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Shakespeare ist wohl der bekannteste Dramatiker aller Zeiten, doch über sein Leben wissen wir so gut wie nichts. Kein Brief blieb von ihm erhalten, wir kennen nur ein paar dürre Lebensdaten, vereinzelte Schriftsätze aus Prozessen, die er betrieb – und ein überaus nüchternes Testament, in dem er seiner Frau sein zweitbestes Bett vermacht. In seiner hochgelobten Biographie versucht Stephen Greenblatt mit detektivischem Scharfsinn, die Lücken dieser Lebensgeschichte zu füllen und hinter das Geheimnis zu kommen, wie aus einem talentierten Jungen aus einer englischen Kleinstadt der größte Dramatiker aller Zeiten werden konnte, kurz: wie Shakespeare zu Shakespeare wurde.
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Seitenzahl: 751
Für Josh und Aaron, wieder einmal, und jetzt für Harry
Ein junger Mann aus einer kleinen Provinzstadt – ein Mann ohne ererbten Reichtum, der weder über einflußreiche familiäre Beziehungen verfügt noch ein Universitätsstudium absolviert hat – siedelt gegen Ende der 1580er Jahre nach London über und wird in bemerkenswert kurzer Zeit zum größten Dramatiker nicht nur seiner Zeit, sondern aller Zeiten. Seine Werke sprechen Gebildete wie Ungebildete an, kultivierte Städter ebenso wie Provinzler, die zum ersten Mal ins Theater gehen. Er bringt sein Publikum zum Lachen und zum Weinen; er verwandelt Politik in Poesie; unbekümmert vermengt er vulgäre Clownerie mit philosophischem Scharfsinn. Mit gleicher Eindringlichkeit erfaßt er das Privatleben von Königen wie das von Bettlern; bald scheint er Jura studiert zu haben, bald Theologie oder Alte Geschichte, und zugleich ahmt er mühelos die Sprache von Bauerntölpeln nach und erfreut sich an Altweibergeschichten. Wie läßt sich eine Leistung dieser Größenordnung erklären? Wie ist Shakespeare zu Shakespeare geworden?
Das Theater ist, zu Shakespeares Zeiten ebenso wie zu unserer Zeit, eine ausnehmend soziale Kunstform, kein Spiel blutleerer Abstraktionen. Im Zeitalter Elisabeths und Jakobs gab es einen Dramentyp, der sich nicht in der Öffentlichkeit zeigte: Diese Stücke, die man closet drama nannte, waren nicht dazu bestimmt, aufgeführt oder auch nur gedruckt zu werden. Vielmehr sollte man sie still für sich in der Abgeschlossenheit kleiner, vorzugsweise fensterloser Räume lesen. Shakespeares Stücke hingegen spielten sich immer entschieden außerhalb geschlossener Räume ab: Sie sind in der Welt und von der Welt. Nicht nur schrieb und spielte Shakespeare für eine erbarmungslose kommerzielle Unterhaltungsindustrie; er verfaßte auch Texte, die ein intensives Bewußtsein für die sozialen und politischen Realitäten ihrer Zeit erkennen lassen. Anders hätte er kaum vorgehen können: Um sich über Wasser zu halten, mußte die Theatertruppe, an der er beteiligt war, Tag für Tag etwa 1500 bis 2000 zahlende Besucher in das hölzerne Rund des Schauspielhauses locken, und die Konkurrenz von seiten konkurrierender Truppen war groß. Das, worauf es ankam, war nicht so sehr Zeitkritik – angesichts der von der Regierung ausgeübten Zensur und der Tatsache, daß Repertoirebühnen häufig jahrelang immer wieder dieselben Texte verwendeten, wären allzu aktuelle Anspielungen riskant gewesen –, sondern vielmehr die Intensität des Interesses, das ein Stück weckte. Shakespeare mußte auf die tiefsten Wünsche und Befürchtungen seines Publikums eingehen, und der ungewöhnliche Erfolg, den er zu seiner Zeit hatte, läßt darauf schließen, daß ihm das glänzend gelang. Nahezu alle Dramatiker, die mit ihm konkurrierten, waren auf dem besten Wege zu verhungern; Shakespeare hingegen verdiente so viel, daß er sich eines der schönsten Häuser in seiner Heimatstadt kaufen konnte, in die er sich mit Anfang fünfzig als ein Mann, der es aus eigener Kraft zu Wohlstand gebracht hatte, zurückzog.
Das vorliegende Buch handelt also von einer erstaunlichen Erfolgsstory, die sich bisher einer Erklärung entzogen hat: Es verfolgt das Ziel, den wirklichen Menschen zu entdecken, der das wichtigste Korpus fiktionaler Literatur geschrieben hat, das in den letzten 1000 Jahren entstanden ist. Oder vielmehr sucht es, da der wirkliche Mensch wohldokumentiert und aktenkundig ist, die schattenhaften Wege zu beschreiten, die von dem Leben, das er führte, zu der Literatur hinleiten, die er schuf.
Abgesehen von den Dichtungen und den Stücken selbst sind die noch erhaltenen Spuren von Shakespeares Leben zahlreich, aber mager: Hartnäckige Archivarbeit hat über viele Generationen hinweg zeitgenössische Anspielungen auf ihn zutage gefördert und dazu eine beträchtliche Zahl von Immobilientransaktionen des Dramatikers, eine Schuldverschreibung im Zusammenhang mit einer Heiratserlaubnis, Taufurkunden, Personenverzeichnisse von Theaterstücken, in denen er als Darsteller genannt ist, Steuerrechnungen, kleine eidliche Erklärungen, Vermerke über Zahlungen für Dienstleistungen sowie ein interessantes Testament. Es fanden sich jedoch keine unmittelbar aufschlußreichen Hinweise, die es gestatten würden, das Geheimnis so unermeßlicher kreativer Kraft zu enträtseln.
Seit Jahrhunderten wiederholt man die bekannten Fakten ständig von neuem. Schon im 19. Jahrhundert gab es schöne, sehr detaillierte und gut dokumentierte Biographien, und Jahr für Jahr erscheint ein weiterer Schwung dieses Genres, manchmal mit ein oder zwei schwer erarbeiteten Brocken neuer Archivfunde angereichert. Doch selbst wenn man die besten von ihnen in Augenschein nimmt und geduldig den größten Teil der verfügbaren Zeugnisse durchforstet, hat man als Leser kaum das Gefühl, dem Verständnis dafür nähergekommen zu sein, wie es zu den Leistungen des Dramatikers kam. Häufig wirkt Shakespeare als Person allenfalls langweiliger, fader, und die inneren Triebfedern seiner Kunst scheinen verborgener denn je. Von diesen Triebfedern auch nur einen flüchtigen Blick zu erhaschen wäre schon schwierig genug, wenn Biographen auf Briefe und Tagebücher, zeitgenössische Berichte und Interviews, Bücher mit erhellenden Randbemerkungen, auf Notizen und Erstentwürfe zurückgreifen könnten. Nichts dergleichen ist erhalten, nichts, was ein eindeutiges Bindeglied zwischen dem Werk mit seiner universellen Anziehungskraft und einem konkreten Leben liefert, das in den eintönigen bürokratischen Urkunden der damaligen Zeit seine zahlreichen Federstriche hinterließ. Das Werk ist so erstaunlich, so strahlend, daß es von einem Gott und nicht von einem Sterblichen herzurühren scheint und erst recht nicht von einem Sterblichen provinzieller Herkunft und bescheidener Bildung.
Natürlich ist es angebracht, den Zauber einer unendlich starken Phantasie in Betracht zu ziehen, einer menschlichen Begabung, die nicht von einem »interessanten« Leben abhängig ist. In der Forschung untersucht man seit langem und mit Erfolg, auf welche Weise diese Phantasie die Bücher verwandelt hat, die Shakespeare ausweislich seiner Stücke mit Sicherheit gelesen hat. Als Schriftsteller fing er selten mit einer Tabula rasa an: Üblicherweise nahm er Stoffe, die bereits in Umlauf waren, und gestaltete sie mit seinen überragenden schöpferischen Energien. Gelegentlich ist die Umarbeitung so präzise und detailliert, daß er das Buch, aus dem er so geschickt entlehnte, unmittelbar vor sich auf dem Schreibtisch gehabt haben muß, während sein Federkiel über das Papier eilte. Doch niemand, der intensiv auf Shakespeares Kunst reagiert, kann glauben, daß die Stücke und Dichtungen ausschließlich seiner Lektüre entstammen. Mindestens ebensosehr wie die Bücher, die er las, trugen die zentralen Probleme, mit denen er sich als junger Mann auseinandersetzte – Was soll ich mit meinem Leben anfangen? Woran kann ich glauben? Wen liebe ich? –, während seiner gesamten Laufbahn dazu bei, seine Kunst zu formen.
Eines der wesentlichsten Kennzeichen Shakespearescher Kunst ist der Eindruck des Wirklichen. Ebenso wie von jedem anderen Schriftsteller, dessen Stimme seit langem verstummt und dessen Leib vermodert ist, sind uns nicht mehr geblieben als Worte auf dem Papier, aber noch bevor ein begabter Schauspieler Shakespeares Worte zum Leben erweckt, enthalten sie die lebendige Gegenwart wirklicher, gelebter Erfahrung. Der Dichter, welcher wahrnahm, daß der gehetzte, zitternde Hase »taubesprengt« ist, oder seine mit einem Makel behaftete Reputation mit »des Färbers Hand« verglich, der Dramatiker, der einen Ehemann seiner Frau ausrichten läßt, »in dem Pult, / Das mit dem türk’schen Teppich zugedeckt, / Sei eine Börse Gold«, oder der einen Prinzen sich erinnern läßt, daß sein armer Gefährte nur zwei Paar Seidenstrümpfe besitzt, von denen das eine pfirsichfarben ist – dieser Künstler war ungewöhnlich offen für die Welt und entdeckte die Mittel, mit denen er diese Welt in seine Werke eingehen lassen konnte. Um zu verstehen, wie er dies so wirksam tat, ist es wichtig, sich eingehend seine Sprachkunst anzusehen – seine Beherrschung der Rhetorik, seine unheimliche Bauchrednerei, seine regelrechte Sprachbesessenheit. Um zu verstehen, wer Shakespeare war, ist es wichtig, die verbalen Spuren, die er hinterließ, in das Leben zurückzuverfolgen, das er führte, und in die Welt, für die er so offen war. Und damit wir verstehen, wie Shakespeare seine Phantasie gebrauchte, um sein Leben in seine Kunst zu verwandeln, ist es wichtig, daß wir von unserer eigenen Phantasie Gebrauch machen.
