Wir treffen uns im nächsten Kapitel - Tessa Bickers - E-Book

Wir treffen uns im nächsten Kapitel E-Book

Tessa Bickers

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Beschreibung

Zwei Buchliebhaber. Zwei gebrochene Herzen. Ein neues Kapitel? Die romantische Komödie »Wir treffen uns im nächsten Kapitel« erzählt die herzerwärmende Liebesgeschichte von zwei Fremden, die einander Nachrichten in Büchern hinterlassen und sich in die Gedanken des anderen verlieben. Versehentlich landet Erins Lieblingsbuch in einem von Londons öffentlichen Bücherregalen. Als sie es sich zurückholt, entdeckt sie, dass jemand auf ihre Notizen am Rand geantwortet hat. Der geheimnisvolle Fremde lädt sie ein, ihn am Rand von Große Erwartungen von Charles Dickens zu treffen. Zum ersten Mal seit dem Tod ihrer besten Freundin beginnt Erin sich zu öffnen. Zufällig entdeckt James in einem öffentlichen Bücherschrank eine Ausgabe von Wer die Nachtigallstört. Die am Rand notierten Gedanken der mysteriösen Fremden berühren ihn so, dass er darauf antwortet und das Buch zurück ins Regal stellt. Zum ersten Mal, seit er das Mädchen verloren hat, das er liebt, beginnt James sich zu öffnen. Was aber wird passieren, wenn Erin und James herausfinden, dass sie einander keineswegs Fremde sind? Mit Klassikern der Literatur die große Liebe finden – der vielleicht schönste humorvolle Liebesroman seit »PS Ich liebe Dich« Die Engländerin Tessa Bickers hat eine wunderschöne RomCom über zweite Chancen und Neuanfänge geschrieben und gleichzeitig eine Liebeserklärung ans Lesen. Ihr Roman steckt voller Situationskomik und herzerwärmender Momente und ist einfach herrlich nostalgisch und wunderbar entschleunigend. Perfekte Wohlfühl-Unterhaltung!

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Seitenzahl: 440

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Tessa Bickers

Wir treffen uns im nächsten Kapitel

Roman

Aus dem Englischen von Heike Reissig

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Die 30-jährige Erin ist entsetzt, als sie merkt, dass sie mit einigen alten Romanen versehentlich auch ihr Lieblingsbuch in einen von Londons öffentlichen Bücherschränken gestellt hat: Zwischen den Seiten von Wer die Nachtigall stört steckt nämlich das letzte Geschenk ihrer besten Freundin, deren Tod Erin noch immer nicht verwunden hat. Doch sie hat Glück: Ihr Buch ist noch da. Beim Blättern entdeckt Erin aber, dass jemand auf ihre Notizen am Rand geantwortet hat. Der geheimnisvolle Fremde lädt sie ein, ihn am Rand von Große Erwartungen von Charles Dickens zu treffen. Ein reger Gedankenaustausch beginnt, der Erins Herz bald höher schlagen lässt. Sie ahnt jedoch nicht, dass ihr Fremder jemand ist, dem sie niemals verzeihen wollte …

 

 

Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de

Inhaltsübersicht

Widmung

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

Danksagung

 

 

 

 

Für alle, die anderen etwas beibringen – danke.

 

Und für Mum und Dad, Maria und Penny –von euch habe ich am meisten gelernt.

1

Erin

Es heißt, ein einziger Moment könne das gesamte Leben verändern. Mein Moment wird sich heute Nachmittag um zwölf nach drei ereignen, doch beim Aufwachen habe ich davon noch keine Ahnung.

An diesem Donnerstag ist alles wie sonst, abgesehen vom Datum. Es beherrscht meine Gedanken, noch bevor ich die Augen öffne. Es lastet auf mir, während ich mich für mein Frühstücksmeeting anziehe – langer weißer Rock, hellgraues T-Shirt, Lederjacke – und mir alle möglichen Ausreden überlege, um meiner Chefin Charlotte am Telefon zu sagen, dass ich heute nicht zur Arbeit komme. Es ist an meiner Seite, als ich die überfüllte U-Bahn von Brixton nach Oxford Circus nehme, und folgt mir beharrlich bis zur Brasserie The Ivy, wo ich draußen Platz nehme und mich für eines dieser lächerlichen Meetings wappne, die man in der PR-Branche über sich ergehen lassen muss. Eins von der Sorte, bei der das Wort Meeting tabu ist und wir stattdessen eine Stunde lang um den Grund des Treffens herumreden, bis ich schließlich die Rechnung übernehme und auf diese Weise alles bestätige, was nicht ausgesprochen wurde. Du bringst in eurer Zeitschrift einen wohlwollenden Bericht über unser Label Traitor Fashion.

Dabei ist Martha noch eine der netteren Journalistinnen, aber das Frühstück zieht sich endlos hin wie alles heute, und als sie endlich nach ihrem pinken Jacquemus-Täschchen aus der Frühjahr-Sommer-Kollektion greift und aufsteht, bin ich erleichtert.

»Bei unserer ersten Begegnung war ich übrigens nicht sicher, ob du das Zeug für diese Branche hast«, sagt sie und lächelt auf mich herab, Täschchen schon unter den Arm geklemmt. Mehr als ein Lippenstift passt da nicht rein. »Aber du hast es drauf, Erin. Noch ein paar Jahre, und Charlotte kann einpacken.«

Sie mustert mich anerkennend, bevor sie sich umdreht und geht. Am liebsten würde ich mich schütteln, aber damit muss ich warten, bis sie außer Sichtweite ist.

»Igitt«, sagt Cassie, als ich ihr später im Büro davon berichte, ich sei mit Charlotte verglichen worden. Das Head Office von Traitor in der Oxford Street ist ein Großraumbüro mit über hundert Leuten. Was für ein Glück, dass sie mich damals, als ich dort anfing, neben Cassie gepackt haben. Sie trägt heute eine Regenbogenlatzhose. Steht ihr super. Ich sähe darin wie eine wandelnde Einkaufstasche aus. Cassie öffnet ihre Schublade, holt eine Minitüte Haribo heraus und wirft sie mir zu. »Alles okay bei dir? Soll ich noch eins draufsetzen und dich Char nennen?« Sie mustert mich über den Rand ihrer transparenten Kunststoffbrille hinweg.

»Nein danke, eher tue ich mir was an.« Ich lege meine Traitor-Tasche, neue Saison, auf meinen Stuhl und öffne das Tütchen, schon wieder auf dem Sprung. Ich muss noch den Showroom aufräumen, um zehn kommen meine Influencerinnen.

»Scheiß drauf«, sagt Cassie. »Sollen wir nicht einfach abhauen und unser eigenes Ding machen? Irgendwas Sinnvolles?« Ich bleibe wie angewurzelt stehen.

Ein verlockender Gedanke. »Klingt traumhaft. Ein Job, der uns nicht die Seele aussaugt. Was schwebt dir vor?«

Cassies blaue Augen beginnen zu strahlen, ihre Locken wippen. »Okay, pass auf. Wir könnten Mäntelchen für Bienen entwerfen und dann …«

Charlotte taucht neben mir auf, mit rot lackierten Nägeln und frisch blondiertem Haaransatz. Wie schön, dass eine so viel beschäftigte Frau wie sie noch Zeit dafür findet, sich zu stylen. Vermutlich, weil sie einen Großteil ihrer Arbeit auf uns abwälzt.

»Schluss mit dem Geplauder, ihr beiden, und sofort mitkommen!«, ruft sie, bevor sie Richtung Showroom stöckelt und eine Duftwolke teuren Parfüms hinterlässt. Cassie zieht gespannt die Brauen hoch. Ich nicht, weil ich weiß, was jetzt kommt. Als wir uns dem gläsernen Raum nähern, sitzt das gesamte Team dort und wartet. Dabei haben wir unser reguläres Meeting doch erst in ein paar Stunden. Warum will sie jetzt noch eins machen?

»Wer war als Letztes hier?«, fragt Charlotte. Ihr Blick streift mich kurz, bevor er zu den anderen wandert. Natürlich konnte das nicht warten.

