Die Erfindung der Intoleranz - Stephen Greenblatt - E-Book

Die Erfindung der Intoleranz E-Book

Stephen Greenblatt

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Beschreibung

Über das Ende der religiösen Vielfalt und Akzeptanz im alten Rom - eingeläutet durch das Christentum. Das alte Rom war in vielerlei Hinsicht fortschrittlich. Unzählige Götter und Religionen lebten in der Millionenstadt am Tiber nebeneinander - es war eine politische Strategie des Weltreiches, andere Kulturen und deren Rituale zu integrieren, aber auch Religionskritik und Skepsis zu akzeptieren. Wie sich das mit dem Aufkommen des Christentums änderte und wie religiöse Intoleranz und Toleranz entstanden, zeichnet Stephen Greenblatt in seinem Essay nach. Damit zeigt er auch, wie sich aus der kultischen Vielfalt der Antike eine Gesellschaft entwickelte, die auf Reinheit und Einheitlichkeit, auf Zerstörung und Zensur setzte. Vor allem die materialistische Vorstellung völlig unbeteiligter Götter erwies sich bald als etwas, das unter keinen Umständen toleriert werden konnte und dessen Träger (ob Bücher oder Menschen) vernichtet werden musste.

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HISTORISCHE GEISTESWISSENSCHAFTEN

FRANKFURTER VORTRÄGE

Herausgegeben von

Bernhard Jussen und Julika Griem

Band 11

Stephen Greenblatt

Die Erfindung der Intoleranz

Wie die Christen von Verfolgtenzu Verfolgern wurden

Aus dem Englischen von Tobias Roth

WALLSTEIN VERLAG

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese

Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet

über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Wallstein Verlag, Göttingen 2019

www.wallstein-verlag.de

Umschlaggestaltung: Susanne Gerhards, Düsseldorf

ISBN (Print) 978-3-8353-3575-2

ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-4427-3

ISBN (E-Book, epub) 978-3-8353-4428-0

INHALT

Kapitel I.

Kapitel II.

Kapitel III.

Kapitel IV.

Kapitel V.

Kapitel VI.

Kapitel VII.

Kapitel VIII.

Kapitel IX.

Kapitel X.

Coda

Literatur

Anmerkungen

I.

Gegen Ende des 2. Jahrhunderts nach Christus gönnen sich drei junge, seit langer Zeit gut miteinander befreundete Männer eine Pause von der Arbeit an den Gerichten Roms und gehen am nahe gelegenen Strand von Ostia, dem geschäftigen Hafen der Stadt, spazieren. Einer der drei, Minucius Felix, wird sich die Unterhaltungen, die sie an diesem Tag geführt haben, später wieder vergegenwärtigen und sie zu dem reich ausgestalteten Dialog Octavius verarbeiten. Das Werk überlebte die Launen die Zeit in einem einzigen Manuskript, das 1543 wiederentdeckt wurde. Es war ein Tag im Frühherbst, erinnert er sich, die sengende Hitze des Sommers hatte endlich nachgelassen, und die Freunde genossen die leichte Brise am Meer, das Plätschern der Wellen und das angenehme Gefühl des weichen Sandes, der unter ihren nackten Füßen knirschte. Während sie so am Wasser entlanggingen, bemerkte einer von ihnen, Caecilius, eine Statue des Serapis, einer beliebten griechisch-ägyptischen Sonnengottheit, führte die Hand zum Mund und warf ihr einen Kuss zu (manum ori admovens osculu, labiis pressit[1]). Die drei setzten ihren Weg fort, erzählten sich Geschichten, hatten ihre Freude an dem Wasser, das ihre Füße umspielte, und beobachteten lächelnd einige kleine Jungen, die in ein Spiel vertieft waren, das bis heute – das können meine Kinder und ich bezeugen – nichts von seinem Reiz verloren hat.

