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Von der Gewalt der Vergangenheit und der Liebe der Gegenwart Wenn Nike ihre Wohnung in Berlin-Mitte verlässt, muss sie am Stolperstein ihrer Urgroßmutter vorbei. Nike ist als Jüdin in Ostberlin aufgewachsen, jede Straße trägt Erinnerung, auch schmerzhafte. Als sie ein Jobangebot in Tel Aviv bekommt, nimmt sie an. Dort trifft sie Noam, er ist Journalist, seine Geschichte ist tief und komplex. Nike lässt ihn in ihr Leben, als ersten Mann seit Jahren. Doch zwischen ihr und Noam steht Noams Onkel Asher. Der ist vereinnahmend und brutal und setzt alles daran, dass Nike aus Noams Leben verschwindet. Furchtlos und berührend erzählt Mirna Funk von der Gewalt, die in Nikes und Noams Familiengeschichten steckt. Wie leben sie mit ihren individuellen Bruchstellen? Und wie können sie einander lieben?
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Seitenzahl: 342
Jedes Mal, wenn Nike ihre Wohnung in Berlin-Mitte verlässt, muss sie am Stolperstein ihrer Urgroßmutter vorbei. Nike ist als Jüdin in Ostberlin aufgewachsen, jede Straße trägt Erinnerung, auch schmerzhafte. Als sie ein Jobangebot in Tel Aviv bekommt, nimmt sie an. Dort trifft sie Noam, er ist Journalist bei der ›Haaretz‹, seine Geschichten berühren sie. Nike lässt ihn in ihr Leben, als ersten Mann seit Jahren. Sie fühlt sich ihm auf einer tiefen Ebene verbunden – doch Noam verbirgt einen großen Teil seines Lebens vor ihr. Seit dem Tod seines Vaters lebt Noam auf engstem Raum mit seinem Onkel Asher, in einer Beziehung, die ihm kaum Luft zum Atmen lässt. Und auch Nike werden in Israel die Verluste ihrer eigenen Familie vor Augen geführt. Furchtlos und einfühlsam erzählt Mirna Funk von der Gewalt, die tief in Nikes und Noams Familiengeschichten steckt. Wie leben sie mit ihren individuellen Bruchstellen? Und wie können sie einander lieben?
Für A.Andrée & Alisa
Schwebende Füße in pathetischem Glanze.
Ich selbst,
Auch ich tanze,
Befreit von der Schwere
Ins Dunkle, ins Leere.
Gedrängte Räume vergangener Zeiten,
Durchschrittene Weiten,
Verlorene Einsamkeiten
Beginnen zu tanzen, zu tanzen
Ich selbst
Auch ich tanze.
Ironisch vermessen
Ich hab nichts vergessen,
Ich kenne die Leere,
Ich kenne die Schwere,
Ich tanze, ich tanze
In ironischem Glanze
»Traum«, Hannah Arendt
Das Metall sah stumpf und angelaufen aus. Ich zog meinen rechten Fuß langsam aus der braunen Sandale, manövrierte den großen Zeh über die kleine quadratische Platte und legte ihn vorsichtig auf den ersten Buchstaben. Ein D. Ich zeichnete es mit meinem Zeh nach, fuhr weiter zum O, umkreiste es, schwebte auf das R und abschließend auf das A. Ich wiederholte das Ganze mehrmals. Das tat ich nicht jeden Morgen, aber sooft es ging.
Obwohl das Licht schon den Herbst ankündigte, wie es in Berlin im September der Fall ist, brannte die Sonne an diesem Morgen um acht Uhr immer noch so stark, dass sich kleine Schweißperlen über meiner Oberlippe bildeten. Ich wischte sie mit dem Handrücken weg und begann erneut, meinen Zeh über die Metallplatte zu schieben.
Meine Wohnung befand sich im zweiten Stock des Seitenflügels und war dementsprechend dunkel. Eine kleine Scheunenviertelwohnung in der Auguststraße, Ecke Oranienburger. Manche würden mich hier korrigieren, das sei die Spandauer Vorstadt, nicht das Scheunenviertel, aber meiner Familie und mir war das immer egal gewesen.
Als ich vor zehn Jahren eingezogen war und mich meine Großmutter Rosa zwei Wochen später besuchen kam, griff sie nach meiner linken Hand und zerquetschte sie fast.
»Das gibt es doch nicht!«, rief sie, »du bist in das Haus von Dora gezogen! Hier ist deine Urgroßmutter aufgewachsen.«
Ich erinnere mich daran, dass ich mir nicht sicher war, ob ich mich freuen oder schämen sollte. Über Dora wusste ich kaum etwas. Ich wusste, wann sie geboren worden war – 1912 –, und ich wusste, dass sie umgekommen war – 1941 irgendwo in Frankreich –, aber unter welchen Umständen, darüber hatte Rosa nie mit mir gesprochen.
Fünf Jahre nach meinem Einzug in die Wohnung wurde ihr Stolperstein vor meiner Haustür verlegt: eine Messingplatte, die in den Boden eingelassen ist. Offenbar war die Stolperstein-Initiative auf Dora Waldman gestoßen und hatte die Niederlegung in Auftrag gegeben. Soweit ich weiß, ohne Rosas Mitwirkung. Jedenfalls hatte niemand aus unserer Familie an der Veranstaltung teilgenommen.
Ich legte den Kopf seitlich auf den Knien ab. Mein Blick verlor sich in den Kränen, die verstreut um das Tacheles standen. Sie wiegten gefährlich im Wind, als drohten sie, jede Sekunde das Gleichgewicht zu verlieren. Ihre Aufgabe: eine uralte Leerstelle zu füllen. Es war die letzte große Wunde in Berlin-Mitte, die man nun zu heilen versuchte. Vor über hundert Jahren hatte auf dem Gelände eine Synagoge gestanden, danach ein jüdisches Kaufhaus, das jedoch noch vor dem Ende des Ersten Weltkriegs zwangsversteigert wurde. Erst zog die AEG ein und dann die NSDAP, die das Gebäude an der Oranienburger, Ecke Friedrichstraße für verschiedene Dienststellen nutzte. Nach dem Krieg konnte man dort die Büros der Nationalen Volksarmee finden. Nach dem Mauerfall eignete sich eine Handvoll Künstler eine Geschichte an, die nicht nur nicht die ihre war, sondern die sie für ihre Zwecke falsch interpretierten. Das anarchistische, antiimperialistische Tacheles entstand, das viele in den letzten Jahren glaubten retten zu müssen. Ich nicht. Ich wünschte mir das jüdische Kaufhaus namens Friedrichstadtpassagen zurück, das von nicht jüdischen Deutschen mit dem jiddischen »Tacheles« – »Klartext« – benannt und zur antikapitalistischen Zentrale umgedeutet worden war.
