Im letzten Moment nimmt sie auch noch Nellies Satteltaschen, bis obenhin gefüllt mit Futterhafer.
Wieder zu Hause trägt Lucy Sam auf, in der Hütte alles Nötige zusammenzupacken. Sie selbst bleibt draußen und übernimmt Schuppen und Garten. Drinnen: dumpfe Schläge und Geschepper, der Klang von Trauer und Wut. Lucy geht nicht hinein; Sam bittet nicht um Hilfe. Eine unsichtbare Wand ist zwischen ihnen gewachsen, als Lucy in der Bank an Sam vorbeigekrochen ist und mit sanften Fingern den Mann berührt hat.
Lucy heftet einen Zettel für Lehrer Leigh an die Tür. Angestrengt sucht sie nach den eleganten Ausdrücken, die er ihr vor Jahren beigebracht hat, als könnten sie widerlegen, was ihr Diebstahl beweist. Sie findet sie nicht. Sie kritzelt den Zettel von oben bis unten voll mit Es tut mir leid.
Sam tritt mit zusammengerolltem Bettzeug, kargen Vorräten, einem Topf, einer Pfanne und Mas alter Reisetruhe vor die Tür. Die Truhe, fast so lang, wie ein Mann groß ist, schleift im Dreck, die Lederriemen straff gespannt. Lucy fragt sich, welche Erinnerungsstücke Sam wohl darin verstaut hat, denn sie sollten das Pferd nicht zu sehr belasten – aber was zwischen ihnen steht, lässt ihre Kopfhaut kribbeln. Sie sagt nichts. Reicht Sam nur wortlos eine schrumpelige Möhre, das letzte bisschen Süße für die nächste Zeit. Ein Friedensangebot. Sam gibt eine Hälfte Nellie, steckt die andere in die Tasche. Die liebevolle Geste macht Lucy Mut, auch wenn sie nur einem Pferd gilt.
»Hast du dich verabschiedet?«, fragt Lucy, als Sam den Strick auf Nellies Rücken wirft und ein paar Laufknoten schlingt. Sam knurrt nur, schiebt eine Schulter unter die Truhe und hievt sie hoch, das braune Gesicht dunkelrot vor Anstrengung. Lucy hilft mit ihrer Schulter. Die Truhe rutscht in eine Schlaufe des Seils, und Lucy meint darin ein Poltern zu hören.
Sams Kopf wirbelt herum. Weiße Zähne gebleckt im dunklen Gesicht. Angst durchzittert Lucy. Sie macht einen Schritt zurück. Lässt Sam das Seil allein festbinden.
Lucy geht nicht mehr hinein, um dem Leichnam Lebewohl zu sagen. Sie hatte ihre Stunden neben ihm am frühen Morgen. Und ehrlich gesagt, ist Ba schon damals mit Ma gestorben. Dieser Leichnam ist schon seit dreieinhalb Jahren die leere Hülle des Mannes, der Ba einmal war. Endlich werden sie weit genug weggehen, um seinem Geist zu entkommen.
Lucymädchen, sagt Ba, als er in ihren Traum gehinkt kommt, ben dan.
Er hat gute Laune, was selten passiert. Wählt sein zärtlichstes Schimpfwort, das, mit dem sie groß geworden ist. Sie will ihn ansehen, aber sie kann den Kopf nicht bewegen.
Was habe ich dir beigebracht?
Sie will mit dem Einmaleins anfangen. Kann aber auch den Mund nicht bewegen.
Schon wieder vergessen, was? Immer bringst du alles durcheinander. Luan qi ba zao. Mit einem Platsch spuckt Ba seinen Abscheu auf den Boden. Der unrhythmische, dumpfe Schlag des schlimmen Beins, dann der des guten. Nichts kriegst du hin. Als sie älter wurde, schrumpfte Ba. Aß kaum noch. Was er zu sich nahm, schien nur seine Wut zu nähren, die wie ein treuer alter Köter nicht von seiner Seite wich. Dui. So isses. Noch mehr Platschen, weiter weg jetzt. Betrunkenes Lallen. Du kl…leine Verräderin. Mathematik hatte sich erledigt, jetzt füllten Schimpfwörter die Hütte. Eine gepfefferte Sprache, die Ma nicht erlaubt hätte. Du faules Stück Scheiße … gou shi.
Als Lucy aufwacht, ist sie von Gold umgeben. Auf den Hügeln ein paar Meilen außerhalb der Stadt wogt das trockene gelbe Gras so hoch, dass selbst Hasen darin verschwinden. Der Wind verleiht ihm einen Schimmer wie Sonnenschein auf mattem Metall. Lucys Nacken schmerzt von der Nacht auf der harten Erde.
