Die Geschichte von Adam und Eva - Stephen Greenblatt - E-Book

Die Geschichte von Adam und Eva E-Book

Stephen Greenblatt

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Beschreibung

Das gefeierte Buch des Pulitzer-Preisträgers in einer Neuausgabe

Warum fasziniert uns die Geschichte von Adam und Eva noch heute? Unsere Vorstellungen vom Paradies, von Scham und Sünde, unsere Ideen von Gut und Böse und unser Frauenbild – wie sehr wurden sie von dieser Urerzählung geprägt? Bestsellerautor und Pulitzer-Preisträger Stephen Greenblatt widmet sich diesem mächtigsten aller Menschheitsmythen. In vielen Geschichten schildert er nicht nur das Erbe von Adam und Eva in der christlichen Kultur seit Augustinus und Dürer. Er zeigt uns auch, dass dieser Mythos eine existenzielle Frage berührt, die auch die moderne Wissenschaft nicht beantworten kann – was es nämlich heißt, ein Mensch zu sein.

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Seitenzahl: 807

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Stephen Greenblatt

Die

Geschichte von Adam

und Eva

Der mächtigste Mythos der Menschheit

Aus dem Englischen von Klaus Binder

Siedler

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel »The Rise and Fall of Adam and Eve« bei W. W. Norton & Company, New YorkCopyright © 2017 by Stephen GreenblattCopyright © 2018 by Siedler Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter St. 28, 81673 MünchenRedaktion: Andreas WirthensohnUmschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, MünchenUmschlagabbildung: Getty Images/Tony LathamSatz: Uhl + Massopust, AalenISBN 978-3-641-15971-9V005www.siedler-verlag.de

Für Eden und Isaiah

INHALT

Prolog: Im Gotteshaus

KAPITEL EINSWorauf es ankommt

KAPITEL ZWEIAn den Wassern zu Babel

KAPITEL DREITontafeln

KAPITEL VIERAdams und Evas Leben

KAPITEL FÜNFIn den Thermen

KAPITEL SECHSUrfreiheit, Ursünde

KAPITEL SIEBENEvas Verderben

KAPITEL ACHTInkarnationen

KAPITEL NEUNKeuschheit und ihre Misslichkeiten

KAPITEL ZEHNParadies und Revolte

KAPITEL ELFSie werden wirklich

KAPITEL ZWÖLFMenschen vor Adam

KAPITEL DREIZEHNDas Interesse erlahmt

KAPITEL VIERZEHNDarwins Zweifel

EPILOGIn den Wäldern von Eden

ANHANG

DANK

ANMERKUNGEN

BIBLIOGRAPHIE

REGISTER

BILDTEIL

ABBILDUNGSNACHWEISE

PROLOG: IM GOTTESHAUS

Damals, ich war noch ein Kind, erklärten mir meine Eltern, wir alle müssten während der Segenswünsche, mit denen der Sabbatgottesdienst seinen Abschluss findet, unseren Kopf neigen und den Blick so lange zu Boden richten, bis die feierlichen Worte des Rabbi gesprochen seien. Unbedingt, so sagten sie, müssten wir uns daran halten, denn in diesen Augenblicken schwebe Gott über unseren Köpfen, und niemand, der in Gottes Angesicht geschaut habe, werde dies überleben.

Ein Verbot, das mir nicht aus dem Kopf ging. In Gottes Angesicht schauen – müsste das, so fragte ich mich, nicht vielmehr das Herrlichste sein, was ein Mensch erleben konnte? Nichts von all dem, was ich in all den Jahren, die noch vor mir lagen, jemals sehen oder tun würde, könnte doch an diese erhabene Vision heranreichen. Ich kam zu einer folgenreichen Entscheidung: Ich würde meinen Blick heben und ich würde Gott sehen. Ja, das konnte verhängnisvoll werden, so viel hatte ich verstanden, aber der Preis war wohl nicht zu hoch. Meinen Eltern erzählte ich nichts von meinem Vorhaben, das wagte ich nicht, denn ich wusste, sie würden verzweifelt versuchen, mich davon abzubringen. Nicht einmal meinen älteren Bruder Marty weihte ich ein, er würde mein Geheimnis bestimmt verraten. So etwas konnte ich, das war klar, nur auf eigene Faust tun.

Einige Samstage verstrichen, bis ich meinen Mut zusammenhatte. Und so, eines Samstagmorgens, als ich so dastand mit gesenktem Haupt, überwand ich meine Todesangst. Langsam, ganz langsam, während der Rabbi die uralten Segnungen intonierte, hob ich den Blick. Leer, die Luft über meinem Kopf war völlig leer. Auch war ich, wie ich sah, keineswegs der Einzige, der seinen Blick durchs Gotteshaus schweifen ließ. Viele der Betenden schauten umher, blickten aus dem Fenster, machten Freunden sogar Zeichen, bewegten die Lippen zum lautlosen Gruß. Wut stieg auf in mir: »Sie haben mich belogen!«

Seither sind viele Jahre vergangen, und den naiven Glauben, der mich dazu brachte, mein Leben zu opfern für einen Blick auf Gott, habe ich nie zurückgewonnen. Etwas anderes allerdings lebte weiter in mir, quasi auf der anderen Seite der verlorenen Illusionen. Denn mein Leben lang blieb ich fasziniert von den Geschichten, die wir Menschen erfinden im Versuch, unserer Existenz einen Sinn zu verleihen, und mir wurde klar, dass es jämmerlich unpassend ist, von »Lüge« zu sprechen, wenn es um solche Erzählungen geht, um ihr Motiv wie um ihren Inhalt, mögen sie noch so phantastisch sein.

Wir Menschen können nicht leben ohne Erzählungen. Wir umgeben uns damit, erfinden sie im Schlaf, erzählen sie unseren Kindern, zahlen sogar dafür, dass uns Geschichten erzählt werden. Manche von uns haben aus dem Geschichtenerfinden einen Beruf gemacht. Und dann sind da noch einige wenige, mich eingeschlossen, die ihr ganzes Erwachsenenleben damit verbringen, Erzählungen zu ergründen, ihre Schönheit, ihre Macht, ihren Einfluss.

Dieses Buch ist die Lebensgeschichte einer der außergewöhnlichsten Erzählungen, die je erzählt wurden. Gott schuf Adam und Eva, den ersten Mann, die erste Frau, und er setzte sie, wie sie waren, nackt und ohne Scham, in einen Garten der Lüste. Und Gott sagte ihnen, von den Früchten aller Bäume dort dürften sie essen, nur eine Ausnahme gebe es. Auf keinen Fall dürften sie vom Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen essen; würden sie dies Gebot übertreten, so wären sie des Todes, noch am nämlichen Tag. Eine Schlange, das listigste unter den Tieren, verwickelte die Frau in ein Gespräch. Nein, erklärte sie der Frau, die Verletzung des göttlichen Gebots werde nicht zu ihrem Tod führen, werde ihnen vielmehr die Augen öffnen, sie zu Göttern machen, die wüssten, was gut ist und was böse. Eva glaubte der Schlange, sie aß von der verbotenen Frucht, gab auch Adam davon, der aß ebenfalls. Tatsächlich wurden ihnen die Augen geöffnet: Sie sahen, dass sie nackt waren, flochten also Feigenblätter zusammen und bedeckten ihre Blöße. Gott rief sie vor sich, fragte, was sie getan hätten. Und als sie ihre Tat gestanden, verkündete er verschiedene Strafen: Alle Schlangen sollten fortan auf dem Bauch kriechen müssen, alle Staub fressen ihr Leben lang; alle Frauen sollten hinfort ihre Kinder unter Schmerzen gebären und Verlangen spüren nach dem Mann, der aber ihr Herr sei; alle Männer schließlich sollten gezwungen sein, sich unter Schweiß und Mühen zu nähren, ihr Leben lang, bis sie wieder zur Erde würden, von der sie genommen seien. »Denn Staub bist du und zum Staub kehrst du zurück.« (Gen 2,19) Damit sie nicht auch von jenem anderen der besonderen Bäume aßen – dem Baum des Lebens – und somit unsterblich wurden, wurden die Menschen auf Gottes Geheiß aus dem Garten vertrieben. Bewaffnete Cherubim besetzten fortan dessen Pforte, um jeden Versuch zurückzukehren abzuwehren.

Die Geschichte von Adam und Eva, so wie sie zu Beginn des Buchs Genesis erzählt wird, hat über Jahrhunderte die Vorstellungen vom Ursprung und Schicksal der Menschen geprägt. Auf den ersten Blick würde man dieser Geschichte kaum zutrauen, dass sie solche Bedeutung gewinnen konnte. Die Vorstellungskraft eines leicht zu beeindruckenden Kindes, wie ich eines war, mochte sie beflügeln, Erwachsene dagegen würden, in der Vergangenheit wie in der Zukunft, die Kennzeichen ausufernder Imagination sofort erkennen: ein magischer Garten; ein nackter Mann und eine Frau, die auf eine Weise auf die Welt kamen, in der kein anderer Mensch je geboren wurde; Menschen, die in der Lage waren, zu sprechen und sich zu verhalten, ohne die verlängerte Kindheit, die doch ein Merkmal unserer Spezies ist; eine geheimnisvolle Todesdrohung, die ein gerade geschaffenes Wesen vermutlich gar nicht verstehen konnte; eine sprechende Schlange; ein Baum, der das Wissen von Gut und Böse zu bringen vermag; ein anderer, der ewiges Leben verleiht; übernatürliche Wächter mit flammenden Schwertern. Alles Fiktion, sie könnte fiktiver nicht sein, die Erzählung schwelgt in den Freuden der Illusion.