»Guten Morgen, Nike«, rief einer der Kellner des kleinen, hässlichen und dazu noch schlechten Italieners im Vorderhaus. Er war eröffnet worden, um die Massen an Touristen abzufangen, die sich durch die engen Gassen des alten jüdischen Viertels quetschten, um der Vergangenheit nachzuspüren. Jeder, der hier wohnte, mied das Restaurant wegen seiner Hähnchen-in-Pilzrahm-Pasta.
»Guten Morgen!«, antwortete ich und hob meine Kaffeetasse.
Ich legte den Fuß erneut auf Doras Stolperstein. Er war kalt und glatt. Die Prägung ihres Namens drückte gegen meinen Ballen. Mein Kinn lag in der linken Hand, in der rechten hielt ich die Tasse. Ich blickte die Straße hinunter, und da sah ich ihn. Sascha. Er fuhr auf einem Lastenrad mit drei kleinen Mädchen an Bord von der östlichen Auguststraße in meine Richtung. Eine Frau radelte hinter ihm her. Seine Haare waren grau geworden, aber lagen immer noch wirr auf seinem Kopf, ein bisschen so, als scheitere jeder Versuch, daraus eine anständige Frisur zu machen. Sein Blick fiel auf mich, er streckte sofort den Rücken durch und wendete demonstrativ den Kopf von mir ab. Als er auf meiner Höhe angekommen war und begriffen hatte, dass er mich nicht einfach ignorieren konnte, schaute er mir direkt in die Augen und stieß ein »Ach, na!« aus. Im nächsten Moment erhob er sich vom Sattel und trat kräftig in die Pedale. Als wollte er seiner Vergangenheit davonfahren. Sekunden später waren alle fünf auf die Oranienburger Straße abgebogen, und ich blieb allein zurück. Ich fühlte mich sofort wie damals. Als dürfte ich nicht existieren. Nicht hier sitzen, nicht meinen Zeh über Doras Stolperstein schieben, nicht aus einer Kaffeetasse trinken, nicht einatmen, nicht ausatmen. Ich war falsch, und Sascha war richtig.
In der Potasche meiner Jeans vibrierte es. Ich zog mein Telefon heraus, schaute auf das Display und stöhnte laut. Rosa ruft an, stand darauf. Ich schloss die Augen und nahm ab. »Hi! Ich fahre gleich los.«
»Wirklich?«, antwortete sie.
»Ja, wirklich. Ich komme pünktlich.«
»Du kommst nie pünktlich.«
»Das stimmt doch gar nicht. Ich bin ein pünktlicher Mensch.«
»Das wärst du vielleicht gerne. Wir alle wollen gute Menschen sein. Wir wollen unser Leben im Griff haben, pünktlich sein, zuvorkommend, gefasst. Jeder will das. Auch du, Nike.«
»Es geht hier nicht darum, ob ich ein guter Mensch sein will, sondern, ob ich so bin, wie ich behaupte zu sein: pünktlich.«
»Genau. Und ich sage dir, das bist du nicht.«
»Und das weißt du woher? Von unseren Treffen alle sechs Monate?«, fragte ich, und Rosa antwortete nicht weniger schnippisch: »Na, dann bis gleich, ich kann ja schon mal den Kaffee aufsetzen. Von Mitte nach Pankow braucht man genau fünfzehn Minuten.«
Ich kippte den letzten Rest Kaffee auf den Bürgersteig, stand auf, lief die Treppe hinauf und nahm dabei die Stufen doppelt. Angekommen in meiner Wohnung, zog ich mich aus, sprang in die nach der Wende lieblos eingebaute Duschtrasse und schloss den weißen Duschvorhang, der am Saum begonnen hatte zu schimmeln, obwohl ich ihn regelmäßig in Chlor tränkte. Nach knapp einer Minute war ich fertig, fuhr schnell in ein rostbraunes Plisseekleid, schlüpfte in meine knöchelhohen Stiefel, griff nach meiner schwarzen Ledertasche, die auf dem Glastisch in der Küche lag, und rannte die Treppen hinunter zu meinem Auto. Der schwarze Fiat Panda stand im absoluten Halteverbot vor der Auguststraße 2, direkt gegenüber von meinem Wohnhaus.
Nach drei Versuchen sprang der Panda endlich an. Ich verband mein iPhone mit dem Autoradio, scrollte durch Spotify und entschied mich für Portishead’s Dummy. Ein Album, das ich während der gesamten Beziehung mit Sascha gehört hatte. Ich bog direkt rechts ein in die Oranienburger, dann wieder rechts in die Torstraße und links in die Prenzlauer Allee. Meine Großmutter wohnte in der Kissingenstraße gegenüber vom Rosa-Luxemburg-Gymnasium. Zu DDR-Zeiten hatte die Schule Wilhelm-Pieck-Oberschule geheißen und sogenannte Russischklassen gehabt. Dort wäre ich eingeschult worden, wenn nicht die Mauer gefallen und aus der Schule das Gymnasium geworden wäre, auf dem ich später mit sehr viel Mühe, aber ohne eine Extrarunde zu drehen, mein Abitur schaffte.
Ich fuhr die Prenzlauer Allee immer geradeaus, vorbei an den Plattenbauten am Arnold-Zweig-Weg, in denen in den Neunzigern viele Indonesier und Vietnamesen gelebt hatten, auch meine Freundin Trang. Am verlassenen Burger King nahm ich links die Kissingenstraße, und anstatt mich auf direktem Weg zu Rosa zu begeben, bog ich in den Retzbacher Weg ab. Vor der Nummer 47 hielt ich einfach an. Ich schaltete den Warnblinker ein und den Motor aus. Mein Blick wanderte die sanierte Fassade nach oben zum Dach. Man hatte sie gelb angestrichen. In der Zeit, in der ich dort mit Sascha gewohnt hatte, war sie noch voller Einschusslöcher gewesen. Manchmal hatte ich einen Zeigefinger hineingesteckt und am Ende des schmalen Tunnels eine alte Patrone fühlen können. Ich dachte an die drei kleinen Mädchen im Lastenrad und an die Frau auf dem Fahrrad dahinter und daran, wie glücklich Sascha ausgesehen hatte, bevor er mich entdeckte. Dann schloss ich die Augen und sang leise den Text zu Roads mit. Wie ich es auch damals oft getan hatte, wenn ich hinter der von außen abgeschlossenen Zimmertür kauerte.
