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5784 Jahre Denkgeschichte für die Zukunft Shitstorms, Sex, Selbstbestimmung – ein ungewöhnlicher Blick auf aktuelle Themen: Wenn es heute um jüdisches Leben geht, dreht sich die Diskussion – insbesondere in Deutschland – meist um den Holocaust, den arabisch-israelischen Konflikt oder Antisemitismus. Dabei ist das Judentum die älteste der monotheistischen abrahamitischen Religionen, das bedeutet eine jahrtausendealte Kultur und Philosophie. Mirna Funk greift in ihrem aktuellen Buch acht Theorien der jüdischen Ideengeschichte auf, und bringt sie in Dialog mit dem »Jetzt«. Dazu gehört z. B. »lashon hara«, das Verbot der üblen Nachrede, oder »tikkun olam«, die Pflicht, die Welt zu verbessern. So eröffnet Funk eine neue Perspektive auf politische Debatten, Streitkultur und Persönlichkeitsentwicklung: lebensnah, philosophisch fundiert und einzigartig. »Vieles, was heute diskutiert wird, als sei es ein Novum, haben Juden schon lange besprochen. Let's learn from it.« Mirna Funk
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Seitenzahl: 168
Wenn es heute um jüdisches Leben geht, dreht sich die Diskussion – insbesondere in Deutschland – meist um den arabisch-israelischen Konflikt, den Holocaust oder Antisemitismus. Dabei ist das Judentum die älteste der monotheistischen abrahamitischen Religionen, das bedeutet eine jahrtausendealte Kultur und Philosophie. Mirna Funk greift in ihrem aktuellen Buch acht Theorien der jüdischen Ideengeschichte auf und bringt sie in Dialog mit dem Jetzt. Dazu gehört z. B. »lashon hara«, das Verbot der üblen Nachrede, oder »tikkun olam«, die Pflicht, die Welt zu verbessern. So eröffnet Funk eine neue Perspektive auf politische Debatten, Streitkultur und Persönlichkeitsentwicklung: lebensnah, philosophisch fundiert und einzigartig.
Mirna Funk
Widmung
Prolog
Tikkun Olam – Von der Verbesserung der Welt
Eshet Chayil – Das Lob der Frau
Zedaka – Hilfe zur Selbsthilfe
Eser Kenegdo – Der Partner als echte Antwort
Lashon Hara – Die üble Nachrede
Yada – Sex als Anerkennung
Machloket – Richtig streiten lernen
Eingedenken – Im Gestern die Zukunft verändern
Literatur
Für euch
Ich tauchte aus der Mikwe auf, atmete tief ein, schüttelte meinen Kopf. Das Wasser lief aus meinen Ohren und aus meiner Nase. Die Balanit, also die Frau, die während des Rituals im Tauchbad am Beckenrand sitzt, lächelte mich an und nickte auffordernd, um mit mir gemeinsam das hebräische Gebet Schehechejanu: »Baruch atah adonaj, elohejnu melech ha’olam, schehechejanu, wekijmanu wehigianu la’seman haseh«,zu sprechen. Genau dreimal musste ich unter Wasser, dann war es vollbracht. Sie half mir die Stufen hoch, reichte mir ein Handtuch, ich wickelte mich ein und dann war sie auch schon verschwunden.
Das ist mittlerweile zweieinhalb Jahre her. Damals, im September 2021, machte ich die sogenannte Statusanerkennung. Das ist ein von der Allgemeinen Rabbiner-konferenz vereinfachter Giur für Vaterjuden. Es ist fast zehn Jahre her, dass ich das erste Mal über einen Giur nachdachte, die Konversion zum Judentum. Damals war ich es leid, nicht jüdisch genug zu sein, um in die Gemeinde einzutreten, aber zu jüdisch, um nur als Deutsche zu gelten. Denn ich habe einen jüdischen Vater und eine nicht jüdische Mutter. Ein Dilemma, mit dem ich gar nicht so allein bin, wie ich lange Zeit dachte. Weil wir trotz der Diaspora, des Lebens außerhalb Israels, nicht mehr in Ghettos oder Schtetln wohnen und sich Menschen in Menschen verlieben und nicht in die Religion oder Zugehörigkeit eines anderen, kommt es zu transkulturellen Beziehungen. Ein Großteil der Juden in Deutschland hat Partner, die keine Juden sind. Die Halacha, das jüdische Gesetz, besagt, dass Jude ist, wer eine jüdische Mutter hat. Das war allerdings nicht immer so.