Stellen wir uns vor, daß Shakespeare schon seit seiner Kindheit von Sprache fasziniert, von der Magie der Wörter besessen war. Für diese Obsession finden sich bereits in seinen frühesten Schriften überwältigende Belege, und so kann man mit großer Sicherheit annehmen, daß sie zeitig einsetzte, vielleicht schon in dem Augenblick, als ihm seine Mutter das erste Mal einen Kinderreim ins Ohr flüsterte:
Pillycock saß auf dem Berg ganz allein, Und wenn er nicht fort ist, wird er noch dort sein.
(Genau dieser Kinderreim ging ihm noch Jahre später im Kopf herum, als er König Lear schrieb. »Pillicock saß auf Pillicocks Berg«, singt der verrückte arme Tom.) Er hörte in den Klängen von Wörtern Dinge, die andere Menschen nicht hörten; er stellte Verbindungen her, die andere nicht herstellten; und ihn überkam ein Vergnügen, das ganz ihm eigen war.
Das war eine Liebe und ein Vergnügen, wie sie das elisabethanische England wecken, reich befriedigen und belohnen konnte, denn diese Kultur schätzte blumige Beredsamkeit, sie förderte bei Predigern und Politikern einen Sinn für wortreiche Prosa und erwartete selbst von Menschen mit bescheidenen Fähigkeiten und nüchterner Sichtweise, daß sie Gedichte schrieben. In einem seiner frühen Stücke, Liebes Leid und Lust, schuf Shakespeare einen lächerlichen Lehrer namens Holofernes, mit dem er einen Unterrichtsstil parodierte, der für die meisten Zuschauer unmittelbar wiederzuerkennen gewesen sein muß. Holofernes kann nicht von einem Apfel reden, ohne hinzuzufügen, daß er »hanget gleich einem Juwel in dem Ohre coeli, der Luft, des Firmamentes, der Feste – und plötzlich fället … auf das Angesicht terrae, des Bodens, des Grundes, des Erdreichs« (IV.2). Holofernes ist die komische Verkörperung eines Lehrplans, der als eines seiner wichtigsten Lehrbücher Erasmus’ Schrift De copia (»Über die Fülle«) verwendete, ein Buch, das Schülern beibrachte, wie man auf 150 verschiedene Weisen (natürlich auf lateinisch) sagt: »Danke für deinen Brief.« Zwar verspottete Shakespeare sehr geschickt dieses manische Wortspiel, aber er nahm es auch überschwenglich mit seiner eigenen Stimme und in seiner eigenen Sprache auf, so etwa, wenn er in Sonett 129 schreibt: Lust »ist Meineid, Mord, blutschändliche Verblendung, / Ausschweifung, Wildheit, Grausamkeit, Verrat«. Irgendwo hinter diesem leidenschaftlichen Ausbruch verborgen liegen die vielen Stunden, die ein kleiner Junge in der Schule damit zubrachte, lange Listen lateinischer Synonyme zusammenzustellen.
»Alle Männer«, schrieb Königin Elisabeths Lehrer Roger Ascham, »erstreben, ihre Kinder Latein sprechen zu lassen.« Die Königin sprach Latein – sie gehörte zu den wenigen Frauen des Landes mit Zugang zu dieser Fertigkeit, die für internationale Beziehungen von so entscheidender Bedeutung war –, und ihre Diplomaten, Ratgeber, Theologen, Geistlichen, Ärzte und Juristen taten es ebenfalls. Doch die Beherrschung der alten Sprache beschränkte sich nicht auf diejenigen, die von ihr tatsächlich praktischen, beruflichen Gebrauch machten. »Alle Männer erstreben, ihre Kinder Latein sprechen zu lassen«: Im 16. Jahrhundert wollten auch Maurer, Wollhändler, Handschuhmacher und wohlhabende Freibauern (yeomen) – Menschen ohne formale Bildung, die Englisch weder lesen noch schreiben konnten, von Latein ganz zu schweigen –, daß ihre Söhne den Ablativus absolutus beherrschten. Latein war Kultur, Zivilisiertheit, sozialer Aufstieg. Es war die Sprache des elterlichen Ehrgeizes, die universelle Währung sozialen Begehrens.
So kam es, daß Wills Vater und Mutter ihrem Sohn eine regelrechte klassische Bildung zukommen lassen wollten. John Shakespeare selbst scheint des Lesens und Schreibens allenfalls teilweise kundig gewesen zu sein. Als Inhaber wichtiger städtischer Ämter in Stratford-upon-Avon konnte er wahrscheinlich lesen, aber sein ganzes Leben lang setzte er an die Stelle seines Namens nur ein Zeichen. Dem Zeichen nach zu urteilen, das Mary Shakespeare, die Mutter von Englands größtem Autor, auf juristischen Dokumenten machte, konnte sie ihren Namen ebensowenig schreiben, wenngleich auch sie sich möglicherweise eine gewisse rudimentäre Lesefertigkeit angeeignet hatte. Offensichtlich waren die Eltern aber zu dem Entschluß gelangt, daß das für ihren ältesten Sohn nicht ausreichen würde. Ohne Zweifel fing das Kind mit einem hornbook an – einer hölzernen Tafel, die mit einem Blatt Pergament bedeckt war, auf das die Buchstaben und das Vaterunser gedruckt waren und das dann mit einer dünnen Schicht aus durchscheinendem Horn überzogen worden war – und mit dem Standardtext der petty school, wie die Grundschule hieß, dem ABC samt Katechismus. (In dem Stück Die beiden Veroneser ächzt ein Liebender »wie ein Schulknabe, der sein Abc-Buch verloren hat«.) Bis dahin erwarb Will nur Kenntnisse, die sein Vater und womöglich auch seine Mutter besaßen. Doch wurde er wahrscheinlich im Alter von sieben Jahren auf die freie grammar school von Stratford geschickt, in der die völlige Vertiefung ins Lateinische zentrales Unterrichtsprinzip war.
Diese Schule trug den Namen King’s New School, aber sie war nicht neu, und sie war auch nicht von dem König, den man in ihrem Namen ehrte, Elisabeths früh verstorbenem Stiefbruder Eduard VI., gegründet worden. Wie so viele andere elisabethanische Institutionen trug auch diese eine Maske, die dazu bestimmt war, Ursprünge zu verbergen, die vom Katholizismus befleckt waren. Im frühen 15. Jahrhundert von der städtischen Heiligkreuz-Gilde erbaut, wurde sie 1482 von einem der katholischen Kaplane der Stadt als freie Schule gestiftet. Das Schulgebäude – das mehr oder weniger unversehrt erhalten ist – bestand aus einem einzigen großen Raum über dem Rathaussaal, den man über eine Außentreppe erreichte, die einst eine Ziegelüberdachung trug. Womöglich gab es Trennwände, besonders für den Fall, daß ein Hilfslehrer ganz kleinen Kindern das ABC beibrachte, aber die meisten Schüler – etwa 42 Knaben im Alter von sieben bis 14 oder 15 Jahren – saßen auf harten Bänken mit Blick auf den Schulmeister, der an der Stirnseite des Raumes in seinem großen Stuhl thronte.
Den Statuten zufolge war es dem Stratforder Schulmeister nicht gestattet, für den Unterricht von einem der Schüler Geld anzunehmen. Er sollte jedes männliche Kind unterrichten, das die Eignung besaß – das sich also die Grundbegriffe des Lesens und Schreibens angeeignet hatte –, mochten auch »dessen Eltern noch so arm und die Knaben noch so ungeschickt« sein. Dafür erhielt er freies Logis und ein jährliches Gehalt von 20 Pfund, eine beträchtliche Summe, die so ziemlich das Maximum des Gehalts darstellte, mit dem elisabethanische Lehrer rechnen konnten. Die Stadt Stratford nahm die Ausbildung ihrer Kinder ernst: Für Absolventen der freien Lateinschule gab es besondere Stipendien, die es begabten Schülern mit beschränkten Mitteln ermöglichten, die Universität zu besuchen. Das bedeutete freilich keine kostenlose Schulbildung für alle. Hier wie überall sonst waren Mädchen sowohl von der Lateinschule als auch von der Universität ausgeschlossen. Die Söhne der ganz Armen – die einen großen Teil der Bevölkerung ausmachten – gingen ebensowenig zur Schule, denn von ihnen erwartete man, daß sie schon in jungen Jahren arbeiteten, und außerdem wurde zwar kein Schulgeld verlangt, aber es entstanden doch Kosten: Üblicherweise hatten die Schüler Kiele für Federn, ein Messer zum Schärfen der Kiele, im Winter Kerzen sowie – eine teure Ware – Papier mitzubringen. Söhnen von Familien mit einigem Vermögen, so bescheiden es auch sein mochte, stand dagegen eine gründliche Schulbildung offen, die das Schwergewicht auf die klassischen Autoren legte. Die Stratforder Schulakten aus dieser Zeit sind zwar nicht erhalten, aber so gut wie sicher besuchte Will diese Schule und erfüllte so den Wunsch seiner Eltern, daß er Latein lernen sollte.