Dieses Spiel besteht darin, einen runden, von den Wogen glatt polierten Stein, den man vom Strande aufgelesen hat, flach in die Finger zu nehmen und ihn, gebückt und nahe am Boden, soweit wie möglich über die Wogen hinsausen zu lassen. Das Wurfgeschoß gleitet entweder bei geringem Schwunge oben auf der Meeresoberfläche dahin oder es schneidet die Wellenkämme und schnellt aufblitzend in vielen Sprüngen in die Höhe. Als Sieger gilt bei den Jungen der, dessen Stein am weitesten geflogen und am häufigsten in die Höhe gesprungen ist.[2]

Caecilius aber lächelte nicht mehr. Er schien plötzlich schweigsam, eingeschüchtert und zurückgezogen (tacens, anxius, segregatus[3]), auf seinem Gesicht zeigte sich, dass er ungewöhnlich verstimmt war. Auf Minucius’ Frage hin, was um Himmels willen denn los sei, antwortete er, er grübele über etwas nach, was ein paar Minuten zuvor Octavius, der Dritte in der Runde, gesagt hatte. Als Caecilius der Statue des Gottes eine Kusshand zugeworfen hatte, hatte sich Octavius an Minucius gewandt und bemerkt, dass es nicht richtig sei, einen Freund »wie das ungebildete Volk in Blindheit«[4] im Stich zu lassen (in hac inperitiae vulgaris caecitate deserere) und zuzusehen, wie »er sich an einem so strahlenden Tage mit Steinen abgibt, mögen sie auch von Künstlerhand geformt und gesalbt und mit Kränzen geschmückt sein.«[5] Obwohl er diese Worte zu Minucius gesprochen hatte, galten sie doch offenbar Caecilius, und sie trafen ihn. Sie warfen ein denkbar scharfes Licht auf den schmerzvollen Riss, der durch den fröhlichen Freundeskreis verlief: Octavius und Minucius waren beide Christen, Caecilius nicht.

Was sollte der Unterschied schon sein, ob man nun den einen Gott vorzieht oder den anderen? In der langen Geschichte Roms hatte es bis zu diesem Zeitpunkt fast keinen Unterschied gegeben. Hin und wieder waren alte Freundschaften in Verbitterung und Zwietracht zerbrochen, Ehepaare hatten sich zerstritten und Völker waren im Krieg miteinander gelegen – aber nie ging es dabei um religiöse Uneinigkeiten. Wenn du Serapis eine Kusshand zuwerfen wolltest, war das genauso deine Angelegenheit, wie es meine Angelegenheit war, dem Äskulap einen Hahn zu opfern oder am Schrein unten an der Ecke ein Trankopfer für Merkur darzubringen. Man verstand die möglichst große Vielfalt der Frömmigkeiten als durchaus im öffentlichen Interesse der Gemeinschaft: Wenn alle Götter etwas Verehrung empfingen, war es unwahrscheinlich, dass die Stadt bei ihnen in Ungnade fällt.

Doch der Unterschied zwischen der Verehrung des einen oder des anderen Gottes hat in der Erzählung des Minucius Felix ein so großes Gewicht erlangt, dass man für ihn einen schönen Strandspaziergang verderben und einen Freund vor den Kopf stoßen kann. »Wie das ungebildete Volk in Blindheit« ist Kampfvokabular, und das ist umso erstaunlicher und heftiger, als es eine private und geradezu spielerische Geste der Frömmigkeit quittiert. Überraschend aber ist dies nicht nur wegen des bloßen Umstandes, dass religiöse Ansichten auseinandergehen. In der Kultur des Minucius war es ganz und gar nicht ungewöhnlich, im Rahmen eines lockeren Gesprächs unter Freunden bedeutende philosophische Themen anzugehen. Solche literarischen Rahmungen waren vor allem durch die Dialoge Platons berühmt geworden. Sie enthalten oftmals realistische Details des Alltagslebens und führen, ehe man sich versieht, aus dem freundschaftlichen Geplauder des Anfangs zu ausgedehnten Erörterungen.

