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Seit ihre beste Freundin Opfer eines Verbrecherclans geworden ist, ist die Sorge für Camy zum ständigen Begleiter geworden. Umso größer ist die Freude, als sich die beiden nach langer Zeit endlich wieder in den Armen liegen. Doch ihre Unvorsichtigkeit wird Camy schnell bereuen, denn nun haben die Kriminellen auch sie im Visier. Der Einzige, der ihr jetzt noch helfen kann, ist der hitzköpfige Chris. Er ist selbst schon manches Mal mit dem Gesetz in Konflikt geraten und scheut keinen Kampf, um die Menschen, die ihm am Herzen liegen, zu beschützen. Gemeinsam treten Chris und Camy eine verhängnisvolle Flucht quer durch die USA an. Und kommen sich dabei immer näher.
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Seitenzahl: 354
Originalausgabe © 2022 by MIRA Taschenbuch in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg Covergestaltung von zero Werbeagentur, München Coverabbildungen von Getty Images / oxygen, Shutterstock / Carlos Amarillo sowie Shutterstock / Carlos Amarillo E-Book-Produktion von GGP Media GmbH, Pößneck ISBN E-Book 9783745703498www.harpercollins.de
Dieses Buch enthält Szenen von Gewalt und Sexualität.
Für alle, die den Mut haben, die Dunkelheit zu besiegen.
Das Leben zeichnet Narben auf unsere Seele, die nie vollständig verblassen. Man durchquert Orte, die jedes Licht verschlucken und einen in völliger Finsternis zurücklassen. Doch man gibt nicht auf, kämpft und klettert mit letzter Kraft der lang ersehnten Sonne entgegen.
Aber was geschieht, nachdem man endlich im Licht angekommen ist? Wenn plötzlich alles perfekt wirkt und man glaubt, die Narben würden heilen? Wenn der Halt verschwindet, man erneut in die Tiefe stürzt und der Kampf von Neuem beginnt?
»Ich kann nicht mehr.«
»Du musst.«
»Gar nichts muss ich!«, gebe ich zurück und lasse mich auf die feuchte Erde plumpsen. Die Wunde an meinem Kopf tut entsetzlich weh, und jeder einzelne Muskel in meinem Körper brennt vor Erschöpfung. Ich bin eigentlich kein Mensch, der schnell aufgibt oder sich von einer Verletzung schachmatt setzen lässt. Aber das hier ist anders. Mein Geist ist zu erschöpft und mein Herz zu verzweifelt, als dass ich die Kraft aufbringen könnte, mich dagegen zu wehren.
»Du gibst jetzt nicht auf! Nicht nach allem, was du bereits hinter dir hast. Das lasse ich nicht zu!«, ruft sie.
Mit schweren Lidern sehe ich auf. Dass ausgerechnet sie einmal mein einziger Halt sein würde, hätte ich nie erwartet, und mich daran zu erinnern, wie es so weit gekommen ist, presst den letzten Rest Hoffnung aus meinem Herzen. Er sollte vor mir stehen. Sollte derjenige sein, der mich antreibt und stützt – ebenso wie ich diese Person für ihn sein sollte. Doch er ist nicht hier.
So sollte das Leben nicht verlaufen. Es sollte nicht geprägt von Gefahr und Verlust sein, und das war es für viele Monate auch nicht. Unser Leben war voller Liebe, Hoffnung und Wärme. Doch dann tauchte sie auf und entriss mir brutal mein Glück.
Unbändige Wut schießt durch meine Adern und erinnert mich daran, für wen ich mich durch die kalte Nacht quäle. Er ist so viel mehr, als ich je für möglich gehalten habe. Liebe, Glück, Vertrauen und die Sicherheit, niemals allein der Stille entgegentreten zu müssen. Das alles ist er für mich. Wie kann ich also hier sitzen, anstatt zu kämpfen? Wie kann ich aufgeben?
»Wir werden sie dafür leiden lassen«, lasse ich Isabella wissen und sehe sie mit kaltem Blick an.
Ein zufriedenes Lächeln schleicht sich auf ihr schönes Gesicht, ehe sie zustimmend nickt und mir die Hand entgegenstreckt. »Das werden wir.«
»Aber wie?«
Isabella grinst teuflisch und zieht unheilvoll eine Braue in die Höhe. »Mit allen Mitteln.«
Eineinhalb Jahre zuvor, als die Vergangenheit begann, die Zukunft zu formen.