Das Wasser. Ba hat es ihr doch beigebracht. Sie hat vergessen, das Wasser abzukochen.
Sie hält die Flasche schräg: leer. Vielleicht hat sie nur geträumt, dass sie sie aufgefüllt hat. Nein – Sam hat in der Nacht vor Durst gewimmert, und Lucy ist hinunter zum Fluss gegangen.
Dumm und verweichlicht, flüstert Ba. Wo ist das Hirn, auf das du so stolz bist? Die Sonne ist erbarmungslos; er verglüht mit einem letzten Stich. Kaumhast du Angst, löst dein Grips sich in Luft auf.
Lucy entdeckt den ersten Klecks Erbrochenes, dunkel schimmernd wie eine Luftspiegelung. Träge wogt ein Fliegenschwarm. Die nächsten Kleckse führen sie zum Fluss, der sich im Tageslicht als trübe erweist. Braun. Verdreckt wie alle Flüsse in Bergbaugebieten. Sie hat vergessen, das Wasser abzukochen. Weiter unten ist Sam zusammengebrochen. Augen geschlossen, Fäuste gelöst. Die Kleider eine widerlich stinkende, summende Sauerei.
Dieses Mal kocht Lucy das Wasser ab, lässt das Feuer lodern, bis die Hitze sie schwindelig macht. Als das Wasser einigermaßen abgekühlt ist, wäscht sie Sams fiebrigen Körper.
Sams Lider flattern. »Nein.«
»Sch. Du bist krank. Ich helfe dir.«
»Nein.« Sam badet schon seit Jahren allein, aber das hier ist ja wohl eine Ausnahme.
Kraftlose Tritte von Sam. Lucy schält mit angehaltenem Atem verkrusteten Stoff weg, der Gestank ist unerträglich. Heller Fieberglanz brennt in Sams Augen, als wäre es Hass. Die von Ba geerbte, mit einem Strick zugebundene Hose lässt sich leicht ausziehen. Zwischen Sams Beinen stößt Lucy mit der Hand an etwas, das in der Unterhose steckt. Ein harter, knorriger Knubbel.
Lucy zieht eine halbe Möhre zwischen den Beinen ihrer kleinen Schwester heraus: ein kümmerlicher Ersatz für das, was Sam Bas Meinung nach hätte haben sollen.
Lucy macht einfach weiter, aber ihre Hand zittert, und der Waschlappen schrubbt härter als beabsichtigt über die Haut. Kein Wimmern von Sam. Kein Blick. Augen auf den Horizont gerichtet. Wie immer, wenn Sam um die Wahrheit nicht herumkommt, tut sie so, als habe sie nichts mit diesem Körper zu tun, der noch immer kindlich und androgyn ist, verklärt von einem Vater, der einen Sohn wollte.
Lucy müsste etwas sagen. Aber wie lässt sich dieser Pakt zwischen Sam und Ba erklären, den sie nie verstanden hat? In Lucys Kehle wächst ein unbezwingbarer Berg. Sams Blick folgt dem Möhrenrest, den Lucy wegwirft.
Einen Tag lang würgt Sam dreckiges Wasser hoch, drei weitere dauert das Fieber an. Während Lucy Haferbrei kocht, Zweige ins Feuer legt, bleiben Sams Augen geschlossen. In diesen trägen Stunden betrachtet Lucy eine Schwester, die sie fast schon vergessen hatte: volle Lippen, dunkler Wimpernfarn. Die Krankheit schärft Sams rundes Gesicht, macht es Lucys ähnlicher: kantiger, hagerer, die Haut blasser, mehr gelb als braun. Ein Gesicht, das seine Schwäche zeigt.
Lucy streicht Sam die Haare aus der Stirn. Seit sie vor dreieinhalb Jahren komplett abgeschnitten wurden, sind sie wieder bis knapp über die Ohren gewachsen. Seidenweich und sonnenheiß.
Es wirkte unschuldig, wie Sam ihr Mädchensein versteckte. Kindisch. Kurze Haare und Dreck und Kriegsbemalung. Bas alte Klamotten angezogen und wie Ba herumstolziert. Selbst als Sam sich Mas Regeln widersetzte und darauf bestand, arbeiten zu gehen und mit Ba aus der Stadt zu reiten, hatte Lucy das für die alten Rollenspielchen gehalten. Hätte nie gedacht, dass es so weit ging. So weit wie diese Möhre, dieser Versuch, mit aller Macht etwas tief drinnen zu verändern.
