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25 Autor:innen wagen einen literarischen Blick in die Zukunft des Ruhrgebiets; ob es die große utopische Vision ist oder eher der Tunnelblick zur nächsten S-Bahn.
Das weit gefasste Thema »Zukunft« wird vielfältig bearbeitet - in Gedichten und Balladen, Geschichten und Comics; ernsthaft, humoristisch, lyrisch, satirisch.
Mit Beiträgen von so unterschiedlichen Fans der Region wie Dirk Kurbjuweit, Lütfiye Güzel, Frank Goosen, Thomas Gsella, Marion Poschmann, Jörg Thadeusz, Nora Gomringer, Feridun Zaimoglu, Marie-Luise Marjan u.v.a.
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Seitenzahl: 208
Cover
Über das Buch
author
Impressum
Editorial
Wiedergänger
Ruhrnatur II
Schwimmzentrum Rüttenscheid
Genug von Corona! Nach vorn!
A40
2028 – Klischee im Freiraum
Das Leben … ein Hinterhof
Piene 2024
Walfred Zobel
Das Ruhrheimatgefühl
Als die Bienen verschwanden
Mysterien EINS bis VIER
Ein naher Himmel/ein ferner Himmel (arabisch)
Ein naher Himmel/ein ferner Himmel (deutsch)
Simone fährt nach London
12 Gedichte
Das schwarze Loch
TikTok Meiderich Süd
Über ein Auto, Apophis und Abschiede
Genie in a Bottle – Unter der Schneekugel
Lieber Ecki
Kurze Abhandlung über das Verschwinden der Dinge
Die Tochter der Ruhr
Emscherdämmerung | Bruchgesänge
Alles ist gut und es wird noch besser
Zwischendrin. Die Backstagebereiche der Existenz
Die Autor*innen
Über das Buch
25 Autor:innen wagen einen literarischen Blick in die Zukunft des Ruhrgebiets; ob es die große utopische Vision ist oder eher der Tunnelblick zur nächsten S-Bahn.
Das weit gefasste Thema »Zukunft« wird vielfältig bearbeitet – in Gedichten und Balladen, Geschichten und Comics; ernsthaft, humoristisch, lyrisch, satirisch.
Mit Beiträgen von so unterschiedlichen Fans der Region wie Dirk Kurbjuweit, Lütfiye Güzel, Frank Goosen, Thomas Gsella, Marion Poschmann, Jörg Thadeusz, Nora Gomringer, Feridun Zaimoglu, Marie-Luise Marjan u.v.a.
Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Eichborn Verlag in der Bastei Lübbe AG
Originalausgabe
Herausgeber ist das literaturgebiet.ruhr
Das literaturgebiet.ruhr ist das Netzwerk der literaturvermittelnden Organisationen und Einzelpersonen im Ruhrgebiet und wird gefördert vom Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen und dem Regionalverband Ruhr. Mehr zum Netzwerk unter www.literaturgebiet.ruhr.
Copyright © 2021 by Bastei Lübbe AG, KölnLektorat: Hanne Reinhardt, BerlinUmschlaggestaltung: Oktober Design, oktober.deUmschlagmotiv: Illustrationen © Oktober Design, oktober.deeBook-Erstellung: two-up, Düsseldorf
ISBN 978-3-7517-1634-5
luebbe.delesejury.de
Das Büdchen anner Ecke, der Taubenvatter und unser Omma ihr Schrebergarten – das sind Klischees, die zum Ruhrgebiet dazugehören, nach wie vor. Aber Dreck spuckende Schlote und schwarze Wäsche gibt es schon lange nicht mehr. Aus Industrieanlagen sind Kultureinrichtungen mit Hochglanzbroschüren geworden, das Revier mit seiner überall sichtbaren Geschichte darf sich spätestens seit der RUHR.2010 offiziell Kulturmetropole nennen.