Und doch haben Millionen Menschen, darunter einige der feinsinnigsten, brillantesten Geister, die je gelebt haben, die biblische Erzählung von Adam und Eva als unverfälschte Wahrheit genommen. Und ungezählte unserer Zeitgenossen tun dies noch immer, allen gewichtigen Beweisen zum Trotz, die Geologie, Paläontologie, Anthropologie und Evolutionsbiologie beigebracht haben; sie akzeptieren diese Erzählung als historisch zutreffenden Bericht vom Ursprung unseres Universums, sehen sich selbst tatsächlich als Nachkommen der ersten Menschen im Garten Eden. Nur wenige Erzählungen waren derart weit verbreitet, nur wenige haben sich im Lauf der Weltgeschichte als derart haltbar erwiesen, als derart beharrlich, als derart betörend real.

KAPITEL EINSWORAUF ES ANKOMMT

GERADE EINMAL ANDERTHALB von 1078 Seiten der modernen Ausgabe der King-James-Bibel, die auf meinem Schreibtisch steht, nimmt sie ein, doch die Erzählung von Adam und Eva funktioniert großartig, wie von selbst. Wie geht das zu? Hat man sie mit fünf oder sechs Jahren gehört, vergisst man sie nie wieder. Noch die gröbste, die schematischste Karikatur macht sie augenblicklich präsent, vielleicht nicht in allen Einzelheiten, aber in den wesentlichen Konturen. Irgendetwas in den erzählerischen Aufbau Verwobenes bleibt hängen; sie ist im buchstäblichen Sinn unvergesslich.

Seitdem sie erzählt wird, in vielen langen Jahrhunderten, lagerte sich ein enormer Apparat an, Hilfsmittel aller Art; Lehrer wiederholten sie ohne Ende; Institutionen belohnten die Gläubigen und straften die Skeptiker; Intellektuelle trieben die Nuancen hervor und lieferten konkurrierende Deutungen, Lösungen für die Rätsel dieser Erzählung; Maler ließen sie lebendig werden. Die Erzählung selbst blieb ziemlich unberührt von diesen vielschichtigen Elaborationen. Oder anders gesagt: So ziemlich alles, was später auf die Erzählung folgte, scheint von ihrer schier unerschöpflichen Energie gezehrt zu haben, so als sei ihr Kern radioaktiv. Adam und Eva sind Sinnbild der sonderbaren, der unerschöpflichen Kraft, die dem innewohnt, was Menschen erzählen.

Aus Gründen, die verlockend und zugleich verdammt schwer zu fassen sind, dienten diese wenigen Verse aus einem uralten Buch als Spiegel, in dem wir offenbar die ganze lange Geschichte unserer Ängste und Sehnsüchte wahrnehmen. Sie waren beides, befreiend und zerstörerisch zugleich, ein Hymnus auf menschliche Selbstverantwortung und eine dunkle Fabel menschlicher Verworfenheit, eine Feier des Mutes und Anstiftung zu brachialer Misogynie. Das Spektrum der Reaktionen, die sie im Lauf einiger tausend Jahre bei unzähligen Individuen und Gemeinschaften hervorgerufen haben, ist frappierend.

Rabbinen aus alten Zeiten blickten in diesen Spiegel und versuchten, Gottes Absichten zu ergründen: Was waren die Menschen, dass der Schöpfer des Universums sich Gedanken machte um sie? Warum überhaupt wurden sie geschaffen? Über die Worte des heiligen Textes grübelnd,1 kamen sie zu dem Schluss, dass sich die ursprüngliche Weisung, »die Erde zu bebauen« (Gen 3,23), nicht auf landwirtschaftliche Arbeit beziehe; gemeint sei vielmehr das Studium, genauer: das Studium der Tora, mit dem die Rabbinen den Tag zubrachten und das sie als den erhabensten Zweck ihres Lebens ansahen.

Die frühen Christen hielten sich nicht weiter auf mit Adams ursprünglichen Studiengepflogenheiten, sie hielten sich an den niederschmetternden Verlust des Paradieses, den Adam mit seinem Ungehorsam verschuldet hatte. Was sich ihnen an tiefen Bedeutungen in der Erzählung spiegelte, hatte mit Sündhaftigkeit zu tun und mit deren Konsequenzen. Darin folgten sie Paulus, der die quälende, universelle und unausweichliche Tatsache des Todes zurückverfolgt hatte bis zu den Taten der ersten, vom Teufel zum Bösen verführten Menschen. Trost aber fanden die Christen in ihrem Glauben, dass ein neuer Adam – Jesus Christus – durch sein Leiden und Sterben den Schaden, den der alte Adam verursacht hatte, ungeschehen gemacht habe. Das höchste Opfer des Messias werde ihnen, so hofften sie inbrünstig, ermöglichen, die Unschuld, die sie verloren hatten, wiederzuerlangen und das Paradies zurückzugewinnen.

Die mufassireen des Islam (die Exegeten des Koran) wiederum beschäftigten sich weniger mit Adams Sündhaftigkeit als mit seiner Rolle als Gottes erstem Propheten. Der Koran, entstanden im 7. Jahrhundert u. Z., erinnert insofern an frühchristliche Texte, als er Satan (iblis) mit dem hochmütigen, hinterlistigen Engel gleichsetzt, der die ersten Menschen zum Ungehorsam verführt hat. Spätere Kommentatoren malten das aus: Nicht in Gestalt der Schlange sei der arglistige Versucher gekommen, sondern in der eines ungewöhnlich schönen Kamels:

Es hatte einen vielfarbigen Schwanz, rot, gelb, grün, weiß, schwarz, eine Mähne von Perlen, Haar aus Topas, Augen wie die Planeten Venus und Jupiter, und einen Duft nach mit Ambra gemischtem Most/Moder.2

Wegen ihrer Unzuverlässigkeit seien Adam und Eva aus dem Paradies vertrieben worden, darum müssten ihre Nachkommen stets auf der Hut sein: »O Kinder Adams, lasset Satan euch nicht verführen, (so) wie er eure Eltern aus dem Garten vertrieb …« (Sure 7, Vers 27) Gleichwohl wird die Verfehlung, die zur Vertreibung führte, in der islamischen Tradition als Irrtum verstanden und nicht als abscheulicher Frevel, der sich auf alle Nachgeborenen überträgt. Nach der Vertreibung übernimmt Adam die Rolle als Verwalter der Erde und als religiöser Lehrer. Er gilt in der islamischen Überlieferung als Mensch prophetischer Erleuchtung, der erste in einer Linie, die bis zu Mohammed führt, dem erhabensten der Propheten, der die Menschheit zurückgeleitet ins Licht Allahs.

Es war ein breites Aufgebot von Spezialisten, das in Spätantike, Mittelalter und Renaissance aus der Erzählung von Adam und Eva noch die letzten Bedeutungsschichten herauskitzelte. Sie ließen nicht locker, gaben dem Antrieb nach, sich in endlose Studien zu vertiefen, jeder Spielart des Bösen zu folgen, das sie in ihrer eigenen Brust verspürten; jedem reumütigen Impuls, ihr Fleisch abzutöten und ihren rebellischen Stolz zu bezähmen. Sie folgten aber auch ihrer Sehnsucht nach prophetischer Erleuchtung; gingen jedem Traum nach, träumten von völliger Reinwaschung am Ende aller Tage, von einer Rückkehr in ozeanische Glückseligkeit. In ihre Grübeleien über die Versuchungen des Fleisches verstrickt, durchkämmten Asketen die Verse nach Hinweisen, ob den ersten Menschen und ihrem Wunsch, sich fortzupflanzen, nicht doch andere Wege offengestanden hätten. Mediziner sannen nach über die gesundheitlichen Vorteile jener vegetarischen Kost, die die ersten Menschen im Paradiesgarten zu sich nahmen. Sprachforscher suchten zu ergründen, in welcher Sprache sich Adam und Eva unterhielten, stöberten nach Spuren, die diese Sprache hinterlassen haben könnte. Naturforscher fragten nach dem ökologischen Sinn einer verlorenen Welt, in der die Beziehungen zwischen Mensch und Tier so ganz andere waren als in unserer, in der sich die Umwelt in unwandelbar freundlicher Fülle zeigte. Jüdische und muslimische Rechtsgelehrte untersuchten die Erzählung auf religiöse Lehrinhalte und Rechtsvorstellungen. Philosophen aller drei monotheistischen Glaubensgemeinschaften erörterten die moralischen Lehren aus der Erzählung. Und in der christlichen Welt fühlten sich bildende Künstler aufgefordert, den menschlichen Körper darzustellen, in all seiner Glorie und all seiner Schande.

Vor allem aber kamen die einfachen Menschen – sie, die unter der Kanzel der Erzählung gelauscht hatten, die sie von Darstellungen an Kirchenwänden und Türen kannten, die sie von Eltern oder Freunden gehört hatten – wieder und wieder auf diese Erzählung zurück: wenn sie nämlich Antworten suchten auf die Rätsel und Fragen, die sie beschäftigten und verwirrten. Die Erzählung half zu erklären, spiegelte zumindest, was so beunruhigend war am Geschlechtsverkehr, an den Spannungen in der Ehe, an physischem Leiden und erschöpfender Arbeit, an niederschmetterndem Verlust und Trauer. Sie schauten auf Adam und Eva, und wie die Rabbinen, Priester und muslimischen Exegeten begriffen auch sie etwas ganz Entscheidendes über sich selbst.