Es ist ziemlich raffiniert. Ein Stückchen Stoff als versteckte Tasche in die Unterhose genäht. Geschickt gemacht für ein Mädchen, das die Mädchenpflichten im Haushalt verweigerte.
Der Krankheitsgestank hängt noch über ihrem Lager, obwohl Sam keinen Durchfall mehr hat und sich wieder allein waschen kann. Die Fliegenwolken bleiben, Nellie schlägt ununterbrochen mit dem Schweif. Aber Sams Stolz hat genug gelitten, also verliert Lucy kein Wort über den üblen Geruch.
Eines Abends kommt Lucy mit einem erlegten Eichhörnchen zurück, Sams Lieblingsgericht. Es hatte eine Pfote gebrochen und war nicht schnell genug auf dem Baum. Sam ist nirgendwo zu sehen. Nellie auch nicht. Lucy dreht sich mit blutigen Händen im Kreis, ihr Herz klopft und klopft. Im Rhythmus der Schläge singt sie ein Lied von zwei Tigern, die Verstecken spielen. Seit Jahren schon führen die Flüsse in dieser Gegend so wenig Wasser, dass hier keine größeren Tiere als Schakale mehr leben; das Lied stammt aus Zeiten einer üppigen Natur. Falls Sam starr vor Angst in einem Versteck hockt, ist dieses Lied ein Erkennungszeichen. Zweimal meint Lucy einen Streifen im Gestrüpp zu erkennen. Kleiner Tiger, kleiner Tiger, singt sie. Schritte hinter ihr. Lai.
Ein Schatten schluckt Lucys Füße. Etwas drückt sich ihr zwischen die Schultern.
Diesmal sagt Sam nicht Peng.
In der Stille kreisen Lucys Gedanken und lassen sich langsam, fast friedlich nieder, wie Geier, die gemächlich gleiten – kein Grund zur Eile, wenn die Tat einmal vollbracht ist. Wo hat Sam den Revolver versteckt, nachdem sie aus der Bank geflohen sind? Wie viele Kammern sind noch geladen?
Sie sagt: »Sam.«
»Mund halten.« Es sind Sams erste Worte seit dem Nein. »In dieser Gegend werden Verräter erschossen.«
Sie erinnert Sam daran, was sie sind. Partner.
Der Druck rutscht Lucys Rücken hinunter bis ins Kreuz. Die normale Höhe, wenn Sams Arm müde wird.
»Keine Bewegung.« Der Druck verschwindet. »Ich hab dich im Blick.« Lucy müsste sich umdrehen. Jetzt. Aber … Weißt du, was du bist?, hatte Ba Lucy an jenem Tag angefaucht, als Sam mit einem pflaumenblauen Auge und Lucy mit verräterisch sauberem Kleid aus der Schule kam. Ein Angsthase. Ein feiges Mädchen. In Wahrheit war Lucy damals, als Sam sich den stichelnden Kindern entgegenstellte, nicht sicher, ob Sams Gebrüll ein Zeichen von Mut war. War es mutiger, sich laut aufzubäumen oder schweigend stillzuhalten, so wie Lucy, die nur den Kopf senkte, als ihr die Spucke über das Gesicht rann? Sie wusste es damals nicht, und sie weiß es immer noch nicht. Sie hört die Zügel klatschen, Nellie wiehert. Hufschlag auf dem Boden, jeder Schritt des Pferdes durchzittert ihre nackten Füße.
Sie sagt: »Ich suche meine kleine Schwester.«
Zwölf Uhr mittags in einer Siedlung, die aus kaum mehr als zwei Straßen und einer Kreuzung besteht. Der ganze Ort döst in der Hitze, nur zwei Brüder kicken eine Blechdose herum, bis das billige Metall bricht. Seit einer Weile haben sie einen streunenden Hund im Visier, versuchen ihn mit dem Essen in ihrem Rucksack anzulocken. Der Hund ist hungrig, aber misstrauisch, hat alte Hiebe nicht vergessen.
Und dann sehen sie zu ihr hoch, eine plötzliche Erscheinung, die ihnen die Langeweile verscheucht.
»War sie hier?«
Nach dem ersten Schreck mustern die Jungen sie genauer. Ein hageres Mädchen mit schmalem Gesicht, schiefer Nase, seltsamen Augen und hohen, breiten Wangenknochen. Der ganze Rest mindestens so sonderbar wie das Gesicht: ein geflicktes Kleid, Spuren von blauen Flecken wie Schatten unter der Haut. Die Jungen sehen ein Kind, das noch weniger geliebt wird als sie.