Ich weinte, bis ich mir blöd vorkam. Das dauerte knapp fünfzehn Minuten. Danach fühlte ich mich, als wäre das alles nie passiert. Mit Sascha und mir. Und irgendwie stimmte das ja auch. Denn der Körper dieses Mädchens, das genauso hieß wie ich, existierte schon lange nicht mehr. Sieben Jahre dauert es, bis sich alle Zellen ausgewechselt haben. Zweimal hatte sich mein Körper seitdem schon erneuert. Aktuell steckte ich in der dritten Kernsanierung. Drei Nikes entfernt von der alten. Nichts von dem, was diesem achtzehnjährigen Mädchen zugestoßen war, hatte sich an meinem Körper zugetragen. Das war die erträglichste Lüge, die ich mir erzählen konnte. Ich erzählte sie mir, um es in meinem eigenen Körper auszuhalten. Um die Schändung und das unerträgliche Gefühl der Schuld nicht zu spüren. Um nicht in der Befleckung leben zu müssen. Ja, in ihr. Mit ihr wäre einfach.
Ich wechselte zum Radio, startete den Motor und düste zweihundert Meter weiter zu Rosas Wohnung. Sie hatte recht behalten. Dieses eine Mal kam ich wirklich zu spät. Satte fünfundvierzig Minuten.
Aus dem kleinen Kiosk, an dem ich mir früher immer Süßigkeiten gekauft hatte, war ein Blumenladen geworden. Ich griff nach einem Strauß roter Nelken. Die mochte Rosa. Weder der Zusammenbruch des gesamten Ostblocks noch die Wende hatten sie am Kommunismus zweifeln lassen.
Ich klingelte zaghaft, als würde das irgendeinen Unterschied machen, und Rosa öffnete sofort.
Im Treppenhaus roch es nach DDR. Nach Linoleum und Bohnerwachs. Rosa hatte die Wohnungstür angelehnt. Ich schlich mich hinein, zog sofort die Schuhe aus, weil ich um Rosas Sauberkeitsdrang wusste, und hängte meine Lederjacke an den weißen Haken der Plastik-Garderobe. Schon vom quadratischen Flur aus konnte ich Rosa sehen. Sie saß in ihrem grünen Sessel und rauchte.
Im März war sie achtzig Jahre alt geworden. Da hatte ich sie zum letzten Mal besucht. Es war ein Fest mit so vielen Gästen gewesen, dass wir außer einem schnellen Hallo zur Begrüßung kein Wort miteinander gewechselt hatten. Meine Großmutter war beliebt und gesellig. Sie hatte viele Freunde, Bekannte und Menschen, die sie schätzten. Ihrer Warmherzigkeit wegen, sagten die meisten. Aber auch, weil sie schlau und engagiert sei. Wenn man zu ihrer engen Verwandtschaft gehörte, konnte man mit den meisten Zuschreibungen wenig anfangen.
»Du bist zu spät!«, zischte sie. Ich drückte ihr die Nelken in die Hand und gab ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange. Sie war teigig. Rosa schmiss die Blumen auf den Tisch. »Danke«, raunte sie. Ihre Stimme war dunkel vom vielen Rauchen, ihre Haut weiß, weich und faltig, das lange Haar trug sie geflochten. Wie immer.
»Willst du eine Zigarette?«, fragte sie genervt, und obwohl ich nie geraucht hatte, hatte ich das Gefühl, keine Wahl zu haben, wenn ich in diesen Räumen voller Rauch überleben wollte. Ich nahm die Schachtel, die sie mir entgegenhielt, und zog eine Zigarette heraus. Ein rotes Feuerzeug mit LIDL-Logo lag auf dem alten Mid-Century-Couchtisch, den sie von einer Wohnung in die nächste mitgeschleppt hatte. Ich zündete die Zigarette an und fürchtete mich vor dem ersten Zug, so, wie ich mich vor Rosa fürchtete.
Wir zogen zufällig im gleichen Moment an unseren Zigaretten. »Du hast rote Augen, hast du geweint?«, fragte sie, und ich schüttelte den Kopf. Sie glaubte mir nicht.
»Wie geht es dir?«, fragte ich, weil ich musste, nicht, weil ich die Antwort hören wollte, und Rosa antwortete wie immer: »Furchtbar schlecht. Das weißt du doch, Nike.«
»Wieso, was ist denn?«
»Nichts.«
»Wenn du nichts sagst, kann ich dir nicht helfen.«
»Wer sagt denn, dass ich will, dass du mir hilfst? Mir kann niemand mehr helfen. Ich sterbe bald«, sagte sie ein bisschen zu laut. Dann zündete sie sich mit ihrem Zigarettenstummel eine neue Zigarette an.
»Ich will dir wirklich nicht zu nahetreten …«
»Das tust du immer. Du kannst gar nicht anders. Das ist dir angeboren«, fauchte sie.
»… aber du erzählst seit zehn Jahren, dass du bald sterben wirst.«
»Und? Sehe ich so aus, als würde ich noch weitere zehn Jahre leben?«
»Ehrlich gesagt, ja«, entgegnete ich und zog die Schultern hoch.
Ich drückte die Zigarette aus, an der ich genau drei Mal gezogen hatte, stand auf, ging zum Balkon und öffnete die Tür.
»Lässt du die bitte zu, danke!«
»Ich brauche frische Luft. Es ist ja total blau hier drinnen. Siehst du das gar nicht?«
»Ich mag blau.«
»Ich weiß, Rosa. Ich weiß. Ganz kurz, ok?«
»Eine Minute!«
»Versprochen.«
Ich atmete tief ein. Von der Kastanie vor Rosas Haus zwitscherten die Vögel. Ich lehnte den Oberkörper über die Brüstung und dachte daran, wie ich vor knapp zwei Jahren zu einer Konferenz eingeladen worden war, die von der Anna-Seghers-Stiftung organisiert wurde. Sie fand im Jüdischen Museum statt und sollte zwei Tage dauern. Das Thema war Juden in der DDR. Ich sollte einen Vortrag halten, weil der Vorsitzende meine wissenschaftlichen Publikationen dazu kannte und sie für relevant hielt. Als ich am Morgen der Konferenz dort ankam, passte mich der Leiter ab, nahm mich zur Seite und sagte mir, dass meine Großmutter sich bis in die höchsten Etagen der Anna-Seghers-Stiftung telefoniert habe, um zu bewirken, dass ich von der Veranstaltung ausgeschlossen würde. Ich hätte inhaltlich nichts beizutragen, hatte sie erklärt. Dabei habe sie sich selbst gleich eingeladen und sitze jetzt im Saal. Er fügte hinzu, ich solle mir keine Sorgen machen, er wisse genau, warum er mich um den Vortrag gebeten habe, und er hoffe, dass meine Großmutter nicht die ganzen zwei Tage über Probleme machen werde.