Aber Caecilius hat mit keinem Wort zu einer Debatte über rituelle Praktiken eingeladen, seien es seine oder die anderer; er hat seine Freunde in keiner Weise genötigt, mit ihm gemeinsam Serapis zu verehren; er hat nicht nach ihrer Meinung bezüglich seines oder ihres Glaubens gefragt; und ganz gewiss hat er keine jener Eröffnungen geliefert, wie sie für gewöhnlich am Anfang der Dialoge Platons stehen:

So ungefähr, mein Lysimachos, steht es nach meiner Ansicht mit dem Eifer für diese Kunst. Wir dürfen aber, wie ich dir gleich anfangs sagte, auch unseren Sokrates nicht bei Seite lassen, sondern müssen ihn bitten, er wolle uns mit seinem Rate beistehen und uns sagen, wie er über den vorliegenden Gegenstand denkt.[6]

Nun, Sokrates, was soll denn das? Hippias hat eben einen so inhaltsreichen Vortrag gehalten, und du schweigst und findest kein Wort sei es des Lobes für das Gesagte, sei es der Widerlegung, wenn er dir etwas nicht Zutreffendes gesagt zu haben scheint?[7]

Kannst du mir sagen, Sokrates, ob die Tugend lehrbar ist? Oder ist sie nicht lehrbar, sondern durch Übung zu erlangen? Oder wird sie den Menschen weder durch Übung noch durch Lehre, sondern von Natur oder sonst irgendwie zuteil?[8]

Caecilius hat nichts anderes getan, als in einer stummen Geste seiner persönlichen Frömmigkeit Ausdruck zu verleihen.

Minucius Felix hat subtil die Spielregeln geändert, oder besser gesagt: Es ist längst kein Spiel mehr. Ein Spiel ist das, womit sich die kleinen Jungen die Zeit vertreiben, die Muscheln oder flache Steine über das Wasser hüpfen lassen und dabei einen Wettstreit austragen, der so bedeutungslos wie vergnüglich ist. Die Steine, die Octavius Sorgen bereiten, sind die gefährlichen Klippen, an denen, so die Befürchtung, Caecilius zerschellen könnte. Freunde lassen es nicht zu, wenn ihre Freunde das tun, was Caecilius gerade getan hat, sagt er zu Minucius, nachdem er Zeuge jener Kusshand geworden ist. Wenn Octavius seine Warnung nicht – wie man es tun würde, wenn ein Freund kurz davor wäre, in eine Grube zu fallen – direkt an Caecilius richtet, dann wohl, weil er begreift, dass er eine Grenze übertritt: Er legt nahe, gegen eine Handlung einzuschreiten, die für gewöhnlich völlig unbemerkt und unbeachtet geblieben wäre.

Die Römer konnten durchaus scharfe Diskussionen über ihre Glaubensgrundsätze und Rituale führen, selbst gute Freunde fanden deutliche Worte für Meinungsverschiedenheiten und machten sich über das lustig, was sie an ihrem Gegenüber als Aberglauben oder Unwissenheit abtaten. »Wenn du ein großes, schönes Haus erblickst«, sagt der Stoiker Balbus in Ciceros De natura deorum zu seinem Freund, dem Skeptiker Cotta, »dann könnte dich, auch wenn du seinen Besitzer gar nicht siehst, doch bestimmt nichts zu der Annahme verleiten, es sei für Mäuse oder Wiesel erbaut.«[9] In diesem Sinne, fährt er fort, wenn du behauptest, dass dieses ausgeklügelte Universum, in dem wir uns befinden, deine Wohnung ist und nicht die der Götter, »würdest du nicht für völlig von Sinnen gehalten werden«?[10] Glaubst du, kontert Cotta ironisch, wirklich all die närrischen Märchen, die über die Anwesenheit der unsterblichen Götter in der Welt erzählt werden, »glaubst du also auch, daß die berühmte Stelle in dem Felsen, die heute noch am See Regillus als Abdruck eines Hufes zu sehen ist, tatsächlich vom Pferde des Kastor stammt?«[11] Cotta behält diese Vorgehensweise bei und nimmt systematisch all die liebgewonnenen Glaubenssätze des Stoikers auseinander, während zwei Randfiguren, Velleius und Cicero selbst, zuhören und die Argumente abwägen.