Im Sommer begann der Schultag um 6 Uhr früh, im Winter, als Konzession an Dunkelheit und Kälte, um 7 Uhr. Um 11 Uhr gab es eine Mittagspause – da lief Will vermutlich die knapp 300 Meter nach Hause –, anschließend wurde der Unterricht wieder fortgesetzt und dauerte bis um 17.30 oder 18 Uhr. Sechs Tage in der Woche, zwölf Monate im Jahr. Der Lehrplan machte kaum Zugeständnisse an das Spektrum menschlicher Interessen: keine englische Geschichte oder Literatur, keine Biologie, Chemie oder Physik, keine Volkswirtschaft oder Soziologie, nur oberflächliche Kenntnisse im Rechnen. Es gab Unterricht in den christlichen Glaubensartikeln, aber der dürfte von den Lateinstunden kaum zu unterscheiden gewesen sein. Der Unterricht war im übrigen keineswegs sanft: Auswendiglernen, erbarmungloser Drill, endlose Wiederholungen, jeden Tag Textanalyse, kunstvolle Übungen in Imitation und rhetorischer Variation, und hinter alledem stand die Androhung von Gewalt.
Jedem war klar, daß Lateinlernen untrennbar mit Prügeln verbunden war. Ein zeitgenössischer Erziehungstheoretiker äußerte die Vermutung, daß das Gesäß zu dem Zweck geschaffen sei, das Erlernen des Lateins zu erleichtern. Ein guter Lehrer war per definitionem ein strenger Lehrer: Einen Ruf als Pädagoge erwarb man sich durch die Heftigkeit der ausgeteilten Schläge. Es handelte sich um eine altehrwürdige und eingefleischte Praxis: Als Teil seines Abschlußexamens in Cambridge mußte ein Grammatikabsolvent im Spätmittelalter seine pädagogischen Fähigkeiten dadurch unter Beweis stellen, daß er einem dummen oder widerspenstigen Knaben eine Tracht Prügel verabreichte. Lateinlernen war damals, wie es ein neuzeitlicher Forscher formuliert hat, ein männlicher Pubertätsritus. Selbst für einen außerordentlich begabten Schüler kann dieser Ritus nicht angenehm gewesen sein. Doch obgleich die King’s New School ohne Zweifel ihr Maß an Langeweile wie auch an Schmerzen bereithielt, weckte sie ganz offensichtlich Wills unerschöpfliches Verlangen nach Sprache und nährte es.
Es gab noch einen weiteren Aspekt des außerordentlich langen Schultages, der Will Freude bereitet haben dürfte: So gut wie alle Lehrer waren sich darin einig, daß eine der besten Methoden, ihren Schülern gutes Latein beizubringen, darin bestand, sie antike Theaterstücke und insbesondere die Komödien von Terenz und Plautus lesen und aufführen zu lassen. Selbst der Geistliche John Northbrooke, ein Spielverderber, der im Jahre 1577 eine mißmutige Attacke auf »Würfelspiel, Tanz, eitle Spiele oder Interludien sowie anderen müßigen Zeitvertreib« veröffentlichte, räumte ein, daß Schulaufführungen lateinischer Stücke, sofern man diese in angemessener Weise gereinigt hatte, akzeptabel seien. Ängstlich betonte Northbrooke, die Stücke müßten in der Originalsprache und nicht auf englisch aufgeführt werden, die Schüler dürften keine schönen Kostüme tragen, und es sollte vor allem »keine eitlen und zügellosen Tändeleien mit Liebe« geben. Denn wie der Gelehrte John Rainolds aus Oxford feststellte, bergen diese Stücke eine große Gefahr: Unter Umständen erfordert es die Handlung, daß der Knabe, der den Helden spielt, den Knaben küßt, der die Heldin spielt, und dieser Kuß kann der Ruin beider Kinder sein. Der Kuß eines schönen Knaben ist nämlich wie der Kuß »gewisser Spinnen«: »Wenn sie Menschen mit dem Mund auch nur berühren, fügen sie ihnen wunderbare Schmerzen zu und machen sie wahnsinnig.«
Tatsächlich ist es nahezu unmöglich, Terenz und Plautus zu »reinigen«: Man streiche die ungehorsamen Kinder und die schlauen Sklaven, die Schmarotzer, Gauner, Huren und törichten Väter, die fieberhafte Jagd nach Sex und Geld, und es bleibt so gut wie nichts mehr übrig. In den Lehrplan war somit eine Art wiederkehrender theatralischer Übertretung eingebaut, eine komische Befreiung vom repressiven Druck des Erziehungssystems. Um diese Befreiung voll auszukosten, brauchte man als Schüler nicht mehr als schauspielerische Begabung und genügend Lateinkenntnisse, um die Pointe zu verstehen. Als Will zehn oder elf Jahre alt war, und vielleicht auch schon früher, verfügte er so gut wie sicher über beides.
Unterlagen, aus denen hervorginge, wie oft die Stratforder Lehrer in Wills Schulzeit Theateraufführungen veranstalteten oder welche Stücke sie auswählten, sind nicht erhalten geblieben. Vielleicht ergab es sich, ungefähr ein Jahr, bevor Will die Schule verließ, daß der Lehrer Thomas Jenkins – der in Oxford studiert hatte – beschloß, die Jungen Plautus’ ausgelassene Farce über eineiige Zwillinge, Die beiden Menaechmi, aufführen zu lassen. Und vielleicht teilte Jenkins, der erkannte, daß einer seiner Schüler eine frühreife Begabung sowohl als Schriftsteller als auch als Schauspieler zeigte, bei dieser Gelegenheit Will Shakespeare eine Hauptrolle zu. Aus Shakespeares späteren Jahren gibt es deutliche Anhaltspunkte dafür, daß er gerade an diesem Stück die Verbindung von Logik und schwindelerregender Verwirrung liebte, wobei die Personen ständig knapp die direkte Begegnung und die Erklärung verfehlen, die das zunehmende Chaos auflösen würden. Als er sich als junger Dramatiker in London nach der Handlung für eine Komödie umsah, übernahm er einfach Die zwei Menaechmi, fügte ein zweites Zwillingspaar hinzu, um das Chaos zu verdoppeln, und schrieb Die Komödie der Irrungen. Das Stück war ein großer Erfolg: Als es an einer der Juristenschulen in London aufgeführt wurde, randalierten die Studenten bei dem Versuch, Sitze zu ergattern. Doch für den begabten Schüler in der King’s New School hätte dieser künftige Triumph fast ebenso unwahrscheinlich ausgesehen wie die einfältigen Geschehnisse, die in dem Stück geschildert werden.
Bei Plautus streitet sich Menaechmus aus Epidamnus mit seiner Gattin und macht sich dann auf den Weg zu seiner Geliebten, der Hetäre Erotium (Frauenrollen wären ebenso wie Männerrollen von den Jungen in Wills Klasse gespielt worden). Noch bevor Menaechmus an ihre Tür klopft, öffnet sich diese, und es erscheint Erotium selbst, die ihm die Sinne raubt: »Eapse eccam exit!« (»Sie selber ist es, sieh nur hin, sie tritt heraus!«) Und dann, in diesem Augenblick der Verzückung – der Glanz ihres lieblichen Körpers, ruft er, verdunkelt die Sonne –, begrüßt ihn Erotium: »Anime mi, Menaechme, salve!« (»Mein Leben, mein Menaechmus, sei willkommen mir!«)
Dies ist der Moment, den besorgte Moralisten wie Northbrooke und Rainolds am meisten fürchteten und haßten: der Kuß des Spinnenknaben. »Mit Küssen«, schreibt Rainolds, »versetzen schöne Knaben einen Stich und flößen heimlich eine Art Gift ein, das Gift der Zügellosigkeit.« Über diese Hysterie läßt sich leicht lachen, aber sie ist vielleicht nicht völlig absurd: Bei irgendeiner derartigen Gelegenheit empfand der heranwachsende Shakespeare möglicherweise eine intensive Erregung, in der theatralische Darbietung und sexuelle Erweckung miteinander verflochten waren.
Schon lange vor den Schulaufführungen mag Will die Entdeckung gemacht haben, daß er eine Leidenschaft für die Schauspielerei hatte. Im Jahre 1569, als er fünf Jahre alt war, ordnete sein Vater als bailiff – als Bürgermeister – von Stratford-upon-Avon an, daß an zwei Truppen von Berufsschauspielern, die Queen’s Men und die Earl of Worcester’s Men, die zu einem Gastspiel in die Stadt gekommen waren, Zahlungen geleistet werden sollten. Diese reisenden Theatertruppen waren kein besonders eindrucksvoller Anblick: etwa sechs bis zwölf strowlers (»Wanderschauspieler«), die ihre Kostüme und Requisiten in einem Wagen mit sich führten und die durch die Umstände gezwungen waren, »für Käse und Buttermilch auf Schusters Rappen von Dorf zu Dorf zu reisen«, wie es ein zeitgenössischer Beobachter sarkastisch formulierte. In Wirklichkeit war das übliche Entgelt ein wenig handfester – ein oder zwei Pfund in bar, wenn sie Glück hatten –, aber nicht so groß, daß die Schauspieler die Nase gerümpft hätten, wenn sich etwa auch Käse oder Buttermilch hätten schnorren lassen. Für die meisten kleinen Jungen muß das ganze Spektakel freilich unerhört aufregend gewesen sein.
Die Ankunft in Provinzstädten spielte sich gemeinhin nach einem festen Schema ab. Begleitet von einem Trompetenstoß und Trommelwirbeln, stolzierten die Spieler in ihren farbenfrohen Gewändern, scharlachroten Umhängen und karmesinroten Samtkappen die Straße entlang. Sie begaben sich zum Haus des Bürgermeisters und präsentierten die mit Wachssiegeln versehenen Empfehlungsbriefe, aus denen hervorging, daß sie keine Vagabunden waren und unter dem Schutz eines mächtigen Schirmherrn standen. In Stratford wären sie im Jahre 1569 in die Henley Street, in das Haus des Knaben, gekommen, und sie hätten ehrfurchtsvoll mit seinem Vater gesprochen, denn er war derjenige, der darüber entschied, ob man sie fortjagte oder es ihnen gestattete, die Zettel, auf denen sie ihre Aufführungen ankündigten, anzuschlagen.