Allein in der Literatur finden jeden Tag Dutzende Events statt. Es gibt internationale Literaturfestivals, Debütreihen, zahllose Lesungen, Poetry-Slams, Schreibwerkstätten und Lesezirkel. Wenn man das alles zusammennimmt, kann sich das Ruhrgebiet locker als »größte Lesebühne der Republik« (WAZ) bezeichnen.
Ruhrgebiet ist Literaturgebiet – bevölkert von literarischen Gesellschaften und Stadtbibliotheken, Verlagen, Buchhandlungen, Literaturhäusern, -büros und -initiativen. Diese vibrierende Szene hat seit 2018 ein gemeinsames Zuhause im literaturgebiet.ruhr, dem Netzwerk der Literaturveranstalter im Revier.
Nä, watt schön. Aber wie geht es von hier aus weiter? Das ist sicher eine der wichtigsten Fragen in Zeiten von Veränderungen. Schon der Wandel einer Industrieregion zur Kulturmetropole böte jede Menge literarischen Stoff. Und jetzt führen eine Pandemie und die Auswirkungen der Klimakatastrophe zu weiteren Umbrüchen.
Wir haben die Frage weitergereicht. An Schriftstellerinnen und Schriftsteller sowie Künstlerinnen und Künstler aus anderen Kultursparten, die im Ruhrgebiet leben, hier aufwuchsen, vor langer Zeit oder erst kürzlich zuwanderten oder einfach Fans des Reviers sind: Wie weiter? Schreibt das auf! Keine weiteren Einschränkungen. Ob große dystopische oder utopische Vision oder ein vollkommen subjektiver Tunnelblick zur nächsten S-Bahn, das lag ganz bei den Schreibenden.
Das Ergebnis ist dieser Sammelband, ein pralles Paket vieler verschiedener literarischer Stimmen und Formen, mit Perspektiven von außen und innen: Gedichte, Geschichten, Satiren und Comics bieten fünfundzwanzig literarische Aussichten aufs Ruhrgebiet, so vielfältig und bunt wie das literaturgebiet.ruhr selbst.
Wie weiter? Sie halten das Navi in Ihren Händen. Die Reise geht durch mehrere Zeitzonen und weit über den Horizont hinaus – oder mitten hinein in den Pott. Von Hollywood nach Oer-Erkenschwick, von Unna bis Island, von Dortmund bis London, an verbotene und verborgene Orte oder bis zum Mond, der in Wanne-Eickel ja sowieso heller scheint als irgendwo anders.
Bei all diesen Aussichten bleibt am Ende eine Einsicht, die alle Autorinnen und Autoren verbindet. Oder sagen wir zwei. Erstens: Ohne Vergangenheit gibt es keine Zukunft. Und zweitens: Ja, es geht weiter. Beides gilt sicher auch anderswo, aber im literaturgebiet.ruhr ganz besonders.
Lesen Sie weiter. Glück auf, gute Reise – und schöne neue Aussichten!
Ihr literaturgebiet.ruhr
Von Dirk Kurbjuweit
Ich warte, ich schaue auf die Uhr, gleich Mittag, wo bleibt Leo? Ich gehe ins Schlafzimmer, schiebe die Gardine zur Seite, schaue auf die Straße. Es schneit immer noch, ich glaube, es hat die ganze Nacht geschneit. Die Welt ist weiß, aber nicht hell. Niemand draußen, keine Spuren im Schnee, der schräg vom Himmel fällt. Starker Wind offenbar. Zurück ins Wohnzimmer, ich setze mich aufs Sofa, in die Ecke, in der mein Onkel immer saß bei unseren Familienfesten, lange her. Vor ihm auf dem niedrigen Tisch drei Untersetzer, einer für die Bierflasche, einer für das Bierglas, einer für den Schnaps. Wicküler, es gab ausschließlich Wicküler Pils bei meinen Großeltern, Männer wie wir – Wicküler Bier. Ich stehe auf, gehe zum Schrank, öffne die Tür. Kein Schnaps, nur eine angebrochene Flasche Eierlikör. Wir Kinder bekamen immer einen Fingerhut voll Eierlikör. Ich schraube den Verschluss auf, rieche, er scheint noch gut zu sein, nach all den Jahren, in denen niemand mehr in dieser Wohnung war. Soll ich Leo einen Eierlikör anbieten? Erst entscheide ich mich dafür, dann dagegen. Ich schließe die Schranktür, setze mich auf die Sofaseite, auf der mein Vater immer saß; kein Schnaps, kein Bier. Ich muss fahren, sagte er, wenn sein Schwiegervater ihm Getränke anbot. Ihm wurde dann Zitronenlimonade serviert, wie uns Kindern. Sechs Enkel waren wir.