Der pummeligere der beiden will schon nein sagen. Der dünne verpasst ihm einen Stoß in die Rippen.
»Vielleicht ja, vielleicht nein. Wie sieht sie denn aus, hm? Hat sie auch so Haare wie du?« Eine Hand schießt vor und packt einen schwarzen Zopf. Die andere verdreht die höckerige Nase. »Und so eine hässliche Nase?« Jetzt schnappen vier Hände ihre Handgelenke und Knöchel, ziehen ihre schmalen Augen noch schmaler, kneifen fest in die straffe Haut der Wangen. »So komische Augen?«
Der Hund beobachtet es erleichtert von weitem.
Ihre Ruhe verwirrt die Jungen. Der Dicke greift ihr an die Gurgel, als wollte er Worte aus ihr melken. Sie kennt solche wie ihn. Nicht die Anführer, die als Erste piesacken, sondern die anderen, die nicht die Hellsten sind, schielen oder stottern und sich zögernd dranhängen. Bei denen ein Teil des Hasses Dankbarkeit ist – weil das Auftauchen einer noch schlimmeren Außenseiterin sie zur Meute gehören lässt.
Jetzt sieht der Dicke ihr in die Augen und überlegt, presst die Hand vielleicht länger als beabsichtigt an ihren Hals. Sie ringt nach Luft. Wer weiß, wie lange er noch zugedrückt hätte, wenn ihm nicht ein brauner, kleiner Kugelblitz mit voller Wucht in den Rücken gerast wäre. Mit einem Keuchen landet der dicke Junge auf dem Boden.
»Lass sie in Ruhe!«, sagt der Neuankömmling, der ihn umgeworfen hat. Wilde Wut in den schmalen Augen.
»Dass ich nicht lache«, sagt der dünne Junge verächtlich.
Vor Lucy, der die Luft in einem jähen Schwall wieder in die Lunge rauscht, steht Sam.
Sam pfeift Nellie hinter einer Eiche hervor. Greift nach etwas auf dem Pferderücken. Keiner ahnt, was Sam jetzt vorhat. Lucys erhascht einen Blick auf etwas Glänzendes, hart und schwarz wie reinste Kohle. Aber zuerst plumpst ein dickes weißes Etwas aus der Truhe und landet im Staub.
Lucy, noch schwindelig, denkt: Reis.
Es sind weiße Körner, wie Reis, aber sie zappeln und krabbeln und bröckeln auseinander, als suchten sie Zuflucht. Sams Miene bleibt reglos. Ein Windhauch streift vorbei und verbreitet den ekelhaften Gestank von Verwesung.
Der dünne Bruder macht einen Satz, kreischt: Maden!
Nellie, die gutmütige, brave Stute, bebt schon mit panisch aufgerissenen Augen, und nachdem sie fünf volle Tage die Angst auf dem Rücken getragen hat, ist dieser Schrei für sie die Aufforderung, endlich durchzugehen.
Sie kommt nicht weit, denn Sam hält die Zügel. Mit einem Ruck steht Nellie wieder, Topf und Pfanne scheppern in Aufruhr. Ein Knoten löst sich, die Truhe rutscht, der Deckel springt auf. Ein Arm schwappt heraus. Und etwas, das mal ein Gesicht war.
Ba ist halb Dörrfleisch, halb Sumpf. Seine mageren Arme und Beine sind zu braunen Stricken getrocknet. In seinen weichen Teilen hingegen – Unterleib, Magen, Augen – schwimmt eine grünlich weiße Flut von Maden. Die Jungen sehen es gar nicht richtig. Sie geben nach einem halben Blick auf das Gesicht Fersengeld. Aber Lucy und Sam wenden die Augen nicht ab. Schließlich gehört er ihnen. Und Lucy denkt – na ja, eigentlich nicht schlimmer als früher, wenn Alkohol oder Zorn sein Gesicht zu einer Fratze verzerrten. Sie geht näher heran, spürt Sams Blick schwer im Rücken. Vorsichtig hebt sie die Truhe aus den Seilen, an denen sie festhängt. Schiebt die Leiche wieder hinein.
Aber sie wird es nicht vergessen.