Minucius Felix war mit Ciceros großem Dialog wohlvertraut, er hat Spuren sowohl im Stil als auch im Inhalt seines Octavius hinterlassen. Die altehrwürdige literarische Form weist noch einmal auf die soziale und geistige Welt hin, aus der Minucius und seine Freunde stammten. Aber die grundlegenden Annahmen dieser Welt, wenn sie auch dem Namen nach noch aufrecht standen, begannen bereits zu bröckeln. Der Wandel lässt sich im Vergleich der Schlusspassagen jener beiden Dialoge am besten beobachten. Bei Cicero erreicht der Dialog einen vorläufigen Endpunkt, nachdem Cotta seinen skeptischen Angriff auf den Glauben des Balbus, dass das Universum göttlich geordnet sei, beendet hat. »Etwas zu heftig, lieber Cotta, hast du die Lehre der Stoiker angegriffen, die sie über die Vorsehung der Götter mit so großer Ehrfurcht und Kenntnis aufgestellt haben«[12], sagt Balbus. Aber er macht auch deutlich, dass die Unterhaltung nur zwischenzeitlich ausgesetzt wird:

»Doch weil es nun Abend wird, wirst du uns einen Tag bestimmen, an dem wir unsere Meinung gegen deine hier vorgetragene Ansicht begründen können. Denn ich kämpfe mit dir ja für Altar und Herd, für Tempel und Heiligtümer der Götter […], und dies alles aufzugeben, solange noch ein Atemzug in mir ist, bedeutet in meinen Augen Frevel.«[13]

Cotta seinerseits erklärt sich zu einer Fortsetzung bereit und gibt zuvorkommend zu, dass nicht alle offenen Fragen abschließend geklärt worden sind.

Darauf entgegnet Cotta:

»Ich wünsche sogar, von dir widerlegt zu werden, mein lieber Balbus, und die von mir besprochenen Fragen habe ich mehr erörtern als endgültig entscheiden wollen, und ich bin sicher, daß du mich leicht widerlegen kannst.«[14]

Auch für die beiden zuhörenden Nebenfiguren sind die Argumente zwar gewichtig, aber eine Lösung zeichnet sich am Ende des Dialoges nicht ab: »Nach diesen Worten trennten wir uns, und zwar so, daß Velleius Cottas Vortrag für zutreffender hielt, während mir die Worte des Balbus der Wahrscheinlichkeit näherzukommen schienen.«[15] Es handelt sich um ein Thema für Streitgespräche, das niemals ein Ende im eindeutigen Sieg für die eine oder die andere Seite finden kann, das macht Cicero deutlich. Ganz im Gegenteil ist es der ganze Zweck der Philosophie, das Nachforschen offen und lebendig zu halten.