Camy
»Wenn ihr so weitermacht, schneide ich euch ab!« Es ist ein ständiger Kampf, aus meinen wilden Locken eine halbwegs brauchbare Frisur zu zaubern. Nachdem ich für heute gewonnen und meine schwarze Mähne zu einem hohen Knoten zurückgebunden habe, tänzle ich aus dem Bad. Ich entferne mein Smartphone aus der Dockingstation neben meinem Bett, wodurch die ohrenbetäubend laute Musik abrupt verstummt und es plötzlich viel zu leise wird. Seit ich alleine lebe, drehe ich Johnny Cash, Hank Williams und Faith Hill so laut auf, dass es die Wände zum Vibrieren bringt. Ich liebe Countrymusik – und hasse Stille.
Das Handy verstaue ich in der vollgestopften Ledertasche und schlendere ins Wohnzimmer. Die Wohnung gehört mir, was sich merkwürdig anfühlt und noch merkwürdiger wird, sobald ich es laut ausspreche. Bis vor einigen Monaten habe ich hier gemeinsam mit meiner besten Freundin gelebt, der die Wohnung früher gehörte. Als sich allerdings herausstellte, dass die letzten Jahre ihres Lebens eine Lüge waren und sie zu einer korrupten Familie mit extrem fragwürdiger Moralvorstellung gehört, ist sie ausgezogen und hat mir die Wohnung überschrieben. Ausgezogen ist sie nicht freiwillig, aber das ist eine Geschichte, an die ich jetzt nicht denken möchte. Heute ist endlich der Tag gekommen, an dem meine beste Freundin zu mir zurückkehrt, und das ist alles, was zählt.
Pfeifend schlüpfe ich in meine Sandaletten, schließe die Wohnungstür hinter mir ab und fahre mit dem Fahrstuhl ins lichtdurchflutete Erdgeschoss. Ich weiß noch genau, wie überwältigt ich war, als Violet mir das imposante Gebäude zeigte, in dem wir nach unserem Collegeabschluss zusammen wohnen sollten. Es war, als würde sie auf die Tür zur Zukunft deuten, und ich bräuchte nur hindurchzugehen, um die unendlich vielen Möglichkeiten zu ergreifen. Aber es kam anders. Vor allem für Violet.
Ich schüttle den Kopf, um die Gedanken zu vertreiben, und verlasse das hohe Gebäude. Schlagartig gleitet die Kühle der Klimaanlage von mir ab, und die frühsommerliche Wärme von Texas umfängt mich. Ich heiße die Sonnenstrahlen mit einem glücklichen Seufzen willkommen und recke mein Gesicht gen Himmel. Beinahe verliere ich mich in dem friedlichen Moment, als ich neben mir eine Bewegung wahrnehme. Neben dem Eingang steht ein Mann mit dunklen Haaren und Augen und telefoniert in einer Sprache, von der ich zwar nicht viel verstehe, die ich aber als Spanisch erkenne. Ich trete an ihm vorbei, da hebt er den Kopf und sieht mich ausdruckslos an. Seine dunklen Augen fahren zu auffällig und musternd über mein Gesicht, als dass ich es nicht bemerken würde. Rasch wende ich den Blick ab und sehe mich nach einem Taxi um. Im Normalfall habe ich kein Problem damit, von Männern angesehen zu werden. Aber bei diesem Typen bekomme ich ein beklemmendes Gefühl im Magen. Vermutlich bin ich durch die Geschichte mit Violet übervorsichtig geworden, denke ich. Außerdem wittern meine Reporterinstinkte ständig eine Verschwörung. Berufskrankheit.
In einer Parkbucht, nur wenige Meter entfernt, steht ein Taxi, auf das ich eilig zugehe. Kurz bevor ich beim Taxi ankomme, taucht ein Mann auf, der die Hand an die Wagentür legt. Mist. Ohne lange nachzudenken, setze ich einen verzweifelten Gesichtsausdruck auf und stelle mich dicht neben den hageren Mann mit der altmodischen Brille.
»Verzeihung?«, murmle ich leise und bemühe mich, betont unschuldig und aufgewühlt zu wirken.
»Ja bitte?«
»Dürfte ich das Taxi haben? Ich habe es sehr eilig«, lüge ich in zurückhaltendem Ton. »Ich muss meine kleine Schwester abholen. Sie ist erst neun und steht ganz allein auf der Straße, am anderen Ende der Stadt.«
Der Typ lässt den Türgriff los und tritt zurück. »Das geht natürlich vor, Miss«, verkündet er, ganz der Südstaatengentleman.
»Ich danke Ihnen vielmals. In dieser Stadt sollte ein neujähriges Mädchen wirklich nicht unbeaufsichtigt sein.«
Er nickt verstehend, und innerlich schnaube ich auf. Meine Schwester Olivia ist eigentlich neunzehn Jahre alt und hat bereits mehr Mist angestellt als andere in ihrem gesamten Leben.
Mit dankbarem Lächeln nicke ich ihm ein letztes Mal zu, ehe ich mich ins Taxi setze und die Tür hinter mir schwungvoll zuschlage.