Mehr als an Alkohol oder Zorn erinnert Bas Gesicht sie an das eine Mal, als sie ihn weinen sah und sich nicht zu ihm wagte, als die Trauer seine Züge so sehr zerfließen ließ, dass sie Angst hatte, seine Haut würde sich unter ihrer tröstenden Berührung auflösen. Den Schädelknochen bloßlegen. Jetzt sieht sie ihn, den Knochen, und es ist gar nicht mal so furchtbar. Sie klappt den Deckel zu und verschließt die Truhe. Dreht sich um.
»Sam«, sagt sie, und in diesem Moment, als Ba ihr noch in den Augen steht, sieht sie Sams Gesicht genauso zerfließen.
»Was«, sagt Sam.
Da kehrt eine Zärtlichkeit zu Lucy zurück, von der sie gedacht hatte, sie wäre mit Ma gestorben.
»Du hattest recht. Ich hätte auf dich hören sollen. Wir müssen ihn begraben.«
Sie hat mehr gesehen, als sie glaubte ertragen zu können, sie hat es ausgehalten, während die Jungen die Nerven verloren haben. Sie sind abgehauen, aber ihre Fantasien werden sie bis an ihr Lebensende verfolgen. Lucy hat sich nicht abgewandt, und vielleicht werden die Geister sie jetzt langsam loslassen. Sie sieht Sam an, und Dankbarkeit durchflutet sie.
»Ich hab absichtlich danebengeschossen«, sagt Sam. »Der Mann in der Bank. Ich wollte ihn nur erschrecken.«
Lucy blickt herab, immer herab, in Sams schweißglänzendes Gesicht. Braun wie die Erde und ebenso formbar, ein Gesicht, auf dem Gefühle sich mit einer Leichtigkeit zeigen, die Lucy mit Neid erfüllt. Alle möglichen Gefühle, aber niemals Angst. Bisher. Denn jetzt ist da Angst. Zum ersten Mal sieht Lucy in ihrer Schwester ihr Spiegelbild. Und ihr wird klar, dass sie genau jetzt – viel mehr als auf dem Schulhof zwischen den stichelnden Kindern oder mit dem kalten Revolverlauf im Rücken – Mut bewiesen hat. Sie schließt die Augen. Setzt sich hin, vergräbt das Gesicht in den Armen. Ist der Meinung, es gehört sich zu schweigen.
Ein kühler Schatten fällt auf sie. Sie spürt mehr, als dass sie sieht, wie Sam sich vorbeugt, kurz zögert, sich zu ihr setzt.
»Wir brauchen immer noch zwei Silberdollars«, sagt Sam.
Nellie kaut an einem Grasbüschel herum, erleichtert, das Gewicht vom Rücken zu haben. Bald wird sie die Last wieder tragen müssen, aber jetzt … Aufatmen. Lucy greift nach Sams Hand. Sie stößt an ein raues Stück Stoff im Dreck. Der Rucksack, den die Jungen zurückgelassen haben. Lucy schwenkt ihn langsam hin und her. Erinnert sich an ein Klimpern, als sie damit geschlagen wurde. Sie greift hinein.
»Sam.«
Ein dickes Stück gepökeltes Schweinefleisch, fettige Tropfen von Käse oder Schmalz. Harte Bonbons. Und gaaanz weit unten, versteckt in den Falten des Stoffes, unauffindbar, wenn ihre Finger nicht wüssten, wo sie suchen müssen, wenn sie nicht eine Goldgräbertochter wäre, deren Ba zu ihr gesagt hat: Na, Lucymädchen, du spürst, wo es verborgen ist. Du spürst es einfach, da ertastet sie Münzen. Kupferpennys. Centstücke mit eingeprägten Tieren. Und Silberdollars, mit denen man zwei weiß wimmelnde Augen schließen kann, wie es sich gehört, damit die Seele endlich Schlaf und letzte Ruhe findet.
Die Regeln für die Bestattung der Toten hatte Ma festgelegt.
Lucys erstes totes Wesen war eine Schlange. Sie war fünf und liebte die Zerstörung, stampfte in Pfützen, um die ganze Welt zu überfluten. Sprung, Landung. Die Wellen krachten, und sie stand in einer wasserleeren Rinne. Auf dem Grund, ertrunken, eine zusammengerollte schwarze Schlange.
Modrige Feuchtigkeit dampfte aus dem Boden. Die Knospen an den Bäumen brachen auf und zeigten ihr blasses Inneres. Als Lucy mit dem schuppigen Leib in der hohlen Hand nach Hause rannte, spürte sie, wie die Welt ihre verborgene Seite enthüllte.
Ma lächelte sie an. Hörte nicht auf zu lächeln, als Lucy die Hände öffnete.
