Winternähe - Mirna Funk - E-Book

Winternähe E-Book

Mirna Funk

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Mirna Funk erzählt die Geschichte einer jungen deutschen Jüdin in Berlin und Tel Aviv. Ihr Name ist Lola. Sie ist Deutsche. Sie ist Jüdin. Und die einzige, der ihr ein Hitlerbärtchen ins Gesicht malen darf, ist sie selbst. Sie hat genug davon, dass andere darüber bestimmen wollen, wer sie ist und wer nicht. Sie entscheidet, wovon sie sich verletzt fühlt und wovon nicht. Wer bestimmt darüber, wer wir sind? Unsere Herkunft, falsche Freunde, orthodoxe Rabbiner? Lola ist in Ost-Berlin geboren, ihr Vater macht rüber und geht in den australischen Dschungel. Sie wächst auf bei ihren jüdischen Großeltern und ist doch keine Jüdin im strengen Sinne. Ihre Großeltern haben den Holocaust überlebt, sie selber soll cool bleiben bei antisemitischen Sprüchen. Dagegen wehrt sie sich. Sie lebt in Berlin, sie reist nach Tel Aviv, wo im Sommer 2014 Krieg herrscht. Sie besucht ihren Großvater und ihren Geliebten, Shlomo, der vom Soldaten zum Linksradikalen wurde und seine wahre Geschichte vor ihr verbirgt. Lola verbringt Tage voller Angst und Glück, Traurigkeit und Euphorie. Dann wird sie weiterziehen müssen. Hartnäckig und eigenwillig, widersprüchlich und voller Enthusiasmus sucht Lola ihre Identität und ihr eigenes Leben.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 387

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Mirna Funk

Winternähe

Roman

FISCHER E-Books

Inhalt

WidmungMottoPrologBerlin12345678910Tel Aviv1234567891011Bangkok1234567891011EpilogDanksagung

Für A.M.

Das wahre Bild der Vergangenheit huscht vorbei. Nur als Bild, das auf Nimmerwiedersehen im Augenblick seiner Erkennbarkeit eben aufblitzt, ist die Vergangenheit festzuhalten. ›Die Wahrheit wird uns nicht davonlaufen‹ (…).

 

»Über den Begriff der Geschichte«, Walter Benjamin

Prolog

Lola nahm einen schwarzen Kajalstift aus ihrem Lederbeutel, beugte sich über das Waschbecken, so dass sie sich besser im Spiegel sehen konnte, setzte ihn über ihrer Oberlippe an und malte den Bereich ihres Philtrums vollständig aus. Dabei entstand ein anderthalb Zentimeter hohes und ein Zentimeter breites schwarzes Rechteck, das aufgrund der Glitzerpartikel im Kajalstift leicht schimmerte. Sie wusch sich die Hände, trocknete sie mit grauen, rauen Papiertüchern ab und ging zurück zum Gerichtssaal. Als Lola die Tür öffnete, befragte der Richter gerade die Angeklagte, die sich auf Facebook und Instagram Karla Minogue nannte und in Wirklichkeit Manuela Müller hieß, zu dem Vorfall im Herbst 2012. Der zweite Angeklagte, Olaf Henninger, saß zusammengesunken auf seinem schwarzen Stuhl.

Niemand außer David Frenkel, Lolas Anwalt, bemerkte, wie Lola den Raum betrat. Was in den wenigen Sekunden passierte, bis David bewusst wurde, was Lola getan hatte, sah eigentlich nur in Slowmotion so richtig gut aus. David blickte kurz zur Tür, als Lola reinkam, und lächelte sie automatisch an, genauso wie man Menschen eben automatisch anlächelt, denen man emotional zugetan ist. Dann drehte er sich genauso automatisch wieder zum Richter um. Und obwohl David mit dem Rücken zu Lola saß, konnte sie sehen, wie der Schock durch Davids ganzen Körper fuhr. Sie konnte sehen, wie er seine Hände vor das Gesicht legte. Und sie konnte sehen, dass er nicht sicher war, ob er sich jemals wieder zu ihr umdrehen sollte. Aber David drehte sich um und mit ihm auch alle anderen Personen, die sich im Gerichtssaal befanden. Die Protokollantin, die ein dunkelblaues, schlechtsitzendes Kostüm trug und rechts neben dem Richter am Fenster saß, drehte sich zu Lola. Der Richter, der eigentlich nur aus einem schwarzen Umhang und einem kleinen Kopf bestand, drehte sich zu Lola. Die Angeklagte, der Angeklagte und der Verteidiger drehten sich zu Lola. Sie alle starrten auf dieses schwarze Rechteck über Lolas Oberlippe, das symbolisch für den Führer stand, also die Person, die in Deutschland öfter auf dem Titelblatt des Spiegels zu sehen ist als jeder andere prominente Mensch, obwohl man ihn angeblich so sehr verachtet.

Lola setzte sich neben David. Der Richter schüttelte den Kopf, und der Verteidiger rief: »Herr Richter, das geht so nicht. Das muss unterbunden werden!« Weil keiner der Anwesenden seine Gefühle in irgendeiner Form kontrollieren konnte, vibrierte der Raum auf eine sehr angenehme Art und Weise. Und genau diese Vibration führte dazu, dass Lola zum ersten Mal an diesem Vormittag im Juni 2013 mit dem Verlauf der Verhandlung ernsthaft zufrieden war.

Dann wurde alles wieder schrecklich deutsch, und der Richter bat David zu sich ans Pult und flüsterte Dinge in sein Ohr. David kehrte zu Lola an den Tisch zurück und sagte leise: »Du musst jetzt leider den Gerichtssaal verlassen, Lola. Der Richter fühlt sich despektierlich behandelt. Was hast du dir nur dabei gedacht, Mensch. Das hätte echt nicht sein müssen. Lass uns später sprechen. Ich versuche hier mein Bestes, okay? Und dann ruf ich dich an, sobald die Verhandlung vorbei ist.« Lola überlegte kurz, nicht zu flüstern, sondern ziemlich laut zu schreien, nahm aber nur ihren Lederbeutel vom Tisch, stand ganz langsam auf – eigentlich viel zu langsam – und schaute den Anwesenden noch einmal in die Augen. Sie schaute Manuela Müller in die Augen und auch Olaf Henninger, dem Verteidiger Schulze, dem Richter Dr. Frank Schlapp und sogar der Protokollantin. Bevor sie hinter der Tür verschwand, winkte sie David kurz zu und machte heimlich aus der Hüfte einen Hitlergruß.

 

Auf der Turmstraße vor dem Eingang des Kriminalgerichts flog Lola der Sommerschnee ins Gesicht. Die Pappeln hatten spät begonnen zu blühen. Sie überlegte, ob sie Max anrufen sollte, ihre engste Freundin, aber Max würde sagen: »Hör mal, spinnst du!«

Berlin

1

Dass es überhaupt zu einer Gerichtsverhandlung kommen musste, war Manuela Müller und Olaf Henninger zu verdanken. Manuela war eine kräftige Brünette, die immer einen Tick zu schnell und zu affektiert sprach, um von ihrem Umfeld so ernst genommen zu werden, wie sie es sich erhoffte. Manu arbeitete als Verkäuferin bei COS in der Neuen Schönhauser Straße und ging am liebsten ins Dolores Mittagessen. Olaf war für den Sales-Bereich der What’s next? verantwortlich, einer Konferenz für neue digitale Medien, und ein schlaksiger Enddreißiger, der immer noch dreimal die Woche Koks zog.