Die erste Vorstellung nannte man das Bürgermeisterspiel, und sie war gewöhnlich für alle, die da kamen, umsonst. Vom Bürgermeister von Stratford hätte man mit Sicherheit erwartet, daß er diese Vorstellung besuchte, denn es war sein Privileg, die Höhe der Belohnung festzusetzen, die aus dem Stadtsäckel zu zahlen war; man hätte ihn vermutlich mit großer Hochachtung empfangen und ihm einen der besten Plätze im Rathaussaal gegeben, in dem eine besondere Bühne errichtet worden war. Die Aufregung anläßlich dieses Ereignisses beschränkte sich nicht auf kleine Jungen. In städtischen Urkunden aus Stratford und anderen Orten ist regelmäßig davon die Rede, daß Fenster, Stühle und Bänke zu Bruch gingen, weil Scharen erregter Zuschauer sich darum rangelten, einen besseren Blick zu erhaschen.
Das waren festliche Ereignisse, die die Routine des Alltagslebens unterbrachen. Das durch diese Aufführungen hervorgerufene Gefühl einer Befreiung, die immer auch etwas von Grenzüberschreitung hatte, war der Grund, weshalb manche strengen städtischen Beamten die Schauspieler besonders in Zeiten von Mangel, Krankheit oder Aufruhr gelegentlich wegschickten und weshalb an Sonntagen oder in der Fastenzeit keine Aufführungen stattfinden durften. Doch selbst die puritanischsten Bürgermeister und Ratsherren mußten es sich zweimal überlegen, ob sie die Aristokraten, deren Gewänder die Spieler voller Stolz trugen, verärgern wollten. Schließlich knieten die Schauspieler am Ende jeder Vorstellung in einer dieser Landstädte feierlich nieder und baten alle Anwesenden, mit ihnen für ihren guten Herrn und Meister – oder, im Falle der Queen’s Men, für die große Elisabeth selbst – zu beten. Daher schickte man die Truppen, selbst wenn man ihnen eine Aufführung verbot, häufig mit einem Trinkgeld fort, bestach sie also gewissermaßen, damit sie den Ort verließen.
Wie aus den Urkunden hervorgeht, schickte John Shakespeare die Schauspieler nicht fort. Er ließ sie spielen. Hätte er aber seinen fünfjährigen Sohn zu der Aufführung mitgenommen? Andere Väter taten das mit Sicherheit. Ein Mann namens Willis, der im selben Jahr geboren war wie Will, erinnerte sich im Alter an ein (nicht überliefertes) Stück mit dem Titel The Cradle of Security, das er als Kind in Gloucester – 60 Kilometer von Stratford entfernt – gesehen hatte. Nach ihrem Eintreffen in der Stadt, schreibt Willis, hielten sich die Schauspieler an den üblichen Ablauf: Sie stellten sich dem Bürgermeister vor, setzten ihn davon in Kenntnis, welches Adligen Diener sie waren, und begehrten die Genehmigung für eine öffentliche Aufführung. Der Bürgermeister erteilte die Erlaubnis und wies die Truppe an, ihre erste Vorstellung vor den Ratsherren und anderen städtischen Beamten zu geben. »Zu solch einem Spiel«, erinnert sich Willis, »nahm mich mein Vater mit und ließ mich zwischen seinen Beinen stehen, während er auf einer der Bänke saß, wo wir sehr gut sehen und hören konnten.« Diese Erfahrung prägte sich Willis außerordentlich tief ein. »Der Anblick machte auf mich solchen Eindruck«, schreibt er, »daß er mir, als ich zum Manne herangewachsen war, noch gerade so frisch im Gedächtnis stand, als hätte ich ihn soeben aufgeführt gesehen.«
Das führt uns wahrscheinlich so nahe, wie es überhaupt nur möglich ist, an die Urszene der ersten Begegnung Wills mit dem Theater heran. Als der Bürgermeister den Saal betrat, hätten ihn alle begrüßt und mit ihm einige Worte gewechselt; als er seinen Platz einnahm, wäre die Menge in der Erwartung verstummt, daß sich gleich etwas Aufregendes und Angenehmes ereignen werde. Der Sohn, intelligent, aufgeweckt und feinfühlig, hätte zwischen den Beinen seines Vaters gestanden. Zum ersten Mal in seinem Leben sah sich William Shakespeare ein Theaterstück an.
Welches Stück brachten die Queen’s Men 1569 nach Stratford? Aus den Unterlagen geht das nicht hervor, und es ist vielleicht auch nicht wichtig: Der bloße Zauber des Agierens – die Schaffung eines imaginären Raumes, die kunstvollen Darstellungen, die sorgfältig gearbeiteten Kostüme, der Schwall gehobener Sprache – mag hingereicht haben, um den kleinen Jungen für immer zu fesseln. Es gab ohnehin mehr als eine Gelegenheit, bei der sich der Zauber entfalten konnte. Weitere Schauspieltruppen kamen nach Stratford – 1573 beispielsweise, als Will neun Jahre alt war, die Earl of Leicester’s Men, und 1575, als er elf war, die Earl of Warwick’s sowie die Earl of Worcester’s Men –, und jedesmal könnte sich die erregende Wirkung, die ursprünglich durch das Gefühl des Kindes für die Bedeutung und Macht seines Vaters erhöht wurde, erneuert und verstärkt haben, wobei die geschickten Kunstgriffe als kostbare Erinnerungen bewahrt wurden.
Shakespeares Zeitgenosse Willis erinnerte sich jedenfalls sein Leben lang an das, was er in Gloucester gesehen hatte: einen König, den drei verführerische Damen von seinen nüchternen, frommen Ratgebern fortlockten. »Zum Schluß brachten sie es fertig, daß er sich in eine Wiege auf der Bühne legte, wo diese drei Damen, die miteinander ein liebliches Lied anstimmten, ihn in den Schlaf wiegten, daß er wieder schnarchte; und währenddessen schafften sie unter den Tüchern, mit denen er zugedeckt war, heimlich eine Maske, wie eine Schweineschnauze, auf sein Gesicht, an der drei Drahtketten befestigt waren, deren anderes Ende je eine dieser drei Damen hielt; die wieder zu singen anfingen und dann sein Gesicht aufdeckten, daß die Zuschauer sahen, wie sie ihn verwandelt hatten.« Das Publikum muß das sehr aufregend gefunden haben. Manche von den Älteren erinnerten sich wahrscheinlich noch an das Schweinsgesicht Heinrichs VIII., und alle Anwesenden wußten, daß sie nur unter ganz besonderen Umständen öffentlich miteinander den Gedanken teilen konnten, daß der Monarch ein Schwein sei.
Der junge Will hat wahrscheinlich etwas Ähnliches gesehen. Bei den Stücken, die in den 1560er und 1570er Jahren im Repertoire waren, handelte es sich größtenteils um »Moralitäten« oder »moralische Interludien«, säkulare Predigten, die die schrecklichen Konsequenzen von Ungehorsam, Faulheit oder Ausschweifung vor Augen führen sollten. Typischerweise wendet sich eine Figur – eine personifizierte Abstraktion mit einem Namen wie Menschheit oder Jugend – von einem rechtschaffenen Führer wie Ehrliche Erquickung oder Tugendsames Leben ab und verbringt jetzt ihre Zeit mit Unwissenheit, Geldgier oder Schwelgerei:
Hussa, hussa! Wer ruft mich da? Ich bin Schwelgerei voller Allotria. Mein Herz ist leicht wie der Wind, Und nur nach Schwelgen steht mir der Sinn.
(The Interlude of Youth)
Von da an geht es rasch bergab – der Verführer Schwelgerei stellt den Helden Jugend seinem Freund Stolz vor, Stolz macht ihn mit seiner bezaubernden Schwester Wollust bekannt, Wollust lockt ihn in die Schenke –, und es sieht so aus, als werde alles ein schlimmes Ende nehmen. Manchmal geht es tatsächlich schlecht aus – in dem Stück, das Willis sah, wird der König, den man in ein Schwein verwandelt hat, fortgebracht, um von bösen Geistern bestraft zu werden –, aber häufiger kommt es vor, daß etwas geschieht, das gerade noch rechtzeitig das schlummernde Gewissen des Helden weckt. In The Interlude of Youth erinnert Nächstenliebe den Sünder an das große Geschenk, das Jesus ihm gemacht hat, sie befreit ihn von Schwelgereis Einfluß und bringt ihn wieder in die Gesellschaft von Demut. In The Castle of Perseverance rührt Buße das Herz des Helden Menschheit mit ihrer Lanze an und errettet ihn von seinen bösen Begleitern, den sieben Todsünden. In Wit and Science wird der Held Witz, der im Schoß von Faulheit schläft, in einen Narren samt Kappe und Schellen verwandelt, aber er wird gerettet, als er sich in einem Spiegel erblickt und ihm klar wird, daß er »wie ein richtiger Esel« aussieht. Erst nachdem Scham ihn scharf gegeißelt hat und er von einer Gruppe strenger Lehrer – Unterweisung, Studium und Sorgfalt – unterrichtet worden ist, erhält Witz sein eigentliches Aussehen zurück und ist in der Lage, seine Hochzeit mit der Dame Wissenschaft zu feiern.