Die Erzählung von Adam und Eva spricht uns alle an, sie handelt davon, wer wir sind, woher wir kommen, warum wir lieben, warum wir leiden. Ihr weiter Horizont scheint Teil ihrer Gestaltung. Drei großen Glaubenswelten dient sie als einer ihrer Grundsteine, geht zugleich aber jeder Religion voraus, zumindest behauptet sie das. Sie stellt dar, auf welch seltsame Weise sich unsere Gattung zu Arbeit, Sex und Tod verhält – zu Grundtatsachen des Daseins, die wir mit allen anderen Tieren gemeinsam haben; sie macht diese zum Gegenstand der Spekulation, so als wären sie miteinander verbunden, bedingt durch etwas, was wir getan haben; so als könnte andernfalls alles auch ganz anders gekommen sein.

Wir Menschen, so wird uns erzählt, sind einzigartig, geschaffen nach dem Bild Gottes, dem ähnlich, der unser Schöpfer ist. Gott hat uns damit zum Herrscher über alle anderen Arten eingesetzt, aber er gab uns auch etwas anderes: das Verbot, das gesetzt wurde, ohne Erklärung, ohne Rechtfertigung. Im Anbeginn der Zeiten war es nicht notwendig, dass unsere ersten Vorfahren dies Verbot verstanden; notwendig war allein, dass sie es befolgten, notwendig war ihr Gehorsam. Dass Adam und Eva nicht gehorchten, dass sie Gottes ausdrückliches Gebot verletzten, war Grund und Ursache all dessen, was im weiteren Leben unserer ganzen Gattung folgte, vom universellen Phänomen der Scham bis zum universellen Faktum unserer Sterblichkeit.

Ein Beharren auf der buchstäblichen Wahrheit der Erzählung – es soll real gewesen sein, dieses Paar Adam und Eva in einem realen Garten – wurde zu einem der Eckpfeiler christlicher Orthodoxie. Dies Beharren steht im Mittelpunkt auch meiner Begeisterung für die Erzählung von Adam und Eva. Auf welche Weise, welchen Wegen wird Erfundenes zu etwas derart zwingend Realem? Wie kann ein Standbild aus Stein zu atmen beginnen, wie eine hölzerne Puppe lernen, sich selbstständig zu bewegen, aufzustehen, zu tanzen, ohne dass irgendwer die Fäden zieht? Und was ist geschehen, wenn sich erfundene Figuren verhalten, als seien sie lebendig? Drohen ihnen, allein aus diesem Grund, Sterblichkeit und Tod?

Über Generationen mühten sich fromme Männer und Frauen ab, die Wahrheit eines theologischen Lehrsatzes zu erweisen, sie versuchten, die Erzählung vom nackten Paar und der sprechenden Schlange als durchweg wahre Darstellung der Ereignisse zu verstehen, die am Beginn des Lebens standen, wie wir es kennen. Zu dieser gewichtigen kollektiven Anstrengung beigetragen haben Philosophen, Theologen, Priester, Mönche und Visionäre, beteiligt waren auch Dichter und Künstler. Doch erst in der Renaissance – im Zeitalter Dürers, Michelangelos und Miltons –, mit den brillanten neuen Darstellungstechniken, gelang es, die ersten Menschen überzeugend real, ihre Geschichte tatsächlich lebendig erscheinen zu lassen.

Das war eine großartige Errungenschaft, einer der großen Triumphe der bildenden Kunst und Literatur, doch sie hatte, wie sich bald herausstellte, unerwartete Konsequenzen. Adam und Eva wurden zusammengebracht mit den umwerfend lebensechten Statuen, die Antiquitätenjäger in den Ruinen Griechenlands und Roms ausgruben. Sie wurden untersucht und bewertet nach moralischen Standards, die sich nicht nur auf längst Vergangenes bezogen, sondern auch auf die lebendige Gegenwart. Man verglich sie mit den Horden der gerade in beiden Amerika entdeckten nackten Männer und Frauen – mit Menschen, die erstaunlich immun schienen gegen die körperliche Scham, die nach dem Sündenfall doch alle Menschen verspüren sollten. Nun erschienen Adam und Eva real, und aus ebendiesem Grund ergaben sich schwierige Fragen: Wie hatten sie Sprache erworben am Anfang der Zeiten; wie waren ihre sexuellen Beziehungen, wie ihre Rasse, wie war das mit ihrer Sterblichkeit?

Dass man sie für so real hielt, ließ die Fragen, die sich immer schon um die uralte Schöpfungsgeschichte wanden, erneut aufkommen, drängender nun: Welcher Gott würde seinen Geschöpfen tatsächlich verbieten, den Unterschied von Gut und Böse zu erkennen? Wie hätten diese Geschöpfe das Gebot überhaupt befolgen können, wenn sie ebendas nicht wussten? Und was sollte die Androhung des Todes Menschen bedeuten, die doch den Tod noch nie erfahren hatten, also gar nicht wissen konnten, was in dieser Drohung steckte? Zweifler, die nicht aufhörten, solche Fragen zu stellen, bekamen die scharfen Reaktionen kirchlicher wie staatlicher Autoritäten zu spüren, doch wie sich zeigte, war es unmöglich, die Unruhe zu unterdrücken, die ihre Wurzeln genau darin hatte, dass es gelungen war, die mythischen ersten Menschen derart real erscheinen zu lassen. Mit Beginn der Aufklärung vervielfältigten sich die Zweifel noch und ließen sich gar nicht mehr unterdrücken. Denn nun, nach und nach, meldeten sich der klarsichtige Skeptizismus eines Spinoza, der durchdringende Blick eines Darwin, das spöttische Gelächter eines Mark Twain.

NATURHISTORISCHESAMMLUNGEN in aller Welt präsentieren stolz Objekte, die Holotypus genannt werden (das Wort setzt sich zusammen aus dem griechischen Wort holos für »ganz« und dem lateinischen typus für »Grundform«). Gemeint ist das Einzelexemplar, das zur Bestimmung einer ganzen biologischen Art gedient hat und das als solches auch allgemein anerkannt ist. Dies Einzelwesen, das man im Museum for Vertebrate Zoology der University of California in Berkeley vor sich hat, ist der für die gesamte wissenschaftliche Welt verbindliche Repräsentant der Molchart Triturus similans Twitty; dieser Schädel im Centre National d’Appui à la Recherche in N’Djamena, Tschad,ist der Holotypus für die ausgestorbene Hominidenart Sahelanthropus tchadensis. Das Bestimmen und Sammeln solcher Exemplare begann bereits im 18. Jahrhundert. Der Holotypus des Wolfs (Canis lupus), vom großen Zoologen und Botaniker Carl Linné 1758 beschrieben, befindet sich im Naturhistorischen Reichsmuseum (Naturhistoriska riksmuseet) in Stockholm, zusammen mit einer großen Zahl anderer Holotypen, die von Linné und seinen Schülern zum ersten Mal bestimmt worden waren. (Weil er seine Beschreibung unserer eigenen Spezies auf Selbstbeobachtung gründete, ist der Holotypus für Homo sapiens niemand anderer als Linné selbst, der darum auch der »zweite Adam« genannt wurde.) Das United States National Herbarium in Washington beherbergt rund 110000 Holotypen von Pflanzen. Das Museum of Vertebrate Zoology in Berkeley besitzt Holotypen für 364 Säugetiere, 174 Vögel sowie 123 Reptilien und Amphibien. In den Forschungs-Nass-Sammlungen des Berliner Museums für Naturkunde findet man unzählige Gläser, in denen Seetiere in Alkohol schwimmen. Einige der Gefäße sind mit roten Punkten markiert: Sie enthalten Holotypen.3

Jeder Holotypus wird von der Person als solcher bezeichnet, die eine neue Art entdeckt, diese dann nach festgelegten Regeln benannt und in einem wissenschaftlichen Aufsatz beschrieben hat. Ist dieser erfolgreich publiziert und das zugehörige Musterexemplar in einer passsenden Sammlung untergebracht, gilt der Entdecker, so die Formulierung, als der »Autor« dieser Art.* So wird der Holotypus zum offiziellen, von der Wissenschaftlergemeinschaft anerkannten Musterexemplar; es ist der Prüfstein, aus dem die Haupteigenschaften einer bestimmten Spezies abgeleitet werden können. Bis heute sind fast zwei Millionen Arten spezifiziert worden; man schätzt, dass es auf der Erde nahezu neun Millionen Arten gibt.

* Im Englischen wird das Verb »to author« für den nomenklatorischen Akt verwendet, womit der Vorgang noch näher an die Vorstellung des »Schaffens« einer Art herangerückt wird (A. d. Ü.).

Doch zurück zur biblischen Schöpfungsgeschichte. Ihr zufolge hat Gott jedes Tier auf dem Feld und alle Vögel unter dem Himmel, eines nach dem anderen, vor Adam gebracht, damit dieser jedem einen Namen gebe – etwa so wie Biologen ihre Holotypen mit Namen belegen. Der Text sagt nichts über die Sprache, in der Adam dies tat, auch nichts dazu, wie lange all das dauerte und wann es geschah. Traditionell gehen Bibelkommentare4 davon aus, dass dies am gleichen Tag passierte, an dem auch der erste Mensch geschaffen wurde, denn erst nach der Namensgebung schuf Gott die Frau. (Die meisten Kommentatoren scheuten den Gedanken, dass Adam eine sehr lange Zeit allein, ohne Gefährtin lebte.) Manche fragten sich, ob die übleren Insekten irgendwie entkommen seien und ihren Namen erst nach den sechs Schöpfungstagen erhielten, als eine Folge des Sündenfalls und nicht als Teil des ursprünglichen Schöpfungsplans. Andere waren irritiert, dass nichts zu den Fischen gesagt wird, der Bibeltext spricht nur von Landtieren und Vögeln. So fragte der Kirchenmann und Amateurnaturforscher Alexander Ross 1622: »Warum wurden die Fische nicht vor Adam gebracht?« – eine rhetorische Frage, die er gleich selbst beantwortet: »Erstens erinnern sie nicht so sehr an den Menschen wie die wilden Tiere; zweitens konnten sie dem Menschen keine so große Hilfe sein wie diese; drittens konnten sie außerhalb des Wassers nicht leben.«5

Es gibt mehr Tiere zwischen Himmel und Erde, als in der Bibel vorgestellt werden. Doch wusste, wer immer die Erzählung vor einigen tausend Jahren geschaffen hat, dass man das Ganze einer Art nur durch einen einzelnen Repräsentanten dieser Art sicher fassen kann, wusste es ganz so, wie es die moderne Naturwissenschaft weiß. Tatsächlich ist der Mensch im ersten Kapitel der Genesis Holotypus der Menschheit. Gott ist Autor, er schuf (authored) dieses Geschöpf und führte es – natürlich nackt – sorgfältig auf der Erde ein, als Musterexemplar seiner Spezies. Wer über Adam nachdenkt, der denkt an beides, an ein besonderes, individuelles Wesen und an das Ganze der Menschheit.