Ich schlucke. »Ich. Alicia Gold hatte gestern Abend nur um neun Uhr Zeit, und da ich wusste, dass Sie sie unbedingt wollten, habe ich …«

»Und findest du es in Ordnung, den Raum so zu hinterlassen?«

Ich schaue mich um. Der Boden ist mit Kleidungsstücken übersät, weil ich mir gestern Abend die Genehmigung erteilt habe, das Aufräumen während meiner regulären Arbeitszeit zu erledigen, statt eine Überstunde zu machen, aber das kann ich natürlich nicht laut sagen.

»Nein«, sage ich und werde knallrot. Alle starren mich an, erleichtert, nicht selbst am Pranger zu stehen. Nur Cassie leidet mit mir. »Entschuldigung. Ich werde mich sofort darum kümmern.«

»Das will ich auch hoffen! Glaubst du etwa, jemand postet über uns, wenn unser Showroom so aussieht? Eine Schande ist das!« Sie schaut mich mindestens einmal am Tag mit diesem Gesichtsausdruck an. Als wäre ich etwas, das ihr kahler Gruselkater Boris angeschleppt hätte. Gleich schickt sie bestimmt alle hinaus.

»Cassie«, sagt sie stattdessen. »Was ist an diesem Raum zu beanstanden?«

Ich bringe es nicht über mich, Cassie anzusehen. Sie muss die Frage beantworten, und ich will nicht, dass sie sich deswegen mies fühlt. Vor allem, weil Charlotte genau weiß, dass wir befreundet sind. Sie hat sich ganz bewusst Cassie ausgesucht.

»Die … ähm … die Kleidung ist nicht aufgehängt.«

»Dominique?«

»Der Mülleimer ist voller Dosen.«

»Sara?«

»Die Kleidung ist nicht nach Farben sortiert.«

Ich zittere vor Wut. Charlotte weiß genau, wie lange ich gestern Abend gearbeitet habe. Eigentlich hatte ich gedacht, sie würde mich endlich mal für etwas loben.

»Francesca?«

»Die Scheiben sind verschmiert.«

Verdammter Mist, jetzt muss ich auch noch die Fenster putzen! Und wegen dieses Meetings bleiben mir nur noch sieben Minuten, bis das DIY-Duo einläuft. Zwei Mädels, die irgendwann angefangen haben, sich vor der Schule gegenseitig beim Schminken zu filmen, und damit so erfolgreich geworden sind, dass sie seit ihrem Realschulabschluss nur noch das machen. Jetzt sind sie zwanzig und Millionärinnen.

Am liebsten würde ich schreien: Ihr alle solltet mir beim Aufräumen helfen, ihr habt den Showroom schließlich auch benutzt! Stattdessen warte ich, bis die anderen gegangen sind, und dann fange ich an, die Kleidungsstücke aufzusammeln, während ich mit den Tränen kämpfe, weil das alles so unfair ist.

Plötzlich will ich nur noch nach Hause, zu meiner besten Freundin Bonnie. Sie wird mich aufmuntern. Sie wird mir helfen, über den ganzen Mist zu lachen. Sie wird genau die richtigen Worte finden. Frustriert greife ich nach einem limettengrünen T-Shirt und schluchze kurz hinein, bevor ich es in den Abfallsack werfe, wo es hingehört.

 

Um eins hinke ich bereits meinem Zeitplan hinterher. Hastig schlinge ich ein Chicken Wrap hinunter und schaue gleichzeitig in meinen Kalender. Heute Abend soll der Launch eines neuen Energydrinks stattfinden. Das stand heute Morgen noch nicht in meinem Kalender. Ich verschlucke mich fast vor Schreck. Heute Abend muss ich unbedingt mein Kostüm für das Spendenevent dieses Wochenende in Frome nähen, wo ich herkomme. Wir sollen uns als etwas verkleiden, das mit B anfängt. Ich habe mir heute Abend extra frei gehalten. Mir ist natürlich sofort klar, wer mir den Launch reingedrückt hat. Als hätte es nicht schon gereicht, mich vor dem gesamten Team zu erniedrigen. Ich werfe den restlichen Wrap in den Müll, mir ist der Appetit vergangen.

Ich habe keine Ahnung, womit ich es verdient habe, dass Charlotte mich so behandelt. Ich bin gut in meinem Job. Ich schufte mich ab. Ich tue alles, was sie verlangt, aber es ist nie gut genug.

Eigentlich wollte ich nach dem Meeting, das gleich stattfindet, nach Hause zu meiner besten Freundin, um eine Flasche Wein oder auch zwei zu trinken und dabei das peinlichste Kostüm der Welt zu nähen. Aber jetzt kann ich nur kurz nach Hause, mich umziehen, damit ich um sieben bei diesem Launch bin. Ich starre auf den Mülleimer. Wie ranzig muss Hühnerfleisch sein, damit es für eine Lebensmittelvergiftung reicht? Bin ich jetzt schon so weit, dass ich mir lieber den Magen verderbe, als meinen Job zu machen? Unfassbar.

Ich bin so wütend auf Charlotte, dass ich ihrem Blick ausweiche, als ich Platz nehme. Während sie über Zahlen und Pläne für das nächste Quartal schwafelt, texte ich innerlich meinen eigenen Rap, und der besteht aus nur drei Worten: Halt die Klappe!

Um zehn nach drei schauen alle zu mir herüber, weil ich als Nächste dran bin, meine »größte Erkenntnis« und meinen »größten Erfolg« der Woche aufzuzählen. Alle warten darauf, dass ich den Showroom erwähne.

Cassie sitzt neben mir, sie hat die Glocke. Die Glocke geht reihum, wir sollen sie läuten, wenn wir etwas Aufregendes zu verkünden haben.

Ich verscheuche den Rap aus meinem Kopf und stehe auf. Mir bleibt nichts anderes übrig, als zu erzählen, was mit dem DIY-Duo passiert ist. Ich habe nichts anderes in petto.

»Meine größte Erkenntnis«, beginne ich mit zitternder Stimme, denn ich hasse diesen Teil immer, erst recht in dieser Situation, »ist, dass wir Regeln für die Leute brauchen, die wir in unseren Showroom lassen. Die Mädels vom DIY-Duo haben heute versucht, ein paar zusätzliche Sachen umsonst mitzunehmen, und … ähm …« Ich räuspere mich, schaue auf den Tisch runter und wieder hoch. Alle starren mich an. »Ich habe ihnen gesagt, sie sollen sie wieder zurückhängen, aber in Zukunft wäre es wahrscheinlich gut, wenn wir …«

»Die Mädels haben was gemacht?«, fällt Charlotte mir ins Wort, lehnt sich zurück und trommelt mit ihren langen roten Fingernägeln auf die Tischplatte.

»Sie … sie …« Aus den Augenwinkeln sehe ich, dass Cassie kaum merklich den Kopf schüttelt. Sie weiß, was passiert ist. Sie signalisiert mir, auf keinen Fall die Wahrheit zu sagen, und ich weiß, sie hat recht, aber mein Kopf ist völlig leer. Mir fällt so schnell keine Lüge ein, und Charlotte hat die Regel eingeführt, dass die Leute höchstens fünf Sachen mitnehmen dürfen. Vielleicht ist sie ja sogar stolz auf mich, wenn sie hört, dass ich ihre Regel durchgesetzt habe. »Sie waren total sauer und haben dann gar nichts mitgenommen«, sage ich schnell.

Cassie sinkt in sich zusammen.

Das Fingernageltrommeln hört auf.

Charlotte kann mein Geständnis kaum fassen, erst recht nicht nach der Sache von heute Morgen. Sie neigt den Kopf, ihr bleicher Hals hebt sich von dem mit Selbstbräuner bearbeiteten Kinn ab. Ihre Finger schweben bewegungslos über der Tischplatte.

»Diese beiden Mädels haben über eine Million Abonnenten auf TikTok. Dank ihres letzten Beitrags hat sich unser Traffic um zweihundertfünfzig Prozent erhöht.«

Ich nicke. Wie dumm von mir zu hoffen, dass sie die Zahlen noch nicht kennt. »Aber dafür hat sich Alicia Gold Sachen genommen, und …«

»Alicia bringt uns nichts ein«, zischt Charlotte. Gestern, als sie mich aufforderte, für Alicia drei Überstunden zu machen, sagte sie das genaue Gegenteil. »Das DIY-Duo dagegen schon.« Sie ballt die Hand zur Faust. An fast jedem Finger funkelt ein großer Diamant. »Das war keine Erkenntnis, Erin, sondern ein verdammter Riesenpatzer.«

Ich schlucke und setze mich wieder. Cassie versucht, die Glocke geräuschlos weiterzuschieben, doch leider entweicht ihr dabei ein Klingeln. Cassie bemüht sich verzweifelt, sie zum Schweigen zu bringen, um nicht noch mehr Aufmerksamkeit auf meinen verdammten Riesenpatzer zu lenken.