Diese erbarmungslos didaktischen und oft ungeschickt geschriebenen Moralitätenspiele wirkten irgendwann altmodisch und primitiv – jede Zusammenfassung, die man von ihnen gibt, läßt sie langweilig erscheinen –, aber sie waren lange Zeit und noch bis in Shakespeares Jugendjahre hinein populär. Ihre Mischung aus Moralisieren und überschäumender theatralischer Energie erfreute ein eindrucksvolles Spektrum von Zuschauern, von den Ungebildeten bis hin zu den Kultiviertesten. Wenn sie sich auch wenig oder gar nicht für psychologische Details oder soziale Strukturen interessierten, besaßen sie doch oft die Schläue der Volksweisheit sowie eine starke Tendenz zu subversivem Humor. Dieser Humor konnte die Form eines Königs mit einer Schweineschnauze annehmen, aber häufiger konzentrierte er sich in der Standardfigur, die gewöhnlich Vice, das Laster, hieß. Dieser spottende, plappernde Schadenstifter – der in verschiedenen Interludien Namen wie Schwelgerei, Niedertracht, Dreistigkeit, Faulheit, Unordnung, Böser Wille und sogar, in einem bemerkenswerten Fall, Bauernverächter trägt – verkörperte den Geist der Bosheit und zugleich den Geist des Komischen. Das Publikum wußte, daß er zum Schluß besiegt und mit Schlägen oder Feuerwerkskörpern von der Bühne vertrieben werden würde. Doch für eine Weile hüpfte er umher, verachtete die Bauern, beleidigte die ehrwürdigen Vertreter von Ordnung und Frömmigkeit, spielte den Arglosen Streiche, heckte Schabernack aus und lockte die Unschuldigen in Schenken und Bordelle. Das Publikum liebte so etwas.
Als Shakespeare daranging, für die Londoner Bühne zu schreiben, griff er auf dieses ziemlich schwache Unterhaltungsgenre zurück, das ihm als Kind gefallen haben muß. Aus diesen Stücken lernte er, vielen seiner Figuren sprechende Namen zu geben, wie sie etwa die Huren Dortchen Lakenreißer und Hanne Nachtrüstig sowie die Gerichtsdiener Schlinge und Klaue in Heinrich IV., Zweiter Teil oder der betrunkene Junker Tobias von Rülp und der puritanische Malvolio (»Böswill«) in Was ihr wollt tragen. In seltenen Fällen geht er noch weiter und bringt direkt personifizierte Abstraktionen auf seine Bühne – in Heinrich IV., Zweiter Teil, das Gerücht in einem Gewand, das ganz mit Zungen bemalt ist, im Wintermärchen die Zeit, die ein Stundenglas trägt. Überwiegend war jedoch die Abhängigkeit seiner Werke von den Moralitäten indirekter und unterschwelliger. Er nahm die Wirkung dieser Stücke früh in sich auf, und sie trugen dazu bei, die weitgehend unter der Oberfläche verborgenen Fundamente seiner schriftstellerischen Kunst zu legen. Diese Kunst baut auf zwei entscheidenden Erwartungen auf, die die Moralitäten ihren Zuschauern einflößten: Das war erstens die Erwartung, daß sich ein sehenswertes Drama mit Dingen befaßte, die für das menschliche Schicksal von zentraler Bedeutung sind; und zweitens die Erwartung, daß es nicht nur einen ausgesuchten Kreis der gebildeten Elite, sondern auch die große Masse der einfachen Leute ansprach.
Von den Moralitäten übernahm Shakespeare zudem bestimmte Elemente seines dramaturgischen Könnens. Sie halfen ihm dabei zu verstehen, wie die theatralische Aufmerksamkeit auf das seelische, moralische und geistige Leben seiner Figuren wie auch auf ihr äußeres Verhalten zu konzentrieren war. Sie halfen ihm dabei, physische Sinnbilder dieses inneren Lebens zu schaffen, wie es etwa der verdorrte Arm und der Buckel sind, die das unehrliche Wesen Richards III. kennzeichnen. Sie halfen ihm zu begreifen, wie er Stücke ausgehend von dem Kampf um die Seele eines Protagonisten konstruieren sollte: Prinz Hal im Spannungsfeld zwischen seinem nüchternen, besorgten, berechnenden Vater und dem unverantwortlichen, verführerischen, verwegenen Falstaff; der Statthalter Angelo in Maß für Maß, dem die Zügel der Macht überlassen werden und den sein Herr, der Herzog, auf die Probe stellt; Othello, der zwischen seinem Glauben an die himmlische Desdemona und den obszönen Andeutungen des dämonischen Jago hin- und hergerissen wird. Und vor allem halfen sie ihm dabei, eine Quelle für eine theatralisch überzeugende und subversive Figur der Bosheit zu finden.
Laster, die große subversive Gestalt der Moralitäten, lag Shakespeares schöpferischem Geist nie sehr fern. Mit einer Mischung aus Zuneigung und Argwohn spricht Hal von Falstaff als »dem würdevollen Laster, der grauen Ruchlosigkeit«, der urkomische, boshafte Richard III. vergleicht sich selbst mit dem »[altehrwürdigen Laster, der Ruchlosigkeit]«, und Hamlet beschreibt seinen verschlagenen, usurpatorischen Onkel als »[Laster unter den Königen]«. Das Wort Laster braucht gar nicht direkt erwähnt zu werden, um den Einfluß deutlich zu machen: Der »wackre Jago« beispielsweise mit seinen Allüren von Kameraderie, seinen schlauen Witzen und dem offenen Eingeständnis von Gemeinheit ist dieser Figur stark verpflichtet. Es ist kein Zufall, daß sein diabolischer Anschlag gegen Othello und Desdemona die Form einer unerträglich grausamen Version der Streiche annimmt, die sonst Laster spielte.
Auf den ersten Blick mag es seltsam erscheinen, daß sich der liebenswürdige Falstaff in Gesellschaft von kaltherzigen Mördern wie Claudius und Jago wiederfinden soll. Doch Shakespeare lernte aus den Moralitätenspielen noch etwas anderes, das für seine Kunst wesentlich war: Er lernte, daß die Grenze zwischen Komödie und Tragödie überraschend durchlässig ist. In Gestalten wie dem Mohr Aaron (dem schwarzen Bösewicht in Titus Andronicus), Richard III. und dem Bastard Edmund in König Lear beschwört Shakespeare eine bestimmte Art von Erregung herauf, die er erstmals als Kind gehabt haben muß, als er in Stücken wie The Cradle of Security und The Interlude of Youth die Gestalt des Lasters beobachtete: das prickelnde Gefühl einer Furcht, die mit Lust an der Übertretung verflochten war. Laster, die personifizierte Bosheit, wird am Schluß des Stückes angemessen bestraft, aber während eines großen Teils der Vorstellung gelingt es ihm, die Zuschauer für sich einzunehmen, und die Phantasie geht für kurze Zeit mit ihnen durch.
Die Verfasser der Moralitäten waren der Ansicht, sie könnten die umfassende Wirkung, die sie zu erreichen suchten, dadurch erhöhen, daß sie ihre Gestalten aller zufälligen Merkmale entkleideten und zu ihrem Wesen vorstießen. Sie glaubten, auf diese Weise würden ihre Zuschauer nicht von den unwichtigen Details individueller Identitäten abgelenkt werden. Shakespeare begriff, daß das Schauspiel des menschlichen Schicksals in Wirklichkeit weitaus überzeugender war, wenn man es nicht mit verallgemeinerten Abstraktionen, sondern mit bestimmten, benannten Menschen verknüpfte, die mit beispiellos eindringlicher Individuation wiedergegeben waren: nicht Jugend, sondern Prinz Hal, nicht Jedermann, sondern Othello.
Um diese Eindringlichkeit zu erreichen, mußte sich Shakespeare von den alten Moralitätenspielen ebensosehr befreien, wie er sie umarbeiten mußte. Er nahm sich die Freiheit, viele Aspekte dieser Stücke völlig aufzugeben und andere in einer Weise zu verwenden, die sich deren Verfasser nie hätten vorstellen können. Zuweilen verstärkte er die Furcht erheblich: Jago ist unendlich beunruhigender – und wirksamer – als Neid oder Schwelgerei. In anderen Fällen verstärkte er das Gelächter erheblich: Die Betrügerei und die Freude an der Verwirrung, die für Laster charakteristisch sind, kehren bei Puck im Sommernachtstraum wieder, aber die Bosheit ist völlig verblaßt, und nur der Schabernack ist geblieben. Und auch wenn der Eselskopf, der Zettel aufgesetzt wird, frappierend an die Schweineschnauze erinnert, die dem Gesicht des Königs angeheftet wird, ist doch die schwere Last der moralischen Unterweisung gänzlich aufgehoben. Gewiß ist Zettel eselhaft, aber um dies zu enthüllen, bedarf es keiner magischen Verwandlung. Ja, was enthüllt wird, ist nicht so sehr seine Torheit – er erfährt nicht einen einzigen Augenblick der Verlegenheit oder Scham, und seine Freunde lachen ihn nicht aus – als vielmehr seine Unerschrockenheit. »Sie wollen einen Esel aus mir machen«, erklärt der eselsköpfige Zettel beherzt, als seine Freunde alle vor Entsetzen über sein Aussehen fortgelaufen sind, »mich fürchten machen, wenn sie können. Aber ich will hier nicht von der Stelle, laß sie machen, was sie wollen.« Über die leidenschaftliche Liebeserklärung der Elfenkönigin ist er überrascht, aber er wird mit ihr spielend fertig – »Mich dünkt, Madam, Sie könnten dazu nicht viel Ursache haben. Und doch, die Wahrheit zu sagen, halten Vernunft und Liebe heutzutage nicht viel Gemeinschaft« –, und ihm behagt sein neuer Körper vollends: »Mir ist, als hätte ich großen Appetit nach einem Bunde Heu; gutes Heu, süßes Heu hat seinesgleichen auf der Welt nicht.« Als ihm schließlich der Eselskopf abgenommen wird, erfährt er keine moralische Erweckung; vielmehr blickt er die Welt, wie Puck es formuliert, wieder aus seinen eigenen dummen Augen an.