Zurück ins Schlafzimmer, ich stehe wieder am Fenster, halte die Gardine so, dass ich gut nach draußen schauen kann. Meine Oma stand oft hier, hat alles beobachtet. Ich sehe nur Leere, blicke in Düsternis. Der Wind heult. Plötzlich ein Lichtschein, ein Taxi schleicht heran, Schnee türmt sich auf dem Dach, sodass es höher wirkt, als käme es aus einer Zeit, in der die Männer noch Hüte trugen, auch in den Autos. Ein Mann steigt aus, er trägt eine dicke Pelzjacke, dazu eine Pelzmütze, Fellschuhe. Aus der Ferne wirkt er wie ein Bär. Er schaut in meine Richtung, ich winke.
Leo sitzt auf dem Sofa, in der Ecke meines Vaters. Ich habe mich in den breiten Sessel meines Großvaters gesetzt. Wir trinken Wasser. Danke, dass du gekommen bist, sage ich. Wir sind beide befangen, verlegen fast, begegnen uns zum ersten Mal. Ohnehin bin ich es nicht mehr gewohnt, Menschen zu treffen. Leo hat kurz von seinem langen Flug erzählt, er ist erst heute Morgen eingetroffen, wirkt aber nicht müde. Wahrscheinlich ist er Erste Klasse geflogen, denke ich, frage aber nicht, weil das unhöflich wirken könnte, als hielte ich ihn für einen Snob, was mir fernliegt. Plötzlich schäme ich mich für die kleine Wohnung meiner Großeltern, die karge Einrichtung, den Staub der vielen Jahre. Andererseits sieht es hier so aus, wie es bei den Nachbarn aussieht, mit Ausnahme des Staubes, und dieser Gedanke befreit mich aus meiner Scham. Leo kennt das von seiner Großmutter. Er weiß, wie man in Oer-Erkenschwick wohnt.
Wollen wir dann, frage ich und erhebe mich. Ich bringe ihm den Pelzmantel und die Pelzmütze, beides nicht so edel, wie ich es bei ihm erwartet hätte, eher derb. Wir fahren mit der Straßenbahn, sage ich, die Haltestelle ist gleich um die Ecke, bei der Kokerei. Also da, wo früher die Kokerei war. Sie wurde abgerissen, danach war die Luft besser, und wir konnten das Gemüse essen, das mein Großvater in seiner Gartenparzelle angebaut hat. Vorher war es oft schwarz und schmeckte, soweit ich mich erinnere, bitter, selbst wenn es gründlich gewaschen war.
