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»Jude sein gehört zu den unbezweifelbaren Gegebenheiten meines Lebens.« - Hannah Arendt beginnt mit ihrer Arbeit zu Rahel Varnhagen, sich mit der jüdischen Geschichte in Deutschland zu beschäftigen, aber erst nachdem sie Deutschland 1933 verlassen hatte, setzte sie sich verstärkt mit ihrer Identität als Jüdin und der »jüdischen Frage« auseinander. Dieses Buch versammelt chronologisch alle zu Lebzeiten veröffentlichten Aufsätze Arendts zum Thema und zeigt so auch ihre Entwicklung in den diskutierten Fragen, beispielsweise ihre teilweise sehr wechselnde Haltung zu Israel und dem Zionismus. Herausgegeben, zum Teil neu übersetzt und eingeordnet von Marie Luise Knott und Ursula Ludz schließt der Band eine wichtige Lücke in der Arendt-Literatur.
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© by The Literary Trust of Hannah Arendt
Deutschsprachige Ausgabe: © Piper Verlag GmbH, München 2019
Covergestaltung: Büro Jorge Schmidt, München
Covermotiv: picture alliance/Fred Stein
Datenkonvertierung: Tobias Wantzen, Bremen
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Cover & Impressum
Hinweis
Prolog
1 Aufklärung und Judenfrage
I Für ein neues kulturelles Selbstbewusstsein
2 Martin Buber – ein »leader« der Jugend
3 Wir Flüchtlinge
4 Juden in der Welt von gestern
5 Franz Kafka
Eine alltägliche Verwirrung
6 Privilegierte Juden
Die Moral der Geschichte
Die Privilegierten des Reichtums
Die Privilegierten der Bildung
Das persönliche Problem
7 Die verborgene Tradition
Vorbemerkung
I. Heinrich Heine: Schlemihl und Traumweltherrscher
II. Bernard Lazare: Der bewusste Paria
III. Charlie Chaplin: Der Suspekte
IV. Franz Kafka: Der Mensch mit dem guten Willen
Schlussbemerkung
8 Eine kulturelle Atmosphäre schaffen
9 Zueignung an Karl Jaspers
II Für ein neues politisches Selbstbewusstsein
10 Ein Mittel zur Versöhnung der Völker
I.
II.
III.
11 Der Zionismus aus heutiger Sicht
II.
III.
IV.
V.
VI.
VII.
VIII.
IX.
X.
12 Der Judenstaat – Fünfzig Jahre danach
13 Hiobs Misthaufen – Eine Einführung zu Bernard Lazare
14 Zur Rettung der jüdischen Heimstätte ist es noch nicht zu spät
15 Frieden oder Waffenstillstand im Nahen Osten?
Unvereinbare Ansprüche
Gesellschaftliche und wirtschaftliche Spaltung
Die Einzigartigkeit des Landes
Die nicht-nationalistische Tradition
Die Hebräische Universität und die Kollektivsiedlungen
Die Ergebnisse des Krieges
Föderation oder Balkanisierung?
III Zur Erforschung des Holocaust
16 Die Saat einer faschistischen Internationale
I.
II.
III.
17 Das Bild der Hölle
18 Sozialwissenschaftliche Methoden und die Erforschung der Konzentrationslager
19 Die Vernichtung von sechs Millionen. Warum hat die Welt geschwiegen?
20 Der Auschwitzprozess in Frankfurt am Main (1963–1965) – Einleitung zu Bernd Naumanns Buch
I.
II.
III.
IV.
V.
Epilog
21 Persönliche Verantwortung unter diktatorischer Herrschaft
»Eine medizinische Angelegenheit«
Machtlosigkeit eine stichhaltige Entschuldigung
»Warum hast du Unterstützung geleistet?«
Anhang
1 Zu dieser Ausgabe
2 Postskriptum
3 Anmerkungen
4 Editorische Notiz
5 Danksagung
Der vorliegende Band versammelt alle jüdischen Schriften größeren Umfangs aus Hannah Arendts Werk, die zu ihren Lebzeiten als Beiträge in Zeitschriften oder Sammelwerken erschienen sind. Im Anhang wird die Zusammenstellung der Texte (»Zu dieser Ausgabe«) erläutert, ebenso wie die Verwendung von Fuß- und Endnoten (»Editorische Notiz«).
Piper Verlag
Die moderne Judenfrage datiert aus der Aufklärung; die Aufklärung, d. h. die nichtjüdische Welt hat sie gestellt. Ihre Formulierungen und ihre Antworten haben das Verhalten der Juden, haben die Assimilation der Juden bestimmt. Seit Mendelssohns wirklicher Assimiliertheit und seit Dohms Werk Über die bürgerliche Verbesserung der Juden (1781) tauchen in der Diskussion über die Emanzipation immer wieder die gleichen Argumente auf, die in Lessing ihren Kronzeugen haben. Ihm verdankt sie die Propagierung von Menschlichkeit und Toleranz wie die Trennung von Vernunft- und Geschichtswahrheiten. Diese Trennung ist deshalb so überaus wichtig, weil sie die innerhalb der Geschichte zufällige Assimilation legitimieren kann; sie braucht dann nur als fortschreitende Einsicht in die Wahrheit, nicht als Angleichung und Rezeption einer bestimmten Kultur in einem bestimmten und damit zufälligen Geschichtsstadium zu erscheinen.
Für Lessing ist die allen gemeinsame Vernunft das Fundament der Menschlichkeit. Sie verbindet als Menschlichstes Saladin mit Nathan und dem Tempelherrn. Sie allein ist die echte Verbindung von Mensch zu Mensch. Aus der Betonung des Menschlichen, das auf dem Vernünftigen basiert, erwächst das Ideal und die Forderung der Toleranz. Dass in allen Menschen, nur unter der Verschiedenheit der dogmatischen Überzeugungen, der Sitten und des Gebarens versteckt, immer derselbe Mensch steckt, diese Ehrfurcht vor allem, was Menschenantlitz trägt, ist nie allein aus der allgemeinen Geltung der Vernunft als bloßer formaler Qualität herzuleiten; vielmehr steht der Toleranzgedanke in engster Verbindung mit dem Lessing’schen Wahrheitsbegriff, der seinerseits erst wieder aus seinen geschichtsphilosophischen und theologischen Gedankengängen verständlich wird.
Die Wahrheit geht in der Aufklärung verloren, mehr: man will sie nicht mehr. Wichtiger als die Wahrheit ist der Mensch, der sie sucht. »Nicht die Wahrheit, in deren Besitz irgendein Mensch ist […], sondern die aufrichtige Mühe, die er angewandt hat, hinter die Wahrheit zu kommen, macht den Wert des Menschen.«[1] Der Mensch wird wichtiger als die Wahrheit, die relativiert wird zugunsten des »Werts des Menschen«. In der Toleranz ist dieses Menschliche entdeckt. Die Allherrschaft der Vernunft ist eine Allherrschaft des Menschlichen, des Humanen. Weil dieses Menschliche wichtiger ist als aller »Besitz der Wahrheit«, gibt der Vater in der Fabel von den drei Ringen jedem Sohn einen Ring, ohne zu sagen, welcher der echte sei, sodass damit der echte verloren ist. Die Wahrheit als religiöse Offenbarung ist von der deutschen Aufklärung, wie sie in Lessing repräsentiert ist, nicht einfach verloren, sondern der Verlust ist positiviert zur Entdeckung des rein Menschlichen. Im Streben nach dem Echten bekommt der Mensch und seine Geschichte, die eine Geschichte des Suchens ist, einen eigenständigen Sinn. Er ist nicht mehr nur Verwalter eines Gutes und seine Bedeutung von diesem Besitz abhängig; suchend kann er diesen Besitz, der kein objektives Heilsgut ist, bestätigen. Wird in der Nachforschung der Wahrheit, im »Sicherweitern der Kräfte« das allein Gehaltvolle gesehen, so sind schließlich alle Konfessionen für den Toleranten, und das heißt für den wahrhaft Menschlichen, nur verschiedene Benennungen desselben Menschen.