Das zehnjährige Bestehen der What’s next? wurde im Berliner Congress Center am Alexanderplatz ausgiebig gefeiert, doch Lola war an diesem Abend im Bett geblieben. Und als sie am Morgen nach der Veranstaltung aufwachte, hatte Manuela Müller, die mit ihr aus verqueren Gründen auf Facebook befreundet war, ein Foto von Lola getaggt. Auf diesem Foto war Lola zu sehen, oder vielmehr ein Selfie von ihr, das man ohne ihre Erlaubnis im Rahmen der Feierlichkeiten mit einigen anderen Selfies von einigen anderen Instagram-Größen aufgehängt hatte. Man konnte auf diesem Foto Lolas Selfie sehen und wie es an der Wand hing, aber insbesondere konnte man Olaf Henninger sehen, der einen schwarzen Edding in der Hand hielt und einen Hitlerbart über Lolas Oberlippe malte. Dabei machte Olaf Henninger nicht nur ein äußerst vergnügtes Gesicht, sondern auch den weltbekannten Terry-Richardson-Daumen. Das muss vor Ort so lustig ausgesehen haben, dass Manuela nicht widerstehen konnte, davon ein Foto zu machen, dieses dann auf Facebook hochzuladen und als Kommentar darüber »Olaf Henninger schminkt« zu schreiben. Das Foto hatte binnen weniger Minuten vierundsiebzig Likes und dreiundvierzig Kommentare. Diese dreiundvierzig Kommentare wechselten im Tonfall zwischen »Saulustig!« bis »Seid ihr völlig bescheuert?«, was so viel hieß wie Was-hab-ich-mit-dem-Holocaust-zu-tun und Wir-dürfen-den-Holocaust-niemals-vergessen.

Lola saß derweil in ihrem Bett, hatte den Rechner auf ihrem Schoß und fühlte nichts. Dann summte ihr Handy, und sie sah, dass Manuela aka Karla Minogue sie schon wieder getaggt hatte. Diesmal auf Instagram. Auch hier erschien das Foto von Lolas Selfie, das Olaf mit einem Hitlerbart versehen hatte. Und weil Lola weiterhin nichts fühlte, machte sie erst einmal Screenshots. Von allem: den Profilen von Manuela und Olaf, den geposteten Bildern, den Likes und den Kommentaren. Als sie damit fertig war, trafen die ersten Nachrichten auf ihrem Handy ein, die sich ausschließlich um das Foto drehten. Selbst Lolas Freunde reagierten auf völlig gegensätzliche Weise. Manche fanden ihre Selbstironie »geil«, andere, darunter ihre jüdischen Freunde, fragten, ob das von Lola so gewollt war. »Immer musst du so krass übertreiben«, schrieb Ari, und Rosa schickte eine WhatsApp-Nachricht: »Ich find’s ultra unangebracht.«

Es war 11:27 Uhr, als Max anrief. Sie fragte Lola in einer beunruhigenden Neutralität, ob sie das mit Manuela abgesprochen hätte. Lola legte auf, ohne zu antworten, löschte die Markierung auf Facebook und auf Instagram, wählte die Telefonnummer der PR-Abteilung der What’s next? und brüllte drei Minuten Beschimpfungen ins Telefon. Dann rief sie ihre Freundin, die Musikerin Miri Eshkenazi, an, schrie auch hier wieder die meiste Zeit und schaffte es dennoch, die Nummer von Miris Anwalt, David Frenkel, zu notieren.

Obwohl maximal fünfzehn Minuten vergangen waren, fühlte sich Lola so erschöpft, als wäre es schon zwei Uhr nachts. Sie ging ins Bad, erinnerte sich daran, dass das Warmwasser an diesem Tag abgestellt war, drehte trotzdem den Hahn voll auf und duschte das erste Mal in ihrem Leben eine halbe Stunde kalt.

Danach fühlte Lola wieder nichts mehr. Sie druckte alle Screenshots aus, zog sich schnell etwas an, setzte sich auf ihr Fahrrad und fuhr durch die mit nassen Blättern bedeckten Straßen zur Polizeidienststelle in der Brunnenstraße. Dort empfing sie ein ruppiger Polizeibeamter, der aber, nachdem er die Screenshots gesehen hatte, nicht nur sofort einen Kriminalbeamten anrief und ihm die Situation schilderte, sondern auch äußerst freundlich wurde. Dann bekam Lola ein Merkblatt in die Hand gedrückt und musste im Warteraum Platz nehmen.

Nach einer Dreiviertelstunde trat eine Polizeibeamtin aus einem muffigen Raum heraus, in den sie Lola hereinbat. Der Raum roch nach kaltem Rauch. Die alten, vergilbten Poster, die an der Wand hingen, waren an den Ecken eingerissen, und der runde Tisch aus Pressspan stand verloren auf dem braunen Linoleum. Lola breitete die Screenshots auf dem Tisch aus, weil die Polizeibeamtin aber zuvor noch nie von Facebook oder Instagram gehört hatte, musste Lola ihr erst einmal beides erklären. Auch die Funktionen Liken, Kommentieren und Taggen. Das führte dazu, dass sie sich sichtlich näherkamen, denn dafür hatte sich scheinbar bisher noch niemand Zeit genommen. Nachdem die Lernphase abgeschlossen war, zeigte Lola abwechselnd auf Likes, Kommentare, Tags, Profile sowie Fotos, und die Polizeibeamtin musste den Begriff dazu nennen. Das lief ausgesprochen gut, und als Lola das Gefühl hatte, dass die Polizeibeamtin jetzt mit Facebook und auch Instagram umgehen konnte, erzählte sie von Manuela Müller, die sie nur kannte, weil sie manchmal bei COS shoppte und weil Manuela Müller vor fünf Jahren eine Affäre mit Lolas Exfreund angefangen hatte und sich seither schuldig fühlte. Dann berichtete sie von Olaf Henninger, den sie auch kannte, aber ausschließlich von den Abenden, die er in der Odessa Bar verbrachte, um Kokain zu ziehen, das Lola jedes Mal dankend abgelehnt hatte. Die Beamtin fragte, ob Lola sicher sei, dass Olaf Henninger nicht vielleicht unglücklich verliebt in sie wäre und der Hitlerbartvorfall möglicherweise aufgrund einer emotionalen Zurückweisung passiert sei. Als die Beamtin diese Frage zu Ende formuliert hatte, erklärte Lola schreiend, dass sie Jüdin sei und dass man das wisse, dass Manuela und Olaf das wüssten und dass es ihr scheißegal sei, ob Olaf verliebt und Manuela braindead wäre, schließlich könne man unter absolut keinen Umständen auf einer Veranstaltung mit über fünftausend geladenen Gästen, die alle in gewisser Hinsicht aus Lolas Arbeitsumfeld stammten, einem Porträt von ihr einen Hitlerbart verpassen. Die Beamtin wurde rot und versuchte, Lola zu beruhigen. Das war aber nicht einmal Miri Eshkenazi gelungen. Also behauptete sie einfach, telefonieren zu müssen, und flüchtete aus der misslichen Lage. Sie ließ Lola mit ihrem Schreianfall zurück, an diesem braunen, hässlichen Pressspantisch mit den ausgebreiteten Screenshots. Als Lola niemanden mehr zum Anschreien hatte, dachte sie nach. Sie dachte daran, wie sie noch vor Jahren bei Hannah, ihrer Großmutter, gesessen hatte, die immer und überall Vorboten für das Sequel zum Holocaust sah, und wie sie jedes Mal mit den Augen rollte, wenn Hannah mit diesem Quatsch anfing. »Ich sehe keinen Antisemitismus«, hatte Lola immer zu ihrer Großmutter und auch zu allen anderen gesagt, die solchen Mist behaupteten. Sie dachte auch daran, wie in der Schule plötzlich rausgekommen war, dass sie Jüdin ist, und wie dann alle furchtbar nett zu ihr waren und sie drei Wochen später zur Klassensprecherin gewählt wurde. Sie dachte an ihren ersten Freund, der auch ostdeutscher Jude war und mit dem sie nur deshalb zusammen war, weil alle fanden, dass das doch eine unglaubliche Begegnung sei, schließlich hätten seine Urgroßmutter und ihr Urgroßvater zusammen in Schanghai im Exil gelebt, aber Lola hatte ihn nie geliebt und irgendwann verlassen, weil ihr diese Zusammenhänge absolut nebensächlich erschienen. Außerdem dachte sie daran, wie sehr Simon, ihr Vater, Deutschland hasste und wie ihr das so dermaßen auf die Nerven gegangen war, dass sie ihn nicht mehr ernst nehmen konnte. Sie hatte sich immer als Deutsche gesehen. Immer. Sie war als Jüdin großgezogen worden. Von Hannah und von Gershom und natürlich von Simon.