Ich beiße mir auf die Oberlippe, meine Schultern beben.

»Von deinem Erfolg will ich natürlich auch noch hören, falls du einen zu vermelden hast«, sagt Charlotte leise, kaum dass ich mich wieder hingesetzt habe. Einen Augenblick lang denke ich, es tut ihr leid, wie sie mich heute behandelt hat, doch ihre Miene verrät das Gegenteil. Sie weiß nicht, was ich bei meinem Frühstücksmeeting erreicht habe: eine Doppelseite in der Sonntagsbeilage, die unseren Umsatz mindestens so steigern wird wie der Beitrag des DIY-Duos. Sie glaubt, ich habe keinen Erfolg zu verkünden, will sich stattdessen daran weiden, wie ich ein weiteres Mal vor versammelter Runde scheitere, bevor ich zu einer Veranstaltung hasten muss, die sie mir aufs Auge gedrückt hat, weil sie keine Lust hat, selbst hinzugehen.

Ich spanne die Kiefermuskeln an und stehe wieder auf.

»Mein Erfolg …« Ich halte inne. Überlege, ob ich ihr davon erzähle oder lieber abwarte, bis sie die glorreiche Vierfarb-Doppelseite mit eigenen Augen sieht.

»Klingt, als hättest du keinen zu vermelden …« Charlotte seufzt laut. Ich könnte tun, was ich immer tue. Ignorieren, wie sie mich behandelt, und mir erst recht Mühe geben, sie zu beeindrucken. Doch dieser laute Seufzer ist der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt.

»Eigentlich sollte ich heute zu Hause in Frome sein, auf dem Cley Hill, wo die Asche des Menschen verstreut wurde, den ich auf dieser Welt am meisten liebe, und mich danach durch alte Folgen von Gilmore Girls heulen. Eigentlich sollte ich heute bei meiner Familie sein, aber stattdessen bin ich hier, weil Sie mir nicht freigeben wollten. Sie haben noch nicht einmal gefragt, warum ich den Tag freihaben möchte. Sie meinten bloß, es ginge nicht, weil zu viel zu tun sei.«

Jetzt ist Charlotte das Grinsen vergangen. Allein, dass sie gegrinst hat, beweist, wie herzlos sie ist. Meine Angst vor ihr löst sich in Luft auf. Ich senke die Stimme, damit sie nicht zittert. Alles, was sich im Laufe des Tages aufgestaut hat, will nun heraus, es lässt sich nicht aufhalten. »Seit sieben Jahren arbeite ich jetzt hier in der Hoffnung, dass es besser wird. Dass mein Job eines Tages der Vorstellung gerecht wird, die ich hatte, als ich hier anfing. Aber es wird immer schlimmer.« Auf einmal sehe ich meine Schwester Georgia vor mir, die jedes Mal die Augen verdreht, wenn ich über meine Arbeit jammere. »Ich habe alles geopfert in der Hoffnung, dass sich etwas ändert. Aber inzwischen glaube ich, wenn ich hierbleibe, passiert nur eines: Ich werde so wie Sie. Und so wie Sie will ich nicht werden. Eine, die alle fertigmacht und sich dann nach Hause zu ihrem kahlen Kater verpisst.«

Irgendwer schnappt nach Luft. Mein Blick wandert zu der glänzenden Glocke, die noch immer verheißungsvoll vor Cassie steht. Ich zittere. »Sie wollen wissen, was mein Erfolg der Woche ist? Ich habe eine Doppelseite in der Hello Sunday an Land gezogen. Aber das ist für mich kein Erfolg mehr.« Cassie und die anderen starren mich mit offenen Mündern an, ich sehe mindestens zehn Goldfüllungen. »Ich kündige.« Die Worte fühlen sich so herrlich an, dass ich unwillkürlich lächle. Ich schnappe mir die Glocke, läute sie und wiederhole: »Verdammt, ja, ich kündige!«

Dann pfeffere ich die Glocke auf den Tisch zurück, schnappe mir meinen Laptop und marschiere an Charlotte vorbei Richtung Tür. Und ihre Miene verrät, dass mein Erfolg tatsächlich einer war, denn neben all der Wut und Verblüffung kommt endlich auch etwas anderes zum Vorschein: ein winziger Funken Respekt.

 

»Meine Güte, Erin, was machst du denn schon hier?«, begrüßt mich Callum, als ich mehrere Stunden früher als sonst in unserer WG in Loughborough Junction eintrudele. Mein Mitbewohner sitzt vor dem Fernseher, in einen roten Adidas-Trainingsanzug gehüllt, das dunkelbraune Haar zur Seite gegelt, die dicken Koteletten reichen fast bis zum Kinn. Sein Sheffield-Akzent ist das erste Erfreuliche, das mir heute zu Ohren kommt, und für den Bruchteil einer Sekunde verspüre ich den Impuls, ihn zu umarmen. Aber dann ist der Moment auch schon vorbei.

»Arbeitest du heute nicht?«, frage ich stattdessen. Callum ist Produktdesigner.

»Hab mir heute freigegeben«, antwortet er, völlig von dem Radrennen auf dem Bildschirm absorbiert. Er hat sich also krankgemeldet. Das macht er immer, wenn ein Radrennen übertragen wird. Er fragt nicht, warum ich schon so früh zurück bin. Stattdessen stellt er die Lautstärke hoch. Typisch Callum.

»Ich habe gekündigt!«, rufe ich über die Stimme des Moderators hinweg. Ich muss es laut sagen, weil ich es kaum glauben kann.

»Super«, antwortet er, ohne aufzuschauen. Ich verziehe mich auf mein Zimmer und schließe die Tür.

Bonnie sitzt in der Ecke im Sessel, in eine Zeitschrift vertieft. Das ist der einzige Platz in meinem Zimmer, wo kein Chaos herrscht. Überall sonst stehen Tüten mit Giveaways von der Arbeit und Kisten, die ich seit dem Umzug aus meiner letzten Wohnung in Stockwell noch nicht ausgepackt habe. In der neuen Wohnung bin ich gelandet, weil ich eine Affäre mit dem Typ vom Sicherheitsdienst meines alten Wohnblocks laufen hatte. Als er mir sagte, er sei in mich verliebt und wolle seinen Job kündigen, griff ich zu einer Lüge und erklärte ihm, das könne nicht funktionieren, weil ich ausziehen wolle. Was dann natürlich bedeutete, dass ich Nägel mit Köpfen machen musste.

Die Schuhe, die ich letztens nach einem Vierzehnstundentag weggekickt hatte, liegen immer noch auf dem Boden. Und überall Bücher. So viele Bücher, dass sie nicht in das Regal über meinem Bett passen und sich stattdessen überall stapeln, wo noch Raum ist, in der Hoffnung, irgendwann gelesen zu werden.

»Du bist ja schon da«, sagt Bonnie, ein breites Grinsen im Gesicht. Sie trägt eine ihrer Perücken. Die rote, die so lang ist, dass sie ihr bis zum Hintern reicht.

»Ich hab’s getan, Bon«, sage ich und werfe mich aufs Bett. »Ich hab gekündigt.«

»Du hast gekündigt? Wow!« Sie wirft den Kopf zurück und lacht. Ein tiefes, kehliges Lachen. Es wärmt mir das Herz. »Endlich! Wie fühlst du dich?«

»Als hätte ich nicht mehr alle Tassen im Schrank?« Ich kneife die Augen zu. »Aber auch … erleichtert. Als wäre das ein Neuanfang.«

»Ist es.«

»Als hätte das schon vor Jahren passieren sollen.«

»Hätte es.«

»Ich will alles zurück auf Anfang setzen, noch einmal ganz von vorn anfangen.« Mein Blick wandert zu dem Regal über mir und bleibt an einem weißen Buchrücken hängen, Magic Cleaning: Wie richtiges Aufräumen Ihr Leben verändert. Ich schaue Bonnie an. »Glaubst du, ich kann mein Leben auf Marie-Kondo-Art umkrempeln?«

»Probier’s aus!«, ruft Bonnie, springt auf und beginnt zu tanzen. Und zum ersten Mal an diesem Tag, wenn nicht sogar in dieser Woche, grinse ich breit. »Raus mit dem Alten, rein mit dem Neuen … wobei ich ja noch gar nichts Neues habe. Aber bald. Neuer Job, neues Ich.«

Mein Blick wandert zu den Kisten vor Bonnies Füßen. Was ist überhaupt drin in den Kisten? Klamotten, die ich nicht trage. Bücher, die ich nicht lese. Sachen, die ich nicht brauche. Jedenfalls habe ich nichts davon vermisst, seit ich hier eingezogen bin. Das muss doch etwas zu bedeuten haben. Ich öffne ein paar Kisten und schaue hinein, erkenne den Inhalt kaum wieder.