»Wo soll’s hingehen?«, will der Fahrer wissen und wirft mir durch den Rückspiegel einen gelangweilten Blick zu.
»Zum V’s, bitte«, sage ich und streiche mir eine Strähne aus der Stirn. Meine Haare führen ein Eigenleben, das mich beinahe in den Wahnsinn treibt.
In Schritttempo verlässt das Taxi die schmale Parkbucht und steuert an meinem Wohngebäude vorbei, als mich ein helles Licht zum überdachten Eingang sehen lässt. Irritiert starre ich den dunkelhaarigen Typen an, der noch immer dort steht. Er grinst, als sei er extrem zufrieden mit sich, und steckt sein Handy in die Hosentasche. Hat er ein Foto vom Taxi gemacht? Ich schüttle mich und hole tief Luft, um mich von dem zu distanzieren, was mein Reporterhirn sich da zusammenspinnt. Das Licht war vermutlich bloß eine Sonnenspiegelung in der Glastür. Dennoch bleibt ein ungutes Gefühl zurück, das ich nicht loswerde.
Das V’s ist ein Klub im Industriegebiet von Rosehill und gehört Violets Verlobtem Ian Green. Er kaufte die alte Fabrikhalle vor circa zwei Jahren und baute sie zum beliebtesten Klub der Umgebung um.
Voller Vorfreude gehe ich auf die schwarze Metalltür unter dem ausgeschalteten Neonschild zu und klopfe. Das letzte Mal war ich hier, als der Klub erst wenige Wochen geöffnet hatte. Es fühlt sich an, als wäre das eine Ewigkeit her. Damals war alles noch herrlich normal. Ich hatte gerade das College beendet und freute mich auf meinen ersten richtigen Job bei der Rosehill News. Journalistin zu werden, war mein Traum, seit ich denken kann, und endlich wurde dieser Traum wahr. Aber wenn man erwachsen wird, stellt man oftmals fest, dass Träume lieber romantische Vorstellungen hätten bleiben sollen. Die Realität kann die Erwartungen leider nur sehr selten erfüllen.
»Wieso muss ich ausgerechnet jetzt an diesen Mist denken?«, fluche ich, als plötzlich die Tür aufgeht und ein gut aussehender Mann mich breit angrinst.
»Soll ich die Tür noch mal zumachen und warten, bis du mit dem Selbstgespräch fertig bist?«, feixt er und lässt den Blick schamlos über mich gleiten.
Ich versuche ein abfälliges Geräusch hinzubekommen, aber eigentlich bin ich ziemlich angetan von dem, was ich sehe. Denn der Mann ist zum Sterben heiß. Er hat wilde blonde Locken, wodurch ich mich auf merkwürdige Weise mit ihm verbunden fühle. Lockenköpfe verstehen die Tragik des Frisierens, wie es Außenstehende niemals könnten.
Akribisch inspiziere ich sein Gesicht. Er hat hellblaue strahlende Augen, die mich an den Himmel im Sommer erinnern. Auf seiner Nase ist ein leichter Höcker, der beweist, dass sie schon gebrochen war. Die Lippen des Mannes sind perfekt geschwungen und würden sich mit Sicherheit großartig auf meiner Haut anfühlen. Was mir aber endgültig das Wasser im Mund zusammenlaufen lässt, ist sein Körper. Athletisch gebaut in einer V-Form, die mich an einen Schwimmer denken lässt. Breite Schultern, schmale Taille und starke Waden, die sich deutlich unter der dunklen Röhrenjeans abzeichnen. Dazu trägt er ein lässiges schwarzes T-Shirt, das den Blick auf die schwarze Tinte freigibt, die seinen rechten Arm ziert. Ein Tribal, in das Buchstaben eingewoben wurden, die ich nicht entziffern kann.
Würde ich ihn nicht bereits kennen, würde ich bei seinem Anblick Gefahr laufen, schwach zu werden. Allerdings kenne ich ihn, und das schmälert seine Ausstrahlung erheblich.
»Chris«, sage ich knapp und verschränke die Arme vor der Brust. »Was für ein … Nein, ich will nicht lügen. Es ist kein Vergnügen, dich wiederzusehen.«
Der Cousin von Violets Verlobtem grinst, als würde meine abweisende Art ihn freuen. »Camy Owsen. Immer wieder schön, dich zu treffen.«
»Willst du weiter da rumstehen, oder lässt du mich endlich rein?«
»Ehrlich gesagt würde ich lieber weiter hier stehen und den verbalen Schlagabtausch mit dir genießen. Allerdings dreht Vi bald durch, weil sie dich endlich sehen will. Und eine aufgeregte Violet ist keine Freude.«
Ich nicke verstehend und schlängle mich an Chris vorbei in den Klub. Im geschlossenen Zustand wirkt es hier drinnen wesentlich größer und geräumiger. Es gibt auf der unteren Etage des Klubs mehrere Tresen, eine riesige Tanzfläche, eine Garderobe sowie eine ruhige Ecke mit hochwertigen Sofas, die zum Chillen und Unterhalten einladen.
