Wildwest-Roman – Unsterbliche Helden 4 - Jonny Kent - E-Book

Wildwest-Roman – Unsterbliche Helden 4 E-Book

Jonny Kent

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Beschreibung

Düstere Wolken lagen über Rush Creek Valley. Seit dem späten Nachmittag hatte sich der Himmel grau bezogen und lastete jetzt schwer über der kleinen Stadt im mittleren Indiana. Aber es war längst nicht nur der Himmel, der den Einwohnern einen finsteren Tag bescherte. Unter den grauen Dächern nistete die Angst. Die Stadt wartete auf John Fuller, und es gab niemanden, der von dieser Angst nicht erfasst worden wäre. John Fuller - der Name alleine genügte schon, um auch den mutigsten Mann in Panik zu versetzen ...


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Inhalt

Cover

Ohioman

Vorschau

Impressum

Ohioman

Von Jonny Kent

Jack Farland hatte sich auf den beschwerlichen Weg von Ohio nach Indiana gemacht, beseelt nur von dem einen Wunsch, seinen Bruder James endlich wiederzusehen. Der hatte dem Elternhaus vor zehn Jahren den Rücken gekehrt, um irgendwo dort draußen sein Glück zu finden. Später hatte er den Eltern geschrieben, dass er in Indiana eine Farm bewirtschaften würde.

Auf seinem langen Weg zu Jim war Jack auch nach Rush Creek Valley gekommen, einem kleinen Ort, der von der Angst regiert wurde. Angst vor einem einzigen Mann – dem Gewaltverbrecher John Fuller! Fuller war aus dem Jail ausgebrochen, und er würde kommen, ganz bestimmt. Dumm nur, dass niemand so genau wusste, wie dieser Fuller eigentlich aussah ...

Düstere Wolken lagen über Rush Creek Valley. Seit dem späten Nachmittag hatte sich der Himmel grau bezogen und lastete jetzt schwer über der kleinen Stadt im mittleren Indiana. Wer Rush Creek Valley heute auf einem guten Atlas sucht, der kann es südwestlich der Stadt Beymour und südöstlich von Bedford im Washington County finden. In den Tagen, in denen unsere Geschichte spielt, war es ein kleines, armseliges Kaff, wie es zu Hunderten in diesem Land zu finden war.

Es war nicht nur der Himmel, der einen düsteren Tag für Rush Creek Valley bescherte. Unter den grauen Dächern nistete die Angst.

Die Stadt wartete auf John Fuller, und es gab niemanden, der von dieser Angst nicht erfasst worden wäre, denn der Name John Fuller genügte, um auch den selbstbewusstesten Mann unruhig zu machen.

In der düsteren Lobby Bar stand ein mittelgroßer Mann an der Theke und starrte unverwandt auf die Tür. Es war der Keeper Lewis Barker. Durch die offen stehende Küchentür hörte er, wie seine Frau mit dem Geschirr herumhantierte. Wenn sie doch bloß damit aufhören wollte! Sie hinderte ihn ja daran, auf die Geräusche auf der Straße zu achten.

Aber auf der Straße war alles still.

»Mabel!«, brüllte er. »Zum Teufel, hör doch endlich auf mit dem Lärm!«

Das Gesicht seiner Frau erschien an der Tür hinter der Theke. Es war ein verhärmtes Frauengesicht, das von grauem, strähnigem Haar umgeben war. Mit vorwurfsvollen Augen blickte die Keeperin ihren Mann an. »Was ist denn los?«

»Ach, scher dich in die Küche! Schließ die Tür und hör auf mit dem Lärm!«

Die Frau schloss die Tür und ging.

Nebenan im Haus des Traders Walker herrschte die gleiche Stimmung. Frederic Walker führte seit einem Jahrzehnt hier einen Drugstore, in dem man alles, was man in einer solchen Stadt benötigte, kaufen konnte. Jedenfalls fast alles. Er war eben damit beschäftigt, hinten in seinem Lagerraum ein paar Sachen zusammenzuraffen, die er in eine dicke Ledertasche steckte, als hinter ihm die Tür geöffnet wurde.