Bonnie hat es sich wieder in dem Sessel bequem gemacht und schaut amüsiert zu, wie ich ein Paar Schuhe in einen Müllsack werfe, gefolgt von ein paar Sachen aus meinem Schrank. Dann durchforste ich mein Regal und lege alle Bücher, bei denen ich mir sicher bin, dass ich sie kein weiteres Mal lesen werde, in einen Koffer. Ich habe noch nie in meinem Leben ein Buch weggeworfen, aber ich muss Raum für die neuen schaffen. Für diejenigen, die ich noch lesen will. Die Stapel, die auf dem Boden liegen, stelle ich ins Regal und trete lächelnd einen Schritt zurück. Endlich sieht das Regal vielversprechend aus. Endlich freue ich mich wieder darauf, etwas zu lesen.

Ich miste weiter aus. Halb leere Tuben mit Bodylotion, kaputte Haarglätter, unbequeme BHs. Bonnie klatscht im Takt, schaut zu, wie ich eine Flasche leuchtend blauen Nagellack in den Mülleimer befördere. Sie fischt sie wieder heraus und fängt an, sich die linke Hand zu lackieren.

Ich bin jetzt in meinem Element. Räume meinen Nachttisch fast vollständig aus. Alte Batterien. Akkus für Geräte, die ich gar nicht mehr besitze. Weihnachtskarten, die nichts zu bedeuten haben. Eine Geburtstagskerze. Ich gerate ins Schwitzen, ziehe mein T-Shirt aus. Da klingelt mein Handy. Bestimmt Charlotte, die anruft, um mich zur Schnecke zu machen, doch es ist Mum.

»Sorry, aber du bringst keine Freude«, murmele ich und leite sie an die Mailbox weiter. Sieben Jahre lang bin ich von einer miesen Wohnung und Affäre zur nächsten gehetzt und habe mich an einen Job geklammert, der mich nur unglücklich macht, aber nun habe ich mit jedem kleinen Schritt das Gefühl, endlich Kontrolle über mein Leben zu gewinnen und in eine neue Richtung unterwegs zu sein.

Ich bin so in Schwung, dass ich die Säcke mit den aussortierten Sachen nach draußen zum Müllcontainer bringe und die Kisten in meinen kleinen alten Ford stopfe. Auf dem Weg nach Frome werde ich sie im Wohltätigkeitsladen abgeben. Wenn ich heute Nachmittag losfahre, schaffe ich es noch auf den Cley Hill. Jetzt kann ich doch noch durchziehen, was ich heute vorhatte. Jetzt habe ich keinen Job mehr, der Priorität hat.

Doch als Erstes sind die Bücher dran. Ich habe auch schon eine Idee, was ich damit mache.

»Bin gleich wieder da«, sage ich zu Bonnie und nehme den Koffer.

»Ich mach uns Tee!«, ruft sie mir hinterher. »Wenn du mit deiner verrückten Ausmistaktion fertig bist, erzählst du mir, was für ein Gesicht Charlotte gemacht hat, Falte für Falte. Ich will es genau wissen, bis ins kleinste Detail. Und Erin …« Sie wartet, bis ich mich umdrehe. »Ich bin so stolz auf dich.«

Ich lächle, Tränen steigen mir in die Augen. Auch wenn ich es ihr nicht sage: Ohne sie hätte ich mich das niemals getraut. Sie hat mir das nötige Selbstvertrauen gegeben. Ich habe mich getraut, weil ich wusste, dass es sie stolz machen würde.

Nicht weit von unserer Wohnung, an der Brücke Richtung Ruskin Park, befindet sich ein öffentlicher Bücherschrank, aufgestellt »in liebevoller Erinnerung an Eileen Gladys Day«. Wenn ich dort vorbeikomme, nehme ich ab und zu Bücher mit, habe aber noch nie selbst welche hingebracht. Bis heute.

Es ist fast nie jemand dort, und als er in Sicht kommt, muss ich lächeln. Der Schrank ist alt, und irgendjemand hat ihm ein Dach verpasst, sodass er wie ein Häuschen aussieht. Hellgelb, mit blauem Türrahmen, geriffelten Glasscheiben und drei spärlich gefüllten Regalen. Ich hole meine Bücher aus dem Koffer und stelle sie hin, wo noch Platz ist. Moderne Klassiker. Das Buch über die in vierundzwanzig Stunden drohende Apokalypse, letztes Jahr sprachen alle davon. Und noch ein paar andere vom selben Autor, gute Ferienlektüre. Je mehr Bücher ich dazustelle, desto gespannter bin ich auf diejenigen, die zu Hause auf mich warten. Und desto mehr habe ich das Gefühl, das Richtige zu tun.

Marie Kondo rät dazu, in solchen Momenten nicht genau hinzuschauen, weil man sonst vielleicht schwach wird.

»Du bringst keine Freude. Du bringst keine Freude. Und du bringst auch keine Freude«, murmele ich wie ein Mantra vor mich hin, während ich die Regale fülle.

Als ich das letzte Taschenbuch hineingestellt habe, ziehe ich den Reißverschluss des Koffers wieder zu und seufze.

Es macht mich glücklich, wenn ich mir vorstelle, dass andere Menschen diese Bücher lesen. Und darin etwas finden, das mir verborgen geblieben ist. Oder sie an Orte mitnehmen, die ich nicht kenne.

Auf dem Heimweg fühlt der Koffer sich natürlich viel leichter an, weil er leer ist, aber zu meiner Überraschung fühle ich mich ebenfalls leichter. Heute habe ich es endlich geschafft. Ich habe mein Leben von allem Ballast befreit und bin bereit, neu anzufangen. Das war überfällig.

Ich hätte mein Leben schon viel früher ändern sollen.

Ich habe es Bonnie bereits vor drei Jahren versprochen. Ich habe es ihr an dem Tag versprochen, als sie starb.

2

James

Bist du bereit für heute Abend, JJ?«, fragt Mum, als ich von meiner morgendlichen Laufrunde zurückkomme.

Ich bin so erleichtert darüber, sie frisch geduscht und angezogen zu sehen statt im Morgenmantel auf dem Sofa zusammengerollt, dass ich sie spontan umarme und ihr einen Kuss auf den Kopf gebe. Ich bin ein ganzes Stück größer als sie.

»Wenn du dorthin willst, gehen wir dorthin«, sage ich, bevor ich sie loslasse.

Da es Mum nun wieder besser geht, fahre ich morgen nach London zurück. Heute Abend will sie mit mir zusammen auf das Spendenevent fürs Hospiz gehen. Seit drei Jahren, immer im September, findet es in der örtlichen Konzerthalle statt, dem Cheese and Grain, zu Ehren von Bonnie, einer Schulfreundin von mir. Ich habe wirklich nicht die geringste Lust auf ein Wiedersehen mit meiner alten Klasse, doch Mum zuliebe komme ich mit, weil gemeinsame Unternehmungen mit ihr fast nie möglich sind, und sie freut sich schon so.

Sie hat die ganze Nacht damit verbracht, mein Kostüm zu nähen, und es ist sogar gut geworden. Zu gut. Peinlich gut. Ich werde darin wie ein Vollidiot aussehen. Und mich fühlen, als wäre ich wieder in der Schule: Kaum betrete ich den Raum, brechen alle in Gelächter aus.

»Die Idee ist wirklich lustig, findest du nicht? Irgendwas, was mit B anfängt. Vielleicht klau ich sie nächstes Jahr für meine eigene Party.«

Wenn Mum eine schlimme bipolare Episode überstanden hat, setzt sie immer große Hoffnungen in ihren Geburtstag.