Später, zu spät, stellte Lucy sich vor, wie eine andere Mutter vielleicht geschrien, geschimpft, gelogen hätte. Wie Ba, wenn er da gewesen wäre, vielleicht gesagt hätte, dass die Schlange schläft, und sich eine Geschichte ausgedacht hätte, um die Stille des Todes direkt aus dem Fenster zu jagen.
Ma stellte nur die Pfanne für das Schweinefleisch auf den Herd und band die Schürze fester. Sagte: Lucymädchen, ein Begräbnis ist zhi shi ein Rezept.
Lucy bereitete die Schlange parallel zu Mas Fleisch vor.
Erste Regel: Silber. Gewicht für den Geist, sagte Ma, während sie das Fettnetz vom Fleisch löste. Sie schickte Lucy zu ihrer Truhe. Lucy hob den schweren Deckel, unter dem ein eigentümlicher Geruch schlummerte, und fand zwischen Schichten von Stoff und getrockneten Kräutern einen silbernen Fingerhut, der genau über den Kopf der Schlange passte.
Zweitens: fließendes Wasser. Läuterung für den Geist, sagte Ma, während sie das Fleisch in einem Eimer wusch. Mit langen Fingern pickte sie Maden heraus. Neben ihr tauchte Lucy die Schlange ins Wasser.
Drittens: ein Zuhause. Das ist die allerwichtigste Regel, sagte Ma, während sie mit dem Messer Knorpel zerhackte. Silber und Wasser konnten den Geist eine Zeit lang einschließen, damit er rein blieb. Aber nur in einem Zuhause war er wirklich sicher und konnte zur Ruhe kommen. Wenn er ein Zuhause hatte, musste er nicht zurückkehren, wieder und wieder, und rastlos umherschweifen wie ein Zugvogel. Lucy?, fragte Ma. Das Messer hielt inne. Weißt du, wo?
Lucy bekam heiße Wangen, als hätte Ma ihr eine Rechenaufgabe gestellt, die sie nicht geübt hatte. EinZuhause, sagte Ma noch einmal, und Lucy wiederholte es, biss sich auf die Lippen. Schließlich umfasste Ma Lucys Gesicht mit warmen, glitschigen, nach Fleisch duftenden Händen.
Fang xin, sagte Ma. Mach dein Herz frei. Es ist nicht schwer. Eine Schlange gehört in ihre Grube. Verstehst du? Dann sagte Ma zu Lucy, sie solle die Schlange später begraben. Lauf, geh spielen.
Jetzt laufen sie, wie Ma ihnen gesagt hat, aber diesmal fühlt es sich nicht an wie ein Spiel.
Es ist so viele Jahre her, aber die Sache mit dem Zuhause hat Lucy immer noch nicht begriffen. So sehr Ma ihren Verstand gelobt hat, bei dem, was wirklich zählt, ist sie ein Esel. Sie findet keine Antworten, kann es nur buchstabieren. Z – U, das gelbe Gras raschelt unter ihren Füßen. H, sie zertrampelt die Halme. A – U, ein Schnitt im Zeh, ein blutiger Strich wie ein Vorwurf. S – E, schnell den nächsten Hügel hoch, hinter Sam und Nellie her, die über die Kuppe verschwinden.
Was bedeutet Zuhause, wo doch Ba mit ihnen ein so rastloses Leben gelebt hat? Er wollte im Handumdrehen sein Glück machen und trieb die Familie unermüdlich weiter wie ein Sturmwind im Rücken. Auf zu etwas Neuem. Etwas Wildem. Dem Versprechen von schnellem Reichtum und großem Glanz. Jahrelang war er hinter Gold her, folgte Gerüchten von freien Claims und unerschlossenen Adern. Jedes Mal fanden sie dieselben kaputten, zerwühlten Hügel vor, dieselben geröllverstopften Flüsse. Bei der Goldsuche regierte das Glück genauso wie in den Spielhöllen, die Ba von Zeit zu Zeit aufsuchte – und es war nie auf seiner Seite. Selbst als Ma ein Machtwort sprach und darauf bestand, dass er ehrliches Geld im Kohlebergwerk verdiente, änderte sich wenig. Von einer Mine zur nächsten zog ihr Wagen kreuz und quer durch die Hügel wie ein Finger, der die letzten Krümel aus dem Zuckerfass kratzt. Jedes neue Bergwerk lockte mit hohen Löhnen, aber je mehr Männer kamen, desto schneller fielen die Löhne wieder. So jagte die Familie zur nächsten Mine, weiter und immer weiter. Ihre Ersparnisse wuchsen und schrumpften in verlässlicher Folge wie Trockenzeit und Regenzeit, Hitze und Kälte. Was bedeutet Zuhause, wenn man immer wieder in andere Hütten und Zelte zieht, die nach dem Schweiß fremder Leute stinken? Wie soll Lucy ein Zuhause für das Grab dieses Mannes finden, den sie nie hat enträtseln können.