Als ich den Konferenzsaal betrat, saß sie als Einzige schon dort. Rosa trug eine frisch gebügelte weiße Seidenbluse und einen kurzen grauen Rock. Sie hatte sich für schwere, schwarze Holzohrringe entschieden und eine dazu passende Kette umgehängt. Als ich an ihr vorbeilief, ignorierte sie mich. Fünf Meter von ihr entfernt, legte ich meine Tasche auf den Konferenztisch, zog die Jacke aus und hängte sie über den Stuhl. Ich setzte mich kurz, fand die Situation dann aber so skurril, dass ich meinen ganzen Mut zusammennahm, zu ihr ging und »Hallo« sagte.
Sie ignorierte mich weiter.
»Du hast also versucht, mich auszuladen? Deine eigene Enkeltochter?«
»Das stimmt doch gar nicht. Ich habe lediglich dort angerufen, als ich deinen Namen gesehen habe, und denen erklärt, dass du hier nichts zu suchen hast.«
»Wieso soll ich hier nichts zu suchen haben?«
»Weil du nichts über Juden in der DDR sagen kannst.«
»Bist du Jüdin?«, fragte ich meine Großmutter.
»Ja!«
»Bist du die Mutter meiner Mutter?«
»Ja!«
»Bin ich 1983 in Ost-Berlin geboren?«
»Ja … aber!«, sagte sie bissig.
»Genau. Deswegen hat man mich eingeladen, hier zu sprechen.«
»Die haben doch alle keine Ahnung!«, schimpfte Rosa.
»Die Anna-Seghers-Stiftung hat keine Ahnung?«, wiederholte ich und rollte mit den Augen.
»Genau. Bist du mittlerweile schwerhörig?«
»Aber du hast Ahnung?«
»Ja, mehr als die.«
Das dachte Rosa immer. Dass sie mehr wusste als alle anderen. Über alles. Juden in der DDR, Quantenphysik und Darwins Evolutionstheorie. Es spielte keine Rolle, um welches Thema es sich handelte. Rosa war die Expertin, und alle anderen waren armselige Ahnungslose.
Die Schulglocke klingelte, und ich konnte das Gewimmel hinter den Mauern spüren, auch wenn ich nichts sah.
»Mach wieder zu! Sofort! Komm rein oder bleib draußen! Das ist mir egal. Aber mach sofort die Balkontür zu!«, schrie Rosa.
Ich ging wieder rein und stellte mich neben den Röhrenfernseher, auf dem eine schwere Menora aus Bronze thronte.
»Wie fandest du meinen Vortrag eigentlich?«
»Den über die nicht jüdischen Juden der DDR?«
»Ah, damit habe ich jetzt nicht gerechnet.«
»Womit? Dass ich einem Vortrag folgen kann?«
»Dass du meinem Vortrag gefolgt bist.«
»Dafür, dass du keine DDR-Jüdin bist, weißt du ziemlich viel. Das ganze Menora- und Weihnachtsbaum-Gerede hat mir gefallen. Dass wir uns über den Holocaust definiert haben. Dass wir gekommen sind, um eine Art Herzls Altneuland in der DDR aufzubauen. Dass wir gekommen sind, weil wir Kommunisten waren und dafür unser Jüdischsein verleugnen mussten.«
»Wie war das für dich, als sie 1976 Biermann ausbürgerten?«
»Der Anfang vom Ende.«
»Aber trotzdem bist du nicht in die Jüdische Gemeinde eingetreten. Warum?«
»Weil ich Kommunistin bin, deswegen. Meine Identität hat nichts mit der DDR zu tun.«
»Na ja. Der Gründungsmythos der DDR hat dir bei deiner Identitätsfindung sehr geholfen. Kein Opfer sein zu müssen. Widerstandskämpferin, Antifaschistin sein zu können.«
»Niemand ist gerne Opfer.«
»Ja, das stimmt. Niemand ist gerne Opfer, Oma.«
»Ich denke viel an Mama, weißt du«, sagte Rosa, und Tränen liefen durch die Falten in ihrem Gesicht.
»An Lea?«
»Nein, meine Güte, an Dora, meine Mutter. Nicht deine Mutter, Nike. Ihr seid alle nur noch an euch selbst interessiert.«
»Ich habe heute wieder ihren Stolperstein sauber gemacht.«
»Bald werde ich bei ihr sein.«
»Kommt dich Mama manchmal besuchen?«, fragte ich.
»Sie haben so viel um die Ohren. Das Haus, der Garten.«
»Okay, ja, aber kommt sie dich besuchen?«
»Selten.«
»Und wann warst du das letzte Mal im Haus?«
»Was weiß ich. Das Haus ist in dieser verdammten Uckermark, wo gerade alle hinziehen. Wie soll ich dahin kommen?«, zischte meine Großmutter.
»Ich weiß nicht. Mit der Bahn?«
»Wenn du es schon nicht weißt, woher soll ich es dann wissen?«
»Ich weiß es nicht, weil ich ein Auto habe. Willst du, dass ich dich mal hinfahre?«, fragte ich zaghaft.
»Nein danke. Das schaffe ich schon noch selbst.«
»Also, ja eher nicht, so, wie es aussieht.«
»Und wann warst du das letzte Mal bei Lea?«
»Keine Ahnung.«
»Wie kann es sein, dass du deine eigene Mutter nicht besuchst?«
»Wie kann es sein, dass du deine eigene Tochter nicht besuchst?«
»Es ist unerträglich mit dir.«
»Schön, dass wir uns in diesem Punkt einig sind«, antwortete ich und lächelte. Zum ersten Mal an diesem Morgen lächelte auch Rosa, und für einen kurzen Moment sah ich sie mit den Augen ihrer Freunde.
»Willst du hier noch zu Mittag essen? Ich habe Frikassee und Reis vorbereitet. Ich muss beides nur warm machen.«
»Gerne«, antwortete ich.
Rosa drückte ihre Zigarette in den getöpferten grünen Aschenbecher, stand auf und fing an, in der kleinen, ordentlichen Küche zu hantieren. Ich sah mich währenddessen in ihrer Wohnung um. An den Wänden beider Zimmer hingen Fotos. Über ihrem Bett zeigte eines Rosa als Baby in Paris, es musste 1939 entstanden sein. Daneben ein Bild, auf dem sie zusammen mit ihrem Bruder zu sehen war. Rudi war direkt nach dem Krieg mit der Jugend-Alija nach Palästina ausgewandert.
»Hast du Rudi eigentlich irgendwann mal besucht, bevor er gestorben ist?«, rief ich in die Küche.
»In Israel?«
»Ja, genau. In Israel.«
»Nein, natürlich nicht. Was sollte ich da?«
»Hast du ihn nicht vermisst?«
»Das Essen ist gleich fertig.«
»Rosa, wolltest du nie wissen, was aus ihm geworden ist?«
Auf diese Frage bekam ich keine Antwort mehr. Rosa deckte den Tisch, und ich half ihr dabei. Sie stellte zwei dampfende Schüsseln auf bunte, selbst gehäkelte Untersetzer und ließ sich in ihren Sessel fallen. Schweigend aßen wir. Ich trank schwarzen Tee, der wie immer ein wenig zu stark und zu süß schmeckte. Als Rosa fertig war, zündete sie sich eine Zigarette an.