Ein mittelgroßes Mädchen mit blassem Gesicht und großen, traurigen grauen Augen blickte ihn fragend an. »Was machst du denn hier, Dad?«

»Sei still, ich packe das Zeug zusammen – habe ich dir nicht gesagt, dass du nicht so viel fragen sollst? Geh rauf in dein Zimmer, hol deine Taschen und komm wieder runter.«

»Meine Taschen? Ich habe keine Taschen gepackt, Vater.«

Da richtete sich der Trader auf. Zorn stand in seinen Augen. Eine große Ader schlug rechts an seiner Schläfe. Er fuhr sich mit seiner gichtigen Hand durchs Gesicht und stieß bebend hervor: »Ich habe dir doch gesagt, du sollst deine Sachen zusammenpacken!«

»Weshalb denn?«, wagte das Mädchen noch zu fragen.

»Weil wir wegmüssen.«

»Weg? Wohin denn?«

»Das wird sich schon finden. Ich habe den Braunen schon angeschirrt.«

Ja, das hatte Suzan schon vom Küchenfenster aus gesehen. Natürlich wusste sie, wie jeder andere in der Stadt, was los war und dass die Männer auf John Fuller warteten.

Was wollte dieser Verbrecher in Rush Creek Valley? Weshalb ritt er nicht weiter hinüber nach Orleans, wo sehr viel mehr los war als hier, oder hinunter nach Paoli. Leute wie er fanden sich auch noch weiter westlich in French Lick. Da nämlich lebte Jesse Hilham, ein Mann, der ihm sicher die Hand reichen konnte.

Weshalb kam er ausgerechnet nach Rush Creek Valley?

Der backenbärtige Schmied Abe Rodgers hatte schon seit geraumer Zeit ein gebogenes Eisenstück in der Hand, das er jetzt offensichtlich nicht bearbeiten wollte. Als nämlich jetzt sein derbknochiger Gehilfe Joe Cassedy einen Hammer vom Wandhaken nahm, um sich damit am Amboss zu schaffen zu machen, auf dem er ein glühendes Eisenstück bereitgelegt hatte, knurrte ihn der Schmied an: »Verdammt, lass doch den Lärm jetzt!«

Cassedy, ein etwas dümmlich dreinblickender Bursche, hob den Kopf und blickte seinen Boss blinkernd an. »Aber ich muss doch die Krampe hier fertigmachen, Mr. Rodgers, es ist für die alte Roderson. Sie wissen doch, dass die sich immer beschwert, wenn man nicht schnell genug mit der Arbeit bei der Hand ist.«

»Das muss nicht ausgerechnet jetzt sein. Du hast das Stück schon tagelang da liegen.«

»Ja, aber was soll ich denn sonst tun?«

»Was du tun sollst? Mensch, haben wir hier nicht Arbeit genug? Pack dir einen Besen und feg aus – aber den Stall, nicht die Werkstatt.«

Cassedy zog die Schultern hoch, warf das glühende Eisenstück zur Esse hinüber, löschte die Glut, damit diese nicht weiterfraß, und warf den Hammer achtlos auf die Werkbank.

»Heb den Hammer auf!«, knurrte Rodgers.

Der Geselle schüttelte den Kopf. Er begriff nicht, weshalb der Boss heute so nervös war. Dabei wusste auch er, dass die Stadt auf John Fuller wartete. Aber es schreckte ihn nicht so sehr wie die anderen Leute, da Angst etwas war, was er noch nicht richtig kannte. Er war so einfältig, dass er alles, was auf ihn eindrang, mit stoischem Gleichmut hinzunehmen gewohnt war.

Der Schmiedewerkstatt schräg gegenüber stand zwischen zwei größeren Häusern der schmale Bau das Barbiers Hopkins. Der kahlköpfige, etwas verwachsene kleine Mann hatte den ganzen Tag über nichts zu tun gehabt. Am Vormittag hatte er die Bürger noch verwünscht, sie feige geheißen, weil sie sich nicht aus den Häusern wagten; jetzt aber, als sich der Tag seinem Ende zuneigte, beschlich auch ihn die Furcht.