Die Geschichte hat keine beweisende Kraft für die Vernunft. Geschichtswahrheiten sind zufällig, Vernunftwahrheiten notwendig, und die Zufälligkeit trennt von der Notwendigkeit »ein garstiger breiter Graben«, über den zu springen eine »µετάβασις εἰς ἄλλο γέυος« [eine unerlaubte Grenzüberschreitung] bedeutet: Geschichtswahrheiten sind eigentlich nicht wahr, und seien sie noch so gut bezeugt, weil sowohl ihre Faktizität wie ihre Bezeugung stets zufällig sind: Auch die Bezeugung ist noch geschichtlich. Nur sofern Geschichtswahrheiten die Vernunftwahrheit bestätigen, sind sie »wahr«, d. h. allgemein überzeugend und verbindlich. So ist es die Vernunft, die über die Notwendigkeit einer Offenbarung und damit über die Geschichte zu entscheiden hat.[2] Die Zufälligkeit der Geschichte kann nachträglich durch Vernunft geadelt werden; nachträglich entscheidet die Vernunft, dass die geoffenbarte Geschichte mit der Vernunft identisch ist. Die geoffenbarte Geschichte fungiert als Erzieherin des Menschengeschlechts. Am Ende dieser Erziehung, die wir als Geschichte erleben, steht die Zeit »eines neuen ewigen Evangeliums«, die jede Erziehung überflüssig macht. Am Ende der Geschichte steht ihre Auflösung; am Ende wird das immer noch relativ Zufällige in das absolut Notwendige verwandelt. »Erziehung gibt dem Menschen nichts, was er nicht auch aus sich selbst haben könnte«; sie führt ihn nur zu jener Vollkommenheit, die eigentlich schon in ihm liegt. Die Geschichte entwickelt die Vernunft zu ihrer Eigenständigkeit, weil die Offenbarung die Vernunft schon in sich schloss. Die Mündigkeit des Menschen ist das Ziel der göttlichen Offenbarung wie der menschlichen Geschichte.
Als Erzieherin hat die Geschichte eine Bedeutung, die selbst der Vernunft nicht restlos zugänglich ist. Die Vernunft kann nur ihr Dass bestätigen, muss aber dann gerade ihr Wie wieder freigeben als nicht in ihrer Kompetenz stehend. »Aber wenn eine [Offenbarung] sein kann und eine sein muß […], so muß es der Vernunft eher noch ein Beweis mehr für die Wahrheit derselben als ein Einwurf dawider sein, wenn sie Dinge darin findet, die ihren Begriff übersteigen.« Aus diesen Worten geht keine neue Anerkennung der göttlichen Autorität hervor. Sie sind zusammen zu sehen mit der theologischen Hauptthese Lessings, dass die Religion früher und unabhängig von der Schrift sei. Nicht Wahrheit als These, als Dogma oder objektives Heilsgut, sondern die Religiosität ist das Wesentliche.
Dies scheint auf den ersten Blick nichts als eine aufgeklärte Übernahme des Pietismus. Die »Fragmente eines Ungenannten« können nur den Theologen verwirren, nicht den Christen, denn der Christ ist innerhalb seines Glaubens unangreifbar, weil dieser Glaube sich auf die reine Innerlichkeit stützt. »Was gehen den Christen dieses Mannes Hypothesen, und Erklärungen, und Beweise an? Ihm ist es doch einmal da, das Christentum, welches er so wahr, in welchem er sich so selig fühlet.« Aber in der Betonung dieser unangreifbaren Innerlichkeit liegt schon das Misstrauen der Aufklärung gegen die Bibel; die reine Innerlichkeit wird betont, weil die Objektivität der Offenbarung in der Schrift nicht mehr feststeht. Die Trennung von Religion und Bibel ist die letzte vergebliche Rettung der Religion; vergeblich: denn diese Trennung zertrümmert die Autorität der Bibel und damit die sichtbare und wissbare Autorität Gottes auf Erden. »Die Religion ist nicht wahr, weil die Evangelisten und Apostel sie lehrten: sondern sie lehrten sie, weil sie wahr ist.« Ist die Wahrheit der Religion früher als die der Bibel, so ist sie nicht mehr objektiv sicher, sondern muss gesucht werden. Die aufgeklärte Übernahme der pietistischen Religiosität zerstört zugleich den Pietismus. Neu ist nicht die Betonung der Innerlichkeit, sondern dass sie ausgespielt wird gegen die Objektivität.
Die Geschichte taucht also bei Lessing in zwei heterogenen Zusammenhängen auf. Geschichte ist erstens das ewige Suchen nach der Wahrheit: Sie setzt erst ein mit der Mündigkeit des Menschen, hat dann aber einen unendlichen Horizont vor sich. Geschichte ist zweitens Erzieherin des Menschengeschlechts, macht sich selbst als solche überflüssig und findet mit der Mündigkeit des Menschen gerade ihr Ende. Die erste Geschichtsvorstellung erlaubt dem Menschen, wenn er zum Bewusstsein seiner Vernunft gekommen ist, ganz von vorne anzufangen und eine Geschichte zu gründen. Dies ist der Gedanke, der in der Mendelssohn’schen Rezeption allein maßgebend bleibt. Bei Lessing aber hatte diese neu zu gründende Geschichte durchaus eine Verankerung in der Vergangenheit. Die von der Autorität beherrschte Vergangenheit ist ja Erzieherin. Die Mündigkeit des Menschen ist erst geworden; geworden in einer Erziehung, die Gott dem Menschen zuteil werden ließ. Ist diese Mündigkeit erreicht, so beginnt des Menschen zweite Geschichte, die im Unterschied zur ersten zwar nicht auf jedes Ziel verzichtet, aber dieses in die Unendlichkeit des Zeitlichen überhaupt verschiebt: Die Wahrheit ist das in steigernder Vollkommenheit nur approximativ zu erreichende Ziel. Diese Geschichtstheorie weist eine grundsätzlich andere Struktur auf als die in der Schrift Die Erziehung des Menschengeschlechts vorgetragene. Sie ist keineswegs eine Säkularisierung des Christentums – schon deshalb nicht, weil die Wahrheit doch nur für Gott bestimmt ist[3] –, sondern zielt von vornherein nur auf den Menschen ab; sie rückt die Wahrheit so weit wie nur möglich in die Ferne, weil sie eigentlich das Irdische des Menschen nichts angeht. Ihr Besitz stört nur die Entfaltung aller Möglichkeiten des Menschen, verhindert die Duldung, die dafür notwendig ist, sie wendet nur den Blick ab vom Menschlichen: Die Wahrheit geht nur Gott etwas an, für den Menschen ist sie nicht wichtig. Diese ausschließliche und vorbehaltlose Bejahung des ewig Unabgeschlossenen und Fragmentarischen alles Menschlichen nur um des Menschlichen willen ist in der Erziehung des Menschengeschlechts wieder abgebogen.
Mendelssohns Rezeption der Aufklärung, seine »Bildung« vollzieht sich noch innerhalb einer absoluten Gebundenheit an die jüdische Religion. Diese Gebundenheit gilt es ihm – etwa den Angriffen Lavaters gegenüber – zu verteidigen. Die Mittel zu dieser Verteidigung liefert ihm Lessings Trennung von Vernunft- und Geschichtswahrheiten. Gleichzeitig aber mit der Apologie des Judentums muss er die Möglichkeiten seiner »Bildung« behaupten: Hierzu dient die in der Aufklärung behauptete absolute Autonomie der Vernunft. »Selbstdenkenden Köpfen«, sagt Lessing, »ist es nun einmal gegeben, daß sie das ganze Gefilde der Gelehrsamkeit übersehen, und jeden Pfad desselben zu finden wissen, sobald es der Mühe verlohnt, ihn zu betreten.«[4] Dieses Selbst-denken-Können liegt dem Ideal der Bildung bei Mendelssohn zugrunde; die wahre Bildung nährt sich nicht aus der Geschichte und ihren Fakten, sondern macht diese gerade überflüssig. Herrschend ist die Autorität der Vernunft, zu der jeder allein und von sich aus kommen kann. Der denkende Mensch lebt in einer absoluten Isolierung: Unabhängig von allen andern findet er die Wahrheit, die eigentlich allen gemeinsam sein müsste. »Jeder gehet das Leben hindurch seinen eigenen Weg […] Aber daß auch das Ganze, die Menschheit hienieden, in der Folge der Zeiten immer vorwärts rücken und sich vervollkommnen soll, dieses scheinet mir der Zweck der Vorsehung nicht gewesen zu sein.« Die Vernunft wird bei Mendelssohn noch unabhängiger von der Geschichte, sie hat keinerlei Rückverankerung in ihr; ausdrücklich wendet er sich gegen Lessings Geschichtsphilosophie, die »Erziehung des Menschengeschlechts, die sich mein verewigter Freund Lessing von, ich weiß nicht, welchem Geschichtsforscher der Menschheit hat einbilden lassen«[5]. Kenntnis der Geschichte ist für Mendelssohns Bildung noch nicht nötig; sie ist nichts als Befreiung zum Denken. Er ist von Haus aus keinem Gegenstand der fremden Kulturwelt verpflichtet; und er braucht in der herrschenden geistigen Atmosphäre dieses Im-Nichts-Stehen nicht zu entdecken.