»Rosa, bitte. Kannst du nicht warten, bis ich zu Ende gegessen habe?«, fragte ich, aber meine Großmutter tippte sich nur mit dem linken Zeigefinger an die Stirn.
Als ich nach Hause kam, musste ich mich sofort übergeben. Das schöne Frikassee, dachte ich kurz, dann kämpfte ich mich ins Bett und versuchte zu schlafen. Unmöglich. Also schob ich die Hand in meinen Slip und dachte, woran ich immer dachte, wenn ich mich selbst befriedigte, um einschlafen zu können. Daran, wie Sascha eines Nachts in das Zimmer unserer Dachwohnung gekommen war. Ich hatte bäuchlings auf dem Bett gelegen, das Kinn auf den verschränkten Händen, im Fernsehen lief Domian. Sascha stieg auf die Matratze, positionierte behutsam sein Knie rechts neben meinem Po und das andere links, zog meinen Slip leicht zur Seite und drang mit zwei Fingern in mich ein. Die klebrige Flüssigkeit benutzte er dazu, seinen Penis einzureiben, um ihn daraufhin mit einer gekonnten, relativ schnellen und trotzdem für mich völlig schmerzfreien Bewegung in meinem Hintern versinken zu lassen. Nie wieder hatte mich jemand so gut anal genommen wie Sascha in dieser Nacht. Nicht mal er selbst. Mit dieser Vorstellung kam ich, wie erwartet, und schlief ein.
Den gesamten Sonntag verbrachte ich liegend im Bett, ohne an irgendetwas Bestimmtes zu denken oder irgendetwas Bestimmtes zu tun. Ich starrte zur Decke oder vergrub mein Gesicht im Kissen und hielt den Atem an. Stundenlang wechselte ich zwischen diesen beiden Positionen. Langweilig wurde mir dabei nicht. Hunger verspürte ich auch keinen. Weinen konnte ich nicht, obwohl ich das möglicherweise hätte tun sollen.
Als mein Wecker am Montag klingelte, fühlte ich mich wie neugeboren. Ich war die Erste am Schreibtisch. Das Hauptstadtbüro des Deutschen Akademischen Austauschdienstes, kurz, DAAD, befand sich im Wirtschaftsforum direkt am Gendarmenmarkt, nur zehn Minuten von meiner Wohnung entfernt.
Während meines Judaistik-Studiums an der FU hatte ich dort eine studentische Aushilfsstelle bekommen. Mittlerweile arbeitete ich auf Dreißigstundenbasis als Referentin.
Gegen neun Uhr trudelten langsam meine ersten Kolleginnen ein und ich freute mich riesig, denn es fiel der Startschuss für die Organisation einer großen mehrtägigen Konferenz, die in einem Jahr in Tel Aviv stattfinden sollte und für deren Organisation ich die Leitung übernommen hatte. Lehrkräfte aus dem gesamten Mittleren Osten sollten eingeladen werden, um Vorträge zum Thema Juden in Deutschland nach 1945 zu hören und an Workshops teilzunehmen. Auch ich war für eine Keynote vorgesehen.
Um elf Uhr versammelten wir uns im verglasten Besprechungsraum mit Blick über den Gendarmenmarkt. Am Tisch saßen Karin, meine Chefin, Konrad, Tina und ich. Wir waren das Kernteam, das sich um die Organisation kümmern sollte.
»Guten Morgen, alle miteinander. Heute beginnen wir mit der Organisation der Konferenz, die im September 2019 in Tel Aviv stattfinden soll. Ich freue mich, dass ihr da seid. Lasst uns loslegen«, sagte Karin.
»Ich habe uns eine kleine Agenda vorbereitet und die nächsten Schritte notiert«, übernahm ich und projizierte mit Airplay eine PowerPoint-Präsentation an die Wand. »Es gibt zwei Bereiche: Der erste ist Produktion und Organisation. Dazu gehören die Location, der Aufbau der Technik, das Catering, Flüge, Hotel sowie ein Shuttleservice. Den zweiten nenne ich Inhalt und Durchführung. Wir müssen einen Ablaufplan erstellen, uns einig werden, ob Veranstaltungen parallel laufen sollen oder nicht. Danach können wir beginnen, das gesamte Programm zu entwickeln. Wenn wir gute Wissenschaftler wollen, müssen wir sie spätestens im Januar einladen.«
»Feedback?«, fragte Karin, und Konrad meldete sich.
»Als Projektleiter habe ich nichts hinzuzufügen. Ich würde meinen Fokus auf den ersten Bereich legen, wenn das für euch in Ordnung ist. Nike und Tina könnten den gesamten Inhalt und Ablauf klären. Wie seht ihr das?«
»Das halte ich für eine sinnvolle Aufteilung. Lasst uns ein Weekly für diese Konferenz einplanen. Dienstags um zehn? Passt das allen?«
Alle scrollten durch ihre Kalender, es gab ein einstimmiges »passt«, und damit wurde das Weekly beschlossen. Wir standen auf, packten unsere Handys ein und klemmten die Rechner unter den Arm. Ich griff nach einem Apfel aus der Obstschale und nahm Tina zur Seite, um mit ihr einen wöchentlichen Jour Fixe auszumachen. Karin blieb in der geöffneten Tür stehen und sagte: »Eine Sache noch, die ich fast vergessen hätte. Uns ist leider Micky weggebrochen. Sie hört schon zum fünfzehnten Oktober in unserem Tel Aviver Büro auf. Eigentlich sollte sie uns vor Ort unterstützen. Wir brauchen dringend jemanden, der sie ersetzt. Wenn euch spontan jemand in Tel Aviv einfällt, gebt mir bitte Bescheid.«
Zum Mittagessen war ich mit Trang bei Lutter & Wegner verabredet. Sie war eine meiner ältesten Freundinnen und hatte sich in den letzten zwanzig Jahren aus dem Plattenbau am Arnold-Zweig-Weg herausgekämpft. Mittlerweile arbeitete sie als Director PR im Soho House. In unseren Teenagerjahren hatten wir zusammen die Schule geschwänzt, auf dem Dach des Plattenbaus kiffend unsere Zeit verschwendet und waren sonntags zu Electric Ballroom ins SO36 gegangen, um am Montag betrunken und übermüdet im Mathematikunterricht zu erscheinen.
Trang war die coolste und tollste Frau, die ich kannte. Sie hatte es, trotz ihres alkoholkranken Vaters, der ihr alle drei Tage ein neues blaues Auge verpasste, geschafft, sich ein normales Leben aufzubauen. Das verdiente Hochachtung. Frauenmagazine nennen das, glaube ich, Resilienz. Ich nenne es Überlebenswillen.