In Adam, so bestätigt die biblische Erzählung, begegnen wir nicht nur dem Repräsentanten, sondern auch dem allerersten Exemplar der Spezies, dem Stammvater aller Menschen, die nach ihm kamen. Auch für diese haben die Sammlungen der modernen Wissenschaft ihre Entsprechung, in diesem Fall keine Holotypen, sondern die Fossilien derer, die als unsere Vorfahren gelten. Die berühmteste dieser Ahnen ist bekannt als »Lucy«, ein Individuum des Australopithecus afarensis, eine Frau, die vor 3,2 Millionen Jahre lebte und deren Knochen – einige hundert Bruchstücke davon – der amerikanische Anthropologe Donald Johanson 1974 in Äthiopien gefunden hat. Er und sein Team tauften das Skelett nach dem Beatles-Song »Lucy in the Sky with Diamonds«, den sie damals in ihrem entlegenen Camp wieder und wieder auf ihrem Recorder laufen ließen.

Die Magie eines eigentümlichen Namens hat dieser so weit entfernten und indirekten Ahnin – ihre Überreste befinden sich heute im äthiopischen Nationalmuseum in Addis Abeba – einen ganz eigenen Zauber verschafft. Sie maß mit drei Fuß und sieben Zoll etwa einen Meter zehn, hatte ein kleines Gehirn, etwa so groß wie das eines Schimpansen, und war weit entfernt vom modernen Menschen. Der nämlich tauchte in Afrika erst sehr viel später auf, etwa drei Millionen Jahre, nachdem sie auf der Erde umherstreifte. Doch immerhin: Sie schwang sich nicht mehr durch die Bäume, sie ging aufrecht, auf zwei Füßen. Niemand sieht in ihr die direkte Stammmutter der Menschheit, vieles jedoch spricht dafür, dass Homo sapiens, unsere Spezies, mit Lucy verwandt ist; unsere Spezies hat sich aus solchen Hominiden entwickelt.

Dieser evolutionäre Prozess hat enorme Implikationen; sie waren, und sie sind es immer noch, heftig umstritten. Zunächst sah es so aus, als ließe sich eine ziemlich gradlinige Geschichte erzählen: Wir von der Art Homo sapiens, so das Narrativ, bilden das Ende eines langen Astes am großen Baum des Lebens. Indem wir unsere nach und nach ausgestorbenen Vorfahren untersuchen, können wir diesen Ast ganz langsam bis zum Stamm verfolgen, dabei die Stadien aufspüren, die wir durchlaufen haben, um unseren gegenwärtigen (und, versteht sich, großartigen) Status zu erreichen. Heute aber, nachdem immer mehr fossile Vorfahren entdeckt worden sind – Paranthropus boisei, Homo habilis, Homo rudolfensis, Homo ergaster, Homo erectus, Homo heidelbergensis, Homo neanderthalensis, Homo naledi und so weiter –, wird die übergreifende Geschichte immer komplizierter. Unsere Abstammung, so schrieb ein Evolutionsbiologe vor kurzem, erinnere immer weniger an einen Ast, vielmehr an ein »Bündel aus Zweigen – man könnte auch sagen, sie sieht aus wie ein verwucherter Busch«.6

In einem Raum im fünften Obergeschoss des Peabody Museum of Archaeology and Ethnology in Havard war David Pilbeam, ein berühmter Paläoanthropologe (also jemand, der die Abstammungslinien studiert, die uns mit unseren nächsten Verwandten verbinden), so freundlich, mir einige dieser »Zweige« zu zeigen. Schon bevor ich eintraf, hatte er Knochen (oder Gips- beziehungsweise Plastikabgüsse von Knochen), einige in Pappschachteln, auf den Resopaltischen arrangiert, andere waren zu Skeletten zusammengelegt oder posierten auf rollbaren Podesten. Jedes dieser Knochenarrangements repräsentiert einen Sprung in die Vergangenheit, gemessen in Millionen Jahren vor heute.

Auch eine Nachbildung von Lucy gab es dort, in einem mit Zellophan verschlossenen Schaukasten aus Pappe, der aussah wie die Sendung eines Floristen aus Anlass eines großen Ereignisses – einer Beerdigung, dachte ich. Viel ist wahrlich nicht von ihr zu sehen: Fragmente des Schädels, Teile des Unterkiefers, einige Rippen, das Kreuzbein, ein Teil des Beckens, Relikte von Armen und Beinen. Auf einem Rollwagen neben ihr stand, als vollständigere Rekonstruktion, ein Australopithecus; daneben dann das Skelett eines Schimpansen. Pilbeam wies mich auf die subtilen Unterschiede zwischen dessen Knochenbau und dem Lucys hin. Und sie waren wahrlich subtil: Ich hätte, ohne die Hinweise des Experten, so ziemlich alle übersehen und damit auch nicht erkannt, dass der eine ein Affe ist, die andere meine Vorfahrin.

Das älteste Fossil in diesem Raum war das eines Sahelanthropus aus dem Tschad. Mir erschien es wie der Schädel eines kleinen Affen, doch wie ein Detektiv deckte Pilbeam die kleinen Hinweise auf, die dafür sprechen, dass Sahelanthropus vermutlich aufrecht stand und auf zwei Beinen lie f. Wenn dem so war, dann hat er diese Fähigkeit sehr früh erworben: Das Fossil wird auf etwa sieben Millionen Jahre vor heute datiert, und von da ist es dann nicht mehr weit bis zu dem Zeitpunkt, an dem sich vom letzten gemeinsamen Vorfahren zwei Linien abspalteten, deren eine zu den Schimpansen führte, die andere zu uns.

Während ich mich in diesem Raum umsah und in Jahrmillionen umherwanderte, spürte ich etwas von dem Unbehagen, das Wissenschaftler dazu brachte, vom Bild eines deutlich definierten Astes abzurücken, der Metapher für eine lange, stetig und gradlinig fortschreitende Evolution des Menschen. In einer Ecke unser Sahelanthropus-Vorfahr, der, abgesehen von ganz winzigen Hinweisen, zu einem anderen Universum zu gehören scheint als dem unseren. In der anderen Ecke das vollständige Skelett von Homo neanderthalensis, starkknochig wie ein Gorilla, aber mit einem Schädel fast so groß wie unserer.7

Mit immer feineren und einfallsreicheren Methoden messen, erforschen und deuten Paläoanthropologen die Skelettfragmente: ein Becken und eine Wirbelsäule, die unserer Art den aufrechten Gang erlauben; Schulterblätter, die es unserer Spezies ermöglichen, tödliche Wurfgeschosse zu schleudern; die Anordnung der Zähne; das wachsende Volumen des Gehirnkastens. Was einst jedoch als triumphaler Marsch Richtung Fortschritt erschien – wir kennen diese Comiczeichnungen, die mit einem Affen beginnen und mit einem vorm Computer sitzenden Menschen enden –, verwirrt sich heute in hundert Umwegen und Fehlstarts, sich kreuzenden Pfaden und Sackgassen. Es ist schwierig, in einem derart verwucherten Busch den roten Faden zu finden.

Die Evolutionstheorie hat nichts zu befürchten, wenn die Hauptstraße verschwindet. Im Gegenteil, von Anfang an bestand Darwin auf der Zufälligkeit von Mutationen, auf die dann die Korrekturen der natürlichen Auslese folgten, die zum Entstehen einer neuen Art führten. Gleichwohl: Es ist beunruhigend, sich in diesem Raum umzublicken und nichts zu sehen als ein wildes Durcheinander von diskontinuierlichen Pfaden und sich überschneidenden Spuren. David Pilbeam hat 1972 ein Buch mit dem Titel The Ascent of Man veröffentlicht. Es ist keineswegs sicher, ob er das Wort »Aufstieg« auch heute noch verwenden würde.

Gleichwohl hören die meisten von uns, die Evolutionsbiologen eingeschlossen, nicht auf, nach Erzählungen von unserem Aufstieg zu suchen oder solche Narrative zu konstruieren. Denn wir sind, wie es die Bibel vor langer Zeit sagte, die dominierende Spezies:

Und Gott segnete sie und sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und machet sie euch untertan und herrschet über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über alles Getier, das auf Erden kriecht. (Gen 1,28)

Unsere Vorherrschaft ist eindeutig verbunden mit unserer Intelligenz, mit unserem phantastischen Geschick, Werkzeuge herzustellen, mit unserem komplexen sozialen und kulturellen Leben und, vor allem, mit unserer Sprache und unserer Fähigkeit, Symbole wahrzunehmen und zu schaffen. Gleichwohl haben wir noch längst nicht verstanden, wie wir den Weg gefunden haben, den Weg weg von Vorfahren, die nicht sprechen, keine Symbole oder abstrakten Begriffe bilden konnten. Bislang jedenfalls gibt es dafür keine wirklich stimmige, wissenschaftlich befriedigende Erzählung.