Wie Mendelssohn in der Übernahme der autonomen Vernunft diese allein auf das Selbst-denken-Können und auf die Unabhängigkeit von allen Fakten zuspitzte (während dieselbe Vernunft bei Lessing nur ein Weg war zur Entdeckung des Menschlichen), so erfährt auch die Theorie der Trennung von Vernunft- und Geschichtswahrheiten eine Umbiegung: Sie wird von Mendelssohn zur Apologie des Judentums benutzt und dogmatisiert. Die jüdische Religion und nur sie ist für Mendelssohn mit der vernünftigen identisch, und zwar um ihrer »ewigen Wahrheiten« willen, die allein auch religiös verpflichten. Denn die Geschichtswahrheiten des Judentums – so führt Mendelssohn aus – hatten nur so lange Geltung, als die mosaische Religion die Religion einer Nation war, was jetzt nach der Zerstörung des Tempels nicht mehr der Fall ist. Nur die »ewigen Wahrheiten« sind von aller Schrift unabhängig, jederzeit einsehbar; auf ihnen ruht die jüdische Religion, und sie sind es, die auch heute noch den Juden zur Religion seiner Väter verpflichten. Ständen sie nicht im Alten Testament, so wäre weder das Gesetz noch die geschichtliche Überlieferung bindend. Weil im Alten Testament nichts steht, was »mit der Vernunft streitet«[6], nichts Widervernünftiges, ist der Jude auch an die außervernünftigen Vorschriften gebunden, an die aber ausdrücklich kein Nichtjude gebunden sein soll; denn sie sind das Scheidende zwischen den Menschen. Die ewigen Wahrheiten bilden die Grundlage der Toleranz: »In welcher glückseligen Welt würden wir leben, wenn alle Menschen die Wahrheit annähmen und ausübten, die die besten Christen und die besten Juden gemein haben.«[7] Geschichts- und Vernunftwahrheiten sind für Mendelssohn nur der Art nach verschieden, sie werden nicht verschiedenen Entwicklungsstufen der Menschheit zugerechnet. Die allen gemeinsame Vernunft ist allen Menschen zu allen Zeiten gleich zugänglich gewesen. Der Weg ist ein verschiedener; der der Juden schließt nicht nur die Anerkennung der jüdischen Religion, sondern die genaue Befolgung des Gesetzes in sich.
Die Scheidung von Geschichte und Vernunft bezweckt bei Lessing die Eliminierung der Religion als Dogma; Mendelssohn versucht mit ihr gerade eine Rettung der jüdischen Religion, unabhängig von ihrem geschichtlichen Bezeugtsein, aufgrund ihres »ewigen Gehaltes«. Das theologische Interesse, das hier die Geschichte aus der Vernunft ausscheidet, scheidet zugleich den Wahrheit suchenden Menschen aus der Geschichte aus. Allem Wirklichen: Umwelt, Mitmenschen, Geschichte, fehlt die Legitimation der Vernunft. – Diese Eliminierung der Wirklichkeit hängt aufs Engste zusammen mit der faktischen Stellung des Juden in der Welt. Die Welt ging ihn in einem solchen Maße nichts an, dass sie zu dem Unveränderlichen schlechthin wurde. Die neue Freiheit der Bildung, die Freiheit des Selbstdenkens und der Vernunft ändert daran nichts. Die geschichtliche Welt bleibt für den »gebildeten« Juden in derselben Gleichgültigkeit wie für den unterdrückten des Ghettos.
Dieses Unverständnis der Juden für Geschichte, begründet in ihrem Schicksal der Geschichtslosigkeit, genährt von einer nur halberfassten und assimilierten Aufklärung, wird in einem Punkt von Dohms Emanzipationstheorie – deren Argumentation für die folgenden Jahrzehnte entscheidend bleibt – durchkreuzt. Die Juden sind zwar für Dohm (den ersten Schriftsteller, der sich in Deutschland systematisch der Juden annimmt) niemals das »Volk Gottes« oder auch nur das Volk des Alten Testaments. Sie sind Menschen wie alle anderen Menschen auch. Aber die Geschichte hat diese Menschen »verdorben«[8]. Diesen Begriff von Geschichte allein greifen die Juden jetzt auf. Er ist auch für sie der Erklärungsgrund für ihre kulturelle Minderwertigkeit, für ihre Ungebildetheit, für ihre soziale Schädlichkeit und Unproduktivität. Geschichte wird für sie prinzipiell zur Geschichte des Fremden; sie ist Geschichte der Vorurteile, in denen die Menschen vor dem Zeitalter der Aufklärung befangen waren: Geschichte ist Geschichte der schlechten Vergangenheit oder der noch an Vorurteilen haftenden Gegenwart. Die Gegenwart von der Last und den Folgen dieser Geschichte zu befreien, wird zum Werk der Einbürgerung und Befreiung der Juden.
So einfach und relativ problemlos ist die Situation der ersten Assimilationsgeneration. Mendelssohn war mit den Vorkämpfern der Einbürgerung, mit Dohm und Mirabeau, nicht nur gewissermaßen in allen theoretischen Fragen einer Meinung: Er ist und bleibt für sie wie für die Juden Garant dafür, dass die Juden einer Verbesserung fähig und würdig sind, dass es genügen wird, für sie eine andere bürgerliche Situation zu schaffen, um aus ihnen sozial und kulturell produktive Glieder der bürgerlichen Gesellschaft zu machen. Die zweite Assimilationsgeneration (repräsentiert durch David Friedländer, den Schüler Mendelssohns) klammert sich noch an die Verderbnistheorie der Aufklärung.[9] Religiös nicht mehr gebunden wie Mendelssohn, versucht sie mit allen Mitteln, auf diesem ihren Bestrebungen so günstigen Boden Eintritt in die Gesellschaft zu erlangen. Sie hat sich schon so sehr der Blindheit der Aufklärung, der die Juden nur als Unterdrückte gelten, assimiliert, dass sie sich selber jede eigene Geschichte abspricht, dass alles, was ihr eigen ist, nur als Hemmung für ihre Einbürgerung, ihre Menschwerdung, gilt.[10] Sie übernimmt die Mendelssohn-Lessing’sche Trennung von Vernunft und Geschichte zugunsten der Vernunft; ja sie versteigt sich in einer verschärften Übernahme zu Blasphemien, zu denen Mendelssohn selbst nie gekommen wäre: »Will man den nachdenkenden redlichen Forscher etwa mit dem Einwurf in die Enge treiben: die menschliche Vernunft könne sich mit der göttlichen nicht messen […]? Dieser Einwurf kann ihn keinen Augenblick beunruhigen; denn selbst die Erkenntnis der Göttlichkeit dieses Glaubens und dieser Pflicht des Gehorsams gehört vor den Richterstuhl der menschlichen Vernunft.« Friedländer dient die Trennung von Vernunft und Geschichte nicht mehr zur Rettung der jüdischen Religion, sie ist nur noch Mittel, sie so schnell wie möglich loszuwerden. Für Mendelssohn war die Freiheit noch die Freiheit der Bildung und die Möglichkeit, »Betrachtungen über sich selbst und seine Religion anzustellen«. Jetzt ist die Betrachtung der jüdischen Religion eingestandenermaßen nur noch Mittel, »die politische Verfassung« der Juden zu ändern. Und der Schüler Mendelssohns stellt sich in offenen Widerspruch zu seinem Lehrer, der geraten hatte: »Schicket euch in die Sitten und in die Verfassung des Landes, in welches ihr versetzt seid; aber haltet auch standhaft bei der Religion eurer Väter. Traget beider Lasten, so gut ihr könnt!« Friedländer steht in offenem Widerspruch zu diesen Worten, wenn er unter Berufung auf die Aufklärung, auf Vernunft und moralisches Gefühl – das ja bei allen Menschen das gleiche ist – die Taufe anbietet, um »sich öffentlich der Gesellschaft einzuverleiben«.
Aber dies Anerbieten kommt 1799 zu spät. Propst Teller, an den es gerichtet ist, antwortet kühl. Und Schleiermacher wehrt sich gegen diese unliebsamen Gäste energisch. Er rechnet charakteristischerweise das Sendschreiben der »ältern Schule unserer Litteratur«[11] zu und hebt gegen den Appell an Vernunft und moralisches Gefühl das Eigentümliche des Christentums hervor, das durch solche Proselyten nur verwässert werden könne. Die Vernunft hat nichts mit dem Christentum zu tun. Schleiermacher will das Individuelle der eigenen Religion gegen das notwendig andere der fremden schützen. Die Vernunft gibt nur noch Möglichkeit für partielle Einigung – sie gilt für das Staatsbürgertum, nicht für die Religion. Schleiermacher ist für schnellste Einbürgerung. Aber die Einbürgerung wird nicht mehr der Anfang der völligen Assimilation sein, obwohl die Juden gerade diese anbieten. »Die Aufklärungsmanier«, die alle Menschen als ursprünglich gleich ansetzt und sie wieder gleichmachen will, ist »verächtlich« geworden. Schleiermacher verlangt die Unterordnung des Zeremonialgesetzes unter das staatliche Gesetz und das Aufgeben der messianischen Hoffnung. Beides bietet Friedländer an. Er ist sich dabei nicht einmal bewusst, dass er damit überhaupt etwas aufgeben könnte; er will alles, was der Vernunft, die die gleiche für Christen und Juden ist, entgegensteht, aus dem Wege räumen – er verlangt ausdrücklich das Gleiche von den Christen. Das Friedländer’sche Anerbieten wäre zwanzig bis dreißig Jahre früher, als Lavater Mendelssohn aufforderte, alle Beweise für oder wider das Christentum zu prüfen und sich dann zu entscheiden, wie es »ein Sokrates getan hätte«, nicht solch ein Unding gewesen, wie es jetzt Schleiermacher und mit ihm dem gebildeten Deutschland erscheint.