Als ich ein bisschen abgehetzt im Wegner ankam, saß sie schon da und bestellte gerade eine Flasche stilles Wasser.
»Du glaubst gar nicht, wo ich am Samstag vorbeigefahren bin!«, sagte ich und gab ihr einen Kuss auf die Schläfe.
»Hallo, Nike? Wie geht es dir? Mir geht es auch gut. Was macht die Liebe?«
»Ach, Liebe, hör zu, ich bin an deiner Platte vorbeigefahren.«
»An meiner Platte?« Trang lachte.
»Du weißt, wie ich das meine.«
»Weiß ich. Was hast du in fucking Pankow gemacht? Man müsste mich sedieren und bewusstlos in den Kofferraum werfen, um mich dahin zu bekommen.«
»Das verstehe ich gut«, antwortete ich und dachte an das Pausenklingeln des Rosa-Luxemburg-Gymnasiums.
»Wie geht’s meiner Platte?«
»Ich habe Rosa besucht. Deine Platte sieht immer noch sehr plattig aus.«
»Oh, wie geht’s der?«
»Wem? Rosa? Zu gut!«
»Zu gut?«
»Sie denkt, sie stirbt bald.«
»Das denkt sie doch seit zehn Jahren.«
»Genau das habe ich ihr auch gesagt. Aber diese Frau wird hundertzwanzig. Das schwöre ich dir. So Frauen wie Rosa, die kriegt man einfach nicht tot. Selbst, wenn man wollte.«
»Bestellst du auch was?«, fragte Trang.
»Ja klar. Ich bin superhungrig.«
In einer unglaublich eleganten und unaufdringlichen Art rief Trang den Kellner an unseren Tisch und bestellte die Trüffelpasta, für die ich mich auch entschieden hatte. »Zweimal«, sagte ich, und Trang komplettierte die Bestellung mit »Vielen Dank«.
»Du bist so gut«, sagte ich und strich sanft über ihren Arm.
»Das ist mein Job. Wie war es nun bei Rosa?«
»Ich weiß nicht. Ich musste mich danach übergeben.«
»Say what? Hast du was Falsches gegessen?«
»Keine Ahnung. Ich war so schrecklich erschöpft.«
»Und wie geht’s dir heute?«
»Total gut. So als wäre nichts gewesen.«
»Vielleicht doch das Essen.«
»Vielleicht«, murmelte ich.
»Also, Nike, jetzt sag schon, was macht die Liebe?«
»Trang, bitte!«
»Was?«
»Du kennst doch die Antwort.«
»Aber die Antwort kann sich ja auch mal ändern.«
»Die Antwort ist: Ich kann nicht, ich will nicht, next.«
»Aber, Nike. Du brauchst Liebe.«
»Ich brauche Herausforderungen, an denen ich mich messen kann. Apropos. Hör zu. Sagt Karin gerade, Micky in Tel Aviv verlässt das Büro zum fünfzehnten Oktober. Und ich dachte auf dem Weg hierher, vielleicht sollte ich das machen.«
»Was machen?«
»Nach Tel Aviv gehen.«
»Willst du das?«, fragte Trang irritiert.
»Ich will irgendwas. Irgendwas, das anders ist. Ich will ein anderes Leben. Ich bin vor einer Woche fünfunddreißig Jahre alt geworden und allein. Ich bin Jüdin und war noch nie in Israel. Ich habe mich in den letzten Jahren meinem Studium und der Forschung gewidmet, und dabei ist mein Leben auf der Strecke geblieben. Findest du nicht auch?«
»Ja, vielleicht.«
»Und …«, setzte ich an.
»Und?«
»Ich bin zu Saschas und meiner alten Wohnung gefahren.«
»Nike! Warum hast du das getan?«
»Ich habe ihn gesehen.«
»Wen, Sascha? Wo?«
»Vor meiner Tür.«
»Hat er dir da aufgelauert?«
»Nein. Er ist mit drei Töchtern in einem Lastenrad an mir vorbeigefahren. Der Mann hat eine Frau und drei Kinder. Und ich, was habe ich?«
Der Kellner kam, brachte die Trüffelpasta, und Trang rollte das in die Serviette eingewickelte Besteck so auseinander, dass es einer Performance glich.
»Wie hast du dich danach gefühlt?«, fragte Trang und schob sich den ersten akkurat auf die Gabel aufgedrehten Pasta-Happen in den Mund.
»Ich habe mich übergeben.«
»Ah, dann war es doch nicht das Essen. Wie sah er aus?«
»Alt. Glücklich. Viel zu glücklich. Wieso darf der so glücklich sein?«
»Glücklich auszusehen und glücklich zu sein sind zwei verschiedene Dinge, Nike.«
»Vielleicht.«
»Hör zu. Mach es!«, sagte Trang.
»Tel Aviv?«
»Ja, why not. Schau mal, ohne dich hätte ich vielleicht nie zu mir selbst gefunden. Jetzt bist du dran. Nicht, dass ich denke, dass du nicht bei dir bist. Aber du warst immer gefasst, strukturiert, kontrolliert. Vielleicht täte dir Ausbrechen mal ganz gut.«
»Ja, genau. Ausbrechen!«
»Wie du mich zwei Jahre nach dem Abitur geschnappt hast und mit mir nach Vietnam zu meinem Geburtstort gereist bist, werde ich dir nie vergessen. Du hast dafür sogar dein Studium um sechs Monate verschoben. Dein heiß geliebtes Studium. Ich habe diese Reise gebraucht. Vielleicht brauchst du jetzt Tel Aviv.«
Als ich mein Besteck aus der Serviette wickeln wollte, fiel das Messer auf den Boden. Ich bückte mich und stieß dabei mit dem Kopf so heftig gegen die Tischplatte, dass die Gläser wackelten.
»Alles okay?«, fragte Trang und zog vorsichtig und liebevoll an meinem kleinen Finger.
»Ja, ja. Weißt du, ich kann sogar einfach Alija machen«, nuschelte ich mit vollem Mund.
»Was ist das?«
»Einbürgerung.«
»Was? Findest du das nicht ein bisschen übertrieben? Du musst ja nicht gleich israelische Staatsbürgerin werden.«
»Ja. Nein. Soweit ich weiß, kann ich meine deutsche Staatsbürgerschaft behalten. Ich muss doch nicht dort bleiben. Ich mache den Job für ein Jahr. Genauso lange dauert die Alija. Ich kriege einen Sprachkurs bezahlt, lerne Hebräisch, bekomme monatlich extra Geld, um anzukommen, und kann die Konferenz organisieren. Also das machen, was ich sowieso machen will.«
Ich lud Trang ein. Bei unseren gemeinsamen Mittagessen wechselten wir uns regelmäßig mit dem Bezahlen ab und kamen uns schrecklich erwachsen vor, wenn wir »Ich übernehme das« sagten. Und irgendwie waren wir das auch längst.