Lola hatte ihren Kopf auf den Screenshots abgelegt, und ihre Arme hingen kraftlos am Körper runter. Ihr war schlecht und schwindelig. Es schien sich eine Tür geöffnet zu haben, die sich nun nicht mehr schließen ließ, hinter der sich eine Wahrheit befand, die Lola viel zu lange einfach ignoriert hatte.

Die Polizeibeamtin betrat den Raum und brachte die ausgefüllte Anzeige mit. »Liebe Frau Wolf, ich kann ihnen mitteilen, dass es sich nicht nur um eine Beleidigung, sondern außerdem um ein Vergehen nach § 86a handelt. Es ist nach dem deutschen Gesetz verboten, verfassungswidrige Symbole zu verwenden oder zu verbreiten.« Lola atmete tief aus. Sie nahm den Zettel entgegen, steckte ihn mit den Screenshots in ihre Tasche und fuhr auf dem schnellsten Weg zurück in ihre Wohnung.

 

Sie krabbelte unter die Decke ihres Bettes und managte den nicht enden wollenden Ansturm an Reaktionen auf das getaggte Foto. Am späten Nachmittag rief der Chef der What’s next? zurück und entschuldigte sich bei ihr, wie sich vorher noch nie jemand bei ihr entschuldigt hatte. Er versicherte, Konsequenzen aus dem Vorfall zu ziehen, und erörterte ausgiebig, wie unangenehm ihm das Verhalten von Olaf Henninger war. Theoretisch hätte sich Olaf Henninger selbst unangenehm sein müssen, aber weder er noch Manuela fanden ihr Verhalten unangebracht. Und damit waren sie nicht allein. Schnell merkte Lola, wer auf der Der-Holocaust-is-so-over-Seite und wer auf der Wir-dürfen-nicht-vergessen-was-geschehen-ist-Seite stand. Das erste Schreiben, das auf die Unterlassungserklärung ihres Anwalts folgte, musste Lola geradezu zwanghaft dreißig Mal hintereinander lesen. Denn im Gegensatz zum Geschäftsführer der What’s next? fanden Manuela und Olaf sich selbst richtig witzig. Die Erklärung der beiden, weshalb sie Lolas Porträt mit einem Hitlerbart versehen, davon ein Foto geschossen und dieses bei Facebook und Instagram hochgeladen hatten, war so unfassbar, dass Lola es kaum aushielt. Sie rief Miri an und las ihr den besten Satz des gesamten Dokuments vor: »Die Entscheidung, das Bild Ihrer Mandantin mit einem Hitlerbart zu versehen, hatte keinen rassistischen oder antisemitischen Hintergrund, sondern sollte lediglich das Groteske der Veranstaltung dokumentieren.« Dann schrie Lola wieder ins Telefon und versicherte Miri, dass sie diese beiden Schwachköpfe vor Gericht schleifen würde, egal ob David ihr davon abriet oder nicht. David riet ihr davon ab. Vom ersten gemeinsamen Treffen an, bei dem sie das zukünftige Vorgehen besprochen hatten, versuchte er, Lola davon zu überzeugen, nicht vor Gericht zu gehen. Er wollte verhindern, dass sie vor einem Richter sitzen würde, der auf der Holocaust-is-over-Seite stand, und er wollte ihr die Tragödie ersparen, die Verhandlung am Ende zu verlieren, und schlug vor, stattdessen Schadensersatzansprüche geltend zu machen. Aber Lola reichte das nicht. Lola konnte diese Tür nicht mehr schließen, die sich da plötzlich auf der Polizeidienststelle in der Brunnenstraße geöffnet hatte. Lola wollte Gerechtigkeit.

2

Der Vorfall hatte Lola grundlegend, auf stille Weise verändert. Zwar ging sie täglich ins Büro der Bilddatenbank Perfect Shot, für die sie arbeitete, aber am Abend blieb sie meistens zu Hause, anstatt mit Freunden auszugehen. Manchmal wachte sie morgens auf und dachte, dass das alles nur ein absurder Zufall gewesen war und nicht für eine beunruhigende politische Entwicklung innerhalb der Gesellschaft stand, und dann wachte sie manchmal auf und dachte, dass es sich dabei um Hannahs Vorboten handelte.

An einem Nachmittag saßen Lola und das Team von Perfect Shot zusammen, um die anstehende Umzugssituation zu diskutieren. Heiner Stab führte aus, dass sich Räumlichkeiten in Charlottenburg aufgetan hätten, in die er gerne ziehen würde, und dass die dortigen Lichtverhältnisse ideal für die Arbeit mit Bildern seien. Seine Rede unterbrach Nina Rabe, Stabs Sekretärin, die die Verhandlungen mit den Eigentümern führte: »Die Büros sind wirklich ganz wunderbar und ideal für eine Bildagentur. Trotzdem sieht es leider so aus, als ob wir uns nicht einigen könnten. Der Mietpreis, der von den Immobilienhaien Shtizberg angesetzt wurde, ist absolut frech und, wenn ich sagen darf, unter aller Sau. Wir haben es hier mit einem typisch jüdischen Problem zu tun: Gier!« Daraufhin erwiderte der schwedische IT-Spezialist Torben Quisling, er kenne das aus Stockholm und man dürfe diese jüdische Mischpoke nicht unterstützen. Es würden sich bestimmt auch andere schöne Räume finden lassen, die nicht aufgrund dieser orientalischen Profitgier unbezahlbar wären.