Im Geschichtsbewusstsein Deutschlands ist eine Wandlung vorgegangen, die sich am charakteristischsten in Herder ausdrückt. Herder hatte mit einer Kritik seines Zeitalters, des Zeitalters der Aufklärung, begonnen. Die Schrift Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit erscheint 1774, noch mitten in der Aufklärung, und bleibt ohne jede Wirkung auf die ältere Generation. Umso stärker und entschiedener ist ihr Einfluss auf die kommende Romantik. Sie wendet sich gegen die Allherrschaft der Vernunft und ihre platten Nützlichkeitslehren. Sie wendet sich ferner gegen die Allherrschaft des Menschen, der »nichts mehr als Wunderbares und Verborgenes hasset«. Sie wendet sich schließlich gegen eine Geschichtsschreibung, die in Nachfolge Voltaires und Humes die Wirklichkeit vergisst zugunsten der immer gleichen Anlagen und Möglichkeiten des Menschen.
Wir sahen, wie Mendelssohn in der Übernahme Lessing’scher Ideen vor allem die Isolierung des Einzelnen im Selbst-denken-Können betonte. Herder und nach ihm die Romantik (die deutsche Tradition also, die für die Judenfrage vor allem in Betracht kommt) scheidet dies gerade aus und führt die schon bei Lessing begonnene Entdeckung der Geschichte fort.
Herder wendet sich gegen den Lessing’schen Satz, dass der Mensch in der Erziehung nichts empfinge, als was immer schon in ihm gelegen habe: »Empfinge der Mensch alles aus sich selbst und entwickelte es abgetrennt von äußern Gegenständen, so wäre zwar eine Geschichte des Menschen, aber nicht der Menschen, nicht ihres ganzen Geschlechts möglich.« Der Mensch lebt vielmehr in einer »Kette von Individuen«, »Tradition tritt zu ihm und formt seinen Kopf und bildet seine Glieder.«[12] Die reine Vernunft, das reine Gute ist auf der Erde »ausgestreut«. Kein Einzelner vermag es mehr zu fassen. Es ist nie als es selbst da – wie es keinen echten Ring bei Lessing gibt; es ist verwandelt, verändert, »verteilt in tausend Gestalten […] – ein ewiger Proteus«. Dieses immer Verwandelte hängt ab von Wirklichkeiten, die außerhalb der menschlichen Macht liegen, von »Zeit, Klima, Bedürfnis, Welt, Schicksal«. Entscheidend ist nicht mehr – wie für die Aufklärung – die pure Möglichkeit, sondern entscheidend ist die Wirklichkeit des jeweils menschlichen Seins. Die wirkliche Unterschiedenheit der Menschen ist wichtiger als die »eigentliche« Gleichheit. »Der feigste Bösewicht hat ohne Zweifel zum großmütigsten Helden noch immer entfernte Anlage und Möglichkeit; aber zwischen dieser und ›dem ganzen Gefühle des Seins, der Existenz in solchem Charakter‹ – Kluft!«[13]
Vernunft ist demnach nicht die Richterin der geschichtlichen Wirklichkeit im Menschen, sondern sie ist »das Resultat aller Erfahrung des Menschengeschlechts«[14]. Dieses Resultat ist wesensmäßig nie abgeschlossen.[15] Herder übernimmt das »ewige Suchen« des Lessing’schen Wahrheitsbegriffes, aber in modifizierter Form; denn wenn Lessing die Wahrheit auch in eine unabsehbare Ferne der Zukunft verschiebt, so bleibt bei ihm die Vernunft als eingeborenes Vermögen doch von dieser Dynamisierung unangefochten. Ist die Vernunft als »Erfahrungsresultat« selbst historisiert, so ist der Platz des Menschen in der Entwicklung des Menschengeschlechts nicht mehr eindeutig bestimmt: »keine Geschichte in der Welt steht auf Abstraktionsgründen a priori«. Wie Lessing sich gegen eine Wahrheit auflehnt, die man als Besitz und endgültige Beruhigung haben kann, weil dieser Besitz dem Menschen unangemessen wäre, so lehnt sich Herder dagegen auf, auch nur die reine Vernunft als Möglichkeit der einen Wahrheit anzuerkennen. Gegen die eine Vernunft wie gegen die eine Wahrheit steht die Unendlichkeit der Geschichte. Und: »Warum soll ich ein reiner Vernunftgeist werden, da ich nur ein Mensch sein mag, und wie in meinem Dasein, so auch in meinem Wissen und Glauben als eine Welle im Meer der Geschichte schwebe?« Dementsprechend stellt sich für Herder das Verhältnis von Vernunft und Geschichte gerade umgekehrt dar: Die Vernunft ist der Geschichte unterworfen, »denn Abstraktion hat eigentlich über Geschichte keine Gesetze«.
Der Herrschaft der Vernunft, der Mündigkeit und Eigenständigkeit des Menschen ist ein Ende bereitet: die Geschichte, das, was mit dem Menschen geschieht, ist undurchsichtig geworden: »Kein Philosoph ist da, der Rechenschaft gebe, wozu sie [sc. die Völker] da sind, noch wozu sie dagewesen.« In ihrer Undurchsichtigkeit wird Geschichte zum Außermenschlichen, Unpersönlichen, aber nicht zu Gott. Die Transzendenz des Göttlichen ist endgültig verloren, »die Religion soll nichts als Zwecke durch Menschen und für Menschen bewirken«.
Parallel zu der Einsicht in die Macht der Geschichte über die Vernunft steht die Polemik gegen die Gleichheit aller Menschen. Je tiefer das Leben von der Geschichte ergriffen ist, desto stärker differenziert es sich. Die Verschiedenheit entwickelt sich aus einer ursprünglichen Gleichheit. Je älter ein Volk ist, desto mehr unterscheidet es sich von jedem anderen.[16] Die Konsequenz des Geschehens treibt die Verschiedenheit von Menschen und Völkern erst hervor. Nicht in Anlage, Begabung, Charakter liegt die Differenz, sie ist vielmehr die Unwiderruflichkeit alles menschlichen Geschehens, dass es eine Vergangenheit hat, die nicht ungeschehen zu machen ist.
Durch diese Entdeckung der Unwiderruflichkeit alles Geschehens wird Herder einer der ersten großen Interpreten der Geschichte. So wird durch ihn, zum ersten Male in Deutschland, auch die Geschichte der Juden sichtbar als eine Geschichte, die wesentlich durch den Besitz des Alten Testaments bestimmt ist. Daraus erfolgt eine Änderung in der Stellungnahme zur Judenfrage sowohl vonseiten der Umwelt als vonseiten der Juden selbst. Mitbedingt wird diese Änderung außerdem durch die neue Bedeutung, die Herder den für diese Diskussion entscheidenden Begriffen: Bildung und Toleranz, gibt.
Herder versteht die Geschichte der Juden so, wie sie selbst diese Geschichte deuteten, als die Geschichte des auserwählten Volkes Gottes.[17] Ihre Zerstreuung ist ihm Beginn und Vorbedingung ihrer Wirkung auf das menschliche Geschlecht.[18] Er verfolgt ihre Geschichte den Ausblicken nach bis zur Gegenwart und wird aufmerksam auf das eigentümliche Lebensgefühl der Juden, das sich an das Vergangene hält und das Vergangene in der Gegenwart zu halten versucht. Ihre Klage über das vor unendlichen Zeiten zerstörte Jerusalem, ihre Hoffnung auf den Messias sind ihm Zeichen dafür, dass die Trümmer Jerusalems »gleichsam im Herzen der Zeit […] gegründet« sind[19]. Ihre Religion ist: weder eine Quelle der Vorurteile noch die Mendelssohn’sche Vernunftreligion, sondern das »unveräußerliche Erbstück ihres Geschlechts«. Zugleich sieht Herder, dass ihre Geschichte, die aus dem Gesetz Mosis stammt, von diesem nicht zu trennen ist,[20] dass sie daher mit der Befolgung des Gesetzes steht und fällt. Diese Religion ist weiter eine Religion Palästinas, und an ihr festhalten heißt eigentlich, das Volk Palästinas und damit »in Europa ein unserem Erdteil fremdes asiatisches Volk« bleiben. Nicht ihre Gleichheit mit allen andern Völkern wird zugestanden – für die Aufklärung einziges Mittel, sie überhaupt zu Menschen zu machen –, sondern ihre Fremdheit betont. Dabei wird auf Assimilation keineswegs verzichtet, sie wird sogar radikaler gefordert, aber auf einem andern Boden. War die Judenfrage und ihre Diskussion noch bei Lessing und Dohm wesentlich geleitet von der Religionsfrage und ihrer Tolerierung, so wird für Herder die Assimilation zu einer Frage der Emanzipation und damit zu einer Staatsfrage. Gerade weil Herder die Treue zu der »Religion der Väter« ernst nimmt, sieht er in ihr das Zeichen der Nationalverbundenheit; die fremde Religion wird zu der Religion einer andern Nation. Aufgabe ist jetzt weder: eine andere Religion zu dulden, wie man ja viele Vorurteile zu dulden gezwungen ist, noch: eine sozial schädliche Situation zu ändern, sondern: Deutschland eine andere Nation einzuverleiben.[21] Herder sieht den augenblicklichen Zustand also durchaus sub specie der Vergangenheit. Selbst die Tatsache, dass die Juden trotz aller Unterdrückungen in der fremden Welt nicht untergingen, sondern sich, wenn auch parasitär, anzupassen suchten, versteht er aus der Geschichte des Volkes.[22] Es gilt jetzt, das Parasitäre der jüdischen Nation produktiv zu machen. Wie weit eine solche Assimilation möglich ist unter Beibehaltung des jüdischen Gesetzes, ist eine Staatsfrage, wie weit sie überhaupt möglich ist, eine Frage der Erziehung und Bildung, d. h. für Herder der Humanisierung.