Im Werk des Minucius Felix hingegen ist es nur allzu klar, dass der letztendliche Zweck des Textes darin besteht, einen solchen Sieg für eine Seite, nämlich die der Christen, in Szene zu setzen. Hätte der Dialog in einem Unentschieden geendet, wäre das ganze Projekt ein Fehlschlag gewesen. Die beiden Hauptfiguren, der Polytheist Caecilius und der Christ Octavius, erkennen ihre tiefgreifenden Meinungsverschiedenheiten und kommen darin überein, zu diskutieren, bis ein klarer und definitiver Schlusspunkt gefunden ist. Caecilius verkündet: »Deshalb möchte ich weiter darauf eingehen: die Sache muß zwischen mir und Octavius grundsätzlich geklärt werden.«[16] Wie im Dialog Ciceros ist auch hier eine Nebenfigur zugegen, die sich durch den Kopf gehen lässt, was die beiden Seiten vorgebracht haben. Aber bei Cicero, wie wir gerade sahen, gab es zwei Nebenfiguren, und bezeichnenderweise waren sie am Ende uneins darüber, welche Seite sich am besten geschlagen habe. Bei Minucius Felix gibt es nur einen Zeugen, den Autor des Dialoges selbst, an den sich beide Seiten wenden und der entscheiden wird, wer als Sieger aus der Diskussion hervorgeht. Es mag etwas seltsam scheinen, dass der Schiedsrichter im Wettstreit zwischen einem Polytheisten und einem Christen selbst einer der beiden gegensätzlichen Richtungen angehört, aber keiner der Diskutanten nimmt Anstoß an diesem Ungleichgewicht. »Wir setzten uns«, schreibt Minucius Felix, »wie er vorgeschlagen hatte, nieder, und zwar so, daß die beiden sich zu meinen Seiten setzten und mich in die Mitte nahmen. […] Ich sollte wie ein Schiedsrichter den beiden als Nachbar Gehör schenken können und in der Mitte die beiden Kontrahenten trennen.«[17]

Eine der interessanten Eigenschaften der Dialogform, die Minucius Felix verwendet, ist es, dass beiden Seiten Raum gegeben werden muss. (Obwohl der christlichen Position dreimal mehr Platz eingeräumt wird als der gegnerischen, ist es kein Wortwechsel à la »Ja, Sokrates« und »Nein, Sokrates«, wie es bei Platon zuweilen vorkommt.) Der Polytheist, der Serapis eine Kusshand zuwarf, beginnt, seine Position darzulegen, indem er den reifen und maßvollen Standpunkt bezieht, der am Ende von Ciceros De natura deorum gestanden hatte. Im Bereich des Menschen, sagt er, »ist alles Wissen unsicher und zweifelhaft und eigentlich immer in der Schwebe, sodass alles nur als wahrscheinlich, nicht als wahr gelten darf (verisimilia quam vera)«[18]. In dieser Perspektive sollte niemand dogmatische Aussagen zu Fragen wie dem Sinn des Universums oder der Existenz Gottes machen – Fragen, die bereits seit Jahrhunderten Streitpunkte in zahllosen Schulen der Philosophie gewesen sind. In Anbetracht der Grenzen, an die die Erkenntnis aller Menschen stößt, sollten wir uns mit einem Minimum an Selbsterkenntnis – was schwierig genug ist – zufriedengeben, und uns nicht zu Versuchen hinreißen lassen, die Geheimnisse des Himmels und der Erde zu ergründen.

Aber diese weise Bescheidenheit erweist sich als ein extrem anspruchsvolles Ziel. Unser tollkühner Übermut verführt uns immer wieder dazu, die Grenzen zu überschreiten, um verrückte und unfruchtbare – insano et inepto – Spekulationen über das anzustellen, was wir unmöglich mit Gewissheit begreifen können. Zumindest sollten wir, so Caecilius, diese hinfälligen Spekulationen nicht noch durch »gegenstandslose Schreckbilder«[19] verschlimmern. Vielleicht schaffen wir es nicht immer, gibt Caecilius zu, unseren unstillbaren Drang, die Himmel zu vermessen, zu zügeln, aber wir müssen uns nicht von ausgedachten Ängsten beherrschen lassen. »Woher dann die religiöse Scheu, woher die Angst, der Aberglaube?«[20] (unde haec religio, unde formido, quae superstitio est?).