Wir stehen an der Haltestelle und warten. Wir warten schon eine ganze Weile. Es ist kalt, minus acht Grad, habe ich in meiner Wetter-App gesehen. Zum Glück hat der Wind nachgelassen. Stille, eine tiefe, unheimliche Stille beherrscht die Straße, kein Auto, kein Passant. Der Schnee liegt einen halben Meter hoch. Wir stehen geduckt, verkrümmt, kleiner, schmaler als sonst, als könnte uns das vor der Kälte schützen. Wenn die Straßenbahn in fünf Minuten nicht da ist, rufe ich uns ein Taxi, sage ich. Das wäre schade, weil meine Mutter damals, in den Fünfzigerjahren, auch mit der Straßenbahn gefahren ist, von Oer-Erkenschwick nach Recklinghausen, wo sie bei Karstadt gearbeitet hat. Und ich möchte, dass wir, Leo und ich, es genauso machen wie damals meine Mutter. Mit der Straßenbahn nach Recklinghausen und dann zu Karstadt. Heute eröffnen sie wieder, endlich, nach so langer Zeit, kann man wieder bei Karstadt in Recklinghausen einkaufen. Es gibt ein kleines Fest, und Leo wird ein paar Worte sagen. Meine Eltern werden auch da sein. Ich habe sie lange nicht mehr gesehen.
Die Straßenbahn kommt nicht. Ich schaue noch einmal auf den Fahrplan, der im Wartehäuschen hängt, und jetzt fällt mir auf, dass hier nur von einem Bus die Rede ist, als gäbe es keine Straßenbahn mehr. Es kommt aber auch kein Bus. Ich ziehe meine Fäustlinge aus, hole mein Handy aus der Jackentasche und will die Taxi-App öffnen, aber meine Hände sind zu kalt, zu steif, trotz der Handschuhe, um irgendetwas mit dem Handy anfangen zu können. Ich reibe sie eine Weile aneinander, bis es mir gelingt, in die Taxi-App zu schauen. Die Straßen seien, lese ich, derzeit nicht befahrbar, der Betrieb sei vorübergehend eingestellt.
Ich muss zu Karstadt nach Recklinghausen, seit Monaten freue ich mich auf diesen Termin. Der Gedanke, dass das Haus wieder aufmacht, hat mich durch den Winter getragen, durch diese trübe, leere Zeit. Weil ich dieses Ereignis so ersehne, weil es so existenziell wichtig für mich ist, habe ich mich überwunden und Leo eine Mail geschrieben, über seine Agentur, habe von unseren Müttern berichtet und einen Scan eines handgeschriebenen Briefes seiner Mutter Irmhild an meine beigefügt. In Bremerhaven hat sie ihn abgeschickt, kurz bevor sie mit einem Schiff nach Amerika abgedampft ist. Mir ist das schwergefallen, weil sich bestimmt viele Leute mit einer Bitte an Leo wenden, aber wegen unserer Mütter, dachte ich schließlich, kann ich vielleicht auf Wohlwollen rechnen. Und so war es auch. Jetzt ist er hier, und nicht zuletzt weil er hier ist und an der Wiedereröffnung teilnehmen wird, gibt es diese Wiedereröffnung überhaupt, glaube ich. Das Haus erlangt damit vielleicht einen Weltruf, so wie das KaDeWe in Berlin.
Es tut mir leid, aber wir müssen laufen, sage ich zu Leo, der im Stehen trippelt, um sich warmzuhalten. Es ist nicht weit bis Recklinghausen, sage ich, ungefähr neun Kilometer, das schaffen wir in zwei, drei Stunden, dann sind wir noch rechtzeitig da. Am besten wir gehen gleich los. Mir ist das sehr unangenehm, aber da er diesen dicken Pelz trägt, halte ich den kleinen Marsch trotz des widrigen Wetters für zumutbar. Meine Eltern sind diese Strecke auch schon gelaufen, in die entgegengesetzte Richtung allerdings, wenn sie, nach einer Betriebsfeier zum Beispiel, die letzte Straßenbahn verpasst hatten. Sie liefen zusammen bis Oer-Erkenschwick, dann verabschiedeten sie sich vor dem Haus, in dem ich eben Leo empfangen habe, und mein Vater zog alleine weiter nach Datteln, wo er damals bei seinen Eltern lebte. Es war undenkbar, dass er bei meiner Mutter übernachtete. Meine Oma war sittsam und streng.