Humanität ist durch zwei Begriffe gekennzeichnet, durch Bildung und Toleranz. Herder polemisiert aufs Schärfste gegen den Bildungsbegriff der Aufklärung, das Selbstdenken, dem er vor allem Wirklichkeitslosigkeit vorwirft. Diese Bildung erwächst aus keiner Erfahrung, und sie wird zu keiner »Tat«, zu keiner »Anwendung des Lebens im bestimmten Kreise«. Sie kann keinen Menschen bilden; denn sie vergisst die Wirklichkeit, aus der er kommt und in der er steht. Der »Rücktritt der Bildung«, der wahren Bildung, die »erbildet, anbildet und fortbildet«, ist beherrscht von der Vergangenheit, einer »stillen, ewigen Macht des Vorbildes und einer Reihe Vorbilder«. Diese Vergangenheit kann die Aufklärung nicht bewahren.
Die Erziehung durch Bildung in diesem Herder’schen Sinn kann nicht wollen, dass die »Vorbilder« einfach nachgeahmt werden; hatte Herder doch gerade die unwiderrufliche Einmaligkeit der Geschichte, auch der größten und genialsten Geschichte gezeigt. Die Bildung sucht das Bildende im Verstehen der Vorbilder. In diesem Verstehen, das ein ganz neu erschlossener Zugang zur Wirklichkeit ist und aller Allegorese und Deutung der heiligen Schriften wie aller Polemik so fernsteht wie dem bloßen gläubigen Hinnehmen, liegt zugleich eine Beschwörung der Wirklichkeit: sie so zu nehmen, wie sie wirklich war, ohne alle Zwecke und Hintergedanken; und eine Distanz von der Vergangenheit: sich nie mit ihr zu verwechseln, den Zeitraum, der zwischen ihr und dem Verstehenden liegt, ernst zu nehmen, in das Verstehen hineinzunehmen. Die Geschichte hat so dem Gehalt nach keine Verbindlichkeit für den, der sie versteht, er versteht sie als einmalige und vergängliche. Ihre bildende Funktion liegt im Verstehen als solchem. Auf diesem Vergangenen basiert eine neue Idee von Toleranz. Jeder Mensch wie jede geschichtliche Epoche hat ein Schicksal, dessen Einmaligkeit kein anderer mehr verurteilen darf; ist es doch die Geschichte selbst, die in der Unerbittlichkeit ihrer Kontinuität das Richteramt übernommen hat. Die Toleranz, der »Vorzug seltener, vom Himmel privilegierter Seelen« entdeckt nicht mehr das Menschliche als solches, sondern sie versteht es. Und sie versteht es gerade in all seinen Verkleidungen und Veränderungen; sie versteht seine Einmaligkeit, seine Vergänglichkeit. Die Toleranz entspricht der verstehenden Distanz des Gebildeten.
So gibt Herder den Juden ihre Geschichte in einer eigentümlichen Indirektheit zurück; die Geschichte ist zur verstandenen Geschichte geworden. Sie wird als Geschehen absolut ernst genommen, ohne dass doch an den ursprünglichen Leiter dieses Geschehens noch direkt geglaubt würde. Die Säkularisierung ist nicht mehr rückgängig zu machen. Die indirekte Rückgabe der eigentlichen Gehalte zerstört die Vergangenheit im Sinne der Juden restlos. Denn war für Herder diese wie jede Vergangenheit gebunden an eine einmalige, nie wiederkehrende Zeit, so war sie für die Juden gerade das immer wieder dem Vergehen zu Entreißende. Herder gibt zwar dem assimilierten Juden das Geschehen im Sinne seiner eigenen Interpretation zurück, aber doch ein Geschehen ohne Gott; so vernichtet er seine in der Rezeption der Aufklärung gewonnene Freiheit, die vis à vis de rien stand, und unterstellt ihn der Macht des Schicksals, aber er stellt ihn nicht mehr unter die Macht Gottes. Noch die Aufklärung hatte insofern wenigstens einen direkten Bezug zum Gehalt der Geschichte, als sie sich mit ihm auseinandersetzte, ihn verwarf, verteidigte oder bewusst umdeutete. Herders Geschichtsverständnis ist ein letztes Unverbindlichmachen jeglichen Gehaltes – zugunsten des Geschehens selbst. Für die Juden fällt mit dem Zerstören des Gehaltes der Geschichte jede geschichtliche Bindung; denn das Eigentümliche ihrer Geschichte besteht gerade darin, dass nach der Zerstörung des Tempels in gewissem Sinne die Geschichte selbst das »Continuum der Dinge«, das Herder vor dem »Abgrund« rettet, zerstört hat. Deshalb war Mendelssohns Verteidigung der jüdischen Religion und sein Versuch, den »ewigen Gehalt« zu retten – so naiv dies uns heute erscheinen mag – nicht schlechthin sinnlos. Er war auf dem Boden der Aufklärung auch noch möglich; den Juden blieb dort noch ein letztes Residuum an Bindung, das erst jetzt völlig schwindet. Herder selbst sieht diese Bindungslosigkeit als Positivum, wenn er sagt, »Lessing insonderheit hat dies unbefangnere Urteil gebildeter Juden, ihre schlichtere Art, die Dinge anzusehen, in Nathan dem Weisen dargestellt; wer darf ihm widersprechen, da der Jude als solcher von manchen politischen Vorurteilen frei ist, die wir mit Mühe oder gar nicht ablegen?« Herder betont die Unbefangenheit gebildeter Juden, d. h. solcher, die nicht gebunden sind an irgendwelche Gehalte, an die bei aller »Bildung« die nichtjüdische Umwelt dank dem Kontinuum der Zeit gebunden bleibt. Zugleich will Herder die Eigenschaften positivieren, die die Not der schlechten Gegenwart aus ihnen herausgepresst hat – sei es die Not des Sozialen, sei es die Not der Diaspora überhaupt –, die die Juden zu dem doppelten Scharfblick in Erwerb und Bibelauslegung zwang.[23] Sind die Juden erst in Herders Sinn »gebildet«, so sind sie der Menschheit zurückgewonnen, d. h. aber in ihrer eigenen Auslegung, sie haben aufgehört, das auserwählte Volk zu sein. »Abgelegt die alten stolzen Nationalvorurteile; weggeworfen die Sitten, die für unsre Zeit und Verfassung, selbst für unser Klima nicht gehören, arbeiteten sie, nicht als Sklaven […], wohl aber als Mitwohner gebildeter Völker an […] dem Bau der Wissenschaften, der Gesamt-Kultur der Menschheit. […] Nicht durch Einräumung neuer merkantilischer Vorteile führt man sie der Ehre und Sittlichkeit zu; sie heben sich selbst dahin durch rein-menschliche, wissenschaftliche und bürgerliche Verdienste. Ihr Palästina ist sodann da wo sie leben und edel wirken, allenthalben.«
Damit sind die Juden wieder in eine Ausnahmestellung gedrängt, die in der Aufklärung, die kein ausgebildetes Verständnis für Geschichte hatte, noch verdeckt bleiben konnte. Die völlige Gleichheit Lessings verlangte von den Juden nur das Menschsein, das sie schließlich, zumal in der Mendelssohn’schen Auslegung auch leisten konnten. Hier aber wird eine Sonderstellung von ihnen gefordert – als Besondere werden sie eingeordnet in die »Gesamt-Kultur der Menschheit«, nachdem durch »Bildung«, durch die Distanz des Verstehens alle Gehalte zerstört sind, an die sich diese Sonderstellung klammern konnte. Schleiermacher lehnt Friedländers Anerbieten ab, weil er sowohl das Eigentümliche des Christentums wie die Besonderheit der Juden gewahrt wissen will. Man erwartet von den Juden ein Verständnis für ihre eigene geschichtliche Situation, eine Erwartung, die sie umso weniger erfüllen können, als ihre Existenz in der nichtjüdischen Welt mit der wesentlich unhistorischen Argumentation der Aufklärung steht und fällt. Sie sind gezwungen, in dem Kampf um ihre Emanzipation dauernd »salti mortali« zu wollen, eine sprunghafte Eingliederung zu beanspruchen; sie können nicht auf das, was »sich natürlich macht«, auf eine »schrittweise« Entwicklung[24] vertrauen, denn sie haben in der fremden Welt ja gar keine bestimmte Stelle, von der aus eine bestimmte Entwicklung anheben könnte.