Wir schreiben im Judentum aktuell das Jahr 5784. Die ersten 3700 Jahre davon wurde die jüdische Identität durch den Vater weitergegeben. Nach der Zerstörung des Zweiten Tempels durch die Römer brauchte es allerdings eine pragmatische Lösung, denn jüdische Frauen wurden versklavt oder vergewaltigt, und der Vater ihrer Kinder war nicht mehr eindeutig zuzuordnen. Seit ungefähr 2000 Jahren gilt daher das matrilineare Prinzip. Wir alle kennen jedoch die Nürnberger Gesetze, da spielte die Halacha wiederum keine Rolle. In die Gaskammer kam, wer jüdische Wurzeln hatte. Und auf diesen Nürnberger Gesetzen basiert seit 1950 das sogenannte Law of Return, das Rückkehrgesetz, das darüber entscheidet, wer israelischer Staatsbürger werden kann. Dieses greift, wenn man einen jüdischer Großvater hat. Das bedeutet, dass man die jüdische Identität nach unterschiedlichen Parametern bewertet, je nachdem, ob sie aus staatsrechtlicher oder religiöser Perspektive betrachtet wird.
Durch diese widersprüchlichen Gesetze, individuellen Perspektiven und sogar religionsinternen Unterschiede wurde meine Identität lange Zeit durch das Außen definiert. Jeder, der irgendwann schon einmal das Wort »Jude« gehört hatte, fühlte sich berechtigt, mir zu erklären, was ich denn nun sei: Jüdin oder Nichtjüdin. Meistens basierte diese Entscheidung auf Halbwissen und persönlicher Sympathie oder Ablehnung mir gegenüber. Ich fühlte mich manchmal hin- und hergeworfen. Manchmal schwerelos, wie ein Partikel im Weltall. Ich hatte keine Kontrolle über meine eigene Identität. Wer oder was bin ich denn nun, fragte ich mich ständig, ohne mir eine befriedigende Antwort geben zu können, und das tat weh.
Die Balanit hielt mir das Handtuch hin. Ich stieg die Stufen hinauf, trocknete mich ab. Dann ließ sie mich allein, und ich dachte an die drei Rabbiner vom Beth Din, dem Rabbinatsgericht in Berlin, bei denen ich kurz vor dem Mikwe-Ritual vorsprechen musste. Keine zehn Minuten dauerte dies. Ich dachte daran, wie einer von ihnen sagte: »Wir können dich nicht zu etwas machen, was du ohnehin schon bist« – und daran, wie bedeutend dieser Satz für mich war. Vielleicht bedeutender als der Gang in die Mikwe.
Dann föhnte ich meine Haare und zog mich an. In nur zwei Stunden musste ich zum Flughafen, um nach Stuttgart zu reisen, weil ich in der Nähe eine Lesung hatte. Eingeladen wurde ich als jüdische Schriftstellerin, um über jüdische Identität zu sprechen. Auch das ist zumindest teilweise eine Festschreibung von außen, eine Ankündigung, die mich und meine Arbeit seit Jahren prägt. Immer wieder musste ich erklären, dass das irgendwie stimme, aber irgendwie auch nicht, wegen der Halacha, aber, na ja, vor der Zerstörung des Tempels und so weiter und so fort. Immer gehörte ein Rattenschwanz an Erklärungen zu diesem Adjektiv, das man mir immer wieder gab, das ich aber natürlich auch mir selbst immer wieder gab.
Auf dem Weg nach Hause wartete ich auf das große Gefühl der Erleichterung. Aber es kam nicht. Stattdessen raste mein Herz, Angst breitete sich in meinem Bauch aus. Ist das alles ein Traum, fragte ich mich. Ich schickte Fotos der Mikwe an meine Freunde, damit sie mir bestätigten, was geschehen war. Mazal-tov-Nachrichten, garniert mit süßen Emojis, sausten in mein WhatsApp. In meiner Wohnung angekommen, packte ich ruckzuck meinen Koffer, bestellte mir ein Uber und setzte mich rein: »Zum Flughafen, bitte!«
In voller Lautstärke knallte der Song Layla Echad des Sängers und Rappers Atar Mayner auf Repeat aus meinen AirPods direkt in meine Ohren. Ich schaute ein bisschen verloren aus dem heruntergelassenen Fenster, als sei ich ein Teenie in einem Film über das Erwachsenwerden. Die Blätter waren gelb gefärbt, die Luft klar. Tränen liefen über meine Wangen. Da ist es, dachte ich damals: das Ende meiner Reise.