Hier und während seiner gesamten Laufbahn warf Shakespeare die Frömmigkeit, welche die Stücke gekennzeichnet hatte, die er aus seiner Jugend kannte, gänzlich über Bord. Die Grundstruktur jener Theaterstücke war religiös. Daher gipfelten sie häufig in einem Augenblick der Erleuchtung, der die Erlösung des Protagonisten signalisierte, einer Erleuchtung, die über den Alltag und das Vertraute hinaus auf eine Wahrheit verwies, die höher war als sterbliche Vernunft. So heißt es bei Paulus in seinem ersten Brief an die Korinther – Worte, die Shakespeare und seinen Zeitgenossen aus endlosen Wiederholungen in der Kirche zutiefst vertraut waren: »Was kein Auge gesehen hat und kein Ohr gehört hat und in keines Menschen Herz gekommen ist«, das hat Gott bereitet. »Ich habe ein äußerst rares Gesicht gehabt«, beginnt Zettel, als er seine menschliche Gestalt zurückerhalten hat. Und das versucht er dann in einer Reihe von stoßweisen Anläufen zu schildern:
Ich hatte ’nen Traum – ’s geht über Menschenwitz zu sagen, was es für ein Traum war. Der Mensch ist nur ein Esel, wenn er sich einfallen läßt, diesen Traum auszulegen. Mir war, als wär ich – kein Menschenkind kann sagen, was. Mir war, als wär ich, und mir war, als hätt ich – aber der Mensch ist nur ein geflickter Hanswurst, wenn er sich unterfängt zu sagen, was mir war, als hätt ich’s; des Menschen Auge hat’s nicht gehört, des Menschen Ohr hat’s nicht gesehen, des Menschen Hand kann’s nicht schmecken, seine Zunge kann’s nicht begreifen und sein Herz nicht wiedersagen, was mein Traum war.
Dies ist der Witz eines entschieden säkularen Dramatikers, eines Schriftstellers, der geschickt den Traum von etwas Heiligem in populäre Unterhaltung verwandelte: »Ich will den Peter Squenz dazu kriegen, mir von diesem Traum eine Ballade zu schreiben; sie soll Zettels Traum heißen, weil sie so seltsam angezettelt ist, und ich will sie gegen Ende des Stücks vor dem Herzoge singen.« Der Witz holt weit aus – bis zum feierlichen Zeremoniell der Kanzel, bis zu den Stücken, die die professionellen Theatertruppen in die Provinz brachten, als Shakespeare ein Junge war, bis zu den Amateurschauspielern, die gröbere Fassungen dieser Stücke aufführten, und vielleicht bis zu dem jungen, ungeschickten Shakespeare selbst, der von Visionen erfüllt war, denen seine Zunge keine Gestalt geben konnte, und der darauf brannte, alle Rollen zu übernehmen.
Es muß in Wills häuslichem Leben viele solche Augenblicke gegeben haben. Der ganz kleine Junge könnte Familie und Freunde damit unterhalten haben, daß er das nachahmte, was er auf der Bühne im Stratforder Rathaus oder im rückwärtigen Teil des Wagens der reisenden Schauspieler gesehen hatte. Und als er älter und unabhängiger wurde, waren seine Kontakte zur Schauspielerei nicht auf Stratford beschränkt. Die Wandertruppen reisten kreuz und quer durch Mittelengland, sie spielten in Nachbarstädten und in Gutshäusern. Ein Jugendlicher, der auf die Bühne versessen war, hätte die meisten großen Schauspieler seiner Zeit im Umkreis einer Tagereise von seiner Heimatstadt in Aktion sehen können.
Das Theaterleben in der Region war keineswegs nur darauf angewiesen, daß professionelle Truppen zu Besuch kamen. Städte in der Nachbarschaft Stratfords wie auch in anderen Landesteilen kannten jahreszeitliche Feste, bei denen die Mitglieder von Zünften und Bruderschaften Kostüme anzogen und in traditionellen Schauspielen auftraten. Einen Nachmittag lang stellten sich einfache Leute – Zimmerleute, Kesselflicker, Flötenmacher und dergleichen – vor ihren Nachbarn als Könige und Königinnen, als Wahnsinnige und Dämonen dar. In dem etwa 30 Kilometer entfernten Coventry ging es besonders lebhaft zu. Als Will jung war, könnte man ihn dorthin mitgenommen haben, damit er sich das Hock-Tuesday-Spiel ansah. Mit Hock Tuesday, dem zweiten Dienstag nach Ostern, begann traditionell die Sommerhälfte des ländlichen Jahres, und dieser Tag wurde an vielen Orten damit gefeiert, daß Frauen Passanten mit Stricken banden und Geld als Almosen verlangten. In Coventry begingen die Männer und Frauen das Fest auf besondere Weise: Sie inszenierten ein wüstes Spiel zur Erinnerung an ein Massaker, das die Engländer in alter Zeit an den Dänen verübt hatten, ein Ereignis, bei dem englische Frauen angeblich besondere Tapferkeit bewiesen hatten. Die Jahr für Jahr wiederholte Aufführung genoß in der Gegend beträchtlichen Ruhm und mag unter anderem auch die Familie Shakespeare als Zuschauer angezogen haben.
Ende Mai oder im Juni, in der Zeit der langen, lauschigen Dämmerabende, könnten sie auch die großen, jährlich veranstalteten Fronleichnamsspiele gesehen haben, eine Folge von Szenen, in denen das gesamte Schicksal der Menschheit von der Schöpfung und dem Sündenfall bis zur Erlösung dargestellt wurde. Diese Zyklen, die zu den großen Leistungen des mittelalterlichen Dramas gehören, hatten sich in Coventry und in mehreren anderen englischen Städten bis ins späte 16. Jahrhundert erhalten. Ursprünglich mit einer großen Prozession zu Ehren der Eucharistie verbunden, stellten sie bedeutende Unternehmungen der Bürgerschaft dar, an denen eine große Anzahl von Menschen beteiligt war und für die erhebliche Mittel aufgewendet wurden. An verschiedenen Stellen in der Stadt wurde, gewöhnlich auf eigens errichteten Gerüsten oder Wagen, jeweils ein Teil des Zyklus – die Geschichte Noahs, der Engel der Verkündigung, die Auferweckung des Lazarus, Jesus am Kreuz, die drei Marien am Grabe und so fort – von frommen (oder einfach überschäumend theaterbegeisterten) Städtern aufgeführt. Bestimmte Zünfte übernahmen gewöhnlich die Kosten und die Verantwortung für die einzelnen Teile des Zyklus, wobei es manchmal besondere Beziehungen gab: Die Schiffbauer gaben Noah, die Goldschmiede die drei Könige, die Bäcker das Abendmahl und die Nadelmacher die Kreuzigung.
Protestantische Reformatoren standen diesen Dingen verständlicherweise feindselig gegenüber, denn sie hatten den Wunsch, die traditionelle katholische Kultur und ihre Rituale, aus denen diese Umzüge hervorgegangen waren, abzuschaffen; sie machten sich dafür stark, den Darbietungen ein Ende zu bereiten. Doch die Zyklen waren nicht explizit katholisch, sie wurden von den Bürgern mit großem Stolz und Vergnügen gepflegt, und so hielten sie sich ungeachtet allen Widerstands bis in die 1570er und 1580er Jahre. Im Jahre 1579, als Will 15 war, könnten er und seine Familie sie immer noch in Coventry aufgeführt gesehen haben. Etwas von ihrer Kraft – die Art und Weise, in der sie eine Gemeinschaft von Zuschauern schufen, ihr zuversichtlicher Glaube, daß sich alle Dinge im Himmel und auf Erden auf der Bühne darstellen lassen, ihre köstliche Mischung aus Hausbackenheit und Begeisterung – hinterließ bei ihm seine Spuren.
Diese Ereignisse waren besonders spektakuläre Beispiele saisonaler Festlichkeiten, die Wills Gefühl für das Jahr prägten und sein späteres Theaterverständnis beeinflußten. Viele der traditionellen Feiertage waren Angriffen zum Opfer gefallen, sowohl von seiten derer, die der Meinung waren, der Kalender biete den arbeitenden Menschen allzu viele Gelegenheiten zum Spiel, als auch von seiten derer, die glaubten, in bestimmten Bräuchen gebe es Anklänge an Katholizismus oder Heidentum. Den Moralisten und den religiösen Reformern war es freilich noch nicht gelungen, das Festjahr so zu disziplinieren, daß nur noch erbarmungslose Nüchternheit übrigblieb. »Auf einer Reise von London nach Hause kam ich einmal an einen Ort geritten«, schreibt 1549 der große protestantische Bischof Hugh Latimer,
und über Nacht sandte ich die Kunde in die Stadt, daß ich am Morgen dort predigen würde, weil es Feiertag war … Die Kirche stand an meinem Wege, und ich nahm mein Pferd und meine Begleitung und begab mich dorthin. Ich dachte, ich hätte in der Kirche eine große Versammlung finden sollen, und als ich dorthin kam, war die Kirchentür fest verschlossen. Ich harrte dort eine halbe Stunde und länger aus, schließlich fand man den Schlüssel, und einer aus dem Kirchspiel kommt zu mir und sagt: »Sir, das ist bei uns ein geschäftiger Tag, wir können Euch nicht anhören, es ist Robin Hood’s Day. Die Gemeinde ist fortgegangen, um sich zu Robin Hood zu versammeln.« … Ich war dort genötigt, Robin Hood zu weichen.
Wahrscheinlich war es ein traditionelles Maispiel, das die Gemeinde an jenem Tag beschäftigte – am Maifeiertag gedachten die Menschen seit langem in wilden, häufig obszönen Ritualen der Sage von Robin Hood.