»Wo ist Violet?«, möchte ich wissen und wende mich Chris zu, der die Tür hinter uns abschließt.
Er deutet mit dem markanten Kinn nach links, wo eine Treppe zum VIP-Bereich führt. »Sie wartet oben an der Bar auf dich.«
Mehr muss ich nicht hören, um auf die Treppe zuzueilen. Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, laufe ich hinauf und bleibe am oberen Absatz stehen.
»Violet!«, kreische ich und renne über den dunklen Steinboden auf die Bar am anderen Ende zu. Meine beste Freundin wendet blitzschnell den Kopf von einem Mann ab, der wie immer verboten gut aussieht. Ich nicke ihrem Verlobten Ian flüchtig zu und werfe mich in die Arme meiner besten Freundin.
»Ich hab dich so vermisst«, nuschle ich in ihr offenes braunes Haar.
»Ich dich auch, Camy«, erwidert sie und presst sich fest an mich. »Mehr, als du dir vorstellen kannst.«
Viel zu schnell drückt Violet mich wieder von sich und legt die Hände auf meine Schultern. In ihren großen grünen Augen schimmert es, und ihr hübsches Gesicht ist angespannt. Beinahe wirkt es, als wäre sie traurig, was den Alarm in meinem Kopf augenblicklich zum Schrillen bringt.
»Was ist los?«, will ich wissen.
»Wir müssen reden.«
»Sag nicht, du bist schwanger«, scherze ich lahm und bete innerlich, dass das, was sie mir sagen will, nicht so schlimm ist, wie es den Anschein hat.
Violet holt tief Luft, ehe sie die Bombe zündet und meine gute Laune auf einen Schlag zum Implodieren bringt.
»Ich kann nicht in Rosehill bleiben.«
Camy
Es gibt Augenblicke, in denen man dermaßen fassungslos ist, dass das Gehirn sich kurzzeitig verabschiedet. Der Atem stockt, und das Herz hört auf zu schlagen. So geht es mir, während ich Violet mit aufgerissenen Augen anstarre.
»Wieso?« ist alles, was ich sagen kann.
Ein vernehmliches Räuspern lenkt meinen Blick zu Ian. Er steht hinter dem Tresen aus grauem Naturstein und fährt sich angespannt durchs dunkle Haar. Ian Green ist die große Liebe meiner besten Freundin, und im Grunde ist er ein guter Mensch. Doch er hat eine Vergangenheit, die alles andere als harmlos oder vorbildlich ist und sich nicht so leicht abschütteln lässt. Ihm folgt ein Rattenschwanz aus Problemen, ebenso wie Violet und Chris. Die drei mussten in der letzten Zeit sehr viel durchmachen, und dass sie trotz allem zusammenstehen und die Hoffnung nicht aufgeben, imponiert mir.
»Das FBI hält es für das Beste, wenn wir eine Zeit lang untertauchen«, erklärt Ian tonlos.
»Wieso?«, frage ich erneut und blicke zurück zu Vi.
Sie nagt am Daumennagel, was ein eindeutiges Zeichen dafür ist, wie unwohl sie sich fühlt. »Jack, er …«, setzt sie an. »Sie denken, dass er selbst aus dem Gefängnis heraus noch eine Gefahr darstellt. Die Agents wollen nichts riskieren, das den Prozess gefährden könnte.«
»Sie haben Schiss, die einzigen Menschen zu verlieren, die sich trauen, gegen diesen Arsch vor Gericht auszusagen«, schlussfolgere ich und verkneife mir einen derben Fluch.
Zu sagen, dass ich Jack Hasting aus tiefstem Herzen verabscheue, wäre milde formuliert. Violets Bruder ist der Teufel persönlich und für alles Schlimme verantwortlich, das meiner Freundin in ihrem Leben zugestoßen ist. Als sie vor vier Monaten vor ihm flüchtete, beschlossen sie, Ian und Chris, zum FBI zu gehen und gegen ihn auszusagen. Darin sahen und sehen sie die einzige Chance, um Jack endgültig loszuwerden. Das FBI war natürlich mehr als begeistert, einen der berüchtigtsten Kriminellen der USA auf dem Silbertablett serviert zu bekommen, und schlugen einen Deal vor. Die drei sagen gegen Jack aus, dafür erhalten Ian und Chris Straffreiheit für alle von ihnen begangenen Straftaten, die während des Prozesses ans Tageslicht kommen.