Wochen später schrieb ich einen Text über diesen Tag für das ZEIT-Magazin, den einer der Rabbiner »meines« Beth Dins las. Er schickte mir eine Facebook-Nachricht: »Deine Reise ist noch lange nicht vorbei … Wie bei allen Juden geht sie noch bis 120 weiter.«
Dieses Buch ist Teil meiner Reise. Ich habe es nicht nur für ein Publikum geschrieben, sondern auch für mich. Aufgewachsen in der DDR, ohne jüdische Traditionen, hieß es für mich, überhaupt erst zu verstehen, was Judentum außer Holocaust eigentlich bedeutet. Da war eine Leerstelle, die es zu füllen galt. Aktiv und passiv. Stück für Stück. Bewusst, aber auch unbewusst. Und mit dem Füllen der Leerstelle begann ich selbstverständlich nicht erst am Tag meiner Statusanerkennung, sondern viel früher. Vielleicht war es die erste Reise nach Israel im Jahr 1991, vielleicht der Besuch im damaligen Beth-Café in der Berliner Tucholskystraße, das in den frühen Neunzigerjahren eröffnete, vielleicht waren es auch die Besuche bei meiner jüdischen Familie als Kind, vielleicht, war es, als ich begann, mir in Tel Aviv ein eigenes Sozialleben, unabhängig von meiner dortigen Verwandtschaft, aufzubauen, vielleicht das Lesen der jüdischen Philosophen, vielleicht das Kochen der Hühnersuppe, das ich perfektioniert habe, vielleicht das Schreiben meines ersten Romans, das Verlieben in jüdische Männer, die Geburt meines Kindes, das Herstellen von gehackter Leber, das Lesen des Talmuds und das Beten zu Hashem, das ich in den letzten Jahren begonnen habe. Vielleicht alles zusammen, vielleicht nichts davon, vielleicht ein Hin- und Herspringen zwischen all diesen Ereignissen, die verteilt in meiner Biografie liegen – betrachtet man das Leben mit den Augen Walter Benjamins.
Ich bin nie in eine Yeshiva gegangen, also eine jüdische Bildungseinrichtung, die sich auf das Studium traditioneller religiöser Texte, insbesondere des Talmuds und der Torah, konzentriert. Diese Institutionen spielen normalerweise eine zentrale Rolle in der jüdischen Bildung und Gelehrsamkeit. Yeshivot, der Plural von Yeshiva, variieren in ihrer Größe, Struktur und in ihrem Unterrichtsstil, aber ihr Hauptfokus liegt auf dem interaktiven, oft partnerschaftlichen Studium (bekannt als Chavruta) und den Lehrveranstaltungen oder Diskussionen, die von einem Rabbi oder Gelehrten geleitet werden.
Ich musste diesen Weg allein gehen und das Ergebnis, das zu einem großen Teil in dieses Buch geflossen ist, ist aufgrund meiner eigenen gebrochenen Identität auch gebrochen. Es ist der Versuch, das Erlernte, Angelesene und Verstandene in einen größeren gesellschaftlichen Zusammenhang zu setzen. Ob mir das gelungen ist, werden andere bewerten, so wie lange Zeit meine Identität bewertet wurde. Das ist okay für mich. Ich werde neue Gedanken entwickelt haben, die vielleicht so noch nicht gedacht wurden, und ich werde Fehler gemacht haben, weil Menschen Fehler machen. Aber ich habe etwas getan, das in den letzten 2000 Jahren vor allem Männer getan haben, jüdische Männer – nämlich die jüdischen Texte neu zu interpretieren. Damit reihe ich mich ein in eine jüdische Tradition und ich akzeptiere – ach, ich wünsche mir –, dass auch meinen Interpretationen, Thesen und Analysen von Juden und Jüdinnen widersprochen wird, weil auch das zur jüdischen Tradition gehört. Alles andere wäre das gedankenlose Abnicken, die blinde Gefolgschaft, das fröhliche Blöken einer Schafherde.