Da sitzt sie nun mit rosigen Wangen und funkelnden Augen, als wären die letzten sechs Wochen nie passiert. Sechs Wochen lang ist sie nicht aus dem Bett gekommen und hat ausschließlich Brathuhn gegessen. Hat jeden Vorschlag abgelehnt, mal aus dem Haus zu gehen, und so lange und bitterlich geweint, dass Dad und ich mehrmals den Arzt rufen mussten.

Als Elliot und ich noch klein waren, nannte Dad ihre Krankheit »Die kleine Raupe Nimmersatt«. Er erzählte uns, dass Mum sich in einen Kokon einspinnen würde, um nach einer Weile als wunderschöner lebenshungriger Schmetterling wiederaufzutauchen und dann all die Tage nachzuholen, die sie verpasst hatte.

»Eine Party ist es vielleicht nicht gerade, Mum. Aber mach ruhig. P wie Patricia klingt definitiv nach tollen Kostümen. Pampelmuse … Pimp …« Mir gehen die Ideen aus, doch das ist egal. Mum sitzt schon wieder in der Küche an der Nähmaschine und macht sich an Dads Outfit.

»Ich geh mich schnell umziehen«, sage ich und schnappe mir ein Glas Wasser. Dad sitzt am Tisch und spielt Diamond Crush. Das hat man davon, wenn man seinem Vater beibringt, wie man sein iPhone benutzt.

Nach dem Duschen ziehe ich eine Jeans und ein T-Shirt aus meinem vollgepackten Koffer, der seit sechs Wochen auf dem Boden liegt und auf den Tag wartet, an dem ich ihn wieder zuklappen und in mein anderes Leben in London zurückkehren kann.

Inzwischen habe ich mich an das Hin und Her zwischen meinen beiden Leben gewöhnt. An mein altes Kinderzimmer mit dem schmalen Bett in der Ecke und dem Schreibtisch am Fenster, den ich für Zoom-Meetings und Remote-Schulungen hergerichtet habe. An die Managementbücher, die ich zwischen die Bücher meiner Schulzeit gequetscht habe, Sieben Wege zur Effektivität und Wie man Freunde gewinnt neben Fänger im Roggen und Porträt des Künstlers als junger Mann. In meinem Zimmer in London, genauer gesagt in Penge, befindet sich viel weniger von mir, nur Klamotten und etwas Kleinkram in einer Schublade. Ich habe es von meinem Uni-Kumpel Nathan gemietet, aber zumindest das wird sich bald ändern. Seine Freundin Hannah will zu ihm ziehen, also muss ich mir eine neue Unterkunft suchen.

»Betrachte es als Chance«, hat mein bester Kumpel Joel gesagt, als ich ihm davon erzählte. »Endlich kannst du aus diesem Kaff raus und dich ins Leben stürzen. Genug Kohle hast du ja.«

Bei Joel dreht sich alles um Geld. So kam es dazu, dass ich bei Big Impressions Training gelandet bin. Da ich keine Ahnung hatte, was ich machen sollte, hielt ich mich einfach an Joels Motto: Wenn du nicht weißt, worin du gut bist, such dir ’nen Job, der dich stinkreich macht.

Das Gehalt eines Bankers lässt sich natürlich kaum toppen, aber meine neueste Beförderung hat mich dieser Liga immerhin ein Stückchen näher gebracht.

 

»Ich geh in die Stadt«, rufe ich auf dem Weg zur Haustür.

Dad taucht auf, er trägt Jeans, T-Shirt und Weste, sein langes graues Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden.

»Ich komme mit«, sagt er und schaut in die Küche. »Wenn es dir nichts ausmacht, Schatz?«

Er geht kurz hinein, um Mum einen Kuss zu geben.

Wir machen uns auf den kurzen Fußmarsch ins Stadtzentrum, die Kopfsteinpflastergasse hinunter, die zu den Geschäften führt.

»Ich wollte noch ein letztes Mal beim Buchladen vorbei.«

»Die in London haben alle zugemacht, oder?«, grinst er mich an.

»Wenn du mich ab und zu besuchen kämst, wüsstest du’s«, erwidere ich und schaue ihn an. Seine Welt ist hier. »Vermisst du’s manchmal?«

Dad war ein waschechter Londoner, bis er Mum begegnete. 1974 tauchte sie bei einem seiner Konzerte in der ersten Reihe auf, und damit war die Sache gegessen. Er wusste es einfach. Von dem Moment an waren sie unzertrennlich. Als es ein paar Jahre später mit seiner Karriere bergauf ging, entschied er sich leider für Frome, wo erst Elliot und dann ich zur Welt kamen.

»Klar«, sagt er und winkt der Verkäuferin des Feinkostladens am oberen Ende der Catherine Hill durchs Schaufenster zu. »Aber wenn ich es vermisse, fällt mir sofort wieder ein, warum ich dort weg bin und was ich dadurch bekommen habe.«

Manchmal versuche ich, Dad dazu zu bringen, seine wahren Gefühle zuzugeben. Denn ich kaufe ihm seine Haltung nicht ab. Das Leben, für das er sich damals entschied, bedeutet, dass er bis in alle Ewigkeit als »One-Hit-Wonder« abgestempelt sein wird. Wann immer ein Zeitungsbericht über ihn erscheint, wird ihm dieses Etikett verpasst. Der Mann hinter dem Titelsong des Blockbusters Nobody Boy, Der Junge, der ein Niemand war, der seine Karriere als Sänger an den Nagel hängte. Ich kann mir nichts Schlimmeres vorstellen, aber ihm scheint es nichts auszumachen.

Er hat sich jedenfalls nie dafür geschämt, dass er früher Support Act auf der Stadiontour von Fleetwood Mac war und dann als Ausfahrer bei Domino’s Pizza endete. Er hat sich selbst dann nicht geschämt, als ich meinen besten Grundschulfreund Geoff in den Sommerferien, bevor wir auf die Gesamtschule wechselten, einmal mit nach Hause brachte und Geoff beim Anblick meines Vaters, der in seiner blauen Polohemd-Uniform mit den roten Punkten und einer Baseballkappe mit Logo drauf die Treppe heruntergerannt kam, in Gelächter ausbrach.

»Ich bring uns nachher doppelte Peperoni-Pizza mit«, rief Dad und tätschelte mir den Kopf. Ich wich vor ihm zurück, während Geoff mir gackernd die Treppe hoch folgte.

An unserem ersten Tag auf der Gesamtschule hatte er schon allen davon erzählt. Rückblickend kommt es mir manchmal so vor, als hätte damals die schlimmste Zeit meines Lebens begonnen.

Dad und ich schaffen solche Spaziergänge in die Stadt nur selten. Bis vor ein paar Tagen musste Mum noch rund um die Uhr betreut werden. Wir haben uns abgewechselt. Ich bin insgeheim wütend auf Elliot, weil ihm das Helfen erspart bleibt, aus rein geografischen Gründen. Er lebt als Vollzeit-Dad in New York, und selbst wenn er es anbieten würde – was er noch nie getan hat – und den dreijährigen Jordan mitbrächte, wäre das zu viel für Mum. Sie würde nicht wollen, dass er sie so sieht.

Im Laufe der Jahre sind wir auch so ganz gut darin geworden, Dad und ich. Er hat kein schlechtes Gewissen mehr, mich zu fragen. Und ich biete meine Unterstützung inzwischen früher an: sobald Mum innerhalb von vierundzwanzig Stunden nicht auf eine Nachricht reagiert oder Dad »passt schon« antwortet, wenn ich ihn frage, wie es ihm geht. Wir sind ein eingespieltes Team, weil es nur so funktioniert.

»Hoffentlich ist es diesmal eine gute und lange Phase«, sage ich, als wir an dem großen Secondhandladen vorbeikommen, meinem Hauptzeitvertreib auf diesem Trip.