Violet lehnt sich vor und greift nach meinen Händen. »Es geht nicht anders, Camy«, beschwört sie mich eindringlich. »Aber ich verspreche dir, dass es nicht für lange sein wird. Höchstens ein paar Monate, dann geht der Prozess los, und der Mist hat ein Ende.«
Ich will ihr glauben. Will die Sorgen von meinem Herzen schubsen und sie in weite Ferne verbannen. Aber es geht nicht. Das FBI würde ihnen nicht raten unterzutauchen, wenn es nicht nötig wäre. Immerhin kennen sie sich in solchen Dingen aus. Und wenn sie sagen, dass dieser Kriminelle sogar von seiner Gefängniszelle aus noch für Ärger sorgen könnte, müssen wir das ernst nehmen.
Jack und Violet erbten das Familienunternehmen, nachdem ihre Eltern starben. Klubs, Bars und Bordelle in den gesamten USA gehörten plötzlich ihnen, ebenso wie die illegalen Geschäfte, die in dessen Hinterzimmern liefen. Vi war am Geschäft nicht interessiert und überließ Jack die Führung. Aber das reichte ihrem großen Bruder nicht. Er wollte alles. Die Fäden in der Hand haben und nichts vom Gewinn an seine Schwester abtreten müssen. Als er außerdem erfuhr, dass Violet sich mit Ian Green eingelassen hatte, kam das für ihn einem Hochverrat gleich. Die Familie von Ian und Chris ist – beziehungsweise war – in derselben Branche tätig wie Violets. Sie waren erbitterte Konkurrenten. Zwei Fliegen mit einer Klappe für Jack: Violet sollte für ihren Verrat büßen und ein für alle Mal von der Bildfläche verschwinden.
Nach einer folgenschweren Nacht verlor Violet ihr Gedächtnis, und Ian versteckte sie vor ihrem Bruder. Eine Zeit lang ging das gut, aber die Erinnerungen kamen nach und nach wieder, sie fand zu Ian zurück, und das Chaos begann.
»Ich verstehe das«, erwidere ich nach einigen Sekunden und ringe mir ein falsches Lächeln ab. »Außerdem ist es ja nur für eine gewisse Zeit. Jack wird für immer mit einer Gemeinschaftsdusche klarkommen müssen, und du bist frei und sicher. Es wird sich ganz bestimmt regeln«, lüge ich.
»Camy hat recht«, mischt Ian sich ein. »In wenigen Monaten ist dieser Mist erledigt, und wir können nach vorne sehen.«
»Hey«, witzle ich und löse meine Hände von Violets. »Nach vorne sehen bedeutet hoffentlich nicht, dass ihr mich zurücklasst.«
Ian hebt eine Braue und versucht das Zucken seiner Mundwinkel zu unterdrücken. »Dich würden wir ohnehin nicht loswerden, selbst wenn wir es versuchen würden.«
Mit bemüht ernstem Gesicht nicke ich und deute mit dem Finger auf ihn. »Damit hast du verdammt recht, Mister.«
Das befreite Lachen von Violet ist Balsam für mein blutendes Herz. Nie hätte ich gedacht, dass es einen Menschen geben könnte, der für mich ebenso wichtig wird wie meine Familie. Ich habe nicht viele Freunde, weshalb mir die Bindung zu Vi umso mehr bedeutet. Natürlich gibt es Leute, mit denen ich hin und wieder Zeit verbringe. Immerhin bin ich kein verschrobener Einzelgänger. Außerdem habe ich eine wundervolle Familie, an die ich mich immer wenden kann. Aber die Familie sucht man sich nicht aus. Man wird hineingeboren, ohne eine Wahl zu haben. Entweder man hat Glück, so wie ich, und man bekommt eine Gemeinschaft geschenkt, in der man sich sicher und geborgen fühlt. Oder man hat Pech und steht trotz Blutsverwandtschaft alleine da. Sich anzufreunden hingegen ist eine freie Entscheidung. Eine bewusste und durchdachte Handlung, die aus genau diesem Grund so viel bedeutet.
»Also, wann müsst ihr gehen?«, will ich wissen, und abrupt verstummt Violets Lachen.