Dieses Argument ist eine überraschende Eröffnung aus dem Munde desjenigen, dessen kleine Frömmigkeitsgeste die ganze Diskussion ausgelöst hat. Man hätte vielleicht eher eine kleine Ausführung über die Bedeutung des Serapis erwartet; über die mystische Verbindung von Rom mit dem Geist Griechenlands und Afrikas durch diesen Gott, seine Verheißung von Überfluss und Auferstehung, seine besondere Macht über die Unterwelt. Im Rom des späten 2. Jahrhunderts, wo Minucius Felix den Octavius schrieb, besaß der Kult des Serapis, eine ptolemäische Adaption des ägyptischen Gottes Osiris, eine bemerkenswerte und wachsende Bedeutung. Auf einem berühmten Tafelgemälde aus dieser Zeit, das sich heute in der Berliner Antikensammlung befindet, ist der Kaiser Septimius Severus – in dessen Herrschaftszeit die Abfassung des Dialoges gefallen sein könnte – mit den Attributen des Serapis dargestellt; sein Sohn und Erbe Caracalla wird die kaiserliche Identifikation mit genau dieser Gottheit fortsetzen.[21] Nichts macht die Bedeutung und die Macht, die diesem Kult zugeschrieben wurde, deutlicher. Als Erweiterung seiner beiläufigen Kusshand hätte der junge Mann umstandslos noch ein Opfer von Räuchwerk und Öl, von mit Narden beträufelten Feigen und einem Paar milchweißer Gänse vorschlagen können.

Stattdessen wendet sich Caecilius ganz vom Thema der religiösen Verehrung ab und ihrem radikalen Gegenteil zu. »Denn angenommen«, überlegt er, »die Natur habe im Anfang (principio), durch sich selbst befruchtet, die Urkeime aller Dinge hervorgebracht.«[22] »Wer«, fragt er seinen christlichen Freund, »war da der Schöpfergott?«[23] Diese Frage, die sich skeptisch an eine Überzeugung richtet, die viele religiöse Kulte teilen, scheint unmittelbar diejenige Grundüberzeugung herauszufordern, die in den ersten Worten der hebräischen Bibel formuliert ist: »Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde.« Der Polytheist bietet eine Alternative für diese Überzeugung an: »Oder gesetzt den Fall, durch zufällige Begegnung seien die Teile des Weltalls zusammengewachsen, geordnet und gestaltet: wer war da der göttliche Baumeister?«[24] Schließlich bewegen wir uns im Bereich der bloßen Spekulation, und es gibt keinen Grund für die Annahme, dass die Welt durch intelligent design erschaffen wurde. Ihre Gestalt hätte sie auch durch die zufällige Kombination der Atome erhalten können. Caecilius trägt diese wissenschaftliche Theorie nicht wie eine Gewissheit vor sich her. Für ihn ist es nur eine Hypothese, ein »angenommen« – aber mit bedeutenden Implikationen.

Caecilius trägt die uralte materialistische Ursprungstheorie vor, die bereits Jahrhunderte vor dem Christentum formuliert wurde und auch in seiner Zeit noch geläufig war. Er empfiehlt sie als ein rationales Heilmittel für diejenigen, die unter dem Schrecken der Vorstellung eines von Gott geschaffenen Universums leiden. Die Behauptung, dass ein Schöpfergott existiert, der alles Leben überwacht, der Belohnung und Strafe verteilt, ist gar nicht nötig. Es bedarf keiner göttlichen Kraft. Die Prozesse der Natur genügen, um zu erklären, warum die Dinge sind wie sie sind, wie sie geworden sind und was schließlich aus ihnen werden wird. »Der Mensch und jedes Lebewesen, das gezeugt wird, das Odem empfängt und heranwächst, ist eine im gewissen Sinne beliebige Verbindung jener Elemente (elementorum).«[25] Wenn diese Elemente, fährt er fort, zufällig zusammenkommen und mit der Zeit Ordnung und Gestalt annehmen, dann brauche es keinen »Schöpfer, Richter, Urheber.«[26]