Hier hat mein Opa unter Tage gearbeitet, sage ich zu Leo, als wir die Zeche entlanggehen. Auch sie ist längst stillgelegt. Mein Opa, erzähle ich, hatte vor dem Krieg einen Job bei der Reichsbahn, er schloss sich dann der SA an, weißt du, was die SA war, frage ich Leo, der mir zu nicken scheint, soweit ich das im Schnee erkennen kann, der nun dichter fällt. Dann war er Soldat, Frankreich, Russland, er lag vor Moskau, Jugoslawien, wieder Russland, dann Gefangenschaft, ein paar Jahre Sibirien, und 1948 kam er zurück, wurde aber nicht entnazifiziert, weshalb er nicht mehr bei der Bahn arbeiten durfte. Weißt du, was das bedeutet, Leo, nicht entnazifiziert, frage ich und bleibe stehen, ungefähr auf Höhe des Zechentors. Er muss schlimme Dinge getan haben, sage ich, ohne auf Leos Antwort zu warten, grauenhafte Dinge, denn die meisten Deutschen wurden entnazifiziert, auch wenn sie Nazis gewesen waren. Mein Opa aber nicht, und deshalb musste er auf der Zeche arbeiten, um seine Frau und seine beiden Töchter zu ernähren. In tausend Meter Tiefe, in einem engen Streb. I don’t know the English word for Streb, sage ich. Like a tight tunnel, sage ich, very tight, Leo. Dort hat mein Opa mit einem Hammer Kohle abgebaut, und dabei haben sie ihn eines Tages vergessen, als sie eine Sprengung machten. Er wurde verschüttet, viele Knochen gebrochen, das Gesicht zerschlagen, er hat’s überlebt, aber arbeiten konnte er danach nicht mehr. Komm, Leo, wir müssen weiter, sage ich und laufe weiter, biege nach links ab in die Fußgängerzone.
Für den Wind ist der breite Weg eine willkommene Schneise, eine Rennbahn. Er rast uns entgegen, wirft uns die Schneeflocken ins Gesicht, und das, was sonst so zart und weich ist, trifft uns wie Geschosse. Mit einem schnellen Griff rette ich meine Mütze, die sonst unwiederbringlich verloren wäre. Ich halte sie am Kopf fest, aber bald sind meine Hände eisig, und jetzt weiß ich nicht mehr, was ich tun soll. Halte ich die Mütze fest, frieren meine Finger ab, lasse ich die Mütze los, wird mein Kopf eiskalt. Plötzlich blitzt ein Messer neben mir auf, Leo hat es offenbar aus seiner Tasche gezogen, ein großes Messer mit einem Griff aus Holz. Damit zeigt er auf meinen Kopf. Mich überfallen zwei Gedanken gleichzeitig: Warum hat er so ein großes Messer dabei? Warum ist es auf meinen Kopf gerichtet? Noch ehe ich Antworten finde, reißt mir Leo die Mütze vom Kopf und schneidet zwei Schlitze hinein. Mit einem Lächeln gibt er sie mir zurück. Ich setze sie auf, ziehe sie tief nach unten, dass sie mein Gesicht bedeckt wie eine Maske, und richte sie so aus, dass ich durch die beiden Schlitze schauen kann. Der Wind kann mir die Mütze nicht mehr entreißen, ich hebe den Daumen, Leo steckt sein Messer ein, wir ziehen weiter, weit vorgebeugt, um dem Wind, der sich inzwischen den Namen Sturm verdient hat, wenig Angriffsfläche zu bieten. Ich denke an den heißen Tee, mit dem sie uns bei Karstadt in Recklinghausen ganz sicher bewirten werden.