»Morgen.«
»Morgen schon?«, wiederhole ich erschrocken. »Aber dann bleibt uns ja kaum Zeit! Und wo sollt ihr überhaupt hin?«
Ian legt tröstend eine Hand auf die Schulter seiner Verlobten und schüttelt den Kopf. »Das wissen wir noch nicht. Sie haben uns nur gesagt, dass wir unsere Angelegenheiten regeln und bei Sonnenaufgang bereit sein sollen. Glaub mir«, setzt er nach. »Ich hasse die Situation ebenso wie ihr. Aber zu Violets Sicherheit gibt es keinen anderen Weg.«
»Du lässt dich doch sonst auch von keinem einschüchtern!«, entfährt es mir, und ich überkreuze anklagend die Arme vor der Brust. »Krumme Dinger sind dein täglich Brot, aber gegen einen Typen hinter Gittern bist du machtlos?«
»Verdammt noch mal, Camy!«, ruft er und reißt hilflos die Arme in die Luft. »Was soll ich deiner Meinung nach tun? Vi bis zum Ende ihres Lebens verstecken? Du weißt genauso gut wie ich, dass das nicht funktioniert. Den Dreckskerl hinter Gittern zu halten, ist die einzige Chance, die wir haben«, setzt er nach. »Es muss ein Urteil gesprochen werden, das ihn für lange Zeit einsperrt, damit seine Angestellten und Geschäftspartner wissen, dass es sich nicht länger lohnt, ihn zu unterstützen.«
»Das weiß ich auch!«, lenke ich ein und seufze tief. »Sorry, ich wollte nicht so irrational sein, aber ihr habt mich überrumpelt.« Ich wische mir eine imaginäre Strähne aus der Stirn und setze mich auf den Barhocker neben Violet. »Was hast du zu trinken da, Ian?«
Wortlos holt er eine Flasche Whisky und zwei Gläser unter dem Tresen hervor und stellt sie vor mir ab.
»Du trinkst nicht mit?«, will ich verwundert wissen.
»Ich lasse euch allein«, erklärt er. »Dann könnt ihr in Ruhe über mich und die Situation herziehen.«
Violet, die heute auffällig ruhig ist, sieht zu ihrem Verlobten, und ein liebevolles Lächeln schleicht sich auf ihre Züge. »Danke«, haucht sie und greift nach Ians Hand. Tränen schimmern in ihren Augen. Tränen, die auch ich spüre, aber mühsam zurückhalte, um die Situation nicht noch schlimmer zu machen. Im Vergleich zu ihren Problemen erscheinen mir meine eigenen plötzlich lächerlich, unwichtig und klein. Ja, ich habe meinen Job verloren, fühle mich oft einsam und wurde vor Kurzem sitzen gelassen. Aber was ist das schon, verglichen mit der Angst ums eigene Leben? Ich kann mich glücklich schätzen, in Sicherheit zu sein und nichts fürchten zu müssen.
Chris
Ich verabscheue dieses beißende Gefühl in der Brust. Es geht tiefer als Frust oder Wut. Es ist purer Hass. Hass auf die Situation, in der wir feststecken, und vor allem darauf, dass ich machtlos dagegen bin. Die anderen hören nicht auf mich. Sie sind fest davon überzeugt, dass das Problem bloß temporär ist und sich der ganze Mist am Ende lohnen wird. Ich sehe das anders.
Immer wieder schaue ich zur Treppe, die in den VIP-Bereich führt. Meine baldige Schwägerin sitzt dort oben mit ihrer besten Freundin und gesteht ihr, dass sie nicht wie erhofft zurück nach Rosehill ziehen wird. Zumindest nicht in nächster Zeit. Das ist kein Gespräch, bei dem ich anwesend sein will.
Ich vertreibe mir die Zeit mit der Nachkontrolle der Bestandslisten. Da wir ab morgen auf unbestimmte Zeit nicht anwesend sein werden, will ich, dass im Klub alles vorbereitet ist. Außerdem ist es eine gute Ablenkung. Zumindest bis mein Blick vom Papier hochzuckt, weil ich Schritte auf der Treppe höre. Ian fährt sich durch die dunklen Haare und hat die Lippen zu einem dünnen Strich zusammengepresst, während er auf mich zukommt. Das Gespräch scheint nicht besonders gut zu laufen.
»Whisky?«
»Einen doppelten«, erwidert mein Cousin und stellt sich an den Tresen.
Routiniert nehme ich zwei Gläser aus dem Regal hinter mir und fülle sie mit Ians und meinem Lieblingswhisky. Macallan, Single Malt.
»Color weint«, raunt Ian, und die Wut darüber ist ihm deutlich anzuhören. Mein Cousin ist selten emotional, aber wenn doch, erinnert er sich gern an Kleinigkeiten, die ihn wieder aufbauen. So wie jetzt. Früher hat er Violet damit aufgezogen, dass sie wie eine Farbe heißt. Daraus entstand der Spitzname, den wir heute kaum noch benutzen.