Dad zuckt die Schultern. »Man muss eben jeden guten Tag genießen«, sagt er. »Und für schöne Erinnerungen sorgen, von denen man zehren kann.«

Ich werfe ihm einen Blick zu, diesem Mann, der sein Leben so selbstlos aufgegeben hat, um sich um meine Mutter zu kümmern. Der sich nie mehr wünscht als das, was er hat. Ich setze an, etwas zu sagen. Wie bewundernswert sein Verhalten ist. Was für ein guter Mensch er ist. Ich sollte sagen: »Wie du dich um diese Familie kümmerst, ist wirklich heldenhaft. Du bist der Klebstoff, der uns alle zusammenhält. Ohne dich brächen wir auseinander.« Doch ich bringe es nicht über mich. Denn seine Entscheidungen, wie heldenhaft sie auch gewesen sein mögen, haben dazu beigetragen, dass meine Schulzeit die Hölle war. Es verging kein einziger Tag, an dem ich nicht angepöbelt, ausgelacht, angespuckt oder getreten wurde, von den Kaugummis, die sie mir ins Haar klebten, ganz zu schweigen. Ich wurde regelmäßig von einer Horde Jungs umkreist, die drauf und dran waren, mir etwas anzutun, außer es gelang mir irgendwie, sie davon abzuhalten.

Außerdem machten sie sich einen Spaß daraus, mir mehrmals am Tag Dads einzigen Riesenhit Do You Know Me,Weißt du, wer ich bin?, ins Gesicht zu brüllen.

Wir spazieren an dem italienischen Restaurant vorbei, das vor drei Jahren gebaut wurde. Ich erinnere mich daran, weil Mum damals eine ihrer schlimmsten Phasen hatte. Ich war so lange zu Hause bei meinen Eltern, dass ich den gesamten Bau mitverfolgen konnte. Als wir am Buchladen ankommen, ist der Moment, Dad etwas zu sagen, verstrichen. Aber ich sollte das irgendwann einmal nachholen.

Ich lege die Hand auf die Tür, um sie aufzudrücken, doch dann sehe ich durch die Glasscheibe eine Frau vor einem der Bücherregale stehen und halte inne. Ihr langes braunes Lockenhaar erkenne ich auf Anhieb, sie hat es sich hinters Ohr gestrichen, wie damals in der Schule. Sie trägt einen bodenlangen weißen Rock, dazu schwarze Docs und eine Lederjacke. Ich bin schon so oft nach Frome zurückgekehrt, und doch habe ich sie kein einziges Mal gesehen. Nicht seit dem Tag, als sie von der Schule abging. Ich strecke den Arm aus, um Dad zurückzuhalten, und beobachte, wie sie ein Buch aus dem Regal nimmt und sich in den Text auf der Rückseite vertieft. Ich komme oft in diesen Laden und weiß genau, vor welchem Regal sie steht. Vor dem Ratgeber-Regal.

»Lass uns lieber ein Bier trinken gehen«, sage ich zu Dad und schlendere Richtung Pub, damit Erin Connolly ungestört weiterschmökern kann.

 

Genau in dem Moment, als ich mein Kostüm anziehen will, ruft Elliot an. Wenn ich zu Hause bei Mum bin, macht er das jeden Tag, um sein schlechtes Gewissen zu beruhigen. Als ich noch in der Pubertät war, brach er mal zwei Jahre lang den Kontakt ab, aber das scheint er vergessen zu haben. Er ruft an, als sei es das Natürlichste der Welt für ihn.

»Wie geht’s denn so im Irrenhaus?«, fragt er. Im Hintergrund läuft irgendeine Kindersendung mit kreischenden Stimmen und dröhnenden Soundeffekten.

Wenn du ab und zu heimkämst, wüsstest du’s. Die Worte liegen mir auf der Zunge, doch ich spreche sie nicht aus. Die Gespräche, die ich mit meinem Bruder führen will, finden meist nur in meinem Kopf statt.

»Jeden Tag ein bisschen besser.«

»Super. Diesmal ging’s ziemlich schnell vorbei, oder?« Er klingt fröhlich. Euphorisch. Als wäre die Normalität zurückgekehrt. Ich hatte allerdings nicht das Gefühl, dass es schnell vorbeiging, denn wegen unserer Mutter musste ich wochenlang bis drei Uhr nachts wach bleiben und morgens zu Beginn der Sprechstunde mehrmals den Arzt anrufen.

»Ja. Es geht ihr gut.«

»Hast du mal eine unserer alten Pisten ausprobiert, seit du zurück bist?«

Mir schnürt es das Herz zusammen. Als ich in der sechsten Klasse war, holte Elliot mich nach der Schule oft ab, Mountainbikes im Kofferraum seines Wagens, und dann kurvten wir durch ganz Somerset oder noch weiter, um neue Downhill-Pisten zu finden. Je steiler und schlammiger, desto besser. Dann hatten wir unsere besten Gespräche.

»Leider keine Zeit gehabt.« Ohne dich würde ich das niemals machen.

Wir schweigen beide.

»Wie geht’s dir?«, frage ich schließlich.

Er seufzt. »Geht so. Ich wünschte, Carl würde nicht die Hälfte seiner Zeit an der Westküste verbringen.«

Immer wenn er Carl erwähnt, zucke ich innerlich zusammen. Natürlich ist es unfair, Carl die Schuld dafür zu geben, dass Elliot in meinem Leben fehlte, aber ich kann nicht anders. Ja, mein Bruder ist weggegangen, aber was ihn dort hält, ist sein Ehemann.

»Tut mir leid, das zu hören.«

»Hast du dein Kostüm schon an, JJ?«, ruft Mum von unten.

Als sie es mir in die Hand drückte, sagte sie, wie schade es sei, dass Elliot nicht dabei sein könne. Aber das ginge natürlich nicht, denn er müsse sich ja um seinen kleinen Sohn kümmern, und er sei wirklich ein großartiger Vater. Doch bei mir ist es gar nicht der Rede wert, dass ich meinen Eltern zuliebe mein Leben hintanstelle. Es wird sogar von mir erwartet. Von Mums Goldjungen natürlich nicht. Aber Elliot ist ja auch nicht dafür verantwortlich, dass Mum krank ist.

»Ich muss jetzt los«, sage ich und lege auf. Wie kann es sein, dass ich meinen Bruder vermisse, wo ich doch eben erst mit ihm telefoniert habe?

 

Helenas Reaktion bestätigt, dass meine Verkleidung zu weit geht. Sie öffnet uns die Tür in einem hautengen schwarzen Kleid, dazu trägt sie ein Bandana. Sie sieht genauso aus wie vor fünfzehn Jahren, als wir beide noch zur Schule gingen.

»Ach du Scheiße, James. Willst du den Preis für das beste Kostüm abräumen?«

Ich bin ein Buch. Große Erwartungen von Charles Dickens, genauer gesagt. Das Kostüm ist aus dunkelblauem Samt, der Titel ist in Goldbuchstaben vorn auf das Oberteil gestickt. Gekrönt wird das Ganze von einer dunkelblauen Kappe mit einer goldenen Quaste, die wie ein Lesezeichen hinabhängt.

Ich seufze. Von dem Preis wusste ich nichts, aber natürlich werden jetzt alle denken, ich hätte es darauf abgesehen.

»Aber schön, dass du dich rasiert hast. Jetzt kann ich immerhin dein perfekt geformtes Kinn bewundern.«

Sie fasst mir unters Kinn und zieht mich zu sich.

»B wie Bandana. Wir haben es mit unseren Kostümen vielleicht etwas übertrieben.« Ich beuge mich vor und gebe ihr ein Küsschen. Hinter mir tauchen Mum und Dad auf.

»Wow, Trish, du siehst göttlich aus«, sagt Helena über meine Schulter hinweg. »Gareth, wie willst du denn mit dem Schnuller im Mund etwas trinken?«

»Trish hat ein Strohhalmloch reingebohrt«, sagt Dad mit unverhohlenem Stolz.

Zusammen laufen wir zum Cheese and Grain, wobei mein Buchkostüm wie eine Art Kraftfeld funktioniert, dessen Seiten Helena davon abhalten, mir zu nah zu kommen. Ist wohl auch besser so, da ich ja morgen früh nach London zurückfahre. Das Ganze ist eh nur ein Frome-Ding. Angefangen hat es vor etwa zwei Jahren, als sie mir zufällig im Garden Café über den Weg lief. Ich war dort hingegangen, weil ich etwas Abstand von Mum brauchte. An dem Tag war Mum schlecht drauf und ließ es an mir aus. Ich sei ein Nichtsnutz. Ich solle verschwinden. Sie habe mich nicht darum gebeten zu kommen. Sie brauche meine Hilfe nicht. Es sei alles meine Schuld. Alles. Manchmal wünschte sie, sie wäre nie …

Ich war aus der Tür, bevor sie es laut aussprechen konnte.