Aber die Richtung gibt Sam vor, das jüngere Kind, das Lieblingskind. Durch die Hügel nach Osten, ins Landesinnere. Anfangs folgen sie der Planwagenroute, auf der sie einst zu viert in die Stadt gekommen sind, ein unbefestigter Weg, platt getrampelt von Bergleuten und Goldgräbern und Indianern vor ihnen – und noch früher, wie Ba erzählte, von den Bisons, die inzwischen lange ausgestorben sind. Aber bald dreht Sam ab, und die Cowboystiefel stapfen durch unberührtes Gras und Kojotebüsche, durch Disteln und Pfahlrohr.
Ein neuer, kaum erkennbarer Pfad. Schmal und holprig, für Verfolger nicht zu sehen. Ba hatte immer behauptet, er kenne diese Trails von den Indianern, mit denen er vor der Stadt Geschäfte machte; für Lucy war das nur Angeberei. Sonst hätte Ba ihnen die Trails ja gezeigt, wie er ihnen die Narbe an seinem schlimmen Bein zeigte, die – so schwor er – von einem Tiger kam.
Lucy jedenfalls hatte er die Trails nicht gezeigt.
Sie gehen an einem trockenen Flussbett entlang. Lucy hält den Kopf gesenkt und hofft, dass es sich füllt, bevor ihre Wasserflaschen leer sind. Deshalb übersieht sie fast die ersten Bisonknochen.
Das Gerippe erhebt sich vor ihnen wie eine riesige weiße Insel. Umgeben von tiefer Stille – vielleicht, weil das platt gedrückte Gras schweigt. Sam schnappt abrupt nach Luft, fast ein Schluchzen.
Auf der Planwagenroute lagen öfter Knochenstücke, aber nie ein ganzer Bisonknochen. Über Jahre hinweg haben Reisende aus Langeweile oder Notwendigkeit herumliegende Überreste mit Hämmern und Messern bearbeitet, um Kochfeuer oder Zeltstangen zu machen oder einfach nur zu schnitzen. Aber dieses Skelett ist vollkommen unversehrt. Die Augenhöhlen schimmern – eine Illusion aus Licht und Schatten. Sam könnte aufrecht durch die gewölbten Rippen gehen.
Lucy stellt sich Fleisch und Fell um die Knochen vor, das Tier in seiner ganzen Größe. Ba behauptete, früher seien diese Giganten überall durch die Hügel und Berge und jenseits durch die Prärie gezogen. Dreimal so groß wie ein Mann, aber unvorstellbar gutmütig. Eine wahre Flut von Bisons, hatte Ba gesagt. Lucy lässt sich von dieser Vergangenheit durchströmen.
An die Knochen gewöhnen sie sich, aber außer den Fliegen an der Truhe begegnet ihnen kaum ein Lebewesen. Einmal winkt in der Ferne eine Frau, eine Indianerin anscheinend. Sam steht zitternd stramm, als die Frau die Hand hebt – dann tauchen zwei Kinder neben ihr auf. Der kleine Stamm zieht weiter, er ist vollständig. Das Flussbett bleibt trocken. Lucy und Sam trinken in sparsamen Schlucken aus ihren Flaschen, ruhen auf der schattigen Leeseite jedes Hügels kurz aus. Immer noch ein Hügel und noch ein Hügel. Immer die Sonne. Die geklauten Vorräte gehen zu Ende. Dann gibt es Pferdehafer, morgens und abends. Sie lutschen Kiesel gegen den Durst, kauen auf trockenen Stängeln, bis sie weich werden.
Und mehr noch als alles andere ignoriert Lucy den Hunger nach Antworten.
Beim Losgehen hat Sam nur gesagt, dass Ba die Weite mochte. Die Wildnis. Aber wie wild? Und wie weit? Lucy wagt nicht zu fragen. Der Revolver schwingt schwer an Sams Hüfte und verleiht Sams Gang eine prahlerische Lässigkeit, die an Ba erinnert. Nach Mas Tod war für Sam Schluss mit Hauben und langen Haaren und mit Kleidern sowieso. Ohne Kopfbedeckung trocknete Sam in der Sonne aus wie ein hartes Stück Holz: Brandgefahr beim kleinsten Funken. Hier draußen kann nichts mehr Sams Feuer eindämmen.