»Du kennst meine Meinung zu dem Thema«, verkünde ich und proste ihm provozierend zu. »Wir müssen nicht ins Safehouse. Jack sitzt hinter Gittern, und sein Geld ist eingefroren. Was soll er schon großartig gegen uns ausrichten können?«
»Alles«, antwortet Ian dunkel. »Vielleicht aber auch nichts. Wer weiß? Ich werde Violets Leben jedenfalls nicht riskieren, nur weil du dich nach deiner Freiheit sehnst.«
Ich kann ihn verstehen. Wirklich. Aber es ist verdammt beschissen, sein Leben nicht selbst bestimmen zu können. Ian und ich stammen aus einer Familie, die seit jeher krumme Dinger dreht und sich somit gut mit der Gefahr des Erwischtwerdens auskennt. Glücksspiel und Geldwäsche gehören zu unserem täglichen Geschäft, dabei halten wir uns allerdings an feste Prinzipien. Wir zwingen niemanden, für uns zu arbeiten, versuchen Gewalt nur als letztes Mittel einzusetzen, und harte Drogen kommen uns nicht ins Haus. Wir sind ehrenhaft, auch wenn das nicht zu unserem Business zu passen scheint. Violets Familie hingegen … Sagen wir es mal so: Ihr Bruder kennt keine Grenzen. Das beste Beispiel dafür ist, dass er seine eigene Schwester entführt und eingesperrt hat. Er hat sie beinahe umgebracht, nur um seine Ziele zu erreichen. So ein Mann hat jeglichen Bezug zu Regeln und Gesetzen verloren.
»Was hast du jetzt vor?«, will ich von meinem Cousin wissen. »Den Schwanz einziehen und kuschen? Tun, was das FBI will? So sind wir Greens nicht. Guck doch, wie sehr deine Verlobte leidet«, werfe ich ihm vor und deute mit dem Glas zur Treppe. »Sie will hier nicht weg, Ian. Genauso wenig wie du oder ich.«
Ohne Vorwarnung pfeffert Ian sein Glas gegen das verspiegelte Regal hinter mir. Es kracht, Gläser zersplittern, und Scherben rieseln auf die Ablage darunter. Ich rühre mich nicht und beobachte meinen Cousin mit einer seltsamen Genugtuung. Nicht weil ich mich darüber freue, dass er ausflippt, sondern weil es erleichternd ist zu sehen, dass ihn das Ganze ebenso frustriert.
»Denkst du, ich weiß nicht, wie verfahren das alles ist?«, braust Ian auf. »Jack hat mir Violet entrissen und sie leiden lassen. Wenn es nach mir ginge, läge er in einem Grab, statt im Gefängnis zu hocken. Aber es ist nicht unsere Entscheidung, was mit ihm passiert. Es ist ihre.«
»Dann überzeuge sie davon, dass unser Schutz ausreicht.«
»Der reicht nicht«, prophezeit er düster. »Wir haben einiges an Mitteln durch die Untersuchungen eingebüßt. Konten wurden eingefroren, und die Cops geben sie so schnell nicht wieder frei. Außerdem haben wir Partner verloren, weil sie uns als Ratten ansehen. Der Rückhalt, den wir haben, ist also mehr als überschaubar.«
»Und das erzählst du mir erst jetzt? Mein Einkommen hängt von unseren Geschäften ab, Ian! Es ist ebenso mein Geld wie deins.«
»Sie haben nur die offiziellen Konten eingefroren«, erwidert er so ruhig, als würde er übers Wetter sprechen. »Die versteckten haben sie bisher nicht gefunden. Und ehrlich gesagt glaube ich auch nicht, dass sie aktiv danach suchen«, setzt er schulterzuckend nach. »Immerhin will das FBI uns bei der Stange halten, damit wir die Aussagen nicht zurückziehen. Würden sie unsere Mittel komplett lahmlegen, würden wir nicht mehr kooperieren, und das wissen sie.«
»Und was passiert, sobald der Prozess vorbei ist?«, werfe ich ihm vor. »Gehen sie dann gegen uns vor, weil sie uns nicht mehr brauchen? Den Agents sind wir vollkommen egal.«
Wortlos steht Ian auf.
Ich will etwas sagen. Ihm vorwerfen, dass er mir die Probleme vorenthalten hat und nicht realistisch genug denkt. Aber ich kann nicht. Es brennt mir auf der Zunge, ihm Vorwürfe zu machen, doch heute ist nicht der richtige Tag dafür. Eine Etage über uns sitzen zwei Frauen, die vermutlich bitterlich weinen, weil sie einander erneut entrissen werden, und ich mache mir Sorgen wegen des Geldes? Man kann über mich sagen, was man will, aber selbst ich besitze genügend Feingefühl, um Rücksicht zu nehmen und die Klappe zu halten.