Im Bericht von der Erschaffung des Menschen am sechsten Tag – »Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie als Mann und Frau« (Gen 1,27) – bietet die Erzählung im Buch Genesis das Äquivalent zu den nackten Knochen, aus denen die Wissenschaftler ihre Bilder unserer ältesten Vorfahren beziehen. Und sie bietet (was den Wissenschaftlern bislang nicht gelungen ist) einen definitiven Ausgangspunkt. Unmöglich allerdings, aus den Worten der Bibel schlüssig abzuleiten, wie die ersten Menschen wohl gewesen sind. Nicht, dass es an Versuchen dazu gefehlt hätte, gestützt auf die penibelsten Untersuchungen des Bibeltexts. Im 2. Jahrhundert u. Z. schloss Rabbi Jeremias ben Eleasar aus der Formulierung »Und schuf sie als Mann und Frau«, dass Adam, der erste Mensch, ein Hermaphrodit gewesen sei. Samuel ben Nahman, ein Rabbi aus dem 3. Jahrhundert, legte die Stelle folgendermaßen aus: »Als der Herr Adam schuf, schuf er ihn zweiseitig, dann spaltete er ihn und machte ihm zwei Rücken, einen Rücken auf dieser Seite und einen Rücken auf der anderen Seite.«8 Ein anderer Exeget meinte, Adam habe zuerst, vom Osten bis zum Westen reichend, die ganze Welt erfüllt; wieder ein anderer sah Adam so groß, dass er von der Erde bis zum Himmel reichte; dem nächsten zufolge konnte Adam alles sehen im Universum; dann wieder verleiht ihm einer prophetische Kräfte; ein anderer gab Adam sogar einen Schwanz, »doch entfernte er ihn wieder: aus Sorge um Adams Würde«. Adam, heißt es auch, »sah so gut aus, dass schon die Sohle seines Fußes den Glanz der Sonne verdunkelte«. Er habe alle Sprachen erfunden und alle Gewerke, auch das Schreiben und die Geographie. Er habe eine Art Schutzhaut gehabt, einen Panzer, den er verlor, als er sündigte.

Kurz darauf, schon im zweiten Kapitel der Genesis, ist das Geschöpf verschwunden, das zu all diesen Spekulationen Anlass gab. Weder gibt es bloße Knochen noch einen Holotypus mit angehefteter Tafel oder Karte. Stattdessen gibt es nun zwei primordiale Menschengestalten – den Mann, geformt aus Staub, und die Frau, »gebaut« aus einer Rippe des Mannes – und um diese beiden Menschen entspinnt sich eine Erzählung. Um die tatsächliche Natur unserer Spezies zu verstehen, muss man keinen Holotypus untersuchen, jetzt, und das führt die Genesiserzählung vor, geht es allein darum, die ersten Menschen in ihren Taten zu beobachten. Wir müssen auf ihre Beziehung achten, genauestens ihre Entscheidungen untersuchen, ihrem Weg folgen, ihre Geschichte erwägen. Denn nicht die biologische Natur der Menschen bestimmt ihre Geschichte, sondern umgekehrt: Ihre Geschichte – die Entscheidungen, die sie fällen, und was darauf folgt – bestimmt ihre Natur.

Der biblischen Erzählung nach muss der Spezies etwas widerfahren sein, kurz nachdem Gott sie geschaffen hat. Die Menschheit hätte nicht unbedingt zu dem werden müssen, was sie heute ist; es hätte alles auch ganz anders kommen können. Das Bild vom Mann und der Frau im vollkommenen Garten Eden lässt eine Spannung erkennen zwischen den Dingen, wie sie sind, und den Dingen, wie sie sein könnten. In diesem Bild wird ein Sehnen danach spürbar, andere zu sein als die, zu denen wir geworden sind.

Im Mittelpunkt der Schöpfungsgeschichte, wie sie in der Genesis erzählt wird, steht die Entscheidung der Menschen, die verbotene Frucht zu pflücken, von ihr zu essen und sie zu teilen. Worauf es ankommt bei einer Erzählung, ist deren Fähigkeit, eine Entscheidung und ihre Folgen darzustellen. Eine gute Erzählung kann Einzelheiten übergehen, auf Motivationen verzichten, sie kann die Analyse vernachlässigen, aber sie muss fesselnd sein, zwingend bleiben. Die Erzählung von Adam und Eva kommt aus ohne Wörter wie »Sünde«, »Sündenfall« oder »Satan«, nicht einmal den »Apfel« muss sie als solchen bezeichnen. Das Spektrum möglicher Deutungen ist weit und offen: Einige der überlieferten Interpretationen aus fast zweitausend Jahren betrachten die Schlange als die Heldin, sie nämlich sei dafür eingetreten, dass die Menschen das Wissen erwerben, das ein eifersüchtiger Gott ihnen habe vorenthalten wollen. Das Gewicht liegt, wie in allen mündlich überlieferten Erzählungen, auf der Handlung:

Und die Frau sah, dass von dem Baum gut zu essen wäre und dass er eine Lust für die Augen wäre und verlockend, weil er klug machte. Und sie nahm von seiner Frucht und aß, und sie gab ihrem Mann, der bei ihr war, auch davon, und er aß. (Gen 3,6)

Es muss etwas geschehen sein, das sich erzählen lässt: Das ist eine Ahnung, die nicht nur der Genesiserzählung, sondern so gut wie allen alten Schöpfungsmythen zugrunde liegt, ob sie aus Mesopotamien stammen oder aus Ägypten, Griechenland, Rom, Sibirien, China, den Great Plains oder aus Zimbabwe. Irgendetwas ist geschehen am Beginn der Zeiten – irgendeine Geschichte mit Entscheidung, Handlung und Reaktion –, etwas, das dazu führte, dass wir sind, wie wir sind; und wenn wir unsere Art zu sein verstehen wollen, dann müssen wir diese Geschichte erinnern und immer wieder erzählen.

WIRWISSEN – oder zumindest glauben wir zu wissen –, dass Schimpansen, mit denen wir so nahe verwandt sind, nicht über den Ursprung des Ungehorsams spekulieren, der Schimpansen eigen ist; dass Orang-Utans, trotz all ihrer Intelligenz, nicht darüber sinnieren, warum ihre Spezies dazu verurteilt ist zu sterben; und auch die lustorientierten Bonobos erzählen einander während ihrer zärtlichen Fellpflege nicht davon, wie sich der erste Bonobomann mit einer Bonobofrau vereinigt hat. Wir haben allerhand Gründe, das komplexe Sozialleben von Ameisen, Bienen oder Feldwespen zu bewundern; wir staunen über das fortgeschrittene Sprachverständnis der geselligen Tümmler; geradezu Kultstatus haben die Gesänge der Wale. Keine dieser Arten jedoch, denken wir, hat eine Schöpfungsgeschichte ersonnen.

Menschen, so scheint es, sind die einzigen Tiere auf der Erde, die sich nach ihrem Ursprung fragen und danach, wie sie wurden, was sie sind. Wir könnten diese Einzigartigkeit als eine Leistung verbuchen, als Zeichen unserer Besonderheit. Vielleicht ist dem auch so. Ebenso leicht aber ließe sich das auch als ein Zeichen dafür nehmen, dass wir Verlorene sind, ohne Orientierung, dass wir uns unwohl fühlen in unserer Haut, dringend einer Erklärung bedürftig. Vielleicht ist das Erzählen einer Schöpfungsgeschichte ein Symptom unseres Unbehagens – wir wollen uns beruhigen, darum erzählen wir uns eine Geschichte. Vielleicht aber hat sich unsere Spezies auch irgendwie selbst überboten, hat, irgendwie zufällig, einen Entwicklungsschritt getan, und der hat uns auf einen Weg geführt, den wir selbst noch nicht wirklich verstehen können und der unsere spekulative, geschichtenerzählende Intelligenz geweckt hat.

Wir haben keine Ahnung, wann das Geschichtenerzählen zu einer der charakteristischen Errungenschaften unserer Spezies wurde. Doch Geschichten waren nützlich, wo immer es darum ging, mit der Welt zurechtzukommen, der beste Weg, um Wissen weiterzugeben und um Vergnügen zu bereiten. Und wenn dem so ist, dann muss das Geschichtenerzählen früh begonnen haben, lange vor Erfindung der Schrift. 5000 Jahre – etwa so weit reichen die schriftlichen Aufzeichnungen von Menschen zurück – erscheinen, verglichen mit der durchschnittlichen Lebensdauer eines Menschen, als beeindruckend großer Zeitraum, gleichwohl ist diese Spanne so gut wie gar nichts, ein bloßes Stottern in der langen Geschichte der Erzählungen, die Menschen ersonnen und einander immer wieder erzählt haben. Ob auch spekulative Berichte vom Entstehen der ersten Menschen darunter waren? Verblüffend, dass kleine Kinder, ohne dass ihre Eltern sie dazu aufgefordert hätten, irgendwann fragen: »Woher komme ich?« Diese Frage scheint spontan in uns aufzusteigen, und die Antworten haben, solange wie wir zurückdenken können, Priester beschäftigt, aber auch Künstler, Philosophen und Naturforscher.