Nur Ba war dazu in der Lage. Wo ist mein Mädchen?, sagte Ba abends in der Hütte und sah sich suchend um. Sam hockte mucksmäuschenstill im Versteck, während Ba suchte, ein Spiel, das nur ihnen beiden gehörte. Endlich dröhnte Ba: Wo ist mein Junge? Sam sprang auf. Hier bin ich. Ba kitzelte Sam, bis die Tränen liefen. Ansonsten weinte Sam nicht mehr.
Fünf Tage später erscheint im Flussbett ein Rinnsal. Wasser. Silber. Lucy sieht sich um: nichts als drückende Hügel. Das muss doch wild genug sein, um Ba zu begraben.
»Hier?«, fragt Lucy.
»Nicht die richtige Stelle«, sagt Sam.
»Hier?«, fragt Lucy ein paar Meilen später.
»Hier?«
»Hier?«
»Hier?«
Das rauschende Gras bringt sie zum Schweigen. Umwogt sie. Am östlichen Horizont erhebt sich das verschwommene Blau der Berge. Z – U, denkt sie beim Gehen. H – A – U – S – E. Sie hat Kopfschmerzen von Hitze und Hunger, aber sie versteht es immer noch nicht. Eine Woche lang treiben sie umher wie die Geister, vor denen Ma sie gewarnt hat, und dann fällt der Finger.
Er liegt plötzlich im Gras wie eine übergroße, braune Heuschrecke. Sam hat sich zum Pinkeln verzogen – gute Gelegenheit, den Fliegen und dem Gestank zu entkommen. Lucy geht in die Hocke und inspiziert das Insekt. Es rührt sich nicht.
Vertrocknet, gekrümmt, zweimal geknickt. Bas Mittelfinger.
Lucy will schon nach Sam rufen, da durchzuckt sie ein Gedanke wie eine Ohrfeige: Wenn der Finger weg ist, kann die Hand ja keine Schläge austeilen. Sie holt tief Luft und reißt die Truhe auf.
Nellie tänzelt nervös, als Bas Arm vorwurfsvoll herauskippt. Lucy muss würgen, hält aber an sich. Der Hand fehlt nicht nur ein Finger, sondern zwei, die beiden blanken Knöchel starren heraus wie blinde Augen.
Lucy sucht im Gras, geht weiter und weiter, bis Nellie und die Truhe außer Sicht sind. Dann blickt sie nach oben.
Ba hat ihr diesen Trick gezeigt, als sie drei oder vier war. Sie hatte beim Spielen den Wagen aus den Augen verloren. Die gewaltige Himmelsdecke drückte sie nieder. Das unablässig wogende Gras. Sie war nicht wie Sam, immer auf Wanderschaft, wagemutig von Kindesbeinen an. Sie fing an zu weinen. Als Ba sie Stunden später fand, schüttelte er sie. Dann zeigte er nach oben.
Wenn man in dieser Gegend lange genug den weiten Himmel betrachtet, passiert etwas Eigenartiges. Zuerst ziehen die Wolken ziellos umher. Aber dann beginnen sie sich zu drehen, kreisen um einen herum. Und wenn man lange genug stehen bleibt, sind es nicht die Hügel, die schrumpfen – sondern man selber wächst. Als könnte man mit einem einzigen Schritt die blauen Berge in der Ferne erreichen, wenn man wollte. Als wäre man ein Riese, dem dieses ganze Land gehört.
Wenn du dich noch mal verirrst, denk daran, du gehörst genauso hierhin wie die anderen, hatte Ba gesagt. Hab keine Angst davor. Ting wo?
Lucy beschließt, die Suche aufzugeben. Der Finger ist vielleicht schon vor vielen Meilen herausgefallen und längst nicht mehr von einem Hasen-, Tiger- oder Schakalknochen zu unterscheiden. Der Gedanke ist ermutigend. Zurück an der Truhe greift sie nach Bas Hand.
Als Ba noch lebte, war seine Hand riesengroß und gemein, und Lucy hätte sie genauso wenig angefasst wie eine Klapperschlange. Die tote Hand ist geschrumpft und feucht. Leistet kaum Widerstand. Klebt nur leicht, als Lucy sie zurück in die Truhe drückt. Es knackst ein paar Mal wie trockene Zweige im Feuer. Dann ist das, was von Bas Hand übrig ist, wieder in der Truhe verschwunden.