Mochte der Teufel wissen, was dieser Bandit hier in Rush Creek Valley suchte! Vielleicht hatte er Freunde in der Stadt? Oder er suchte jemanden? Der Barbier fuhr sich mit dem obersten Glied seines Mittelfingers unbehaglich durch den ihm plötzlich sehr eng gewordenen Kragen.

Wenn man die Stadt und ihre Bürger so besah, dann konnte man sich eigentlich nicht vorstellen, dass hier jemand lebte, mit dem ein Mann wie John Fuller abzurechnen hatte. Aber das war nur oberflächlich.

Man musste unter die Dinge sehen, man musste sie anheben, und nicht selten würde man dann vor dem Gestank, der einem entgegenstieg, davonrennen. Zum Beispiel bei den Pahulkes. Wie sah es da aus? Ed Pahulke war Tischler. Sargtischler. Ein Mann in den Fünfzigern mit finsterem Gesicht und grauen Augen. Er war immer ärmlich gekleidet, wie seine Frau und auch seine sieben Söhne. Yeah, er hatte sieben Söhne. Und das war keine Seltenheit hierzulande.

Nur, dass die Pahulkes nicht nur aussahen wie Landstreicher, sondern auch höchstwahrscheinlich diesem düsteren Gewerbe nachgingen. Kein Wunder, wenn Männer wie Fuller nach Rush Creek Valley kamen.

Oder die Lockwoods. Waren das nicht auch ziemlich eigenartige Typen? Joe Lockwood hatte in der Stadt mit einer Bäckerei angefangen. Dazu brauchte er Leute, die ihm halfen, denn von seinen fünf Söhnen half ihm keiner. Barry Lockwood, der älteste, ein finsterer Bursche, ein Einzelgänger, ein Mensch, der jede Arbeit scheute; das hatte er mit seinen Brüdern gemein.

Frank, der Zweitälteste, war ein übler Schürzenjäger, und über die anderen brauchte man gar nicht erst nachzudenken.

Well, sie kamen wenigstens alle Monate noch einmal herein, um sich hier die Haare etwas stutzen zu lassen. Der Barbier hatte anschließend immer Mühe, die kleine Bude durchzulüften, damit die nächsten Kunden nicht vor Schreck davonliefen.

Es gab leider noch eine Menge anderer Leute in der Stadt, die man mit einem Burschen wie John Fuller zusammenbringen konnte. Aber konnte man das wirklich? Verdächtigte man da nicht harmlose Zeitgenossen? Waren es nicht im Grunde alles Menschen, die jetzt höchstwahrscheinlich selbst Angst vor diesem Fuller hatten?

Der Friseur trat ans Fenster, schob die Gardine etwas zur Seite und lugte auf die Straße.

Draußen war nichts zu sehen.

Die Stadt wartete auf John Fuller!

Sie war eine der häufigsten Besucherinnen in den kleinen staubigen Städten am Rande des Westens, die Angst, und sie kam selten allein. Ihr folgte Not und Krankheit. Die Menschen konnten ihrem Tagewerk nicht nachgehen, und das war für manche lebensgefährlich. Wer eine Menge Kinder zu Hause hatte und davon vielleicht drei, vier noch im Babyalter, dazu noch ein, zwei alte Leute, die zu versorgen waren, der brachte sich und seine Familie zweifellos in Gefahr.

Und dann gab es auch immer wieder Leute, die krank wurden. Krank vor Angst. Zu ihnen gehörte David Johlson. Er wohnte nebenan in Madam Ginnes' Boardinghouse. Da hatte er im Obergeschoss das Zimmer mit der Nummer sieben gemietet. Er wohnte schon seit einer ganzen Reihe von Jahren hier. Und fast so lange war er auch krank. Die strohhaarige Hausgehilfin der Boardinghouse-Besitzerin betreute ihn.