Es ist noch nicht lange her, dass Gelehrte – am berühmtesten die Brüder Jakob und Wilhelm Grimm gegen Ende des 18. Jahrhunderts – damit begonnen haben, mündlich überlieferte Geschichten zu sammeln und auf Formen und Themen zu untersuchen. Diese Erzählungen waren von Generation zu Generation weitergegeben worden, sie reichen weit zurück hinter jede lebendige Erinnerung. Einige waren beharrlich lokal, fest an eine Familie, Sippe oder Gemeinschaft gebunden. Andere dagegen haben offenkundig Grenzen und Sprachbarrieren überwunden. Nahezu alle Kulturen – von der Mongolei bis nach Oklahoma und überall dazwischen – haben, wie gezeigt wurde, zumindest eine, häufig auch mehr als eine Ursprungserzählung. Die eigentümliche Version der Genesis – die Erzählung vom nackten Paar, der sprechenden Schlange und den magischen Bäumen – war allen Merkmalen nach eine dieser oral tradierten Volkserzählungen, sehr viel älter als der Augenblick, in dem sie im Buch Genesis in schriftlicher Form auftauchte, war sie aus der Tiefe der Zeit emporgestiegen, aus einer Vergangenheit, zu der wir so gut wie keinen Zugang haben.

Wenn ich versuche, mir vorzustellen, was geschehen sein muss, dass man begonnen hat mit dieser Erzählung und dem Erzählen, kommen mir drei Szenarien in den Sinn. Das erste und jüngste ist ein Garten in Kaschan, 240 Kilometer südlich von Teheran. In Teheran war ich zu einem Shakespeare-Kongress eingeladen und nutzte die Gelegenheit für eine anschließende Reise. Kaschan ist eine Stadt der Teppiche. Ein »Kaschan« lag, als ich Kind war, in unserem Esszimmer, und ich liebte es, unter den Tisch zu kriechen und auf einem Feld kunstvoll ineinander verwobener Blüten zu spielen. Doch mein Ziel in Kaschan war nicht der geschäftige Basar. Ich wollte Bagh-e Fin sehen, den berühmten Garten aus dem 16. Jahrhundert.

Der erwies sich als eine relativ kleine, staubige, rechtwinklige Anlage mit sehr alten Zedern, die schnurgerade Wege säumen; das Ganze umzieht eine Schutzmauer aus Ziegeln mit vier runden Türmen. Das eigentlich Besondere ist das Wasser, es kommt aus einer nahen Quelle und wird in gerade, schmale Kanäle und in ein perfekt quadratisches, türkisfarben gekacheltes Becken geleitet. Jenseits des Beckens erhebt sich ein Pavillon, unter dessen zweigeschossigen Gewölben man Zuflucht suchen kann vor der Sonne.

Um von Teheran dorthin zu gelangen, fuhren wir stundenlang durch eine trostlos staubige, öde Wüste, durch eine Landschaft, die sich mit sonnenverbrannten Felsen und versengten gewundenen Schluchten bis zum Horizont dehnte. Keine Felder, keine Bäume, nicht mal Gestrüpp, so weit das Auge reichte. Alle Anzeichen von Leben schienen ausgelöscht, wie durch ein Edikt. Hier wäre es dem ersten Menschen möglich gewesen, innerhalb von Minuten allen Kreaturen, die in dieser Welt lebten, Namen zu geben.

Die alten Perser hatten ein Wort für Gärten wie Bagh-e Fin: Sie nannten sie paradaesa. Die Griechen übernahmen das Wort, und von paradeison leitet sich unser »Paradies« ab. Als Schauplatz für die Erschaffung von Adam und Eva würde der Garten, den ich bei Kaschan besucht habe, kaum taugen, doch nach unserer Fahrt konnte ich mir vorstellen, wie das Geräusch des Wassers, das durch die Kanäle sprudelt, wie der Anblick der gewaltigen Bäume in einem schroffen, ausgedörrten Land Verwunderung und Glücksgefühle erzeugen konnten. Und zum ersten Mal wurde mir so recht bewusst, wie ausschweifend übertrieben der Garten im Buch Genesis geschildert wird: Quellen soll es dort gegeben haben von nicht weniger als vier großen Strömen. Der Erzähler nahm, was kostbar war in der ihn umgebenden Welt, und baute daraus eine Landschaft, in der Menschen nur glücklich sein konnten. Eine härtere Strafe, als aus einem solchen Garten in die elende Salzwüste vertrieben zu werden, die ihn umgab, hätte es nicht geben können.

Zum zweiten meiner Versuche, mir vorzustellen, was den Beginn der Erzählung ausmacht, war es einige Jahre zuvor gekommen: im Wadi Rum in Jordanien, in einem Beduinenlager, in dem ich mich mit meiner Frau und meinem Sohn für kurze Zeit aufhielt. Sobald die Sonne untergegangen war, wurde es ziemlich kalt in der Wüste, und nach einem einfachen Mahl und ein wenig Musik, die ein Lautenspieler zum Besten gab, verzogen wir uns rasch in unser kleines Zelt und krochen unter die wollenen Decken. Zuvor hatten wir viel gesüßten Tee getrunken, nicht ohne Folgen: Ich musste in der Nacht aufstehen und mich zum anderen Ende des Lagers begeben. Im Licht der Taschenlampe lief ich fröstelnd durch den Sand – es war eine mondlose Nacht, das Feuer heruntergebrannt, die Lampen gelöscht, alle schliefen.

Dann schaute ich nach oben und sah einen Himmel von unglaublicher, unwirklicher Weite. Da waren nicht nur die vielen Sterne, da war auch ein unvertrautes Gefühl der Tiefe. Ich knipste die Taschenlampe aus, setzte mich in den Sand, schaute. Ich habe oft unter Sternen geschlafen, auch an Orten, die ziemlich weit weg waren von menschlichen Siedlungen. Doch selbst entfernte Städte strahlen eine ungeheure Menge Licht ab. Dort jedoch, in der Wüste, gab es kein störendes Licht, nur die immense Weite des Universums, eine Unzahl von Sternen und das Bedürfnis, das drängender war als die Imperative des Körpers, nämlich zu verstehen, wer wir sind und woher wir kommen.

Der dritte Versuch liegt zeitlich noch weiter zurück: eine Erinnerung aus frühester Kindheit. Wir, meine Mutter und ich, sitzen an einem kleinen Tisch in unserer Wohnung in Bostons Roxbury-Viertel. Es ist Sommer, das Fenster steht offen, und wir können aus dem nahen Franklin Park Zoo hin und wieder das Brüllen der Löwen, das Geschrei der Vögel in ihren Käfigen hören. Meine Mutter improvisiert eine Geschichte, erzählt nur für mich. Der Held trägt einen Namen, der meinem ähnelt, aber nicht der gleiche ist. Ein geliebtes Kind, glücklich und beschützt, das streng ermahnt wird, eines ganz bestimmt nicht zu tun: Nie, niemals dürfe es allein die Seaver Street überqueren, um zum Zoo zu laufen, dessen Geräusche es so lockten. Hat das Kind auch wirklich zugehört?

DERAUSLEHMGEFORMTEMENSCH wurde, heißt es in der Bibel, zum lebenden Geschöpf, als ihm der Atem des Lebens in die Nase geblasen wurde. In dieser mythischen Szene steckt eine machtvolle Wahrheit. Irgendwann in einer unendlich weit entfernten Vergangenheit war es ein Atem, der Adam zum Leben erweckte, der Atem eines Erzählers.

KAPITEL ZWEIAN DEN WASSERN ZU BABEL

AUF DER GRÖSSTEN INSEL der Hawaii-Kette dringt geschmolzene Lava aus den Vulkanspalten. Man kann durch die schwarzen Felder abgekühlter Lava bis zum Rand der Klippe gehen und sieht von dort, wie sich geschmolzene Lava aus einer Quelle Bahn bricht, eine gewaltige Geburt, sieht, wie diese Lava zischend ins Meer stiebt. Man kann sich dort durchaus so fühlen, als wohne man dem Ursprung der Welt bei, wobei die Welt natürlich längst da ist, was man ja weiß. Niemand aber, und das ist der Knackpunkt der Schöpfungsgeschichten, kann behaupten, er oder sie sei dabei gewesen, könne sich daran erinnern, sei vielleicht auch nur ein Glied in einer Kette von Erinnerungen, die zu irgendwem zurückführt, der oder die dabei gewesen ist.

Wir können nicht wissen, wann sich jemand darangemacht hat, sich auszumalen, wie das Universum und die Menschen entstanden sind, wann eine erste Geschichte erzählt wurde vom uranfänglichen Geschehen, das unsere Spezies auf den Weg gebracht hat. Wir können die Person nicht ausmachen, die sich als erste den Garten vorgestellt hat, die geträumt hat von Nacktheit ohne Scham, der die Sache mit der verbotenen Frucht einfiel. Es muss, das wissen wir, einen Augenblick der Inspiration gegeben haben, aber wir wissen nicht, wie wir den Weg dorthin zurückfinden könnten. Dieser Augenblick ist verloren, endgültig.

Auch einen weiteren definitiven Augenblick muss es gegeben haben, den nämlich, in dem sich irgendwer entschloss, diese Geschichte aufzuschreiben. Auch dazu haben wir keinen Zugang, niemals werden wir wissen, ob der Schreiber ein Mann war oder eine Frau; wir haben keinen eindeutigen Hinweis auf den Ort oder die Begleitumstände oder die Sprache, haben keinen präzisen, nicht einmal einen näherungsweisen Anhaltspunkt für die Zeit. Einige Gelehrte glauben, eine Version könnte schon früh entstanden sein, etwa zur Zeit des Königs Salomon (990–931 v. u. Z.), weitere Versionen könnten in schriftlicher Form in der Regierungszeit seiner Nachfolger zirkuliert sein. Weil aus diesen langen Jahrhunderten im Leben der Juden keinerlei Manuskripte, nicht einmal deren Spuren erhalten sind – alle sind zerstört, von Feuer, von Wasserfluten, vom Zahn der Zeit –, ist jede Datierung spekulativ, manche sogar wilde Spekulation. Am nächsten kommen wir einem Startpunkt, wenn wir nach dem Augenblick suchen, in dem die Erzählung schließlich Eingang fand ins Buch Genesis. Wobei auch da der präzise Zeitpunkt, die Umstände unklar bleiben, doch der Nebel um dieses Rätsel hebt sich zumindest ein wenig.