Caecilius betont die große Erleichterung, die diese grundlegende wissenschaftliche Anschauung dem menschlichen Geist gewährt: »Woher dann die religiöse Scheu, woher die Angst, der Aberglaube?«[27] Ohne einen deus machinator sind die Menschen von der nagenden Angst vor göttlicher Strafe befreit. Sie können aufhören, bang den Himmel nach Zeichen einer verborgenen Ordnung abzusuchen und beständig den einen oder den anderen Gott milde zu stimmen. Der Regen wird weiterhin fallen, der Hagel weiter prasseln, der Donner wird verhängnisvoll grollen, aber alle diese Vorgänge haben, zum Guten wie zum Bösen, keinerlei moralische Bedeutung. Blitze zucken herab, aber »wahllos treffen sie geweihten und ungeweihten Grund«[28]. Diese Zufälligkeit lässt die Illusion göttlichen Schutzes in sich zusammenfallen, und das mag zwar bestürzend sein, aber es ist auch befreiend, denn es erlaubt einen Blick auf die Welt, wie sie tatsächlich ist.

Die moralische Ordnung, die Gesellschaften etablieren und an der die Einzelnen ihr Leben ausrichten, wurde weder von den Göttern erschaffen, noch wird sie von ihnen überwacht. Rituelle Praktiken (religiones) haben keine Wirkung auf den Ausgang. Stürme brechen über die Sünder und die Gottesfürchtigen gleichermaßen herein; die Schicksale der Guten und der Bösen fallen im Schiffbruch zusammen; wütende Feuer verschlingen unterschiedslos die Unschuldigen und die Schuldigen; in einer Seuche gehen alle gleichermaßen zugrunde. In einer Welt, die von göttlicher Vorsehung gelenkt wird, würde sich das Los, das dem Tugendhaften zuteilwird, von dem des Lasterhaften deutlich unterscheiden, aber in einer solchen Welt leben wir nicht. Glaubhafter erscheint es, dass der Zufall – gesetzloser Zufall, überraschende, planlose Ereignisse – alles beherrscht.

Nachdem er seinen christlichen Freunden eine Verteidigung des Materialismus geboten hat und nicht, wie sie es gut und gerne erwarten konnten, zur Verteidigung des Serapis aufgelaufen ist, schlägt Caecilius einen weiteren unerwarteten Haken. Gerade deshalb nämlich, fährt er fort, weil die Welt nicht von göttlicher Vorsehung, sondern von der Zufälligkeit der Dinge beherrscht wird, von den zufälligen, unkontrollierbaren, blinden Abweichungen der Materie, sollte man größere Ehrfurcht zeigen und »sich der Wahrheit der Lehren der Alten anschließen, die überlieferten Religionen pflegen (religiones traditas colere) und jene Götter verehren, die dich die Eltern weniger vertraulich kennen als vor allem fürchten lehrten«[29]. Seine entzaubernde Erzählung vom Universum bringt ihn nicht dazu, sich einem programmatischen, militanten Atheismus hinzugeben, sondern ganz im Gegenteil eine undogmatische, sanfte und höchst traditionelle Frömmigkeit zu befürworten. Genau diese stille Frömmigkeit ist es, die durch die Kusshand en passant für Serapis genau auf den Punkt gebracht worden ist.

Caecilius stellt schnell klar, dass seine Position im Grunde wenig oder nichts mit einer besonderen missionarischen Vorliebe für Serapis zu tun hat, nichts mit der Hoffnung, dass eines Tages jedermann Kusshände in die gleiche Richtung werfen wird:

So können wir auch sehen, wie durch das ganze Imperium hin die einzelnen Provinzen und Städte ihre besonderen Kultriten haben und einheimische Gottheiten verehren; die Eleusinier zum Beispiel die Ceres, die Phryger die Große Mutter, die Epidaurier den Äsculap, die Chaldäer den Belus, Astarte die Syrer, Diana die Taurier, die Gallier den Merkur – und die Römer sie alle (universa Romanos).[30]