Lola schaute sich jeden Einzelnen genau an und wartete darauf, dass sich noch mehr der siebzehn Anwesenden zum jüdischen Problem äußern würden. Alle glaubten, frei sprechen zu können und sagen zu dürfen, was ihnen auf der Zunge lag. Nachdem ihre Kollegin Viktoria, die ihr von allen am liebsten war und mit der sie über ein Jahr lang den Schreibtisch am Fenster geteilt hatte, einen fünfminütigen Vortrag über die Familie Rothschild gehalten hatte, stand Lola auf und erklärte, dass sie mit sofortiger Wirkung kündige, weil sie nicht bereit sei, als Jüdin weiterhin unter einem Haufen Antisemiten zu arbeiten. Und dass ihre Großmutter Hannah Hirsch, die Dachau überlebt hatte, ihr die wichtigste Lektion ihres Lebens mitgegeben habe: Man kann sagen und machen, was man will, aber man muss am nächsten Tag noch in den Spiegel schauen können – ohne Scham!

 

489 Tage hatte Lola in der Agentur Perfect Shot gearbeitet. 489 Tage neben und mit Antisemiten, die sich niemals als solche bezeichnen würden. »Man muss doch auch mal offen etwas sagen dürfen«, hatte Viktoria ihr hinterhergerufen, nachdem Lola den Meetingraum verlassen hatte.

Als Lola in der U-Bahn saß und nach Hause fuhr, war ihr wieder genauso schlecht und schwindelig wie damals auf dem Polizeirevier. Sie wollte Hannah anrufen, aber Hannah war tot. Und als sie sich vorstellte, wie es wäre, jetzt Simon anzurufen, mit dem sie seit zehn Jahren kein Wort gesprochen hatte, wusste sie, dass Simon sich niemals an Hannahs Lektion gehalten hatte. Er war lieber ans Ende der Welt gezogen, in den Dschungel, um nie wieder in einen Spiegel blicken zu müssen. Simon hatte niemals die Wahrheit gesagt, war nie für etwas ernsthaft eingestanden, und alles, was er sein Leben lang als mutige Rebellion verkauft hatte, war Flucht vor Verantwortung. Selbst sein Ausreiseantrag, den er 1986 gestellt hatte, war ein Konglomerat an Ausreden. Eine Ansammlung von haltlosen Begründungen, die, wenn man Simon nur ein kleines bisschen kannte, absolut lächerlich wirkten. Er, der sich immer als Rebell und Anarchist gebärdet hatte; der Lola, als sie neun Jahre alt war, Englisch beigebracht hatte, damit sie beide beim Schwarzfahren – durch ganz Berlin – im Falle einer Kontrolle, auf Englisch sagen könnten, dass sie nichts von Fahrscheinen gewusst hätten; er, der immer eine Insel kaufen wollte, auf die sie sich, im Falle eines Dritten Weltkriegs – der für Simon immer und zu jeder Zeit kurz bevorstand –, hätten zurückziehen können: Dieser Mann schrieb in seinem Ausreiseantrag, dass er nach Israel wolle, um israelischer Staatsbürger zu werden, um Alija zu machen, wie es unter Juden heißt. Aber dieser Mann hasste die Armee noch mehr, als er Deutschland hasste, und er wusste längst, dass er drei Jahre dienen müsste, um Israeli sein zu können, was er sich angeblich so sehr wünschte. Er dachte, das würde die DDR überzeugen. Einen armen Juden, der zu viele Kilometer von seiner ursprünglichen Heimat entfernt war, den würde man ziehen lassen. Man würde ihm helfen, seine Sachen zu packen, seine Koffer tragen und ihn in den vom Staat bezahlten Flieger setzen. Damit dieser arme Jude endlich in sein Heimatland zurückkehren könnte. Erez Israel. Amen.

Simon drückte auf die Tränendrüse, anstatt die Wahrheit zu sagen. Statt zu schreiben, dass er die DDR hasste, ihr System, ihre Überwachung, ihre Freiheitsbeschränkung, ach, einfach alles, schwieg er. Und weil Simon nicht nur ein normaler Mann in einem Piratenkostüm war, sondern absolut kein Vertrauen in die Menschheit hatte, wartete er nicht auf eine Antwort, sondern begann an dem Tag, an dem er den Antrag abgeschickt hatte, zu trainieren. Für seine Flucht.

Es war der Sommer ’86, Simon wohnte in einer besetzten Wohnung in Friedrichshain. Er hatte nach der Scheidung von Petra, Lolas Mutter, keine Wohnung bekommen. So wie das in der DDR üblich war. Also verbrachte er nach seinem Auszug Tage damit, durch die Stadt zu ziehen und nach leerstehendem Wohnraum zu suchen. Er war anfänglich bei seinem Freund Stefan untergekommen, der ähnlich wie er geschieden war und die DDR hasste. Im Gegensatz zu Simon hatte Stefan allerdings alles, was er über diesen Unrechtsstaat dachte, in seinen Ausreiseantrag geschrieben. Stefan, den er schon seit Schulzeiten kannte, wohnte in der Mainzer Straße in der Wohnung eines verstorbenen Onkels, also beschränkte sich Simons Suche auf die Gegend rund um den Boxhagener Platz.

Diese Suche war schließlich erfolgreich. Simon fand eine leerstehende Wohnung im vierten Stock. Das war wichtig, denn niemand sollte täglich an seiner Tür vorbeimüssen. So konnte er in gewisser Hinsicht inkognito in diesem Haus leben. Um die notwendige Elektrizität in seine Wohnung zu leiten, bohrte er ein kleines Loch in die rechte untere Ecke der Wohnungstür. Die elektrischen Leitungen verliefen hinter einer Plastikabdeckung im Hausflur, er zog eine Leitung heraus, verband sie mit einem Kabel, das er besorgt hatte, und führte es durch das Loch in seine Wohnung. Simon war außergewöhnlich begabt, wenn es um Technik ging. Als Kind hatte er Radios gebaut und war immer zu den Nachbarn geschickt worden, wenn diese Probleme mit ihren Geräten hatten. Er war ein beliebter, flinker, aber schüchterner Junge gewesen. Ein bisschen schmächtig, mit großen dicken Locken, die man aufgrund seines Kurzhaarschnitts aber nur erahnen konnte.

Die Kohlen, die er für die kalten Wintermonate brauchte, klaute er aus den umliegenden Kellern zusammen. In der Wohnung lag eine Matratze, seine Bücher waren daneben aufeinandergestapelt und seine Gitarre in einer Halterung befestigt. Simon verdiente sein Geld zu dieser Zeit mit Straßenmusik und als Notdienstfahrer. Er hatte sein Studium abgebrochen und den Kontakt zu seinen Eltern, seiner Schwester, zu Petra und Lola vollständig eingestellt. Stefan war sein einziger Gesprächspartner, und wenn sie sich unterhielten, ging es um die Flucht. Alles in Simons Leben drehte sich nur noch um die Flucht. Er erstellte einen Trainingsplan, der es ihm ermöglichen sollte, lange Strecken immer schneller zu laufen. Im ersten Monat rannte er jeden Tag fünf Kilometer. Im zweiten Monat zehn und im dritten zwanzig. Neun Monate lang lief er zwanzig Kilometer am Tag. Er lief auf Sportplätzen, durch den Wald und durch die Straßen der Stadt. Jeden Morgen stand er um acht Uhr auf, frühstückte schnell und sparsam und begann mit seinem Trainingsprogramm. Am Nachmittag setzte er sich in die U-Bahnschächte des Alexanderplatzes, spielte auf seiner Gitarre und sang mit kräftiger und energischer Stimme Lieder, die er offen singen durfte. Manchmal, aber nur manchmal, wenn gerade zwei Züge abgefahren waren und er scheinbar allein in einem der Winkel des vernetzten Untergrundsystems saß, spielte er Biermann oder Wegner und sagte laut, aber immer noch verschlüsselt, das, was er wirklich dachte.