Die meisten Bibelforscher schreiben die Form, in der wir die Erzählung kennen, dem 6. Jahrhundert v. u. Z. zu; sie gehen davon aus, dass der Pentateuch – die griechische Bezeichnung für die fünf Bücher Mose – wohl im 5. Jahrhundert v. u. Z. zusammengestellt wurde, was etwa der Zeit der Propheten Esra und Nehemia entspräche. Doch selbst hier bewegen wir uns auf unsicherem Grund. Um jeden Zentimeter Textgeschichte wurde gerungen, zumindest seit dem 18. Jahrhundert; darum wird alles, was ich sage, wie auch das, was andere sagen, die sich besser auskennen in diesen Fragen, von dritten bestritten werden, manchmal durchaus heftig. Ganz unabhängig von ihren fernen Anfängen, wurde die Erzählung von Adam und Eva irgendwann Teil eines heiligen Dokuments, der Tora, deren Autor Moses gewesen sein soll. Immerhin hat man damit einen Autor benannt und es gab jemanden von allerhöchstem Ansehen, der die Wahrheit des Berichts verbürgen konnte. Nun gab es Menschen, die sich durchaus zu Recht fragten, wie denn Moses habe wissen können, was im Garten Eden vor sich ging, so lange vor seiner Zeit. Er habe, so antworteten die Verfechter der strikten Wahrheit des Berichts, die Einzelheiten erfahren können, insofern diese weitergetragen wurden alle Generationen hindurch, bis zu Noah und noch weiter zurück in die Zeit vor der Sintflut, bis zu Seth, Adams drittem Sohn. Das biblische »zeugte« liefere doch die Aufzählung dieser Generationen bis zum Beginn aller Zeiten. Die außerordentlich langen Lebenszeiten, die den frühen Patriarchen zugeschrieben wurden – Methusalem etwa soll das stolze Alter von 969 Jahren erreicht haben –, kamen dem entgegen, so nämlich reduzierte sich die Zahl der Kettenglieder.

Weil nun bekannt war, dass sich Erzählungen durchaus verändern, wenn sie wiederholt weitererzählt werden, wurde oft hinzugefügt, dass Moses die Texte nach Gottes Diktat niedergeschrieben habe, beim Schreiben zumindest geleitet wurde vom Geist Gottes. Und auf diesen war Verlass, er würde alle Irrtümer, die sich womöglich einschleichen und die Wahrheit der Schöpfungsgeschichte hätten verfälschen können, korrigiert haben. Eine Schrift, die im 2. Jahrhundert v. u. Z. entstanden ist, das Buch der Jubiläen, ging noch einen Schritt weiter im Versuch, die Authentizität der Erzählung abzusichern. Auf dem Berg Sinai, heißt es in diesem Buch, habe Gott einen Engel angewiesen, Mose einen wahren Bericht der ersten Anfänge zu geben.1 Der Engel und seine Heerscharen waren Zeugen bei der Erschaffung der Welt und bei dem, was im Garten geschah. Mose hatte also nur den unfehlbar wahren Bericht wiederzugeben, den ihm der Engel pflichtschuldig lieferte.

Doch Darstellungen wie im Buch der Jubiläen – das heute allein von der Orthodoxen Kirche Äthiopiens als kanonisch betrachtet wird – sind Rückversicherungen und insofern also wieder Zeichen des Zweifels. Zumindest einige, die den Bericht vom Garten Eden, von den ersten Menschen und der sprechenden Schlange lasen, werden nach der Zuverlässigkeit des Berichts gefragt haben. Sie hätten gerne gewusst, wie weit sie diesem trauen konnten; womöglich ahnten sie, eher am Rand des verzückten Zirkels der Gläubigen stehend, dass er seinen Ursprung ebenso gut in einem vertrauteren Szenarium des Geschichtenerzählens haben könnte: im Reich der Phantasie.

Die Tora hätte ihren Ausgang schließlich auch an einem historischen Zeitpunkt nehmen können, der weitaus einleuchtender gewesen wäre und sicherer: dort nämlich, wo es nicht um die ersten Menschen, sondern um die ersten Juden ging.

Und der HERR sprach zu Abram: Geh aus deinem Vaterland und von deiner Verwandtschaft und aus deines Vaters Haus in ein Land, das ich dir zeigen werde. Und ich will dich zum großen Volk machen und will dich segnen und dir einen großen Namen machen, und du sollst ein Segen sein. (Gen 12,1–2)2

Der biblische Bericht indes begann mit Ereignissen, die eindeutig vor jedem denkbaren historischen Bericht liegen: mit der Schöpfung des Kosmos und der Menschen. Will man verstehen, warum es den Juden so entscheidend schien, ihr heiliges Buch mit dem Anfang aller Zeiten beginnen zu lassen, also bevor es Juden gab, muss man sich das Unheil vor Augen führen, das über sie hereingebrochen war.

INDERANTIKENWELT folgte auf Niederlage und Sturz eines Königreichs häufig das vollständige Ausmerzen der Unterlegenen. Nebukadnezar II. jedoch, Herrscher über das große Babylonische Reich, erschienen Deportationen sinnvoller. Im Jahr 597 v. u. Z., nachdem sich das kleine Königreich Juda, das von einer altehrwürdigen Dynastie, die sich selbst »das Haus Davids« nannte, regiert wurde, den babylonischen Armeen ergeben hatte, setzte Nebukadnezar in Jerusalem eine Marionettenregierung ein und ließ eine beträchtliche Zahl von Hebräern nach Babylon deportieren, darunter auch den gestürzten König und dessen Familie. Über eine große Zeitspanne hinweg gelingt es Psalm 137, deren Elend, Heimweh und Zorn festzuhalten: »An den Wassern zu Babel, da saßen wir, / saßen und weinten, / wenn wir an Zion dachten.«3

Die im Exil lebenden Hebräer, Zeugen des letzten Siegs von Nebukadnezar, vergrößerten das Reservoir an Arbeitern, die der König für seine ehrgeizigen Projekte benötigte. Damals befanden sich Babylon und das Reich nach einer langen Phase des Niedergangs wieder im Aufstieg. Bewässerungskanäle waren zu graben, Felder zu bestellen, Weingärten zu pflegen, Unmengen Ziegel zu brennen, um damit Festungen, Tempeltürme und Paläste zu bauen. Hebräer waren nicht die einzigen Exilierten, die in den Arbeiterkolonnen schwitzten und von der verlorenen Heimat träumten. Sie schufteten Seite an Seite mit Assyrern, Medern, Skythen und Ägyptern, aber auch mit Babyloniern, die hoffnungslos verschuldet waren. Mittels Unterwerfung und Versklavung schuf sich Babylon ein kosmopolitisches Arbeiterheer.

Die geschäftigen, kulturell vielfältigen Städte am Euphrat waren reich, elegant und wegen ihrer Schönheit berühmt. Zwei der legendären Bauwerke – die gewaltigen Stadtmauern und die Hängenden Gärten4 – zählten zu den sieben Weltwundern. Mit der Pracht seiner glasierten Ziegel zeugt das berühmte Ischtar-Tor von Glanz und Würde der Stadt; heute befindet es sich rekonstruiert im Pergamonmuseum auf der Berliner Museumsinsel. Man kann gewiss nicht erwarten, dass sich die Hebräer in Babylon heimisch fühlten, doch waren sie auch keine völlig Fremden, denn eigentlich, so glaubten sie, waren sie in ferner Vergangenheit aus diesem Teil Mesopotamiens gekommen. Abraham, der Gründungsvater des jüdischen Glaubens, wurde im nahen Ur geboren, und dass sie nun zu diesen Wurzeln zurückgekehrt waren, fanden offensichtlich nicht alle Hebräer unerträglich: Als es ihnen schließlich erlaubt wurde, nach Juda zurückzukehren, entschied sich eine beträchtliche Zahl von ihnen zu bleiben, wo sie waren. Seit der Zeit des Exils blühte in Mesopotamien eine jüdische Gemeinde, und sie lebte dort, im heutigen Irak, bis weit ins 20. Jahrhundert.

Die Frommen unter den an die Ufer des Euphrat exilierten Hebräern sahen ihre große Aufgabe darin, festzuhalten am Glauben an Jahweh,5 ihren seit langem obersten Gott und Beschützer. Offenbar hatten sie sich gelegentlich verleiten lassen, auch andere Götter anzubeten, denn Jahweh verlangte wiederholt: »Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.« (Ex 20,2) Zumeist aber, auch in schwierigen Zeiten, war es ihnen gelungen, Jahweh an erster Stelle in ihren Herzen zu bewahren und ihn durch Beachtung der Riten und durch Tieropfer zu verehren, die im Großen Tempel von Jerusalem vollzogen wurden.