34 Jahre später wiederholt der jähzornige Polemiker Phillip Stubbes diese Klage:
Im Mai, zu Pfingsten oder zu einer anderen Zeit gehen die jungen Männer und Frauen, die alten Männer und Weiber alle und streifen über Nacht in den Wäldern umher, … und dort verbringen sie die ganze Nacht mit angenehmem Zeitvertreib, und am Morgen kehren sie zurück und bringen Birkenreiser und Baumäste mit … Doch die größte Kostbarkeit, die sie von dort heimbringen, ist ihr Maibaum, den sie mit großer Ehrerbietung auf folgende Weise nach Hause holen: Sie haben 20 oder 40 Joch Ochsen, und jeder Ochse trägt an seinen Hornspitzen hübsche Blumensträußchen; und diese Ochsen ziehen diesen Maibaum (oder vielmehr diesen stinkenden Abgott) nach Hause, welcher ganz von Blumen und Kräutern bedeckt, von oben bis unten rings mit Schnüren umwunden und manchmal mit verschiedenen Farben bemalt ist, wobei zwei- oder dreihundert Männer, Frauen und Kinder ihm mit großer Andacht nachfolgen. Und wenn er so mit Tüchern und Flaggen, die auf der Spitze wehen, aufgerichtet wird, bestreuen sie den Boden um ihn her, binden grüne Zweige daran, errichten Lusthäuser und Lauben dicht daneben. Und dann fangen sie an, rings um ihn zu tanzen, wie es das heidnische Volk bei der Weihe der Abgötter tat, wovon dies ein vollkommenes Abbild ist, oder vielmehr die Sache selbst.
Stubbes schrieb dies 1583, als Will 19 Jahre alt war. Selbst wenn in seiner Darstellung die Verbreitung und die Vitalität der alten Volksbräuche mürrisch übertrieben werden – und das waren Bräuche, deren Attraktivität trotz Stubbes’ frommen Entsetzens deutlich wird –, handelte es sich dabei doch nicht um eine Erfindung von ihm: Traditionelle Festlichkeiten standen zwar fortwährend unter Beschuß, aber sie hielten sich bis zum Ende des 16. Jahrhunderts und darüber hinaus.
Was hätte Will alles zu Gesicht bekommen können, als er in Stratford und dessen ländlicher Umgebung aufwuchs? Männer, Frauen und Kinder, die um einen mit Bändern und Girlanden geschmückten Maibaum tanzten, das Gesicht von Vergnügen gerötet. Ein derbes Robin-Hood-Spiel mit einem betrunkenen Bruder Tuck und einer lüsternen Maid Marion. Eine junge Frau, die mit Blumengirlanden als Maikönigin geschmückt war. Ein als Bischof verkleideter kleiner Junge, der mit gespielter Ernsthaftigkeit die Straßen auf und ab stolzierte. Ein rülpsender, furzender Herr der Unordnung, der die Welt vorübergehend auf den Kopf stellte. Tage der verkehrten Welt, an denen Frauen Männern nachstellten und Schuljungen die Lehrer aus dem Klassenzimmer aussperrten. Fackelzüge mit Männern, die als Phantasietiere, wodewoses (»Wilde Männer«) und Riesen verkleidet waren. Hüpfende Moriskentänzer – benannt nach ihrer angeblich »maurischen« Herkunft – mit Schellen um Knie- und Fußgelenke, die mit Tänzern herumsprangen, die eine pferdegestaltige Korbkonstruktion namens hobby-horse trugen. Sackpfeifer, Trommler und buntgekleidete Narren, die Narrenzepter und Schweinsblasen trugen. Wettkämpfe im Trinken, Essen und Singen bei Schafschur- und Erntefesten. Am interessantesten vielleicht das Maskenspiel in der Weihnachtszeit, bei dem ein Irrer, seine fünf Söhne – Pickelhering, Blauhose, Pfefferhose, Ingwerhose und Mr. Gewürznelke – sowie eine Frau namens Kerbel (oder gelegentlich auch Maid Marion) auftraten. Der Irre kämpft zunächst mit dem hobby-horse und mit einem »wilden Wurm«, einem Drachen. Dann beschließen die Söhne, ihren Vater umzubringen: Sie verschränken ihre Schwerter um seinen Hals und zwingen ihn, niederzuknien und sein Testament zu machen, bevor sie ihn ins Jenseits befördern. Einer der Söhne, Pickelhering, stampft mit dem Fuß auf und erweckt den Vater wieder zum Leben. Das Stück – angesichts seiner jahreszeitlichen Veranlassung, seiner urtümlichen Rhythmen und seiner Gleichgültigkeit gegenüber jedem Realismus sollte man es vielleicht eher als Ritual bezeichnen – endet damit, daß Vater und Söhne gemeinsam um Kerbel werben und dann groteske Schwerttänze und Moriskentänze aufführen.
Diese Volksbräuche, die alle fest in Mittelengland verwurzelt waren, übten auf Shakespeares Phantasie eine bedeutende Wirkung aus und prägten sein Gefühl für das Theater noch mehr als die Moralitätenspiele, die mit den Wandertruppen in die Provinz kamen. Volkstümliche Kultur ist überall in seinem Werk gegenwärtig; im Gewebe der Anspielungen und in den zugrundeliegenden Strukturen. Die Liebenden, die sich im Sommernachtstraum in den athenischen Wäldern begegnen, erinnern an die Liebenden des Maifeiertages; der abgesetzte Herzog im Ardennerwald in Wie es euch gefällt hat Ähnlichkeiten mit Robin Hood; der betrunkene Junker Tobias und mehr noch Falstaff sind Herren der Unordnung, die die Verhältnisse auf den Kopf stellen; und als Königin des Festes leitet die girlandengeschmückte Perdita im Wintermärchen ein ländliches Schafschurfest samt tanzenden Bauernburschen und Maiden sowie einem schlauen, fingerfertigen Hausierer.
Der Verfasser des Wintermärchens schuf keine Volkskunst, und das machte er auf mancherlei Weise deutlich. Ein Schafschurfest, das auf der Bühne des Globe-Theaters als Teil einer kunstvollen Tragikomödie aufgeführt wurde, war nicht wirklich ein Schafschurfest; es war eine städtische Phantasie vom Landleben, von realistischen Elementen erfüllt, die Kenntnisreichtum verrieten, aber auch sorgfältig auf Distanz von seinen heimischen Wurzeln gehalten. Shakespeare war ein Meister dieser Distanzierung; er hatte zwar ein einfühlsames Verständnis für ländliche Bräuche, wußte aber auch zu zeigen, daß sie nicht mehr sein angestammtes Element waren. Die athenischen Liebenden halten sich nicht wirklich im Wald auf, um den Mai zu feiern; der abgesetzte Herzog hat nicht wirklich Ähnlichkeit mit Robin Hood; die Königin des Schafschurfestes ist keine Schäfertochter, sondern die Tochter eines Königs; und wenn ein alter, wahnsinniger Vater zum Gegenstand mörderischer Attacken seiner Kinder wird, dann geschieht das nicht in der grotesken Komödie des Maskenspiels, sondern in der erhabenen Tragödie König Lear. Niemand kann mit dem Fuß aufstampfen und Lear oder seine Tochter Cordelia wieder zum Leben erwecken. Junker Tobias und Falstaff kommen der Art und Weise, in der Herren der Unordnung wirklich funktionierten, näher – sie stellen tatsächlich für begrenzte Zeit Nüchternheit, Würde und Anstand auf den Kopf –, aber Shakespeare gab sich große Mühe, sie zu schildern, nachdem ihre unordentliche Herrschaft beendet war: »Was, ist dies eine Zeit zu Späßen und Possen?« ruft Prinz Hal voller Zorn und schleudert die Sektflasche nach Falstaff. »Nichts abscheulicher als so’n betrunkener Schlingel«, ächzt Junker Tobias, erschöpft und verkatert.
Die Art und Weise, in der sich Shakespeare distanzierte, hatte indes nichts Defensives an sich, es gab bei ihm kein störrisches Beharren auf seiner Kultiviertheit oder Bildung, keine bewußte Hinwendung zum Städtischen oder Höfischen. Er war tief im ländlichen Leben verwurzelt. So gut wie alle seine nahen Verwandten waren Bauern, und in seiner Kindheit verbrachte er ganz sicher viel Zeit in ihren Obst- und Gemüsegärten, in den umliegenden Feldern und Wäldern und in kleinen ländlichen Weilern mit ihren traditionellen Jahreszeitenfesten und Volksbräuchen. Als er älter wurde, nahm er anscheinend alles, was diese ländliche Welt charakterisierte, in sich auf, und er versuchte in der Folge nicht, sich von ihr loszusagen oder sich als etwas anderes auszugeben als der, der er war. Der gebildete elisabethanische Literaturkritiker Puttenham schreibt hochnäsig von »Knaben oder Burschen vom Lande«, die mit Vergnügen den alten Romanzen blinder Harfenspieler und Wirtshaussänger lauschten und sich an den Liedern erfreuten, die zum Weihnachtsschmaus und bei Hochzeitsfeiern gesungen wurden. Will war ziemlich sicher einer dieser Burschen vom Lande. Ihm war bei solchen Vergnügungen anscheinend nicht bange, auch wenn er sich später in Kreisen bewegte, die sich über ihren ländlichen Charakter lustig machten. Er nahm sie einfach mit nach London, als seinen Besitz, den er verwenden konnte, so viel oder so wenig es ihm gefiel.
Daß man ihn als Gentleman betrachtete, war Shakespeare alles andere als gleichgültig. Doch seine Sorge um seine soziale Stellung, seine Sehnsucht nach gesellschaftlichem Erfolg und seine Begeisterung für das Leben von Aristokraten und Monarchen führten nicht dazu, daß die Welt, aus der er kam, ausgeblendet wurde. Vielleicht liebte er diese Welt einfach viel zu sehr, als daß er irgendetwas davon aufgegeben hätte. Statt dessen verwendete er die Erfahrungen seiner Knabenzeit – wie er es praktisch mit all seinen Erfahrungen tat – als unerschöpfliche Quelle der Metapher.
Im zweiten Teil von Heinrich VI., einer seiner frühesten Historien (die um 1591 geschrieben ist), läßt Shakespeare den ehrgeizigen, hinterhältigen Herzog von York erklären, er habe den eigensinnigen kentischen Bauern John Cade zum Aufstand verleitet. »In Irland sah ich den unbänd’gen Cade« allein gegen einen Trupp Soldaten kämpfen, bemerkt York:
[Er] focht so lang, bis seine Schenkel fast Von Pfeilen starrten wie ein Stachelschwein; Und, auf die letzt gerettet, sah ich ihn Grad aufrecht springen wie [’n Moriskentänzer], Die blut’gen Pfeile schüttelnd wie die Glocken.