Woher dieser Johlson eigentlich gekommen war, wusste niemand so genau. Es hieß, dass er aus Seymour stammte. Andere wollten ihn auch schon drüben in Bedford gesehen haben. Aber das stimmte alles nicht, denn er stammte überhaupt nicht aus Indiana. Er war aus Kentucky. Dort hatte er vor Jahren das Amt eines Richters innegehabt. Er war also kein primitiver Mensch, der Kranke nebenan im Boardinghouse. Die Leute in der Stadt kannten ihn kaum.

In der ersten Zeit ging er oft mit schlurfendem Schritt durch die Straßen, blieb hin und wieder stehen, um wie geistesabwesend vor sich hin zu starren, hatte die Hände auf dem Rücken zusammengelegt und den Kopf gesenkt. Immer trug er seinen schwarzen Anzug, seinen schwarzen Hut und schwarze Stiefeletten. Der lange Gehrock war ihm ebenso zu weit wie die Hosen, die um seine Beine schlotterten. Auch der Kragen war viel zu groß für ihn; der Hals blickte wie ein dünnes Rohr daraus hervor. Die Haare, meist ungeschnitten, standen von seinem Kopf ab und hingen ihm hinten bis in den Kragen hinein. Dennoch schien er ein respektabler Mann zu sein, der Richter Johlson.

Man hatte ihn schon lange nicht mehr auf der Straße gesehen. Da es niemanden in der Stadt gab, der sich wirklich für ihn interessierte, wurde er auch bald vergessen.

Aber Johlson hockte oben in seiner abgedunkelten Kammer in seinem Lehnstuhl, hatte die Hände um die mit Schnitzereien bedeckten Stuhllehnen gekrampft und seine mageren Beine unter einer karierten Decke liegen. Auch jetzt trug er einen schwarzen Rock und seinen steifen, viel zu großen Kragen sowie seine seidene Halsschleife, in deren Mitte eine Perle schimmerte. Er hatte seinen Platz so gewählt, dass er durch den schmalen im Vorhang das Straßenstück vor der Lobby Bar beobachten konnte.

Seit der Stunde, als die Nachricht zu ihm gedrungen war, dass John Fuller in die Stadt kommen würde, war er vom Fenster nicht mehr wegzubringen. Die strohblonde Mary, die ihm das Essen hinauftrug und auch sonst für ihn sorgte, hatte ihm gestern Morgen die Hiobsbotschaft gebracht.

Mary, ein einfältiges Ding, das nichts anderes im Kopf hatte als die abendlichen Begegnungen mit dem Schmiedehelfer Cassedy, hatte den Schatten nicht bemerkt, der sich bei dieser Nachricht über Johlsons Gesicht gelegt hatte. Seine Haut, die großporig und welk war, schien plötzlich grau zu sein. Er hatte auch nicht, wie sonst, ein freundliches Wort an das Mädchen gerichtet, sondern den Kopf mit einem Ruck angehoben und nach vorne gestoßen. Wie ein Raubvogel, der auf einem Ast saß und auf Beute lauerte.

Jetzt hockte er da am Fenster in seinem Lehnstuhl und schaute auf die Straße hinunter. Immer auf das schmale Stück vor der Lobby Bar. Er konnte den Eingang der Schenke sehen, eines der Fenster, die drei Vorbaustufen, ein Stück von der Pferdetränke und den durchgehangenen Balken für die Zügel. Das war seine Welt. Was sich da nicht alles abspielte, auf diesem kleinen Stück Erde!

Jetzt aber war alles in den Schatten gestellt. Jetzt würde ein neues Stück gesucht, ein Stück, das in dieses kleine Welttheater nicht hineingehörte.

John Fuller!

Oh, es war nicht nur die Neugierde, die den mageren alten Mann auf seinem Platz verharren ließ. Ganz und gar nicht.

Der Richter Dave Johlson hatte als einziger in der ganzen Stadt einen triftigen Grund, der Ankunft des Banditen mit großer Wachsamkeit entgegenzusehen.