Um zwanzig Uhr begann seine Schicht in der Charité, für die er als Notdienstfahrer arbeitete. Es war ihm möglich, diesen Job, den er als Student begonnen hatte, zu behalten. Seine Vorgesetzten gaben die Hoffnung nicht auf, dass er sein Medizinstudium, das er nach der Scheidung abgebrochen hatte, eines Tages wieder aufnehmen würde. Simon war gut darin, Geheimnisse zu bewahren. Er war auch gut darin, sich nicht anmerken zu lassen, was er dachte oder sich im tiefsten Inneren wünschte. Wenn seine Schicht um zwei Uhr beendet war, fuhr er nach Hause, ging schlafen und träumte von nichts.

 

War sie auch vor der Verantwortung geflohen, als sie das Meeting verlassen hatte, fragte sich Lola, als das Signal zum Türenschließen ertönte. Und obwohl sie hätte aussteigen müssen, fuhr sie weiter.

3

Am nächsten Morgen stand Lola nicht auf. Selbst als Gershom anrief, bewegte sie sich keinen Millimeter aus ihrem Bett. Sie war erschöpft. Normalerweise rannte sie kreuz und quer durch die Wohnung, wenn sie telefonierte, aber nichts war mehr normal. Lola hatte keinen Job mehr und wusste nicht, wovon sie die nächsten Monate leben sollte. Die juristische Auseinandersetzung mit Olaf und Manuela hatte sie eine Menge Geld gekostet. Aber beim Telefonat mit Gershom ließ sich Lola nichts anmerken.

Gerhard, oder Gershom, wie ihn enge Freunde nannten, rief einmal die Woche an. Er hatte vor langer Zeit aufgehört, Fragen zu stellen. Seine Kommunikation beschränkte sich darauf, wiederholend zu versichern, dass es ihm gutgehe, und wie auf Knopfdruck alte Geschichten zu erzählen. Jedes Mal ermahnte Lola ihn, nicht zu vergessen, alle seine Geschichten aufzunehmen. Er solle sich ein Diktiergerät schnappen und erzählen, was ihm in den Sinn komme. Aber Gershom wehrte ab, er könne erst erzählen, wenn es jemanden gebe, der ihm auch zuhöre. Also hörte Lola zu.

»Na, Lolale? Wie geht es dir? Mir geht es ganz gut. Du weißt schon. Man wird nicht jünger. Es ist kalt im Moment. Na ja, nicht so kalt wie bei euch. Aber kalt für Tel Aviv. Seit vier Tagen regnet es. Was ich dir erzählen wollte, weißt du, Lolale, nachdem Großmama vor zwölf Jahren gestorben ist, wollte ich eine lange Tour auf einem Frachtschiff machen. Ach, eigentlich wollte ich quasi bis an mein Lebensende auf Frachtschiffen durch die Welt fahren. Zum Beispiel mit der Tabeta 2. Die wurde in Hamburg gebaut und 2001 ins Wasser gelassen. Zweiunddreißig Mann finden auf dem Schiff Platz. Alles internationale Seefahrer, die Container durch die ganze Welt transportieren. Stell dir vor, was diese Männer zu erzählen haben. Der Kapitän ist Theodor Rastner. Manchmal darf auf der Fahrt von Hamburg nach Schanghai ein Gast mitfahren. Ein einziger. Das wäre ich gerne gewesen, Lolale. Wirklich.« Und an einer solchen Stelle, an der Gershom ein wenig seufzte, durfte man ihn nicht unterbrechen. Lola musste dieses Seufzen aushalten, vielleicht selbst ganz leise mitseufzen und ihn dann weitererzählen lassen. »Die Kabinen befinden sich auf dem dritten Deck. Sie sind klein und dunkel, aber das stört mich nicht. Die meiste Zeit würde ich auf der Reling stehen und nachdenken. Auch über früher würde ich nachdenken. Das macht man ja sowieso, je älter man wird. Irgendwann erzähle ich dir, wie wir auf der Otrato nach Palästina geflohen sind 1939. Aber lieber später, später.«

Im Gegensatz zu Lolas Großmutter, die in der DDR einen Buchladen gehabt und in ihrem Leben über nichts anderes als den Holocaust gesprochen hatte – über wirklich nichts anderes –, schwieg ihr Großvater vehement zu diesem Thema. Als Hannah noch lebte und die Familie nach dem gemeinsamen Essen an dem runden Tisch in der riesigen Wohnung am Kollwitzplatz saß und die Zungen locker wurden von der energiegeladenen Geselligkeit und sie das Gespräch auf ihr Lebensthema lenkte, stand Gershom murmelnd und grimmig auf, behauptete, auf dem Balkon eine Zigarette rauchen zu wollen, und ließ sie erzählen: von Dachau, dem Fleckfieber, das sie fast umgebracht hätte, und von der Befreiung durch die Amerikaner. Auch wenn Gershom mit dem Zigarettenrauchen schon in den sechziger Jahren aufgehört hatte, ignorierte Hannah seine Ausrede. Es war ein stillschweigendes Abkommen, von denen es viele gab. »Lola, bist du noch dran? Habe ich dir schon mal von Hannahs und meiner Reise nach Kuba erzählt? Du erinnerst dich vielleicht. Warte, warte, ich überlege kurz: Du müsstest sechs gewesen sein. Sechs oder sieben. Wir mussten die Reise Monate zuvor anmelden, und die Genehmigung haben wir nur bekommen, weil ich damals im Palast arbeitete. Warte. Es muss vor der Flucht von Simon gewesen sein. Im Winter 1986. Über Kanada sind wir geflogen. Die Maschine war proppenvoll. Es gab keinen freien Sitzplatz, Lolale. Alles Bonzen. Nur Leute, die in der Partei waren oder im Staatsdienst gearbeitet haben. Und dann waren wir in Kuba. So ein runtergekommenes Land, aber schön. Wirklich schön. Das war ja das erste Mal, dass wir einen richtigen Ozean gesehen haben. Die Ostsee oder die Adria zählen ja nicht. Muscheln haben wir dir mitgebracht. Erinnerst du dich? Zwei Wochen waren wir dort, und auf dem Rückflug sind wir wieder über Kanada, und dann war die Maschine halb leer. Beim Transfer hat ein großer Teil den Flughafen verlassen. Das war’s. Selbst die Bonzen wollten raus, Lolale. Selbst die. Aber wir konnten ja Simon und Hélène nicht zurücklassen, oder dich. So etwas gehört sich nicht. Weißt du, auch wir wollten weg, wie viele wegwollten. Klar, einige mochten die DDR, keine Frage, aber man lässt nicht seine Familie zurück. Das hätte Simon nicht tun dürfen. Das habe ich ihm oft genug gesagt. Auf dem Rückflug von Kanada, es muss Toronto, oder war es Montreal, gewesen sein, ach, ich weiß es nicht mehr, da musste eine Frau ohne ihren Mann zurück. Der hat zu ihr gesagt, er müsse mal auf die Toilette, und weg war er. Den ganzen Flug über hat sie geweint. Bitterlich. Großmama hat sie getröstet, aber wie soll man jemanden trösten, der auf so brutale Weise einen geliebten Menschen verliert? Wie? Plötzlich und unerwartet, ohne eine Ankündigung. Das ist kaltherzig und unmenschlich. Das hätte ich Großmama niemals antun können. Simon ist so anders als ich. So anders. Das habe ich immer gedacht. Schon als er klein war. Aber manchmal kommt das eben so. Da werden die Kinder ganz anders als man selbst. Du nicht, du bist wie Simon und wie Petra. Eine Mischung. Ich kenne niemanden, der so gemischt ist wie du. Halb Simon, halb Petra. Deshalb bist du dann wieder Lola. Also, du selbst. Verstehst du? Simon, in Simon konnte ich immer Hannah erkennen. Immer. Ja, vielleicht hat er meine Ohren oder meinen Mund. Irgendwas wird er schon von mir haben, aber nichts so Offensichtliches. Jetzt habe ich schon wieder so viel erzählt, Lolale. Ich wünsch dir noch einen schönen Tag. Bleib gesund und pass auf dich auf.«