In der Westerbachstraße ist es etwas ruhiger, wir kommen schneller voran. Hier war ein Lebensmittelladen, rufe ich Leo zu, dort hat meine Tante gearbeitet, und manchmal ging ich mit meinen Cousins dorthin, damit uns meine Tante Sahnebonbons zustecken konnte. Und hier ist der Lerchenweg, sage ich wie ein Touristenführer für Oer-Erkenschwick, Lerche mit e, nicht mit Umlaut a, also ä. Unter dem Straßenschild, das, obwohl es so schmal ist, eine Schneehaube trägt, bleibe ich stehen. Mit Umlaut, sage ich, sind es Bäume, die Lärchen, aber hier geht es um die Vögel. Im Englischen ist es ja ähnlich, sage ich, larch und lark. It was the lark, the herald of the morn, no nightingale. Mir ist es sofort peinlich, dass ich so mit meinen Textkenntnissen aus Romeo und Julia geprotzt habe, ausgerechnet Leo gegenüber, der sich da sicher besser auskennt als ich.
Wir sagten immer, wir gehen zu »den Lerchen«, fuhr ich rasch fort, wenn wir meine Tante und ihre Familie im Lerchenweg besuchten. Mein Onkel war ebenfalls Bergmann, Leo, und Mitglied der SPD, Mitglied der Gewerkschaft. Das gehörte zusammen. In seinem Haus hat übrigens auch meine Urgroßmutter gelebt, die Mutter der Mutter meiner Mutter. Sie ist über hundert geworden, wohnte unterm Dach, und wenn ich sie dort besuchte, um fünfzig Pfennig abzustauben, hat sie von Gott erzählt, erst auf einem Stuhl sitzend, in späteren Jahren ständig im Bett liegend. Sie gehörte den Zeugen Jehovas an, Jehovah’s Witnesses, Leo, genau wie ihr Mann, den ich aber nicht mehr kennengelernt habe. Jedenfalls, nach dem Krieg, in dem meine Oma und ihre beiden Töchter ausgebombt wurden, sind sie bei meiner Uroma und meinem Uropa eingezogen, in ein ganz kleines Haus in Oer-Erkenschwick, nicht dieses im Lerchenweg, mit einem Ziegenstall. Hier im Ruhrgebiet nannte man Ziegen die Bergmannskuh, they called goats the miner’s cow, you know.
Weiter, wir müssen weiter, sage ich, die Kälte plötzlich heftig spürend. Was ich aber noch sagen wollte, Leo: Als mein Opa aus der Gefangenschaft in Sibirien zurückgekehrt war, musste er bei seinen Schwiegereltern einziehen, also meinen Urgroßeltern, den Zeugen Jehovas. Die waren von den Nazis verfolgt worden, also nicht nur meine Urgroßeltern, sondern alle Zeugen Jehovas. Kannst du dir das vorstellen, Leo: Mein Naziopa kommt aus dem Krieg nach Hause und zieht in das Häuschen von Zeugen Jehovas, die verfolgt wurden und Freunde in den Konzentrationslagern verloren haben? Mein Urgroßvater hat kein Wort mit seinem Schwiegersohn gesprochen, über Jahre kein einziges Wort. In dem Häuschen war es oft so still wie hier im Schnee. Dann zogen meine Großeltern mit ihren beiden Töchtern in die Wohnung, in der wir vorhin waren, Leo.
Ich stapfe durch den Schnee und denke über das Wort Naziopa nach. Es tut mir leid, dass ich das gesagt habe, und es tut mir nicht leid. Ich habe meinen Opa sehr geliebt, nach seinem Unfall unter Tage hatte er viel Zeit für mich, wir gingen Stichlinge fangen im Westerbach, wenn ich, der Berliner Junge, in Oer-Erkenschwick weilte, wir haben stundenlang Karten gespielt, er war, als ich ihn kannte, ein sanfter, gutmütiger Mensch, ein Wähler der SPD, ein Anhänger von Johannes Rau. Für mich war er mein geliebter Opa, bevor er ein Nazi wurde. Das habe ich erst mit elf oder zwölf Jahren verstanden, was das bedeutet, welches Grauen hinter den Begriffen Nazi und SA steht. Ich weiß nicht, was er gemacht hat, darüber wurde bei uns nicht geredet, leider nicht, meine Fragen hat er nicht beantwortet. Aber ich habe nie aufgehört, meinen Naziopa zu lieben. Das ist mir nicht gelungen, anders als einem meiner Cousins. Gleichwohl kann ich nicht an ihn denken, ohne an die Menschen zu denken, denen er Furchtbares angetan hat, und das halte ich für gewiss.