Es war einige Jahre her, als er diesen John Fuller zu Gesicht bekommen hatte. Johlson war damals drüben in Delaware, im Staat Ohio, mit dem Richteramt betraut worden. Es war seine letzte Stelle.

Er war von Cambridge herübergekommen, wo er sich mit dem Stadtrat nicht verstanden hatte, und hatte dann in Delaware, der Hauptstadt des Staates, noch eine ehrenvolle letzte Position gefunden. Nicht als der oberste Richter der Stadt, sondern nur als dessen Stellvertreter.

Ein Mann also, der meist nur kleine Fälle abzuhandeln hatte. Dann aber war jener Novembertag gekommen, an dem der oberste Richter krank daniederlag, und er, Johlson, einzuspringen hatte. Im Verlauf der mehrstündigen Verhandlung kamen Dinge zu Tage, die diesen John Fuller so stark belasteten, dass kein Gericht der Vereinigten Staaten ihn auch nur mit einem Prozent Milde hätte bedenken können.

Auch Richter Johlson fand keine Handhabe, die ihn zur Milde hätte stimmen können. Er bestrafte den Banditen John Fuller mit fünfundzwanzig Jahren schweren Kerkers. Mit diesem Urteil wollte sich der alternde Richter zugleich Ansehen in der Stadt verschaffen. Das erreichte er damit auch.

Die Bürger bekamen Respekt vor dem gestrengen, ernsten Mann, der sich nicht scheute, ein Verbrechen mit so schwerer Strafe zu belegen. Es würde abschreckend wirken, hatten die Männer im Stadtrat gesagt und ihm voll und ganz zugestimmt.

Wochen nach der Verhandlung erfuhr der Richter, dass der Sträfling John Fuller vom Transport zum Gefangenenlager entkommen war. Obgleich Richter Johlson öfter in seiner langen Laufbahn derartige Dinge erlebt hatte, war er bisher nie von der Furcht befallen worden, dass der entsprungene Sträfling ihn persönlich bedrohen, sich an ihm würde rächen wollen.

Damals aber, in Delaware, hatte er plötzlich das Gefühl gehabt, dass der Gangster John Fuller sich rächen könnte. Angst, den Rest seines Lebens nicht mehr in Ruhe verbringen zu können, hatte ihn auf einmal furchtsam gemacht. Hals über Kopf gab er eine schwere Krankheit vor, sagte seine Stellung auf und verließ die Stadt.

Er machte es dann gleich gründlich und zog nicht etwa fünfzig Meilen weiter, sondern er verließ Ohio und fuhr hinüber nach Indiana, wo er nach langen Irrfahrten schließlich in Rush Creek Valley eine Bleibe fand. Es war ein ziemlich weiter Weg, aber er hatte ihn nicht gescheut, da er glaubte, hier sicher sein zu können, seine Fährte hinter sich verwischt zu haben.

Er war hier einfach aus der Kutsche gestiegen, hatte seinen kleinen Tragekorb mitgenommen und war hinüber in das Boardinghouse gegangen, nur weil es die nächste Tür war, hinter der er verschwinden konnte.

Als die Kutsche dann weitergerollt war, drehte er sich um und blickte in die erschrockenen grauen Augen der struppigen blonden Magd, die ihn heute noch bediente. Er war gekommen, weil er glaubte, nicht weiterfahren zu können. Nie hätte er sich träumen lassen, dass er in einer so kleinen Stadt einmal seine letzten Tage verbringen sollte.

Es würde die letzte Station des Richters sein. Er war sich längst darüber im Klaren. In einsamen Nachtstunden hatte er zuweilen den Entschluss gefasst, in der Frühe des nächsten Morgens weiterzufahren. Irgendwohin. Noch weiter in den Westen. Vielleicht konnten sie irgendwo noch einen Richter brauchen. Bestimmt sogar. Er hatte mehrmals in alten Gazetten gelesen, dass da drüben nicht nur Ärztemangel, sondern auch Mangel an Gesetzesleuten und Richtern herrschte.