Aber, was das Judentum ausmacht, was es so besonders macht, sind die Flexibilität und der Mut zum Zweifel, die mit dem rabbinischen Judentum entstanden sind. Wer glaubt, die große Schrift der Juden sei die Bibel, der unterschlägt, was seit der Zerstörung des Zweiten Tempels geschah. Nämlich die Entwicklung des Judentums, das von den Rabbinern ausging. Ein Judentum, das Regeln und Gesetze immer auch an die Umwelt anpasste. Ein Judentum, das durch die Freude an der Diskussion und das Hinterfragen von angeblichen Gegebenheiten geprägt ist. Ein Judentum, das sich vor allem durch Beweglichkeit auszeichnet und sich immer der Moderne zugewandt sah. Wir haben Rabbinerinnen eingesetzt, als es Zeit wurde, sich von alten, überholten Traditionen zu verabschieden. Wir haben Mädchen die Bat Mitzvah erlaubt, als es Zeit wurde, sich von alten, überholten Traditionen zu verabschieden. Und wir haben relevante Geschlechts- und Liebesfragen klären können, als es Zeit wurde, sich von alten, überholten Traditionen zu verabschieden.
Das sind alles Gründe, warum die meisten Juden, die ein säkulares Leben leben, sich dennoch mit ihrer Religion identifizieren können. Dazu gehört auch, dass das Judentum als Religion nicht auf das Beantworten von transzendentalen und metaphysischen Fragen begrenzt ist, sondern immer auch das Dilemma der menschlichen Existenz mitgedacht hat. Mithilfe des dialogischen Denkens nämlich hat es sich grundlegend von einem dichotomen Absolutheitsanspruch abgegrenzt. Denn im Judentum steht das Lernen an oberster Stelle, wie auch der Dialog, ohne den das Lernen und das Begreifen gar nicht möglich wären. Das führt dazu, dass Regeln, Gesetze und Denksysteme immer wieder hinterfragt und an die veränderte Welt angepasst wurden. Schließlich wurden die jüdischen Regeln und Gebote, die Mitzvot, entwickelt, um gemeinschaftliches Leben zu ermöglichen und langfristig zu stabilisieren. Dazu gehört selbstverständlich auch, die Entwicklung des Menschen und der Gesellschaft mitzudenken und einzubeziehen. Das heißt, Vergangenheit und Gegenwart zu kombinieren, um so eine bessere Zukunft zu gewährleisten.
Mein Ziel war, das Judentum ins Jetzt zu holen, um eine bessere Zukunft zu gewährleisten. Dieses Ziel fasste ich im September 2022 ins Auge und entwickelte acht Kapitel, in denen ich acht jüdische Denkkonzepte in Dialog mit gesellschaftlichen Problemen brachte, um diese Probleme mithilfe des Judentums zu lösen. Im Mai 2023 begann ich, die Texte dieses Buches zu schreiben, und als ich mich mitten im Bearbeitungsprozess befand, brach die Gegenwart über mich und alle rund 15,7 Millionen Juden dieser Welt herein. Der 7. Oktober bewies, dass Geschichte niemals endet. Er bewies aber auch, dass die Welt sich weniger um uns schert, als wir gehofft hatten, und wir Juden uns gegenseitig mehr bedeuten, als es uns bewusst war. Der 7. Oktober und die Wochen, die darauf folgten, bewiesen, dass das Judentum mit seinem geballten Wissen mehr ist als Holocaust, Antisemitismus und der arabisch-israelische Konflikt – auch, wenn es erst einmal so wirkte, als kulminiere alles in diesem Triangle. Der 7. Oktober und die Wochen, die darauf folgten, bewiesen vor allem die Grundthese meines Buches, nämlich, dass aufgrund des antiideologischen und antimissionarischen Charakters des Judentums gerade dort die Antworten auf die relevantesten Fragen der Jetztzeit zu finden sind. Wer die Welt manichäisch in Unterdrückte und Unterdrücker, Gut und Böse, Menschen und Monster unterteilt, hat verloren: im humanistischen, aber auch im intellektuellen Sinne. Wer sich selbst auf der richtigen Seite verortet und das Schlechte fingerzeigend im Außen ausmacht, braucht jetzt die Erkenntnisse des Judentums. Mehr denn je.
Von der Verbesserung der Welt
Ich stand unter der Dusche. Der Wasserdruck war okay, aber nicht bombe. Aus den Boxen weinte Lykke Li. Zwei Jahre Pandemie, dann ein bisschen Krieg in Europa, zu wenig Money auf dem Konto und der Boi war jetzt auch weg. Vielleicht sollte ich Lotto spielen und mich wieder auf einer von den unzähligen Dating-Apps anmelden? Vielleicht sollte ich endlich Alija machen, was so viel heißt wie »nach Israel einwandern«? Dort gab es keine Pandemie mehr, und weil Krieg dort schon seit über 100 Jahren Normalität ist, herrschte wenigstens ein anderer Umgang damit. Vielleicht sollte ich einfach weiter unter der Dusche stehen bleiben oder mich wieder ins Bett legen?