Diese Rituale wurden auch nach der Unterwerfung des Reiches Juda durch Nebukadnezar für ein Jahrzehnt unverändert befolgt. Dann aber folgte das nächste Desaster: Zedekia, der hebräische Quisling, den der Eroberer eingesetzt hatte, war vermessen genug, sich an die Spitze eines Aufstands gegen die neuen Herren zu stellen. Die babylonische Armee belagerte Jerusalem, und die ägyptischen Verbündeten, auf deren Entsatz die Hebräer gezählt hatten, tauchten nicht au f. Die Belagerung zog sich hin, Hunger, Krankheit und Desertion forderten fürchterliche Opfer. Zuletzt wurde eine Bresche in Jerusalems Stadtmauer geschlagen, die babylonischen Soldaten stürmten hinein und nahmen, auf Befehl des Königs, Rache an der Stadt, die bislang verschont worden war. Der Große Tempel, der Palast, viele öffentliche Gebäude wurden niedergebrannt. Der Hohepriester, sein Stellvertreter und andere führende Personen wurden getötet. Zedekias Söhne wurden vor dessen Augen erschlagen, den Vater blendeten die Babylonier und führten ihn in Ketten nach Babylon. Und noch einmal wurden Hebräer in großer Zahl ins Exil geführt, zu jenen, die bereits seit zehn Jahren in Babylon lebten. Als einige Jahre später ein babylonischer Statthalter ermordet wurde, kam es zu weiteren Deportationen aus der unruhigen Provinz. Das Leben der Hebräer lag in Scherben.

Nun, da der Tempel zerstört war, war seine Verwüstung so etwas wie ein stummer Zeuge der niederdrückenden Tatsache, dass sich Jahweh als unwillig, vielleicht sogar unfähig gezeigt hatte, sein auserwähltes Volk zu beschützen. Sein klägliches Scheitern im Jahr 597 und nochmals 587 v. u. Z. muss wohl all die subversiven Vorstellungen bestätigt haben, die weniger fromme Hebräer sich von ihrem Stammesgott gemacht hatten: Jahweh war ein Priestertrug, eine Erfindung kollektiver Imagination, vielleicht einfach ein Schwächling, ein Gott für Verlierer. Die lästernden Stimmen wurden unterdrückt – die Bibel ist zum größten Teil aus der Perspektive der Frommen geschrieben –, doch sie haben ihre Spuren hinterlassen. »Die Toren sprechen in ihrem Herzen: / ›Es ist kein Gott‹«, so beginnt der 14. Psalm. Mochten sie auch töricht sein, so muss der Psalmist um sich herum so viele Verzagte gesehen haben, dass ihm geboten schien, auf sie einzugehen und sie zu attackieren.

Wie hätte es auch anders sein sollen? Das nationale Desaster ließ nicht nur die Quellen der Trauer fließen, sondern auch die von Zweifel und Spott. Jahweh ist nicht; Jahweh kümmert sich nicht; Jahweh ist bitter geschlagen worden vom babylonischen Gott Marduk. Nach dem Sturz Jerusalems und den Massendeportationen muss es die Skeptiker verrückt gemacht haben, wenn sie weiterhin die Gebete der Frommen hörten, diese Hilferufe an einen Gott, der nicht zu handeln verstand. Und umgekehrt, für die Frommen, muss der Spott unerträglich gewesen sein. »Alle, die mich sehen, verspotten mich«, klagt der Sprecher des 22. Psalms, »sperren das Maul auf und schütteln den Kopf: / Er klage es dem HERRN, der helfe ihm heraus / und rette ihn, hat er Gefallen an ihm.« (Ps 22,8–9) Wenn aber keine Hilfe in Sicht war, keine Erlösung, nur fortgesetzte Erniedrigung, Spott und grausames Zerschmettern der Hoffnung, was dann? Für die Frommen im babylonischen Exil waren Kummer und Schmerz die alles bestimmende seelische Erfahrung. Wo war Jahweh? Jahrhunderte später wallt dieses fürchterliche Gefühl der Verlassenheit auf in einem anderen verlorenen Juden, und im Moment seiner Hinrichtung spricht er die Anfangsworte dieses Psalms: »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?« (Mk 15,34)

Um ihre Verzweiflung zu lindern, konnten die Hebräer einander erzählen, dass diese Katastrophe Jahwehs Tat war, Strafe nämlich für die Weigerung seines Volkes, seine göttlichen Gebote zu befolgen; aber selbst dann konnten die Zweifler leicht ihr Haupt schütteln und diese Phantasie als rührend und jämmerlich abtun. Und um das Ganze noch schlimmer zu machen: Gläubige wie Zweifler waren umringt vom Jubel der Eroberer, von ihren Hymnen zum Preis ihres siegreichen Gottes. Jeden Tag werden auch die Exilanten hinaufgeschaut haben zum prächtigen Tempelkomplex Babylons, der Esağila genannt wurde – »Haus des erhobenen Hauptes« –, und zum siebenstöckigen Stufentempel, der Zikkurat Etemenanki, dem »Haus der Fundamente des Himmels und der Erde«. Jahre später wurde aus der Erinnerung der Hebräer an diesen frappierenden Anblick der Turm zu Babel, passend umgearbeitet zum Zeichen von Anmaßung, Stolz und Überheblichkeit.

Nebukadnezar hatte beide, Tempel und Zikkurat, wieder aufbauen lassen zu Ehren des Sturmgottes Marduk. Schon lange war dieser Schutzgott der Stadt Babylon, inzwischen aber so mächtig geworden, dass die Betenden sich scheuten, seinen heiligen Namen auszusprechen, und ihn darum nur »Bel« nannten, Herr. Der Stadtgott wurde überhöht zum Herrn des Universums. Nach und nach sicherte er sich alle Attribute der lokalen Gottheiten der Umgebung, auch das reiche Korpus der mesopotamischen Mythologie geriet in sein Gravitationsfeld, und er war damit in der Position, alle Kräfte der rivalisierenden Gottheiten auf sich zu vereinigen, Jahweh eingeschlossen. Von seinem Allerheiligsten im Esağila und vom goldenen Schrein in der schwindelnden Höhe des Etemenanki schaute Marduks Bildnis herab auf die Menschen, deren Schicksal er zu lenken schien.

Jedes Jahr veranstalteten die Babylonier zu Marduks Ehren ein riesiges Neujahrsfest. Standbilder anderer Gottheiten wurden aus ihren Nischen geholt und in einer großen öffentlichen Prozession zum Hauptheiligtum getragen, damit sie dem göttlichen Schutzherrn der Stadt ihre Reverenz erwiesen. Am vierten Tag dieses Festes erfolgte, vom König selbst geleitet, eine feierliche Rezitation eines heiligen Textes, der irgendwann in ferner Vergangenheit auf Tontafeln geschrieben worden war. Der ehrwürdige Text, ausgestattet mit dem Prestige seines ungeheuren Alters, war das Enuma Elisch, der mesopotamische Schöpfungsmythos. Am Anfang, so wird darin erzählt, stand Sex: Zusammenfluss und Zeugung. Ein Strom von Süßwasser – der Gott Apsu – stürzt sich in die salzige See: die Göttin Tiamat. Aus dieser uranfänglichen Vereinigung formen sich alle anderen Götter des babylonischen Pantheons, so wie sich Treibsand ablagert an der Mündung eines Flusses.6

Die Erzählung feiert diese Reproduktion jedoch nicht als eindeutigen Segen. Im Gegenteil, sie konzentriert sich auf die mörderische Wut, die in einem der Eltern aufwallt, der sich in seiner Ruhe gestört fühlt. Die gerade geschaffenen Götter erweisen sich als unerträglich laut, und Apsu, um seine Ruhe gebracht, entschließt sich, seine Nachkommen zu vernichten. Auch Tiamats Ruhe ist gestört, sie rät allerdings zur Geduld: »Sollen wir dem, was wir geschaffen haben, ein Ende machen?« Apsu lässt nicht locker. Er besteht auf seiner Ruhe, und wenn er dafür seine Kinder töten muss, dann sei es drum. Die auserkorenen Opfer aber bekamen Wind von der Absicht, sie zu vernichten. Die meisten wanderten sorgenvoll umher, andere saßen ratlos, wussten nicht, was tun. Dem Klügsten unter ihnen jedoch, Ea (oder Enki, wie er in sumerischen Versionen heißt), gelingt es, die Vernichtung abzuwenden. Er sinnt darauf, den Vater einzuschläfern, und als dieser in den Schlaf sinkt, tötet er ihn.

Zu Anfang also war auch Mord, nicht nur Sex. Im Enuma Elisch wird dieser Urmord weder erschreckend ausgemalt noch wird er verurteilt: Er wird gefeiert. Das Leben hatte, mit seiner Energie und seinem Lärmen, triumphiert über Schlaf und Stille.7 Indem sie diesen Triumph feierten, bestritten die Babylonier nicht einfach nur den Wert der Ruhe. Ea errichtet seine Wohnung auf dem Körper des Vaters, den er erschlagen hat, zieht sich dann zurück, mit einem triumphierenden Schrei: Nachdem Ea »den Sieg über seine Feinde errungen hatte, / ruhte er geruhsam in seinem Gemach, / (und) nannte es Apsu« (Tafel 1, 73–76). Im Namen, den der Sohn und siegreiche Mörder dem Schrein seiner tiefsten Ruhe (»dem Gemach der Schicksale«, 1, 79) gab, lebte Apsu, der besiegte Schöpfer, fort.

Vollkommene Ruhe freilich trat auch dann nicht ein. Nun war es die Urmutter Tiamat, die sich drohend erhob. Die anderen Götter packte die Furcht – wieder war eins ihrer Eltern darauf aus, sie zu töten –, doch Eas Sohn Marduk meldete sich und bot an, die Götter zu retten, freilich müssten sie ihn zu ihrem Herrn machen und Lehnstreue schwören. Nur zu gerne willigten die Götter ein. Wie Ea den Urvater Apsu getötet hatte, so verfuhr Marduk mit der Urmutter Tiamat:

Er teilte sie wie einen Stockfisch in zwei Teile,

eine Hälfte davon stellte er hin und breitete sie als Himmelsdach aus.

Er breitete die Haut aus und setzte eine Wache ein,

das Wasser nicht herauszulassen, wies er sie an.

(Tafel 4, 137-140)