So werden die Juden die Geschichtslosen in der Geschichte. Ihre Vergangenheit ist ihnen durch das Herder’sche Geschichtsverstehen entzogen. Sie stehen also wieder vis à vis de rien. Innerhalb einer geschichtlichen Wirklichkeit, innerhalb der europäischen säkularisierten Welt, sind sie gezwungen, sich dieser Welt irgendwie anzupassen, sich zu bilden. Bildung aber ist für sie notwendig all das, was nicht jüdische Welt ist. Da ihnen ihre eigene Vergangenheit entzogen ist, hat die gegenwärtige Wirklichkeit begonnen, ihre Macht zu zeigen. Bildung ist die einzige Möglichkeit, diese Gegenwart zu überstehen. Ist Bildung vor allem Verstehen der Vergangenheit, so ist der »gebildete« Jude angewiesen auf eine fremde Vergangenheit. Zu ihr kommt er über eine Gegenwart, die er verstehen muss, weil er an ihr beteiligt wurde. Die Vergangenheit muss, soll die Gegenwart überhaupt begriffen werden, neu und ausdrücklich ergriffen werden. Das Ausdrücklichmachen der Vergangenheit ist der positive Ausdruck für die Herder’sche Distanz des Gebildeten – eine Distanz, die die Juden von vornherein mitbringen. So entsteht aus der Fremdheit der Geschichte die Geschichte als spezielles und legitimes Thema der Juden.[25]
[Nachdruck aus Hannah Arendt, Die verborgene Tradition. Acht Essays, Frankfurt am Main: Suhrkamp (suhrkamp taschenbuch 303), 1976, S.108–126. Der Essay erschien erstmals 1932 mit der Autorenangabe »Von Hannah Arendt-Stern« in der Zeitschrift für die Geschichte der Juden in Deutschland 4, 1932, Heft 2–3, S.65–77.]
Als vor bald zwei Jahren das deutsche Judentum erkannte, dass es in seiner Gesamtheit auf die durch die Ausnahmegesetze[1] erzwungene Isolierung und auf die materielle und moralische Erschütterung seiner kollektiven Existenz reagieren musste, waren notgedrungen alle Juden gezwungen, ein Selbstbewusstsein als Juden zu entwickeln. Jeder, der damals diese entscheidende Lage am eigenen Leibe miterlebte, konnte nur unter großen Ängsten die schwierigste aller Fragen denken: Wird es gelingen, diesem von außen aufoktroyierten Ghetto einen geistigen Gehalt zu geben? Wird es gelingen, diese Juden nicht nur äußerlich zusammenzuschließen, sondern sie auch als Einzelne miteinander durch ein jüdisches Band derart zu verbinden, dass sie wieder wahre Juden würden? Gibt es einen Menschen, der dieser Aufgabe gewachsen wäre? Gibt es auf diesem Gebiet einen Anführer des deutschen Judentums? Einen »leader«, der mehr ist als ein guter zionistischer Vertreter, mehr als ein hervorragender Kenner jüdischer Angelegenheiten, mehr als ein exzellenter Wissenschaftler und Erforscher des Judentums, ja mehr noch als ein lebendiger Vertreter der jüdischen Kultur – kurz gesagt, einen, der all dies ist und noch mehr?
In diesem Sinn ist Martin Buber heute der unangefochtene Anführer des deutschen Judentums. Er ist der offizielle und tatsächliche Kopf aller wissenschaftlichen und kulturellen Institutionen. Seine Persönlichkeit wird von allen Parteien und Gruppierungen anerkannt. Und mehr noch: Er ist der wahrhaftige »leader« der Jugend.
Er ist dies alles nicht erst seit heute. Seit drei Jahrzehnten gibt es keine junge Generation, die nicht entscheidend von ihm geprägt ist. Seit drei Jahrzehnten kritisiert er mit gleicher Festigkeit einerseits jenen rein politischen Zionismus, dessen Aktivitäten sich allzu oft auf Verhandlungen und Organisationsstrukturen beschränken, und andererseits jene Orthodoxie, die in traditionellen Riten zu erstarren droht. Buber, der seit seinen ersten Veröffentlichungen um die Jahrhundertwende als leidenschaftlicher Zionist bekannt ist, hat ebendiesen Zionismus immer mit seinem besonderen Geist durchdrungen. Er vereint auf unvergleichliche Weise das Festhalten an der Vergangenheit mit dem Kampf um die Zukunft. Unermüdlich hat er verkündet, dass das Wiedererstehen des jüdischen Volkes sich nur vollenden kann durch eine radikale Rückkehr zu seiner großartigen Vergangenheit und zu seinen lebendigen religiösen Werten. Das hat ihm die Herzen und Köpfe all der Jugendbewegungen gewonnen, die auf ihrem Weg ins (verloren geglaubte) Judentum verzweifelt nach dem geistigen Gehalt dieses ihnen so entfremdeten Judentums suchten.
Was Achad Ha’am für Osteuropa gewesen, wurde Buber für Westeuropa. In diesem Mann und seinem Werk entdeckte die Jugendbewegung was sie auch bei den besten Vertretern des offiziellen Zionismus nicht antraf: ein positives Judentum. Seit dreißig Jahren präsentiert und repräsentiert Buber dieses Judentum, immer jung und immer neu. Die »Wissenschaft des Judentums«, welche seit Generationen ein lebendiges Volk unter Monumenten der exakten Philologie und der toten Geschichte zu begraben suchte, hat Buber in »Jüdische Wissenschaft« verwandelt – eine Wissenschaft, die fernste Dinge aus biblischen Zeiten in einen lebendigen und aktuellen Bezug zu unserem heutigen Dasein setzt.
Martin Buber, der große Gelehrte, der die modernen theologischen Diskussionen in Deutschland maßgeblich prägte und in Frankfurt als Professor wirkte, hat sich nie in seiner Wissenschaft verloren: In jedem Moment macht er sich bewusst, warum und zu welchem Ziel er das Wissen benötigt; nie missachtet er die Zukunft um der Vergangenheit willen, sondern findet in der Vergangenheit die Samenkörner der Zukunft; in der Genesis wie in den Psalmen, in den Büchern der Propheten und im Buch Hiob hören wir, so Buber, was das DU Gottes vom ICH des Menschen erwartet. Nur wenn wir diese uralten Stimmen vernehmen und lernen, sie zu verstehen, werden wir die Aufgabe, die Gott diesem, seinem Volk gestellt hat, erfüllen können.
Solche Vergegenwärtigung der Vergangenheit ist das Zentrum der Buber’schen Lehre, seines Werkes und seines Einflusses. Noch bedeutender als seine »Reden über das Judentum«[2] ist seine große deutsche Übersetzung der Bibel, die er vor Jahren gemeinsam mit Franz Rosenzweig begonnen hat.[3] Diese Übersetzung hat nicht nur die Juden, sondern alle an geistigen Dingen interessierten Deutschen erregt, begeistert und beeinflusst. Seit Luther hat niemand solch einen Versuch unternommen: die Bibel poetisch auszulegen – und das ihrem eigenen Geist getreu, jedoch in fremder Sprache. Vor hundertfünfzig Jahren, zu Beginn der Emanzipation, hat die von Moses Mendelssohn verfertigte Übersetzung der Bibel[4], in deutscher Sprache mit hebräischen Schriftzeichen niedergeschrieben, dazu geführt, dass die jüdische Jugend das Ghetto verlassen und Deutsch lernen konnte, um über diesen einzigartigen Umweg der Übersetzung in das deutsche und europäische Leben jener Zeit hineinzugelangen. Bubers Übersetzung ist ein ähnlich einzigartiger Umweg, doch heute geht es darum, die Juden zum Hebräischen, zur Sprache der Bibel, zurückzuführen; zu ihrer jüdischen Vergangenheit mit deren Werten und Herausforderungen. Am Anbeginn und am Ende der deutsch-jüdischen Geschichte steht eine Übersetzung des größten jüdischen Besitztums, der Bibel. Und vielleicht zeigt nichts so deutlich wie diese Tatsache die unauflösliche Verbundenheit der gesamten jüdischen Geschichte – auch der modernsten – mit ihren großartigen Anfängen.