Es war kein guter Tag. Ganz offensichtlich. Aber wie alle nicht besonders guten Tage gehörte dieser Tag zum Leben, zur menschlichen Existenz, zum Standardprogramm quasi. Trotzdem hörte ich mich plötzlich zu Hashem beten, dem jüdischen Gott. Ich sagte: »Baruch ata adonai, elohenu melech ha’olam« (Gelobt seist Du, unser Gott, Herrscher des Universums …) und dann weiter auf Deutsch, weil nach »melech ha’olam« meine Hebräischkenntnisse enden: »Ich brauche Kohle, dringend sogar, bitte, bitte Geld und der Boi soll sich auch wieder melden, egal wie. Ob der Tatsache, dass ich ihn überall geblockt habe, per Mail oder Brieftaube oder am besten durch einen Blumen-Lieferdienst.« Ich wünschte mir nicht das Ende des Krieges. Nicht, weil ich dafür zu egozentrisch bin, sondern aus Realismus. Auf solche unwichtigen Dinge wie Jungs und Geld, darauf hatte Hashem noch einen Einfluss. Da war ich mir sicher. Über alles andere hatte er längst die Kontrolle verloren. Das bewies die Geschichte. Überhaupt war es keine Selbstverständlichkeit mehr, als Jüdin noch einen auf »Baruch-ata-adonai« zu machen, schließlich hatten die Juden dieser Welt vor 80 Jahren dem härtesten Beleg für einen fehlenden Gott beiwohnen müssen: der Shoah. Dem Endgegner der Leibniz’schen Monadologie, in der der Philosoph versucht, die Existenz Gottes logisch zu begründen. Demnach steht seit 80 Jahren eine elementare Frage im Raum: Der »post-shoah’sche« Gott – gibt es ihn überhaupt? Und wenn nicht, was nun?
Dabei mag ich den jüdischen Gott. Ich bin ihm nicht vollkommen ergeben und ich würde auch nicht behaupten, hundertprozentig hinter all seinen Entscheidungen zu stehen, geschweige denn mein Leben darauf zu verwetten, dass es ihn wirklich gibt. Aber generell schätze ich seine Dialogfähigkeit, seinen Humor und natürlich, dass er die Nummer mit dem Paradies und Eva und Adam und dem Baum und der Schlange schon sehr genial eingefädelt hat. Er erwartet Aktivität, nicht ein passives Erstarren und den illusorischen Glauben daran, dass die Dinge schon irgendwie laufen werden. Im jüdischen Glauben geht es um Wirkungskraft. Darum, den Lauf der Geschichte aktiv zu verändern und nicht in eine Handlungsapathie zu verfallen. Dass diese Sicht auf das Leben tief in der jüdischen Kultur verankert ist, konnte man in den Wochen und Monaten nach dem 7. Oktober in Israel beobachten. Blitzschnell wurden zivilgesellschaftliche Initiativen aus dem Boden gestampft, um notwendige Hilfe zu leisten. Restaurants wurden für den normalen Betrieb geschlossen und zu Großküchen umfunktioniert, in denen Essen für Überlebende des Massakers sowie für die über 100 000 Soldaten, die man innerhalb von wenigen Tagen im Norden, Süden, Osten und Westen des Landes stationierte, gekocht wurde. Callcenter für die Familien der Vermissten wurden geschaffen und Transportteams mobilisiert, um Nahrungsmittel, Kleidung, medizinische Hilfe und alles, was benötigt wurde, in das durch den Terrorangriff zerstörte Gebiet im israelischen Süden zu liefern. Weltweit wurde eine Plakatkampagne initiiert, die auf die rund 240 Geiseln aufmerksam machte. Die Familien dieser Geiseln demonstrierten wochenlang jeden Samstagabend vor dem Tel Aviver Museum of Art. Die jüdische Resilienz beweist, dass es durchaus möglich ist, in einer traumatisierenden und zudem absolut überfordernden Situation dennoch in den sechsten Gang zu schalten und nicht in eine Depression zu verfallen. Es ist der unbedingte Wille nicht aufzugeben, sondern zu überleben. Deswegen heißt es auch »Am Yisrael Chai«: Das Volk Israel lebt. Der aktive Charakter dieses Satzes offenbart sich im Verb »lebt«. Es ist die grammatikalisch aktive Form. Deswegen heißt es auch nicht »wird leben«.