Ehe Lola sich verabschieden konnte, hatte er schon aufgelegt. Das war immer so, und sie hatte längst aufgehört, sich darüber zu ärgern, zu wundern oder zu fragen, warum er das tat. Wichtig war, dass er anrief. Einmal die Woche. Immer zu einer anderen Zeit.

Gershom war ein großer, schlanker Mann gewesen. Nicht riesig, aber hochgewachsen. Mittlerweile war sein Körper in sich zusammengesunken und hatte eine kompakte Form angenommen. Sein schwarzes, welliges Haar war längst weiß, und während bei anderen alten Menschen die Nase und die Ohren oft eine karikaturhafte Größe annehmen, war sein Unterkiefer im Laufe der Jahre immer weiter nach vorne gerückt, zu einer Art Unterbiss, und sein Nacken hatte sich wellenförmig verbogen.

Lola zog sich die Decke über den Kopf und schlief noch mal ein. Schließlich musste sie am Abend fit sein. Aus reiner Verzweiflung hatte sie sich am Vortag mit Toni zum Essen verabredet. Sie hatte gedacht, das würde sie ablenken. Ewig hatten sich Toni und Lola nicht gesehen. Aber nachdem Lola eines ihrer Instagrambilder auf Facebook hochgeladen hatte, schickte Toni eine private Nachricht und behauptete, sich für ihre künstlerische Arbeit zu interessieren. Ja, dass er selbst gerne fotografiere und deshalb von Lola wissen wolle, wie sie an die Sache herangehe. »Okay, morgen um 8 im Trois Minutes«, war Lolas Antwort gewesen.

 

Lola erschien zwanzig Minuten zu spät im Restaurant. Sie trug ein schwarzes Seiden-Babydoll und flache schwarze Chelsea-Boots. Ihr dunkelrotes Haar war zu einem Seitenscheitel gekämmt und ein Teil davon seitlich mit einer silbernen Haarspange hochgesteckt. Die Spange hatte sie zu ihrem neunten Geburtstag von Petra geschenkt bekommen und seitdem jeden Tag getragen.

Toni war Besitzer eines Plattenladens auf der Torstraße. Er trug eine graue Jogginghose und ein weißes T-Shirt mit dem Nike-Swoosh. Sein kurzes blondes Haar hatte er unter einer Beanie von Supreme versteckt. Eine Marke, die man eigentlich seit 2008 nicht mehr tragen konnte, dachte Lola. Sichtlich erfreut, Lola zu sehen, umarmte er sie einen Tick zu überschwänglich.

Er ließ sofort einen Riesling und eine Flasche Mineralwasser kommen, ohne dass Lola darauf Einfluss hatte. Sein Kontrollzwang dominierte den gesamten Bestellprozess. Dass sie ihr eigenes Gericht (Entrecôte mit Wurzelgemüse) bestellen durfte, war vermutlich seiner Großzügigkeit geschuldet. Toni nahm den Fisch.

Sie aß langsam vom Entrecôte, trank dafür schneller vom Riesling, während sie Tonis Ausführungen zu gesellschaftlich relevanten Themen zuhörte. Toni, der sich selbst als politisch gebildet empfand, eher links als mittig, schwenkte irgendwann nach der zweite Flasche Wein, also nachdem er alles zu Edward Snowden, der NSA, der Merkel’schen Führungsqualität und zu Obama gesagt hatte, was es in Tonis Welt zu diesen Themen zu sagen gab, auf Israel und Palästina um. Und weil auch Toni Lolas Background nicht kannte, legte er ungehalten und offen los: »Das ist ein Apartheidstaat, und jeder, der etwas anderes behauptet, lügt. Wie können die Juden den Palästinensern nur ein solches Unrecht zufügen? Gerade sie sollten es ja besser wissen. Aber was da in Gaza und hinter der Mauer der Westbank passiert, ist nicht besser als Auschwitz.« Und weil Lola von dem gestrigen Vorfall immer noch erschöpft war und nicht gewillt, an diesem Tisch die Meetingraum-Szene zu reproduzieren, sagte sie nur: »Ich habe ja Familie in Israel und bin daher sehr oft in Tel Aviv. Das muss man vielleicht alles ein bisschen differenzierter sehen. Warst du schon mal dort?«

»Ich muss nicht dort gewesen sein, um das Unrecht zu beurteilen. Seit Jahren beschäftige ich mich mit diesem Thema. Auch mit der Gehirnwäsche, der man uns Deutsche seit dem Ende des Krieges unterzieht. Immer müssen wir uns schuldig fühlen. Was habe ich denn damit zu tun, was mein Großvater getan hat? Nichts. Absolut gar nichts. Immer sind es die armen Juden, und man darf nichts gegen Israel sagen. Sofort ist das Antisemitismus. Dabei will ich doch nur ein Land von vielen kritisieren dürfen. Wieso bin ich da gleich Antisemit?«

»Ich kann dazu nichts sagen. Das geht mir irgendwie alles zu weit. Sprich darüber lieber nicht mit einer Jüdin. Das führt ja zu nichts«, antwortete Lola sanft und bestimmt, um Toni zu beruhigen und zurechtzuweisen. Daraufhin fing Toni erst richtig an. »Wer ist denn Jude bei dir in der Familie?«, fragte Toni so laut, dass sich alle Personen an den umliegenden Tischen umdrehten, und Lola antwortete leise: »Mein Vater.«

»Dann bist du ja gar keine Jüdin. Soweit ich weiß, muss deine Mutter Jüdin sein.« Und ehe Toni diesen letzten Satz zu Ende ausgesprochen hatte, war Lola schon vom Stuhl aufgestanden, hatte nach ihrem Handy gegriffen und war auf die Toilette gegangen. Dort zerrte sie eine Unmenge Papiertücher aus dem Behälter, stopfte sie in ihren Mund und schrie, so laut sie konnte, holte kurz Luft durch die Nase und schrie dann noch mal. Daraufhin schickte sie eine SMS an Benjamin, einen Juden aus Charlottenburg, mit dem sie seit anderthalb Jahren eine Affäre hatte: »Heute Sex?«, und keine zehn Sekunden später antwortete er: »Wo bist du? Ich komme!« Lola übermittelte ihm die notwendigen Informationen, zog das durchnässte Papier aus ihrem Mund, ließ es in den Mülleimer fallen und ging zum Tisch zurück.