Würden wir hier nach links abbiegen, sage ich, kämen wir zu dem Haus, in dem deine Großeltern gewohnt haben, Leo, nachdem sie Mitte der Achtzigerjahre aus Amerika zurückgekehrt waren. Du kennst es ja von deinen Besuchen in den Sommern, als sie noch lebten. Fast jeden Sommer warst du hier, auch als du schon ein Weltstar warst, hast deine Großeltern in Oer-Erkenschwick besucht, so wie ich meine Großeltern in Oer-Erkenschwick besucht habe, allerdings nicht als Weltstar. Schade, dass wir uns damals nicht begegnet sind. Vielleicht wären wir Freunde geworden, so wie unsere Mütter Freundinnen waren, bevor die Irmhild mit ihren Eltern ausgewandert ist und in den USA deinen späteren Vater geheiratet hat. Aber wir biegen hier nicht nach links ab, sondern nach rechts und gehen auf der Landstraße weiter in Richtung Recklinghausen.
Flaches Land, wenig Häuser, alles tief verschneit, aber wir kommen gut voran, da die Straße vor nicht allzu langer Zeit geräumt wurde. Plötzlich reißt der Himmel auf, Blau drängt Grau weg, breitet sich rasch aus, treibt die Wolken zur Seite, die Sonne taucht auf, sticht in den Schnee, lässt ihn weiß erglühen, gleißen. Wir gehen schneller, ich schwitze bald unter meiner dicken Jacke, unter der Mütze, die ich hochziehe, endlich wieder Luft, endlich frei atmen. Mein Opa, sage ich zu Leo, der dicht neben mir hergeht, genauso zügig ausschreitend wie ich, aber mit schnelleren, weil kürzeren Schritten, mein Opa ist an der Silikose gestorben, Staublunge, so wie viele Bergleute. Unter Tage haben sie ständig Kohlenstaub eingeatmet, und irgendwann war ihre Lunge kaputt. Am Tag vor seinem Tod war ich bei ihm, im Knappschaftskrankenhaus in Bochum. Aus einem launigen Einfall heraus sage ich Knäppschäftskränkenhaus, so wie ich mir denke, dass ein Amerikaner dieses Wort aussprechen würde. Leo reagiert nicht auf diese Albernheit. Mein Opa hat fürchterlich gehustet, sage ich, er konnte nicht atmen, er ist langsam erstickt. Ein schlimmer Tod. Manche würden sagen, dass er diesen Tod verdient hat, aber ich sage das nicht, obwohl ich bei vielen Menschen nachvollziehen könnte, wenn sie so dächten.
Ich halte mir die Hand vor Augen, weil der Schnee blendet. Es tut fast weh, so stark blendet der Schnee. Weil ich nicht mit schönem Wetter gerechnet habe, bin ich ohne Sonnenbrille losgegangen, worüber ich mich jetzt ärgere, denn meine Augen sind empfindlich. Leo hat offenbar auch keine Brille dabei, oder es macht ihm nichts aus. Wir sind immer noch alleine unterwegs, kein Auto, kein Fußgänger. Die Kälte brennt auf meinen Wangen, ich ziehe die Mütze wieder nach unten bis ans Kinn. Der Schnee knirscht unter unseren Schuhen. Es ist beschwerlich zu gehen, der Schnee liegt so hoch, dass wir es nicht mehr schaffen, bei unseren Schritten die Füße über die weiße Masse zu heben. Wir pflügen uns mit unseren Schienbeinen einen Weg. So werden wir es in drei Stunden niemals schaffen. Und ich sehe neue Wolken in der Ferne, dunkel, fast schwarz, sich hoch auftürmend.