Wenn die Reden und Abhandlungen Bubers und vor allem sein grundlegendes Werk Königtum Gottes[5] sich an eine geistige Elite wenden, so eröffnen und gewähren ihm seine Bibelübersetzung ebenso wie seine Wiederentdeckung des Chassidismus die neuartige Darbietung überlieferter jüdischer Legenden, einen weitaus breiteren, allgemeinen Einfluss; diese Werke dürften heute in keinem jüdischen Haushalt fehlen. Dass die chassidischen Geschichten selbst die assimiliertesten Juden nicht unberührt ließen, beweist, dass Buber recht hat mit seiner Aussage, dass selbst in dem angepasstesten Juden Kenntnis und Herausforderung des Glaubens sich erneuern können, so es nur gelingt, seine Seele zu erwecken.[6] Buber ist es tatsächlich gelungen, die Seelen dieser angepassten Juden zu erwecken, und zwar deshalb, weil er bei aller Vertiefung in die Wissenschaft immer ein moderner Mensch im besten Wortsinn geblieben ist. Er konnte die Jugend gewinnen, weil er weder sich noch das Judentum unter dessen großer Vergangenheit begrub, sondern lebendige Spuren sichtete, um eine noch größere Zukunft zu errichten.
»Ich will weiterleben, ich will meine Zukunft, will ein neues, ganzes Leben, ein Leben für mich, für das Volk in mir, für mich im Volke. Denn das Judentum hat nicht bloß eine Vergangenheit, ja trotz allem, was es geschaffen hat, meine ich: das Judentum hat vor allem nicht eine Vergangenheit, sondern eine Zukunft. Ich glaube: das Judentum ist in Wahrheit noch nicht zu seinem Werke gekommen, und die großen Kräfte, die in diesem tragischsten und unbegreiflichsten aller Völker leben, haben noch nicht ihr eigenstes Wort in die Geschichte der Welt gesprochen.«[7]
[Deutsche Erstveröffentlichung von Hannah Arendt, »Martin Buber – Un guide de la jeunesse«, in: Le Journal Juif des Jeunes, Paris, 24. Mai 1935, einer Beilage der Wochenzeitung Le Journal Juif, die von 1934–1936 in Paris erschien. Übersetzung: Marie Luise Knott und Ursula Ludz.]
Vor allem mögen wir es nicht, wenn man uns »Flüchtlinge« nennt. Wir selbst bezeichnen uns als »Neuankömmlinge« oder »Einwanderer«. Unsere Nachrichtenblätter sind Zeitungen für »Amerikaner deutscher Sprache«, und so weit mir bekannt, trägt und trug keiner der hier gegründeten Clubs der Hitler-Verfolgten einen Namen, der darauf hinweist, dass seine Mitglieder Flüchtlinge sind.
Als Flüchtling hatte bislang gegolten, wer aufgrund seiner Taten oder seiner politischen Anschauungen gezwungen war, Zuflucht zu suchen. Es stimmt, auch wir waren gezwungen, Zuflucht zu suchen, aber wir hatten vorher nichts getan, und die meisten unter uns hegten nicht einmal im Traum irgendwelche radikalen politischen Anschauungen. Mit uns hat sich die Bedeutung des Begriffs »Flüchtling« gewandelt. Von nun an sind »Flüchtlinge« Menschen, die das Pech hatten, mittellos in einem neuen Land anzukommen und auf die Hilfe der Flüchtlingskomitees angewiesen zu sein.
Bevor dieser Krieg ausbrach, waren wir sogar noch empfindlicher gegen die Bezeichnung »Flüchtlinge«. Wir setzten alles daran, den anderen Leuten zu beweisen, dass wir ganz gewöhnliche Einwanderer seien. Wir erklärten, dass wir aus freien Stücken in das Land unserer Wahl gegangen wären, und bestritten, dass unsere Lage irgendetwas mit »sogenannten jüdischen Problemen« zu tun hätte. Ja, wir waren »Einwanderer« oder auch »Neuankömmlinge«, die eines schönen Tages ihr Land verlassen hatten – sei es, weil es uns dort nicht mehr gepasst hatte, sei es aus rein wirtschaftlichen Erwägungen. Wir wollten uns eine neue Existenzgrundlage schaffen, das war alles. Wer eine neue Existenz aufbauen möchte, muss stark sein und ein Optimist dazu. Folglich legen wir großen Optimismus an den Tag.
Unser Optimismus ist in der Tat bewundernswert, auch wenn diese Feststellung von uns selbst kommt. Unsere leidvolle Geschichte ist inzwischen bekannt. Wir haben unser Zuhause verloren und damit die Vertrautheit des Alltags. Wir haben unseren Beruf verloren und damit das Vertrauen, in dieser Welt irgendwie von Nutzen zu sein. Wir haben unsere Sprache verloren und mit ihr die Ursprünglichkeit der Reaktionen, die Einfachheit der Gebärden und den ungezwungenen Ausdruck von Gefühlen. Wir haben unsere Verwandten in den polnischen Ghettos zurückgelassen, unsere besten Freunde sind in Konzentrationslägern umgebracht worden, und das bedeutet den Zusammenbruch unserer privaten Welt.
Aber dennoch haben wir sofort nach unserer Rettung – und die meisten von uns mussten mehrmals gerettet werden – ein neues Leben angefangen und versucht, all die guten Ratschläge, die unsere Retter für uns bereithielten, so genau wie möglich zu befolgen. Man sagte uns, wir sollten vergessen; und wir vergaßen schneller, als es sich irgendjemand vorstellen konnte. Auf freundliche Weise wurde uns klargemacht, dass das neue Land unsere neue Heimat werden würde; und nach vier Wochen in Frankreich oder sechs Wochen in Amerika taten wir bereits so, als ob wir Franzosen oder Amerikaner seien. Die größeren Optimisten unter uns gingen sogar so weit zu behaupten, sie hätten ihr gesamtes bisheriges Leben in einer Art unbewusstem Exil verbracht und erst von ihrem neuen Land gelernt, wie ein richtiges Zuhause überhaupt aussieht. Es stimmt, dass wir manchmal Einwände erheben gegen den wohlgemeinten Rat, unsere einstige Tätigkeit zu vergessen; auch unsere einstigen Ideale werfen wir in der Regel nur schweren Herzens über Bord, wenn unsere gesellschaftlichen Maßstäbe auf dem Spiel stehen. Mit der Sprache allerdings haben wir keine Schwierigkeiten: Die Optimisten sind schon nach einem Jahr bereits der festen Überzeugung, sie sprächen Englisch so gut wie ihre Muttersprache; und nach zwei Jahren schwören sie feierlich, dass sie Englisch besser beherrschten als irgendeine andere Sprache – an ihr Deutsch erinnern sie sich kaum noch.
Um gründlicher zu vergessen, vermeiden wir alle Anspielungen auf Konzentrations- und Internierungsläger, die wir fast überall in Europa kennengelernt haben; denn das könnte man uns als Pessimismus oder als mangelndes Vertrauen in die neue Heimstätte auslegen. Überdies: Wie oft hat man uns zu verstehen gegeben, dass niemand das alles hören möchte: Die Hölle ist keine religiöse Vorstellung und kein Fantasiegebilde mehr, sondern so wirklich wie Häuser, Steine und Bäume. Offensichtlich will niemand wissen, dass die Zeitgeschichte einen neuen Menschentyp hervorgebracht hat – Menschen, die von ihren Feinden in Konzentrationsläger und von ihren Freunden in Internierungsläger gesteckt werden.
Selbst untereinander sprechen wir nicht über diese Vergangenheit. Stattdessen haben wir einen eigenen Weg gefunden, wie wir die ungewisse Zukunft meistern können. Da alle Welt plant und wünscht und hofft, tun wir das auch. Von diesen allgemein menschlichen Verhaltensweisen abgesehen, versuchen wir jedoch, die Zukunft wissenschaftlicher anzugehen. Nach so viel Unglück wollen wir, dass es künftig bombensicher läuft. Deshalb lassen wir die Erde mit all ihren Ungewissheiten hinter uns und richten unsere Augen gen Himmel. In den Sternen nämlich – und kaum in den Zeitungen – steht geschrieben, wann Hitler besiegt sein wird und wann wir amerikanische Staatsbürger werden. Wir halten die Sterne für Ratgeber, die vertrauenswürdiger sind als alle unsere Freunde; sie teilen uns mit, wann es angebracht ist, mit unseren Wohltätern essen zu gehen, oder an welchem Tag wir am besten einen der zahllosen Fragebogen ausfüllen, die gegenwärtig unser Leben begleiten. Mitunter vertrauen wir nicht einmal den Sternen, sondern verlassen uns lieber aufs Handlesen oder auf die Deutung der Handschrift. Auf diese Art erfahren wir weniger über das politische Geschehen, aber mehr über unser eigenes geliebtes Selbst, auch wenn die Psychoanalyse irgendwie aus der Mode gekommen ist. Vorbei jene glücklicheren Zeiten, in denen gelangweilte Damen und Herren der höheren Gesellschaft über die genialen Ungezogenheiten ihrer frühen Kindheit plauderten. Sie haben kein Interesse mehr an Gespenstergeschichten, wenn die tatsächlichen Erfahrungen sie das Gruseln lehren. Es gibt keinen Bedarf mehr, die Vergangenheit zu verhexen, die Gegenwart ist gebannt genug. Und so greifen wir, trotz unseres erklärten Optimismus, zu allen möglichen Tricks, um die Geister der Zukunft heraufzubeschwören.