Auf dem Weg zurück ins Büro ließ ich mir Zeit. Statt quer über den Gendarmenmarkt, lief ich außen herum. Die vielen Tauben, die den Platz bevölkerten, flatterten aufgeregt weg, wenn ich in ihre Nähe kam. Ich wiederholte leise, was ich zu Trang gesagt hatte. Dass ich wegwolle, nach Tel Aviv, neu anfangen, vielleicht zum ersten Mal mein Leben wirklich selbstbestimmt gestalten und nicht nur überleben, nach allem, was passiert war. Dann setzte ich mich ins Café Einstein und googelte Jewish Agency. Alles, was ich theoretisch im Studium gelernt hatte, wurde jetzt real. Ich rief die Nummer an, die mir auf meinem Display angezeigt wurde. Es klingelte bestimmt dreißig Sekunden lang, bis sich eine Frau meldete.
»Ja?«, sagte sie, und obwohl es nur ein Wort war, konnte ich ihren russischen Akzent erkennen.
»Guten Tag, mein Name ist Nike Waldman, ich überlege Alija zu machen. Bin ich richtig bei Ihnen?«
»Sind Sie jüdisch?«
»Ja, das bin ich.«
»Ich brauche die Geburtsurkunden von Ihrer Mutter oder von Ihrem Vater. Wer von beiden ist jüdisch?«
»Meine Mutter.«
»Dann von Ihrer Mutter, Ihrer Großmutter und Ihnen. Und ich brauche ein Schreiben eines Rabbiners, der bestätigt, dass die Urkunden in Ordnung sind.«
»Okay. Haben Sie da Präferenzen bezüglich des Rabbiners, der die Echtheit bestätigt?«
»Was für Präferenzen? Das verstehe ich nicht.«
»Ist es wichtig, dass es ein orthodoxer Rabbiner ist, oder geht auch eine progressive Rabbinerin?«
»Egal. Rabbiner, Rabbinerin. Hauptsache, wir haben das Schreiben.«
»Okay, okay.«
»Wie war der Name noch mal?«
»Nike Waldman. Und Ihrer?«
»Daria Kaufman. Und, Nike, willst du die deutsche Staatsbürgerschaft abgeben oder behalten?«
»Unbedingt behalten.«
»Das bedeutet, du musst zum Bürgeramt und die Beibehaltung der Staatsbürgerschaft beantragen, bevor ich die Alija einleite. Das ist wichtig.«
»Okay, verstanden.«
»Und noch ein Punkt. Auf der Geburtsurkunde muss jüdisch stehen.«
»Auf welcher?«
»Auf der deiner Großmutter.«
»Wieso?«
»Damit bewiesen ist, dass deine Mutter Jüdin ist.«
»Alles klar. Nein, nein, meine Großmutter ist wirklich jüdisch geboren.«
»Mir ist das egal. Ich sage dir nur, was du brauchst.«
»Danke, ich komme vorbei, sobald ich alles zusammenhabe.«
»Ist in Ordnung«, sagte Daria und legte auf.
Ich hob den Kopf in Richtung Sonne, schloss die Augen und dachte daran, wie ich im Studium einen Essay zum israelischen Law of Return, dem sogenannten Rückkehrrecht, geschrieben hatte. Es erlaubt allen Juden die Einwanderung nach Israel, und ich war damals fasziniert gewesen, dass bei diesem Recht die Definition, wer Jude ist, nicht auf der Halacha basiert – dem jüdischen Gesetz, nach dem Jude ist, wer eine jüdische Mutter hat –, sondern, wenn man so will, auf den Nürnberger Gesetzen. Jeder mit einer jüdischen Abstammung, der die Folgen der nationalsozialistischen Ideologie zu spüren bekommen hätte, ist in Israel willkommen. So hatten es die Gesetzgeber nicht offiziell formuliert, aber sehr wohl gemeint, als sie das Gesetz 1950 beschlossen. Fortan konnte jeder mit einem jüdischen Vater und sogar einem jüdischen Großvater israelischer Staatsbürger werden, ohne halachisch jüdisch zu sein.
Ich schaute auf das Display meines Telefons, das auf dem Tisch lag, und erschrak. Zwei Stunden Mittagspause waren eindeutig zu lang. Ich schmiss das Handy in die Tasche und rannte zurück ins Büro. Abgehetzt kam ich an, fing Konrad ab und rief ihm zu: »Hast du Karin gesehen?«
»Karin ist bei einem Termin. Heute kommt sie nicht mehr rein.«
Sofort bekam ich Angst. Angst davor, dass ich meinen Entschluss schon morgen wieder bereuen würde, aus Sorge um mein wohltemperiertes Leben. Angst davor, meinen spontan gefassten Plan nicht weiterzuverfolgen, einen Rückzieher zu machen, um mir mein eigenes Glück zu verwehren, aus Schuld und Scham und dem unbedingten Willen, mich an mir selbst für die fehlende Obhut zu rächen. Ich kannte mich. Ich wusste, dass ich solche Entscheidungen innerhalb weniger Stunden revidierte, nur um nicht noch einmal in eine Situation zu geraten, über die ich keine Kontrolle haben würde. Ich musste mich beeilen, musste mir selbst zuvorkommen und Karin so schnell wie möglich Bescheid geben.
Ich ging zu meinem Schreibtisch, klappte den Rechner auf und schrieb eine E-Mail:
Liebe Karin,
ich habe darüber nachgedacht, dass uns Micky im Oktober verlässt, und überlege, ihren Platz einzunehmen und die nächsten zwölf Monate von Tel Aviv aus die Konferenz zu organisieren. Als Jüdin bekomme ich sofort eine Arbeitsgenehmigung. Wir könnten die Weeklys per Skype oder Zoom abhalten und mich zuschalten. Ich glaube wirklich, dass das von Vorteil für alle wäre. Bitte gib mir Bescheid, was du von der Idee hältst.
Aber wenn das nicht klappt, ist das auch kein Problem. Ich kann alles auch von Berlin aus erledigen und jemanden für Tel Aviv finden.
Liebe Grüße
Nike
Ich las die E-Mail mehrmals durch, formulierte manche Sätze neu und überarbeitete bestimmte Ausdrücke. Dann löschte ich den letzten Absatz und drückte auf Senden.
Als ich am nächsten Morgen aufwachte, dachte ich keine Sekunde daran, dass ich am gestrigen Tag auf die Idee gekommen war, Berlin zu verlassen. Erst als ich den Flugmodus meines Telefons ausschaltete, wurde ich daran erinnert, was ich getan hatte. Ich starrte auf mein Display. Dort stand: Sorry für meine späte Antwort. Super Idee. Lass uns morgen direkt über Tel Aviv sprechen. Gute Nacht, Karin.