Meine Mutter, sage ich, keuchend, weil das Gehen so anstrengend geworden ist, war klug genug fürs Gymnasium, aber ihre Eltern schickten sie nach der Volksschule in die Lehre zu Karstadt nach Recklinghausen. Höhere Bildung war für die Töchter nicht vorgesehen, Heiraten war vorgesehen. So gesehen, Leo, erwies sich Karstadt in Recklinghausen als goldrichtige Entscheidung, denn eines Tages tauchte dort ein junger, stattlicher Mann aus Datteln auf und begann ebenfalls eine Lehre. Dieser Mann war drei Jahre älter als meine Mutter, fing jedoch später an, da er das Gymnasium bis zum Abitur besucht hatte, um dann in der Prüfung zu scheitern, weshalb er nicht studieren konnte. Sonst wäre mein Vater Ingenieur geworden, er ist der geborene Ingenieur. So aber lernte er Verkäufer bei Karstadt in Recklinghausen, in der Teppichabteilung, in der Gardinenabteilung, in der DOB-Abteilung. DOB, Leo, steht für Damenoberbekleidung. Und bald war meine Mutter, die ihre Lehre bereits abgeschlossen hatte, die Chefin meines Vaters. Das ist bis heute noch so, sagt mein Vater gerne, hat er mit vierzig gesagt, mit sechzig, mit siebzig und auch noch jetzt mit über achtzig, und wahrscheinlich wird er das nachher auch zu dir sagen, Leo, damit musst du rechnen. Diese Frau, wird mein Vater zu dir sagen, ist das ganze Leben lang meine Chefin geblieben. Aber das stimmt gar nicht, das war nie unser Eindruck, also von meinen Schwestern und mir, dass unsere Mutter zu Hause die Chefin war und ist. Aber Männer in der Generation meines Vaters sagen gerne, dass ihre Frau die Chefin ist, weil sie denken, dass jeder weiß, in Wahrheit sind sie die Chefs, also die Männer. Das ist ihre Art von Humor. Allerdings stimmt das in unserem Fall ebenso wenig. Ich würde eher sagen, dass es zwischen meinen Eltern ein fein ausbalanciertes Machtverhältnis gibt. Nur damit du das einordnen kannst, Leo, wenn dich mein Vater nachher mit diesem Satz behelligt. Meine Mutter hat ihren Beruf für die Kinder aufgegeben, wie das damals üblich war. Mein Vater hingegen hat bei Karstadt eine mittlere Karriere gemacht.
Verdammt, jetzt zieht wieder Sturm auf, siehst du die Wolken heranbrausen, Leo, siehst du ihren Furor, siehst du, wie ihre Vorhut züngelt und wirbelt, als hätte sie die Mordlust gepackt? Grau und schwarz, so schwarz, dass es bläulich schimmert dort am Himmel. Ausgerechnet hier erwischt es uns, auf dem freien Feld. Ich schaue mich um, die nächste Siedlung ist unerreichbar, ich sehe nur ein Wartehäuschen ein paar Hundert Meter entfernt, zeige dorthin und renne los, renne gegen eine Mauer, vom Wind in die Landschaft gestellt, drücke mich dagegen, in Schnee getaucht, von einer Kälte gepackt, als läge ich in einem Eisbad. Ein teuflisches Heulen und Pfeifen in den Ohren, fast blind stürme ich auf das Wartehäuschen zu, von dem immer weniger zu sehen ist, je näher ich komme, weil der Schnee immer dichter fällt, nicht fällt, nein, sondern braust. Der Schnee braust vom Himmel herab. Ich stolpere, falle, raffe mich auf, hetze weiter, bis ich das schützende Dach erreicht habe. Leo ist schon dort, kauert in einer Ecke, gegen die Wand gedrückt.