Ich weiß nicht, welche Erfahrungen und Gedanken uns des Nachts in unseren Träumen heimsuchen. Ich wage nicht, danach zu fragen, denn auch ich wäre lieber optimistisch. Doch manchmal stelle ich mir vor, dass wir zumindest nachts an unsere Toten denken oder uns an die einst geliebten Gedichte erinnern. Ich könnte sogar verstehen, dass unsere Freunde an der Westküste während der Ausgangssperre auf den komischen Gedanken kommen, wir seien nur »künftige Staatsbürger«, doch gegenwärtig »feindliche Ausländer«. Am helllichten Tag sind wir natürlich bloß »der Form nach« feindliche Ausländer – das wissen alle Flüchtlinge. Doch wenn man sich dann dieser »Form« wegen nach Einbruch der Dunkelheit nicht mehr aus dem Haus traute, konnte man sich nicht immer finsterer Gedanken über das Verhältnis von Formalität und Wirklichkeit erwehren.
Nein, mit unserem Optimismus stimmt etwas nicht. Es gibt unter uns jene seltsamen Optimisten, die wortreich ihre Zuversicht kundtun und dann nach Hause gehen und den Gashahn aufdrehen oder auf äußerst unerwartete Weise von einem Wolkenkratzer Gebrauch machen. Anscheinend beweisen sie, dass unser erklärter Frohsinn auf einer gefährlichen Todesbereitschaft gründet. Aufgewachsen in der Überzeugung, dass das Leben der Güter höchstes[8] und der Tod das größte Schrecknis sei, wurden wir Zeugen und Opfer von Terrorakten, die schlimmer sind als der Tod – ohne dass wir in der Lage gewesen wären, ein höheres Ideal als das Leben zu entdecken. Auch wenn der Tod also seine Schreckensherrschaft verloren hatte, so waren wir noch lange nicht willens oder fähig, unser Leben für eine Sache aufs Spiel zu setzen. Anstatt den Kampf zu wählen – oder sich Gedanken darüber zu machen, wie man sich zur Wehr setzen kann, gewöhnten wir Flüchtlinge uns daran, Freunden oder Verwandten den Tod zu wünschen; wenn jemand stirbt, führen wir uns frohgemut den ganzen Ärger vor Augen, der ihm erspart geblieben ist. Schließlich landen viele von uns bei dem Wunsch, es möge auch ihnen einiger Ärger erspart bleiben, und handeln entsprechend.
Seit Hitlers Einmarsch in Österreich 1938 haben wir beobachtet, wie rasch sich beredter Optimismus in sprachlosen Pessimismus verwandeln kann. Im Lauf der Zeit verschlimmerte sich unser Zustand – wir wurden immer optimistischer und neigten immer mehr zum Selbstmord. Die österreichischen Juden unter Schuschnigg waren solch ein frohgemutes Volk – alle unvoreingenommenen Beobachter bewunderten sie. Es war wirklich wundervoll, wie tief sie davon überzeugt waren, ihnen könne nichts passieren. Aber als die deutschen Truppen einmarschierten und die nichtjüdischen Nachbarn anfingen, jüdische Wohnungen zu überfallen, da begannen österreichische Juden Selbstmord zu verüben.
Im Unterschied zu anderen Selbstmördern hinterlassen unsere Freunde keine Erklärungen für ihre Tat, keine Beschuldigungen, keine Anklagen gegen diese Welt, die einen verzweifelten Menschen gezwungen hatte, bis zuletzt ein fröhliches Verhalten an den Tag zu legen. Ihre Abschiedsbriefe sind ganz gewöhnliche Dokumente. Folglich sind auch unsere Reden am offenen Grabe kurz, verlegen und voller Hoffnung. Niemand schert sich um die allzu offensichtlichen Beweggründe.
Ich spreche hier von unliebsamen Tatsachen, und zu allem Übel verfüge ich, um meine Sicht der Dinge zu untermauern, nicht einmal über die einzigen Argumente, die Leute von heute beeindrucken: nämlich über Zahlen. Selbst jene Juden, die ganz entschieden die Existenz des jüdischen Volkes verneinen, geben uns, was die Zahlen angeht, eine gute Überlebenschance – sie brauchen Zahlen, um zu beweisen, dass nur wenige Juden Kriminelle sind und in Kriegszeiten viele Juden als gute Patrioten ums Leben kommen. Aufgrund ihrer Bemühungen, das Leben des jüdischen Volkes in Zahlen festzuhalten, wissen wir, dass in der Vergangenheit unter allen zivilisierten Nationen Juden die niedrigste Selbstmordrate aufwiesen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass diese Angaben nicht mehr zutreffen, doch kann ich dies nicht mit neuen Zahlen belegen, wohl aber mit neuen Erfahrungen. So viel für jene skeptischen Geister, die ohnehin nie davon überzeugt waren, dass man mit einer Schädelmessung eine exakte Vorstellung von dessen Inhalt bekommt oder dass Kriminalstatistiken das exakte sittliche Niveau einer Nation anzeigen. Jedenfalls verhalten sich europäische Juden, ganz gleich wo sie leben, heute nicht mehr gemäß den Gesetzen der Statistik. Selbstmorde ereignen sich heute nicht nur unter den von Panik erfassten Menschen in Berlin und Wien, in Bukarest oder Paris, sondern auch in New York und Los Angeles, in Buenos Aires und in Montevideo.
Aus den Ghettos und Konzentrationslägern hingegen wird sehr selten von Selbstmorden berichtet. Zwar erhalten wir ohnehin nur äußerst spärliche Berichte aus Polen, doch über deutsche und französische Konzentrationsläger sind wir ziemlich gut informiert.
Im Lager Gurs etwa, wo ich Gelegenheit hatte, einige Zeit zuzubringen[9], hörte ich nur ein einziges Mal von Selbstmord, und zwar als Vorschlag für eine kollektive Aktion, was anscheinend als eine Art Protesthandlung gedacht war, um die Franzosen in Verlegenheit zu bringen. Als einige von uns anmerkten, dass wir sowieso »pour crever«[10] hierher verfrachtet worden seien, schlug die allgemeine Stimmung plötzlich um, und ein leidenschaftlicher Lebensmut brach aus. Es galt allgemein die Auffassung, dass man schon auf abnorme Weise asozial und dem Geschehen gegenüber ignorant sein musste, um das ganze Unglück noch immer als persönliches, individuelles Missgeschick anzusehen und dementsprechend seinem Leben persönlich und individuell ein Ende zu setzen. Doch sobald dieselben Leute in ihr individuelles Leben zurückkehrten und dort mit scheinbar individuellen Problemen konfrontiert waren, legten sie wieder jenen ungesunden Optimismus an den Tag, der Tür an Tür mit der Verzweiflung wohnt.
Wir sind die ersten nichtreligiösen Juden, die verfolgt werden – und wir sind die ersten, die darauf – nicht nur in extremis – mit Selbstmord antworten. Vielleicht haben die Philosophen recht, die lehren, dass Selbstmord die letzte, die äußerste Garantie menschlicher Freiheit sei; dass wir zwar nicht die Freiheit besitzen, unser Leben oder die Welt, in der wir leben, zu erschaffen, aber dennoch frei sind, das Leben wegzuwerfen und die Welt zu verlassen. Gewiss können fromme Juden sich diese negative Freiheit nicht herausnehmen; sie sehen in der Selbsttötung Mord, nämlich die Zerstörung dessen, was Menschen niemals erschaffen können, sie sehen darin also eine Einmischung in die Rechte des Schöpfers. »Adonai nathan ve adonai lakach«(Der HERR hat’s gegeben, der HERR hat’s genommen); und sie fügen gewöhnlich hinzu: »baruch shem adonai« (der Name des HERRN sei gelobt).[11] Für sie bedeutet Selbstmord wie Mord einen blasphemischen Angriff auf die gesamte Schöpfung. Ein Mensch, der sich selbst umbringt, behauptet damit, dass das Leben nicht lebenswert sei und die Welt nicht wert, ihn zu beherbergen.