(III.1, 362–366)
Shakespeare selbst hatte aller Wahrscheinlichkeit nach nicht in den Kriegen gedient und nie die von Pfeilen durchbohrten Schenkel eines Soldaten gesehen, aber als Junge vom Lande hatte er nahezu sicher reichlich Stachelschweine mit scharfen Stacheln gesehen. Und höchstwahrscheinlich hatte er auch genügend Moriskentänzer zu Gesicht bekommen, die in einer Art Ekstase umherhüpften. Aus solchen Anblicken setzte er sein erstaunliches Bild des unaufhaltsamen Cade zusammen. Und, was noch wichtiger ist, aus der Ansammlung derartiger Anblicke, Klänge und Rituale konstruierte er sein Gefühl für die Magie des Theaters.
Doch nicht nur diese traditionellen volkstümlichen Rituale mit ihrem illusorischen, aber überzeugenden Anstrich von Zeitlosigkeit übten einen bedeutenden Einfluß auf seine Phantasie aus. Ein bestimmtes Ereignis aus seiner Nachbarschaft, das seinerzeit starke Beachtung fand, scheint seine Auffassung von Theater ebenfalls stark geprägt zu haben. Im Sommer 1575, als Will elf Jahre alt war, hatte sich die Königin auf einer ihrer Rundreisen nach Mittelengland begeben. Auf solchen Reisen, auf denen sie von einem riesigen Gefolge begleitet war, stellte sie sich, juwelenbedeckt wie eine byzantinische Ikone, ihrem Volk dar, sie inspizierte ihr Reich, empfing Tribute und trieb ihre Gastgeber nahezu in den Bankrott. Elisabeth, die diese Gegend bereits 1566 und dann noch einmal 1572 besucht hatte, war die höchste Herrin dieser Anlässe, und für die, die ihr begegneten, war sie faszinierend und schrecklich zugleich. 1572 wurde sie offiziell von Edward Aglionby, dem Archivar von Warwick, begrüßt, einem örtlichen Würdenträger, den die Shakespeares wahrscheinlich kannten. Aglionby war ein gelehrter Mann und eine eindrucksvolle Gestalt, aber in Gegenwart der Königin zitterte er. »Komm her, kleiner Archivar«, sagte die Königin und hielt ihm die Hand zum Kuß hin. »Man hat mir gesagt, daß du Angst haben würdest, mich anzublicken oder so kühn zu sprechen; aber du hast dich nicht so sehr gefürchtet wie ich mich vor dir.« Niemand, am allerwenigsten der »kleine Archivar« selbst, hätte diese höfliche Fiktion aus dem Munde der Tochter Heinrichs VIII. geglaubt.
Den Höhepunkt der Rundreise von 1575 bildete ein neunzehntägiger Aufenthalt – vom 9. bis zum 27. Juli – in Kenilworth, auf dem Schloß Robert Dudleys, des Earl of Leicester, Günstling der Königin. Kenilworth liegt etwa 20 Kilometer nordöstlich von Stratford, das vermutlich ebenso wie die gesamte Region von den fieberhaften Vorbereitungen für den Besuch erfaßt worden war. John Shakespeare war damals als Ratsherr in Stratford eine zu unbedeutende Figur, als daß er den kunstvollen Vorführungen sehr nahe gekommen sein dürfte, die der Mann für die Königin inszenierte, den sie als ihre »Augen« bezeichnete, aber sicher ist es denkbar, daß er seinen Sohn Will mitnahm, um soviel wie möglich von den Schauspielen mitzubekommen: die großartige Ankunft der Königin, die von Sibylle, Herkules, der Dame des Sees und (auf lateinisch) einem sinnbildlichen Dichter mit Reden begrüßt wurde, Feuerwerk, ein Dialog zwischen einem Wilden Mann und Echo, eine Bärenhatz (ein »Sport«, bei dem Mastiffs einen Bären attackierten, der an einen Pflock gekettet war), noch mehr Feuerwerk, akrobatische Darbietungen, die ein Italiener vorführte, und kunstvolle Wasserspiele.
Leicester, der sich der Gunst der Königin nicht mehr so sicher sein konnte und der diesen Besuch ganz eindeutig als eine Gelegenheit betrachtete, bei der nichts ausgelassen werden sollte, was ihr Vergnügen bereiten konnte, sorgte auch für eine Reihe von ländlichen Schauspielen. Diese Veranstaltungen entsprachen den pseudoauthentischen Kulturdarbietungen, die in unserer Zeit für zu Besuch weilende Würdenträger oder reiche Touristen veranstaltet werden: ein brideale – eine altmodische Hochzeitsfeier mit einem Moriskentanz; eine Quintana – eine Art Zielreiten; und das traditionelle Hock-Tuesday-Spiel aus Coventry. Derartigen Volksbelustigungen galten die Attacken von Moralisten und strengen Reformatoren, und darüber war sich Leicester völlig im klaren. Ebenso wußte er, daß die Königin Freude an ihnen hatte, den puritanischen Kritikern dieser Veranstaltungen feindlich gesonnen war und einem Gesuch, die Spiele weiterführen zu dürfen, mit Wohlwollen begegnen würde.
Will hat vielleicht zugesehen, als diese Stücke seiner eigenen Regionalkultur für die großen Besucher auf die Bühne gebracht wurden. Zumindest dürfte er gehört haben, wie man die Ereignisse in liebevollem Detail schilderte, und er ist wahrscheinlich auch auf eine ausführliche schriftliche Schilderung gestoßen, die Robert Langham oder Laneham, ein niederer Beamter – »Sekretär der Ratszimmertür« –, in einem wunderbaren langen Brief von ihnen gegeben hat. Der Brief, der in einer wohlfeilen Ausgabe gedruckt wurde und weite Verbreitung fand, wäre für jeden eine nützliche Lektüre gewesen, der sich mit dem Versuch befaßte, die Königin zu unterhalten – und in diese Branche sollte Shakespeare schon bald gehen.
Langhams Brief läßt erkennen, daß die Aufführung des Hock-Tuesday-Spiels ein sorgfältig inszeniertes Stück Kulturpolitik war. Gewisse »gutherzige Männer aus Coventry«, angeführt von einem Maurer namens Captain Cox, hatten erfahren, daß ihr Nachbar, der Earl of Leicester, die Königin zu Gast hatte. Da sie wußten, daß ihm daran gelegen war, seine Herrscherin mit allen angenehmen Darbietungen »fröhlich und lustig« zu stimmen, reichten die Handwerker aus Coventry ein Gesuch ein, ihr altes Spiel von neuem aufführen zu dürfen. Sie waren der Ansicht, der Königin werde das Gedenken an das alte Massaker besondere Freude bereiten, da es zeige, »wie tapfer sich unsere englischen Frauen aus Liebe zu ihrem Land verhalten haben«. Dieser Appell an das besondere Interesse der Königin ist Teil einer defensiven Strategie, die Langham handlich zusammenfaßt: »Die Sache, sagten sie, beruht auf der Geschichte und pflegte zum Zeitvertreib alle Jahre in unserer Stadt gespielt zu werden, ohne schlechtes Beispiel für Manieren, Papisterei oder irgendeinen Aberglauben, und beschäftigte überdies so sehr die Aufmerksamkeit einer Anzahl von Leuten, die sonst womöglich schlimmere Gedanken gehabt hätten.« Die hier aufgestellten Behauptungen sind mit denen identisch, die zu Shakespeares Lebzeiten sowohl zur Rechtfertigung bestimmter Stücke als auch zur Verteidigung der Bühne schlechthin ständig wiederholt wurden: Das fragliche Stück hat eine historische Grundlage (»beruht auf der Geschichte«), es stellt eine traditionelle Form der Unterhaltung dar, es ist frei von ideologischer Verseuchung und Unmoral, und es lenkt Menschen von potentiell gefährlichen Plänen ab (»schlimmere Gedanken«). Das heißt, der Geist von Zuschauern, die sonst Unfug aushecken könnten – beispielsweise über Ungerechtigkeit nachdenken oder sich nach der alten Religion sehnen oder auf Rebellion sinnen –, wird auf gefahrlose Weise durch das Schauspiel des alten Massakers an den Dänen beschäftigt.
Worin bestand also das Problem? Weshalb mußte das Hock-Tuesday-Spiel, das »einen weit zurückreichenden Anfang und einen langen Bestand« hatte, überhaupt verteidigt werden? Weil es, wie die Handwerker einräumten, »vor kurzem aufgegeben« – sprich: verboten – worden war. Die Männer kratzten sich den Kopf und sagten, sie könnten das nicht ganz verstehen: »Sie wußten keinen Grund dafür.« Dann, als sei ihnen das plötzlich eingefallen, lieferten sie eine Erklärung: »Sofern es nicht auf den Eifer von einigen ihrer Prediger zurückging, von Männern, die in ihrem Verhalten und in ihrer Gelehrsamkeit sehr löblich waren und angenehm in ihren Predigten, aber etwas zu streng, ihnen ihren Zeitvertreib wegzupredigen.« Bei der Darbietung in Kenilworth ging es also nicht einfach darum, die Königin zu amüsieren; oder vielmehr war jeder Versuch, die Königin zu amüsieren, immer insgeheim mit einer bestimmten Zielsetzung verbunden. Hier bestand das Ziel darin, die Königin dazu zu veranlassen, Druck auf die örtliche Geistlichkeit auszuüben, sie möge ihre Kampagne gegen ein beliebtes lokales Fest einstellen: »Sie würden ihr demütiges Gesuch an Ihre Hoheit richten, daß sie ihre Spiele wieder aufführen dürften.«