Ihr Leben lang schon hatte jeder Mensch, dem Lola begegnet war, über ihre Identität entschieden. Bei Philosemiten war sie Jüdin, bei Anhängern des Reformjudentums auch, bei deutschen Juden sowieso, weil diese erstaunt waren, dass außer ihnen noch mehr überlebt hatten, und gleichermaßen erfreut darüber, mit ihrer traumatischen Familienkonstellation, in die absolut jeder europäische Jude hineingeboren ist, nicht allein sein zu müssen. Benjamin sah sie als Jüdin, weil er ihre Geschichte kannte und ihre Geschichte nun mal eine jüdische Geschichte war und keine deutsche und das völlig ausreichte, um sich darüber im Klaren zu sein, dass Lola, unabhängig von den Gesetzen der Halacha, genau das war, wofür sie sich selbst hielt und zu dem sie durch Simon, Gershom und Hannah geworden war. Nur die Orthodoxen in Israel und die deutschen Antizionisten wiesen immer ruppig darauf hin, dass ihr Jüdischsein ausschließlich ihrer Phantasie entsprang.

Lola hatte noch nicht einmal Platz genommen, da sprach Toni ungefragt weiter: »Ich glaube auch, dass sechs Millionen tote Juden vielleicht doch ein bisschen übertrieben sind. Aber ganz im Ernst. Das alles ist doch ewig her. Verdammt nochmal. Irgendwann muss doch auch mal gut sein. Immer wieder diese Leier. Die arme Juden und die bösen Deutschen. Kommt ihr euch nicht selbst ein bisschen bescheuert dabei vor, immer diese Opferrolle einzunehmen? Mir wäre das unangenehm. Mir wäre das peinlich, einem ganzen Volk siebzig Jahre lang Theater zu machen. Meine ganze Jugend habe ich mich schuldig gefühlt. Für was? Für eine Sache, mit der ich nie etwas zu tun gehabt habe. Ich fände es cool, wenn die Israelis und auch die Juden endlich verzeihen würden. Ich fände es cool, wenn sie sagen würden, so, siebzig Jahre sind eine lange Zeit, uns reicht es jetzt auch langsam. Vergeben und vergessen.« Und als Lola spürte, dass Toni fertig mit seinen Gedanken war, antwortete sie: »Erstens geht es den Juden nicht darum zu vergessen, zweitens haben sie den Deutschen längst verziehen, und das ist kein Widerspruch. Drittens wundere ich mich immer wieder darüber, dass Deutsche und deutsche Juden scheinbar in unterschiedlichen Zeiten leben. Für euch ist das alles gefühlte dreihundert Jahre her. Warum aber ist das alles für mich gerade erst passiert? Warum erinnert mich jeder Besuch bei meinem Großvater daran? Warum erinnert mich der fehlende Besuch meines Vaters daran? Warum bin ich mein ganzes Leben mit diesen Geschichten groß geworden, von Menschen, die überlebt haben, von Menschen, die ihre gesamte Familie verloren haben, und ihr nicht? Warum seid ihr so groß geworden, als hätte es den Zweiten Weltkrieg nicht einmal gegeben?« Und zum ersten Mal an diesem Abend schwieg Toni für einen klitzekleinen Augenblick. »Ich kann dir sagen, warum. Weil eure Großeltern nicht reden! Weil sie euch nichts erzählt haben. Zum Beispiel, wie es so war als SS-Offizier oder warum sie Hitler gewählt haben. Wie sie dabei zuschauten, als ihre Nachbarn abgeholt wurden, oder wie sie die verdammten Leichen aufeinandergestapelt haben. Ihr seid alle mit Großeltern aufgewachsen, die geschwiegen haben, und deshalb glaubt ihr, dass das alles Schnee von gestern ist. Schnee von fucking gestern? Siebzig Jahre sind Schnee von gestern, ja?«

Toni war kein Idiot. Toni war auch kein NPD-Wähler, von dem man solche Argumente erwartet hätte. Toni wählte Die Grünen, kaufte im LPG-Markt ein und schaute gerne Dokumentationen. Toni war ein durchschnittlich gebildeter und überdurchschnittlich politisch interessierter Mann. Er hatte Abitur gemacht und studiert. Er sah sich liebend gerne das Comedy-Programm von Oliver Polak an, weil der so lustig war. Und nur weil sich in den letzten zwanzig Jahren die Zungen gelockert hatten, konnte man endlich laut hören, was alle leise dachten. Mittlerweile durfte jeder sagen, was er in den Jahren des aufgezwungenen Schweigens nur bei sich gedacht hatte. Nämlich: Dass jetzt Schluss sein müsse mit dem Schweigen, dass den Juden die Banken gehörten, die einem das Geld wegnehmen, dass die Israelis die neuen Nazis seien und dass der Holocaust nun wirklich der Vergangenheit angehöre. Diese Sätze konnte man in den Kommentarspalten auf den Onlineportalen der großen deutschen Tageszeitungen lesen. Diese Sätze konnte man offen auf Abendessen hören, ohne dass sich derjenige, der diese Sätze formulierte, dafür schämen musste.

Josh, der Kellner des Lokals, der vor zwei Jahren aus New York nach Berlin gezogen war, weil hier alles so tierisch cool ist, hatte das Gespräch zwischen Lola und Toni mitbekommen. Er hatte Lola mehrmals Jude sagen hören, und weil er sich selbst als Jude sah, obwohl seine Mutter keine, dafür aber sein Vater einer war, hatte er sich neben Lola positioniert und Toni in einer bezaubernden Mischung aus Englisch und Deutsch seine Weltsicht dargelegt. Toni stand plötzlich allein da. Aber dann gesellte sich der Mann vom Nachbartisch hinzu und diskutierte mit. Lola beobachtete, wie alle Stimmen durcheinandersprachen und -schrien und zwischendurch ruhiger wurden und wieder lauter. Weitere Menschen schoben ihre Stühle um Lolas und Tonis Tisch und erklärten, wie sie das mit den Juden und den Deutschen so sahen. Und wie sie das mit den Israelis und Palästinensern so sahen. Und alle glaubten, recht zu haben und vor allem sehr viel Ahnung von dem, was sie sagten.

Eine Dreiviertelstunde später stürmte Benjamin rein. Das Trois Minutes war leergefegt, nur eine Traube um Toni und Lola herum war übrig geblieben. Lola sah Benjamins lange schwarze Haare und wie diese von seinem schnellen Gang nach hinten geweht wurden und seine ultrakrasse North-Face-Jacke, die ihn aussehen ließ wie ein Mitglied einer Antarktis-Expedition.

Sie hatte Benjamin vor anderthalb Jahren im King Size bei einer ziemlich heroischen Aktion kennengelernt. Einer Aktion, die man heutzutage kaum noch von Männern erwarten konnte und die dazu geführt hatte, dass sich beide anschließend nicht mehr aus den Augen ließen.