Sofort wurde mein Kopf heiß, und ich sprang aus dem Bett. Ich fühlte mich überrumpelt von mir selbst, bekam Angst vor meinem eigenen Mut. Während ich die Kissen ausklopfte und die Bettdecke akkurat faltete, legte ich mir Ausreden zurecht, die ich Karin später vortragen würde. Ich würde ihr eine plausible Begründung liefern, warum das eine absurde Idee gewesen sei und ich doch alles viel besser von Berlin aus organisieren könne. Aber nichts an dieser Ausrede ergab Sinn. Nicht einmal für mich selbst. Ich hatte gestern doch schon gewusst, dass ich kalte Füße bekommen würde, und genau deswegen hatte ich diese E-Mail abgeschickt und Tatsachen geschaffen. Um mich zu beruhigen, sagte ich mehrmals laut: »Du machst das jetzt einfach und punkt!«, was mich wiederum sehr an meine Mutter Lea erinnerte.
Weil ich meine Verwirrung nicht selbst auflösen konnte, rief ich auf dem Weg zur Arbeit Trang an, die nichts als große Freude versprühte und es schaffte, mir zumindest für die kurze Zeit am Telefon all jene Bedenken zu nehmen, die ich ihr im Stakkato vortrug. Dann meldete ich mich bei Lea und kündigte ihr, ohne Genaueres auszuführen, einen Sonntagsbesuch an, über den sie sich ehrlich freute. Sofort fragte sie, ob sie etwas für mich vorbereiten solle, zum Essen zum Beispiel, und ob ich nicht ein paar Körbe voller Spätsommeräpfel mitnehmen wolle, dafür solle ich aber besser noch Plastikeimer mitbringen, damit sie mir nicht ihre geliebten Körbe mitgeben müsse. Während wir sprachen, fragte ich mich, ob meine Mutter jemals in Tel Aviv gewesen war. Aber sie hatte den Ort nie erwähnt. Nicht einmal als Sehnsuchtsstätte, wenn etwas schiefgegangen war, so, wie es die meisten Diaspora-Juden taten.
Anders als erwartet, verlief das Gespräch mit Karin unkompliziert. Sie wirkte einfach erleichtert, dass sich das Problem mit Micky so schnell geklärt hatte. Meinen Mut honorierte sie, erinnerte mich aber daran, dass mir nur noch drei Wochen in Berlin blieben, und sie bat Konrad direkt darum, mir einen Flug zu buchen. Was blieb, war Organisatorisches. Nichts ging mir leichter von der Hand. Am Sonntag würde ich die drei Geburtsurkunden bei Lea abholen und in der Woche darauf eine Rabbinerin aufsuchen, um die Urkunden bestätigen zu lassen. Dann musste ich nur noch den Antrag auf Beibehaltung der Staatsbürgerschaft stellen und die Unterlagen alle zu Daria bringen.
Die Abende bis zum Besuch bei meiner Mutter nutzte ich damit, auf Airbnb nach Wohnungen zu suchen und Mitglied von Facebook-Gruppen wie Secret Tel Aviv, Apartment Exchange, Apartments in Tel Aviv, Tel Aviv-Berlin, Israelis in Berlin, Normal Israelis in Berlin und Germans in Israel zu werden. In kurzen, knackigen Posts stellte ich mich vor und suchte nach einem Apartment oder einer Möglichkeit, meine Wohnung in Berlin mit einer Wohnung in Tel Aviv zu tauschen.
Am Freitagvormittag druckte ich alle Informationen aus, die sich auf der Website der Jewish Agency befanden, den Wikipedia-Eintrag zum Law of Return und sogar Bilder von drei Wohnungen, die sich als mögliche Optionen herausgestellt hatten, und ordnete sie in Klarsichtfolien. Anschließend fuhr ich nach Wilmersdorf zum Judaika-Laden bei Chabad Lubawitch und kaufte meiner Mutter eine Mesusa, die ich festlich einpacken ließ.
Am Sonntag stand ich um sieben Uhr auf. Einfach, um den Stress und Druck rauszunehmen und mir mit allem Zeit zu lassen und nichts zu vergessen. Direkt nach dem Aufstehen kümmerte ich mich um die Wochenendwäsche und steckte sie in die Waschmaschine, die sich in meinem gefühlt 0,5 Quadratmeter kleinen Bad befand und als Ablage für Kosmetika herhalten musste, weil kein Platz mehr für ein Regal blieb.
Dann räumte ich Stück für Stück jedes Zimmer auf. Das beruhigte mich. Das tat es immer. Ich nahm die unter der Woche getragenen Kleidungsstücke vom kleinen Hocker, von dem der pistaziengrüne Lack abblätterte, faltete sie zusammen und räumte sie in die kleine Kommode, die ich Rosa bei einem ihrer unzähligen Umzüge abgeluchst hatte. Über das Bett legte ich eine Tagesdecke aus goldenem Jacquard. Mit einem Staubtuch, das ich mir in den Slip geklemmt hatte, wischte ich die ebenfalls pistaziengrüne Stehlampe in der rechten Ecke neben meinem Bett ab. Ich reinigte die Staubfänger auf dem Fensterbrett und richtete sie neu aus. Darunter waren eine kleine Menora, die ich von Rosa geschenkt bekommen hatte, eine Schmuckschatulle von Helga, der Mutter meines Vaters, und eine Schale, die ich mit Trang in Vietnam gekauft hatte.
Nach dem Frühstück räumte ich das Geschirr in den Geschirrspüler, sprühte den Glastisch in der Küche mit Glasreiniger ein und wischte mehrere Minuten darauf herum, bis ich keine Schliere mehr erkennen konnte. Kurz bevor ich aufbrechen musste, räumte ich die Wäsche aus der Maschine und hängte sie auf den Wäscheständer in meinem Wohnzimmer.
Als ich das Haus verließ, goss es in Strömen. Ich rannte zum Auto, das diesmal nicht in der Auguststraße stand, sondern zwanzig Meter weiter in der Oranienburger Straße. Ich riss die Tür auf, warf meine Tasche auf den Rücksitz und setzte mich hinters Steuer. Ich war bereits klitschnass. Auf dem Telefon tippte ich Leas Adresse in die Maps-App, schloss das iPhone ans Radio an, suchte auf Spotify nach Solanges True-Album, drückte auf Play und fuhr los.
Die Scheibenwischer musste ich auf die höchste Stufe einstellen, um überhaupt etwas sehen zu können. Die Straßen waren wie leer gefegt, und die Bäume schüttelten sich im Sturm. Jetzt ist der Sommer vorbei, dachte ich, und schaltete die Heizung ein.