Helena kam an dem Tag auf mich zu. Sie kannte mich noch aus der Schule. Sie setzte sich einfach zu mir, ohne vorher zu fragen, und bestellte ein Stück Kuchen mit zwei Gabeln dazu. Und dann erzählte sie mir, was für einen lustigen Tag sie gehabt habe, wie sie ihrem Schirm hinterhergejagt sei und dabei den örtlichen Abgeordneten angerempelt habe, als der aus seinem Büro trat. Nach fünf Minuten und drei Kuchenbissen hatte ich meine Probleme zu Hause ebenso vergessen wie die Tatsache, dass Helena zum Dunstkreis der Gruppe gehörte, die mir damals in der Schule das Leben zur Hölle gemacht hatte.

Einmal, als wir zusammen im Bett lagen, sprach sie davon. Sie schien jahrelang nicht mehr daran gedacht zu haben.

»Meine Güte, haben die anderen damals nicht einen Song über dich erfunden oder so was?«, fragte sie und lachte sogar. Ich erstarrte neben ihr, presste die Kiefer zusammen und wartete. Worauf, weiß ich nicht. Vielleicht auf eine Entschuldigung. Stattdessen sagte sie: »Ich hatte wirklich die schlimmste Frisur von allen.«

Das ist nun etwa zwei Jahre her, und inzwischen mag ich sie sogar. Sie hat Verständnis für meine familiäre Situation. Sie wird nie sauer, wenn ich ihr in letzter Minute absagen muss oder wenn ich sie sofort sehen will, weil mir bei meinen Eltern die Decke auf den Kopf fällt. Und sie scheint es total locker zu nehmen, wenn ich wieder nach London verschwinde.

»Und, Koffer schon gepackt?«, fragt sie, als wir uns in die Warteschlange der Bierflaschen, Bambis, Buddhisten und Bananen stellen.

»Hab ihn ja nie richtig ausgepackt«, sage ich achselzuckend, und sie lacht.

»Natürlich nicht.«

»Was willst du damit sagen?«

»Na ja, auspacken wäre, als würdest du dich darauf einlassen zu bleiben. Dich mit deinem Leben hier zu arrangieren. Aber du kannst es nur durchhalten, wenn du dir vor Augen führst, dass es nicht für immer ist.«

Ich schaue sie stirnrunzelnd an. Stimmt das? Will ich mir tatsächlich vor Augen führen, dass es nicht für immer ist? Denken nicht alle so?

»Hach, ist das aufregend!« Mum beugt sich von hinten zu mir, ihr Bienenfühler kitzelt meine Wange.

Wenigstens lenkt Helena mich davon ab, dass ich mir den Kopf zerbreche, wem ich hier begegnen werde. Wobei ich vermutlich ohnehin niemanden erkennen würde. Alle sind verkleidet, und als wir in die Halle kommen, ist es ziemlich düster, abgesehen von den blitzenden Discolichtern. Musik hämmert aus den Lautsprechern. Dad zieht sich die Windel hoch und fängt an, mit Mum zu tanzen. Um für eine schöne Erinnerung zu sorgen, von der er zehren kann.

Helena entdeckt ein paar Bekannte auf der Tanzfläche und verschwindet. Ich schlendere zur Bar und bestelle Sekt.

»Übrigens habe ich gute Neuigkeiten«, rufe ich, als ich Mum und Dad ihre Gläser reiche. Ich wollte damit warten, bis es Mum besser geht. Ich wollte es dieser Version von ihr erzählen, nicht der anderen. »Ich kann euch demnächst etwas mehr Geld schicken. Ich bin zum Partner befördert worden.«

Ihre Gesichter leuchten auf, und Mum kreischt so laut, dass ich die Blicke der anderen spüre, aber es ist mir egal. Dad schaut kurz weg und tätschelt mir die Schulter.

»Bin stolz auf dich«, sagt er und erhebt sein Glas. »Aber mach das nicht unsretwegen. Wir brauchen das Geld nicht unbedingt.«

»Das ist das Mindeste, was ich tun kann«, sage ich. Dad runzelt die Stirn. Mustert mich mit seinen hellbraunen Augen. Setzt an, etwas zu sagen.

»Letzter Aufruf für alle, die beim Talentwettbewerb mitmachen wollen!«, kommt ihm eine dröhnende Stimme aus den Boxen zuvor.

»Wie wär’s, JJ, willst du nicht dein Kapitel vorlesen?«, fragt Dad schließlich und lässt mich nicht aus den Augen. Ich versuche, mir nichts anmerken zu lassen, verdrehe lachend die Augen, doch als er mein Kapitel erwähnt, stockt mir der Atem. Ich wünschte, ich hätte ihm nie davon erzählt, weil er immer wieder damit anfängt. Vor ein paar Jahren habe ich in London an einem Kurs für kreatives Schreiben teilgenommen, bei dem es auch einen Wettbewerb für das »beste erste Kapitel« gab, und ich kam auf die Shortlist. Seither habe ich meinen Text nicht mehr angerührt, er ist auf meinem Laptop gespeichert. Besser, ein perfektes Bruchstück zu haben, als zu versuchen, die Geschichte weiterzuschreiben und alles zu ruinieren.

»Kann ich machen – wenn du deine Weihnachtssingle singst, die nie erschienen ist«, erwidere ich mit hochgezogener Braue.

Dad legt den Arm um Mum und zieht ebenfalls die Braue hoch. »Da habe ich wohl einen Nerv getroffen.«

3

Erin

Ich zwänge mich durch die Doppeltür des Cheese and Grain. Hoffentlich gehen meine bereits lädierten Buchseiten aus Pappe dabei nicht kaputt. Irgendwann schluckte ich meinen Stolz hinunter und rief meine Schwester Georgia an, um zu fragen, ob sie mir mit meinem Kostüm hilft. Sie willigte ein, aber nur, weil ich meinte, es sei kein großer Aufwand. Sobald jemand niest, fällt das ganze Ding auseinander. Auf die Vorderseite hat sie mit Filzstift One Night in Erin geschrieben.

Georgia hat sich als Barbie verkleidet, stilecht mit neonrosa Schlauchtop und Langhaarperücke über ihrem kurzen braunen Bob. Das Outfit ist so untypisch für sie, dass es mir vorkommt, als wäre ich mit einer Fremden unterwegs.

»Dir ist aber schon klar, dass ›Erin‹ nicht im Geringsten wie ›Heaven‹ klingt?«, sage ich, während ich ihr zur Bar folge.

»Schlechte Wortspiele sind noch lustiger als gute.« Sie dreht sich um und zwinkert mir zu, ihre pinken Lippen glänzen im Licht.

Dann endet das Gespräch, denn vor uns erscheint die Fotowand von Bonnie. Die Bilder sind so stark vergrößert, dass man glauben könnte, sie wäre hier in diesem Raum. Auf das größte Foto war sie immer besonders stolz. Das Porträt entstand, als sie mit sechsundzwanzig Herausgeberin der Zeitschrift Voice wurde – die jüngste, die es dort jemals gegeben hat. Sie arbeitete ein knappes Jahr bei Voice.

Ich lasse Georgia an der Bar zurück, steuere auf die Wand zu und lasse den Blick über die Bilder schweifen. Bonnie als Baby mit dichten Locken. Bonnie als widerspenstiger Teenie, die Arme verschränkt, stets dieselbe Cargohose an. Bonnie und ich im The Griffin, diesen Pub mochte sie in Frome am liebsten. Mir war gar nicht bewusst, dass sie dieses Foto haben. Es wurde an dem Abend aufgenommen, als sie sich wünschte, noch einmal auszugehen, so wie früher. Eigentlich ging es ihr nicht gut genug, aber sie wollte es unbedingt, und irgendwie schaffte sie es. Zwei Wochen danach war sie im Hospiz. Vier Wochen später war sie tot.

An jenem Abend trug sie Pailletten. Sie wollte über Jungs und das Leben reden, wie wir es immer taten, nur dass es diesmal einen großen Unterschied gab. Wir konnten nur noch über meine Zukunft reden, nicht mehr über ihre. Es fiel mir schwer, mich so wie sonst zu verhalten. Wie konnte sie das von mir erwarten, wo sich doch alles verändert hatte?