Damals hatte Lola mit ihrer Freundin Lisa ausgelassen vor dem DJ-Pult getanzt, bis jemand immer wieder an ihre Hintern gegriffen hatte. Erst hatten sie es nicht bemerkt und das komische Gefühl auf die sich wiegende und schubsende Masse geschoben. Es war schließlich drei Uhr, die Zeit, zu der man das King Size weder betreten noch verlassen konnte. Als es aber nicht aufhörte, suchten sie den Umkreis hinter sich ab und entdeckten einen Mann, der ertappt und betroffen in ihre Augen schaute. Er war groß und wuchtig, hatte aber das Gesicht eines Zwölfjährigen. Also brüllten Lisa und Lola gemeinsam hysterisch auf ihn ein. Durch das Gebrüll wurde Benjamin auf Lola aufmerksam und fragte, ob der Mann sie belästige, und dann ging alles ganz schnell: Ein Fausthieb von Benjamin, und der wuchtige Mann mit dem Herz eines Zwölfjährigen ging zu Boden. Frank, der Türsteher, warf alle vier (Lisa, Lola, Benjamin und den großen Jungen) raus. Ein gelungener Abend eben, der damit endete, dass Benjamin Lola auf einen Drink einlud und dann auf noch einen und noch einen, bis sie in irgendeiner Eckkneipe gegen Morgengrauen knutschend auf einem durchgesessenen Sofa landeten.

Benjamin Liebermann war Künstler, entstammte einer jüdischen Ärztefamilie, war in Berlin-Charlottenburg aufgewachsen und verließ für zweiundsiebzig Stunden nicht mehr Lolas Wohnung. Benjamin und Lola erzählten sich in diesen zeitlosen Tagen von ihren Analytikern, die sie beide seit ihrem achtzehnten Lebensjahr besuchten, tauschten die Geschichten ihrer Familien aus und machten komischen Sex, den Juden aus den Stalag-Heften kannten und alle anderen aus »Fifty Shades of Grey«. Und als sich das alles irgendwann viel zu nah und viel zu richtig anfühlte, sprang Benjamin aus dem Bett, regte sich in einem übertriebenen Monolog über Lolas Kunst und Einrichtung auf, berichtete von seinen anderen drei Affären und zog sich parallel dazu an. Als er Lolas Wohnung verließ, versicherte er ihr, eigentlich in eine andere Frau verliebt zu sein.

 

Benjamin nahm sich einen Stuhl, stellte ihn neben Lola, die schweigend dem Spektakel folgte, und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Und weil Lola sowieso schon mindestens eine Flasche Riesling getrunken hatte und weil es auf keine der diskutierten Fragen eine richtige Antwort gab, rutschte sie langsam und unauffällig von ihrem Stuhl, krabbelte unter den Tisch, hockte sich vor Benjamin, öffnete den Reißverschluss seiner schwarzen Jeans und nahm seinen halbsteifen Penis in den Mund. Und je härter der Penis wurde, desto weniger hörte sie die Wörter, die am Tisch aus den Mündern der Gesprächsteilnehmer kamen: Palästinenser, Halbjude, Mauer, Gaza, Nakba, Hitler, Zionisten, Antisemiten, Broder, Netanjahu, Biller, Herzl, Göhring, KZ, Jude, Westbank und Lager. Diese furchtbaren Wörter wurden in furchtbare Sätze gepresst. Aus einer kaum zu fassenden Hysterie heraus und penetranten Unwissenheit. Und je öfter sie aus diesen furchtbaren Wörtern furchtbare Sätze bildeten, desto bedeutungsloser wurde das Gesagte. Zugleich war es doch gerade die Schwere der Bedeutung, die keiner mehr auszuhalten schien. Auch Lola hielt das alles nicht mehr aus. Schon lange hielt sie nichts von dem Gesagten mehr aus. Und als Benjamin in ihrem Mund gekommen war, kroch Lola unter dem Tisch hervor, griff nach ihrem Mantel und verließ das Restaurant.

4

Die drei Pappeln, die auf dem Hof verteilt waren, bewegten sich im Wind und glänzten silbrig. Lola trug ein hellblaues Kleid, auf das eine gelbe Ananas gestickt war. Sie musste alle paar Meter in die Luft springen und kräftig ihre Strumpfhose hochziehen. Ihre Mutter hatte im Herbst ein Loch in den Bund geschnitten und den Gummizug enger gemacht. Mittlerweile war es Frühling und das poröse Band mit einer Vielzahl von Doppelknoten versehen. Von Tag zu Tag wurde es weiter statt enger.

Lola durchsuchte halb springend, halb gehend, aber mit Akribie das Gelände hinter ihrem Wohnhaus. Sie schaute in jeder Ecke, jedem Winkel und hinter jedem Baum nach. Sie wollte ihn endlich finden, »Hab’ dich!« rufen, aber nach einer halben Stunde war der Hinterhof ausgiebig durchsucht. Ergebnislos.

Immer wenn sie hinter einer unverschlossenen Kellertür oder einem Busch hervorgekrabbelt kam, wischte sie den Schmutz von ihren Sachen ab und strich sanft über die Ananas. Liebend gerne fischte sie die fruchtigen Stückchen aus der Dose. Diese Dosen hatte Simon immer in der Armee geklaut und mitgebracht, wenn er zu Besuch kam. Das war nun viele Jahre her, und dieser Nachmittag im Mai 1987 war der erste, den Lola mit ihm verbringen konnte, seit er vor drei Jahren spurlos verschwunden war. Aber viel Zeit hatten sie an diesem Nachmittag noch nicht miteinander gehabt, Simon war nicht auffindbar.

Er hatte sie spontan von der Schule abgeholt und war mit ihr auf den Hof gegangen, um Verstecken zu spielen. Lola wollte eigentlich beginnen, doch Simon kam ihr zuvor und rannte einfach weg. Seitdem durchsuchte sie diesen Hof, der nicht groß war, aber Lola riesig erschien.

Als sie sicher war, jeden Millimeter abgesucht zu haben, gab sie auf. Sie setzte sich auf die Holzbank, von der der grüne Schutzlack abplatzte und die unter einer alten Trauerweide stand. Der Baum in der Mitte des Hofs bot Schutz vor den heißen Mai-Sonnenstrahlen, und weil Lola ihre rutschende Strumpfhose leid war, zog sie diese einfach aus und ließ ihre nackten Beinchen baumeln. Sie kratzte mit ihren kurzgeschnittenen Fingernägeln eine kleine Ecke vom Lack ab, klemmte die Ecke vorsichtig zwischen ihre Fingerspitzen und löste Stück für Stück eine Bahn vom Holz. Riss die Bahn vorzeitig, begann sie erneut an einer anderen Stelle, bis sie ein langes Stück weichen grünen Lack in ihrer Hand hielt.

Von der Bank aus hatte sie einen guten Überblick über das gesamte Gelände, das sich zwischen einem Vorderhaus, einem Hinterhaus und zwei Seitenflügeln erstreckte. Wo könnte er nur sein, fragte sie sich, wenn das grüne Stück Lack zu früh riss. Dann drückte sie ihre Zunge durch die Lücke, die ein fehlender Schneidezahn gelassen hatte, und vergrub das Gesicht hinter ihren angezogenen Knien, verschränkte ihre Arme und schloss die Augen, dass die Welt um sie herum ganz klein und dunkel wurde.

Lola hatte nicht viele Erinnerungen an Simon. Sie erinnerte sich an die Ananasdosen, die er immer mitgebracht hatte. Sie erinnerte sich daran, wie sie wild zu komischer Musik getanzt hatten, wenn Petra wieder einmal über Tage abhandengekommen war, und sie erinnerte sich daran – und das war ihre eindringlichste Erinnerung –, wie Simon, solange er noch zu Hause bei Petra und ihr gelebt hatte, keinen Abend verstreichen ließ, ohne ihr an der Bettkante sitzend auf seiner Gitarre Lieder vorzuspielen. Simon hatte ein Repertoire von genau sechs Liedern, die er immer und immer wieder spielte.