Denn im Judentum liegt das Paradies nicht im Jenseits, sondern im Diesseits und der Messias, auf den die Juden warten, ohne ihn zu erwarten, ist menschlich, nicht göttlich. Es gibt einige wichtige Eigenschaften, die den jüdischen Messias ausmachen: Zum einen ist er noch nicht erschienen, das jüdische Volk wartet nach wie vor auf seine Erlösung. Und zum anderen ist er ein sehr irdischer Messias. Er ist – das verdeutlicht besonders der Ursprung des Wortes, denn Maschiach heißt im Hebräischen nichts anderes als der Gesalbte – ein menschlicher Erlöser. Denn gesalbt wurde früher nur der König.
Im Christentum ist der Messias mit Jesus bereits aufgetaucht. Doch auch hier hat noch keine Erlösung stattgefunden. Diese tritt erst mit der Rückkehr Jesu und dem Beginn des Jüngsten Gerichts ein. Der christliche Heilsbringer ist demnach eine nicht irdische Gestalt. Er ist gestorben, wieder auferstanden und wird eines Tages erneut erscheinen. Er kann nicht aus den eigenen Reihen stammen. Die Hoffnung wird hier auf eine außerhalb der menschlichen Daseinsform liegende Gestalt projiziert. Dieser elementare Unterschied zwischen dem irdischen jüdischen Messias und dem nicht irdischen christlichen Messias muss verdeutlicht werden, weil er selbstverständlich zu einem anderen Umgang mit dem Jetzt führt.
Wenn der jüdische Messias aus den eigenen Reihen stammt, dann stellt sich die berechtigte Frage, ob ich da so jammernd unter meiner Dusche stehen sollte und mich anschließend ins Bett legen, schließlich könnte ich es sein: der leibhaftige Messias, diejenige, die alle finally in den paradiesischen Zustand katapultiert. For real? Like for real real?
Mein Eindruck ist, es handelt sich hier eigentlich um einen Taschenspielertrick des großen, mächtigen und vermutlich sehr, sehr cleveren Hashem. Denn die Aktivität, Wirkungskraft und mögliche Heilsbringerattitüde, die er da jedem Juden qua Geburt unterjubelt, fördert vor allem Selbstverantwortung. Es geht eben nicht darum, auf das Gute zu warten, sondern darum, das Gute in die Welt zu bringen. Es geht nicht darum, andere für das Schlechte verantwortlich zu machen, sondern darum, das Schlechte aktiv zu bekämpfen. Es geht auch darum, Menschlichkeit und Göttlichkeit in gewisser Hinsicht zu vereinen, das heißt, die Synthese aus Gutem und Bösem als Werkseinstellung fürs Menschsein sowie für die Welt zu definieren. Aber wie soll daraus eigentlich ein Paradies entstehen, wenn doch alles Schlechte aus dem Paradies verbannt wurde? Wenn dort nur noch Milch und Honig fließen und sich keiner mehr streitet? Im Christentum ist das alles irgendwie klar. Dort wartet man auf die Rückkehr eines Menschen, der gestorben und wieder auferstanden ist, also mit seinen Fähigkeiten die Grenzen des ganz normalen Menschseins sprengt. Ergo auf irgendeinen Geist, eine nicht irdische Gestalt in jedem Fall. Der wird das alles richten und die Welt endlich in ihren Ursprungszustand zurückbefördern, nachdem Eva Mist gebaut hat. Laut Christentum jedenfalls. Das bedeutet für alle, die im Moment auf diesem Planeten leben, dass sie theoretisch weiter unter der Dusche jammern können, weil: Jesus wird schon rechtzeitig das Money und den Boi bringen und den Krieg beenden. Wenn!!! Er!!! Will!!! Natürlich!!!
Aber im Judentum ist das eben anders. Im Judentum führt die Vorstellung von Willensfreiheit und Wirkungsmacht zu einem Konzept, das tikkun olam heißt. Wörtlich bedeutet dies: »die Welt reparieren« oder »verbessern«. Es ist einer der wichtigsten Bausteine im Judentum, ein zentrales Konzept, das die Verantwortung und Verpflichtung der jüdischen Gemeinschaft betont, sich aktiv für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Wohltätigkeit einzusetzen, um die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Die Ursprünge des Begriffes liegen in der frühen rabbinischen Literatur, insbesondere in der Mischna, einer Sammlung von jüdischen Gesetzen und Traditionen, die um 200 n. Chr. zusammengestellt wurde. In diesen Texten wird tikkun olam