»Ich möchte dich etwas fragen«, sagte sie. Wenn dieser Satz von ihr kam, wurde mir jedes Mal mulmig. »Was macht dich glücklich? Wirklich glücklich?«

»Du«, antwortete ich ohne Zögern. Sie verdrehte die Augen.

»Ich wollte gerade sagen, dass es keine Person sein darf.«

Ich schaute sie an. Schwarze Lockenperücke, sie sah fast genauso aus wie ihr echtes Haar, bevor es ihr ausfiel. Sie neigte den Kopf zur Seite. Ihre warmen braunen Augen funkelten noch. Das Funkeln war das Letzte, was sie verlor. Ihre Augen waren weit geöffnet, wie immer, wenn sie aufmerksam zuhörte. Sie ist der einzige Mensch, der mich jemals so angeschaut hat.

»Na gut«, sagte ich und griff über den Tisch nach ihrer Hand. »Wenn ich dich nicht nennen darf, würde ich sagen: dich stolz zu machen. Das macht mich glücklich.«

Dann schauten wir uns an, so vieles blieb ungesagt. Wir wussten beide, dass ich in diesem Moment zwar die Wahrheit sagte, aber zugleich andeutete, manchmal nicht ehrlich gewesen zu sein. Eher das Gegenteil.

»Bonnie, ich …«

Sie schüttelte den Kopf. »Schon gut.« Sie lächelte mir zu. »Du brauchst es nicht zu sagen, Erin. Versprich mir nur, dass du ein gutes Leben lebst. Ein glückliches. Du lebst es jetzt nicht mehr nur für dich, verstehst du? Du lebst es auch für mich.«

Mir traten Tränen in die Augen. Ich biss mir auf die Lippe und nickte.

»Falls du mal eine Erinnerungshilfe brauchst«, sagte sie und schob einen Umschlag über den Tisch. »Wehe, du öffnest den jetzt. Dann erzähle ich allen, dass du hinterm Laborraum mal mit Darren Whitcroft rumgemacht hast, obwohl du eigentlich ein Date mit seinem Bruder hattest.«

Ich starrte sie verblüfft an, und bei aller Traurigkeit spürte ich einen Hauch Freude. Bonnie ließ sich gern Drohungen einfallen, um ihren Willen durchzusetzen. Wer würde ihren Platz einnehmen, wenn sie nicht mehr da war?

»Das würdest du nicht wagen.«

»Und ob.«

Ich öffnete den Umschlag erst, als ich nach Hause kam. Er enthielt eine Karte mit einer Zeichnung von A. A. Milne und ein Zitat. Auf die Rückseite hatte Bonnie in ihrer schwungvollen Handschrift nur die Worte geschrieben: Vergiss nicht, all deine Träume wahr werden zu lassen!

Das ist mein kostbarster Besitz.

Georgia gesellt sich zu mir und drückt mir wortlos ein großes Glas Weißwein in die Hand.

»Ich würd dich ja gern umarmen, aber mit dem Kostüm, das ich dir gebastelt habe, geht das leider nicht«, sagt sie und tätschelt mich knapp überm Po, die einzige Stelle, die nicht mit Karton bedeckt ist.

»Ich vermisse sie so«, sage ich. »Ich dachte, es würde leichter werden.«

»Würde es vielleicht auch, wenn du meinen Rat annehmen und mal mit jemandem reden würdest.«

»Das ist nicht fair.« Mir kommen die Tränen. »Ich war bei dem Therapeuten, den du mir empfohlen hast. Dishy Rishi. In seiner Praxis stank es nach Putzmittel, und jedes Mal, wenn ich was gesagt habe, hat er mich angeschwiegen.«

Georgia verdreht die Augen. »Rishi ist einer der Besten, aber er ist nicht der einzige Therapeut auf der Welt. Es gibt buchstäblich Tausende von uns. Und immer mehr Leute wollen Therapeuten werden.«

Sie dreht mich sanft zu sich, damit ich nicht mehr auf die verschiedenen Gesichter meiner besten Freundin starre. Die Halle hinter mir ist nun voller Menschen. Alle kannten und liebten Bonnie. Auf der Bühne stehen mehrere Sammeldosen, die zu weiteren Spenden anregen sollen. Nur noch wenige Minuten, dann beginnt der Talentwettbewerb. Georgia droht, uns beide dafür anzumelden.

Auf der Tanzfläche tummeln sich bereits die ersten Leute, und inmitten dieser Menge steht jemand, der sich ebenfalls als Buch verkleidet hat. Sein Kostüm sieht viel raffinierter aus als meins, es scheint aus Samt zu sein. Und dann bietet sich mir der merkwürdigste Anblick seit Langem, denn als Nächstes legt das Buch die Arme um ein Baby und eine Biene.

Georgia führt mich zu einem der Rundtische in der Ecke und stellt unsere halb leere Weinflasche darauf. Ich deute mit dem Kopf auf ihr Schlauchtop, denn es ist inzwischen so weit nach unten gerutscht, dass ihre Brüste herauszufallen drohen. Sie wirken ungewöhnlich füllig.

»Hast du sie operieren lassen?«, frage ich entsetzt.

Sie hebt die Hand und schiebt die Perücke zurecht. »Ich fühle mich geschmeichelt, aber nein. Hab Klebeband benutzt für den vollen Barbie-Effekt!« Sie zieht das Schlauchtop wieder hoch. »Aber glaub bloß nicht, dass du mich mit Komplimenten ablenken kannst. Also: Warum zum Teufel hast du deinen Job gekündigt?«

Ich zucke die Schultern. In den letzten achtundvierzig Stunden kam mir schon mehrmals der Gedanke, dass ich komplett irre gewesen sein muss. Doch wenn ich mir vorstelle, am Montag wieder dort aufzutauchen und wie stolz Bonnie auf mich wäre, weiß ich, dass ich richtig gehandelt habe.

»Weil ich ihn nur noch schrecklich fand. Charlotte hat mir das Leben zur Hölle gemacht.«

»Ach, komm schon, Erin. Sie war bloß dein neuester Blitzableiter für alles, was in deinem Leben schiefläuft.«

»Was soll das denn heißen?«

»Mum. James. Derek. Charlotte. Sogar Bonnie. Dabei weißt du doch, dass nur ein einziger Mensch für dein Leben verantwortlich ist, nämlich du selbst. Oder?« Sie hebt die Hand, um einem unserer alten Lehrer in Bon-Jovi-Verkleidung zuzuwinken, als sei das, was sie eben gesagt hat, nur eine beiläufige Bemerkung.

»Das ist nicht fair. Charlotte hatte es auf mich abgesehen, weil sie eine Schlampe ist, die …«

»Charlotte hatte es auf dich abgesehen, weil du schon seit Monaten ein depressives Wrack bist und noch immer nichts dagegen unternehmen willst.«

Ich will etwas entgegnen, will die Geschichte, die ich mir selbst einrede, seit Bonnie gestorben ist, verteidigen. Aber ich bringe kein Wort heraus.

»Was hast du denn jetzt vor?«, fragt Georgia mit sanfter Stimme und schaut mich fürsorglich an. »Ich mache mir Sorgen um dich.«

Ich könnte kotzen. Sie stellt genau die Frage, der ich bisher ausgewichen bin, weil ich darauf keine Antwort habe. »Du brauchst einen Plan. Es sei denn, du willst in dieser widerlichen kleinen Wohnung mit deinem nichtsnutzigen Mitbewohner verschimmeln, um dann mit fünfzig festzustellen, dass du dein halbes Leben verschwendet hast, im festen Glauben, jemand anders ist dafür verantwortlich.«

»Willst du mir etwa eine Motivationsrede halten?«

»Bin ich jetzt die Nächste auf deiner Du-bist-schuld-Liste?«

»Hör auf, darauf rumzureiten!«, keife ich und kippe meinen Wein hinunter. Sie greift nach meiner Hand.

»Darf ich dir ein paar Vorschläge machen?«

Ich spare mir eine Antwort, weil sie so oder so weiterreden wird.

»Sprich mit jemandem über Bonnie. Und am besten auch über dein ganzes Leben. Versuch, einen Sinn in alldem zu finden. Und such dir endlich einen Job, der dir Spaß macht, damit ich nicht mehr jeden Sonntagabend diese Jammernachrichten von dir bekomme.«