Schließlich, so alt war er ja noch gar nicht.

Bis dann eines Tages das Elend mit dem rechten Bein kam. Es war eine Art Lähmung, und Johlson war gezwungen, das Bein nachzuschleppen. Seine Spaziergänge, die er ohnehin bisher immer auf die Abendstunden beschränkt hatte, musste er jetzt fast völlig einstellen.

Es war eine trübe Zeit, die für ihn begann. Er wusste genau, dass es das Ende bedeutete, wenn man im Haus blieb und sich nur noch in den vier Wänden bewegte. Deshalb stahl er sich hin und wieder in der Nacht, weit nach zwölf Uhr, lautlos aus dem Haus und ging ein paar Schritte durch den Hof, wagte dann auch einmal, die Hinterpforte zu öffnen, um in die Gasse zu spähen.

Aber auch das stellte er bald ein, da es ihm zu beschwerlich wurde. So wurde er nahezu ein Gelähmter, saß in einem hohen Lehnstuhl, aus dem er sich nur zu den notwendigsten Dingen erhob. Nicht ganz fünfundsechzig Jahre alt, ein lebendes Wrack. Die Angst war es, die ihn ausgehöhlt und zerfressen hatte.

Mit brennenden Augen saß er jetzt am Fenster und blickte wie immer die Straße hinunter. Nur, dass es jetzt nicht mehr die alltäglichen Dinge waren, die er da zu erwarten hatte, sondern das, wovor er so viele, viele Meilen geflüchtet war. Wovor er so unendlich lange Zeit in Angst gelebt hatte. Von der Stunde an, in der die Magd zu ihm hinaufgekommen war, um ihm arglos von der Sensation zu berichten, die die Stadt in Atem hielt. Und von dieser Stunde an lebte er in einem Zustand fiebriger Aufgelöstheit.

Fuller hatte also seine Spur gefunden! Er war auf dem Weg hierher!

Der alte Mann blieb, obwohl sich der Tag seinem Ende zuneigte, weiter am Fenster sitzen und starrte auf die Straße. Wenn Fuller kam, würde er wie jeder andere drüben zuerst der Schenke seinen Besuch machen. Das war eine Notwendigkeit, denn wer den Ritt über die staubige Straße von Kossuth oder gar von McKinley herunter hinter sich hatte, der musste einfach in die Lobby Bar gehen, um sich die staubige Kehle durchzuspülen.

Aber die Stunden verrannen, und Fuller kam nicht. Die gewöhnlichen Gestalten tauchten auf, die seit Langem zum kleinen Welttheater des heimlichen Beobachters gehörten. Es war wieder die Frau, die ihren Ehebruch trieb, es war wieder der alte Trinker, der über den Schankwirt fluchte.

Die Lichter der Bar verlöschten, und die Tür wurde verriegelt. Für Sekunden schien die Straße in tiefer Dunkelheit dazuliegen. Aber das täuschte nur, denn als sich die Augen des Beobachters an die Dunkelheit gewöhnt hatten, konnte er sehr bald wieder jeden Gegenstand erkennen. Fahles Sternenlicht ergoss sich milchig über Häusergiebel, warf gespenstische Schatten.

Der Mond war in einer scharfen Sichel aufgegangen und schien auf einer langen weißen Wolkenbank dahinzusegeln. Sein silbriges Licht floss in die düstere Main Street von Rush Creek Valley und vertrieb das verschwommene milchige Grau.

Es war kurz vor Mitternacht, als sich der Richter ganz plötzlich aus seinem Stuhl erhob, seine von der Gicht verknoteten Hände in das rissige Holz der Fensterbank krallte und die frische Nachtluft tief in seine welken Lungen hineinsog. Dann wandte er sich mit einem Ruck um, schwankte zu dem alten Schrankkasten hinüber, der, als er die Tür öffnete, einen ächzenden Ton von sich gab, griff nach seinem Reisekorb und packte dann in fliegender Hast seine Sachen ein.