Als Violet und Camy die Treppe hinuntersteigen, ist es bereits Abend, und die ersten Angestellten tigern durch den Klub. Violets Augen sind rot umrandet und glänzen, was den Hass in mir erneut anfacht. Diese Frau liegt mir am Herzen, als würde sie bereits zur Familie gehören, und sie leiden zu sehen, versetzt mir einen Stich. Dicht hinter ihr folgt Camy, und prompt klebt mein Blick an ihr. Sie ist frech, vorlaut und besserwisserisch – außerdem sieht sie extrem heiß aus. Ihre Haut hat einen dunklen Bronzeton, und ihre Proportionen sind genau so, wie ich es mag. Üppiger Vorbau, schmale Hüfte und fester Hintern. Wäre sie nicht Violets beste Freundin, hätte ich mein Glück mit Sicherheit schon bei ihr versucht. Aber ich suche nichts Festes, sondern meinen Spaß, und dafür ist sie nicht geeignet. Camy ist eine dieser Frauen, die man entweder ganz oder gar nicht nimmt. Für eine einfache Nummer ist sie zu kostbar. Außerdem würde Vi mich kastrieren, wenn ich ihrer Freundin das Herz bräche.
»Guten Abend, Ladys«, begrüße ich sie und drapiere die Arme lässig auf dem Tresen. »Was darf es sein? Ihr habt die freie Auswahl. Ich mixe euch, wonach es euch begehrt.«
Camy schnaubt und überkreuzt die Arme vor der Brust, wodurch sich ihr Busen anhebt. Ich verkneife es mir, einen anerkennenden Pfiff auszustoßen, und lächle zufrieden vor mich hin.
»Könntest du Camy bitte heimfahren?«
»Kommt nicht infrage!«, widerspricht Camy, ehe ich auch nur den Mund aufmachen kann. »Ich nehme mir ein Taxi.«
»Camy, bitte«, flüstert Violet so laut, dass ich es gerade noch verstehe, und wendet sich mit bittendem Funkeln in den Augen an ihre Freundin. »Ich würde mich wohler fühlen, wenn ich wüsste, dass du sicher heimkommst.«
Ich drehe mich um und krame in der untersten Schublade nach den Wagenschlüsseln. Vi wird sowieso gewinnen, wozu also Zeit verschwenden?
Die Frauen tuscheln miteinander, und das breite Grinsen tackert sich in meinem Gesicht fest. Es ist beinahe niedlich, wie vehement Camy sich dagegen sträubt, mit mir in ein Auto zu steigen. Die Frau fasziniert mich. Viel Zeit haben wir bisher nicht miteinander verbracht, und wenn, waren Ian und Vi dabei. Sobald der Prozess vorbei ist und wir wieder nach Rosehill ziehen, werden wir zwangsläufig ständig aufeinandertreffen. Und darauf freue ich mich. Auch wenn es tragischerweise platonisch zwischen Camy und mir bleiben muss, genieße ich unsere Sticheleien.
»Ihre Kutsche wartet, Mylady«, verkünde ich und drehe mich schwungvoll zu ihnen um.
»Hast du überhaupt einen Führerschein?«, hinterfragt sie skeptisch und zieht abwartend eine Braue in die Höhe.
»Sogar mehrere. Für jeden Bundesstaat einen. Der gefakte aus Ohio war überraschenderweise der teuerste.«
Kurz reißt Camy die Augen auf, nur um sie im nächsten Moment zu wütenden Schlitzen zu verziehen. »Wir reden nicht«, stellt sie klar. »Du starrst mich nicht an, und berühren ist tabu!«
Langsam beuge ich mich über den Tresen zu ihr vor und suche ihren Blick. Camy hat atemberaubend schöne braune Augen. Groß und treu, wie die Augen eines Rehkitzes. Wenn man nicht aufpasst, kann man mühelos in ihnen versinken.
»Dein Verlust«, flüstere ich.
Sie schluckt hörbar, und für einen Moment wirkt es, als hätte ich sie überrumpelt. Doch diese Frau lässt sich nicht so leicht aus der Fassung bringen. In Sekundenschnelle hat sie sich gefangen und legt mir eine Hand in den Nacken. Camy zieht mich näher zu sich und leckt sich verheißungsvoll über diese verflucht perfekten vollen Lippen.
»Wenn du irgendwas versuchst«, wispert sie, »zerquetsche ich dir mit Freuden deine Männlichkeit.« Abrupt nimmt sie die Hand aus meinem Nacken und tritt einen großen Schritt zurück.
»Ich liebe Herausforderungen«, gestehe ich ihr und zwinkere so eindeutig zweideutig, dass ich dabei zusehen kann, wie ihre Wangen sich rot färben. Sie versucht es zu überspielen, indem sie die Augen verdreht, aber ich bin mir sicher, dass ihr das Spielchen ebenso gefällt wie mir.
Das kann eine interessante Fahrt werden.
Camy
Schweigen ist eigentlich nicht mein Ding. Ich trage das Herz auf der Zunge, sagt Mom. Im Moment fällt es mir jedoch erstaunlich leicht, nichts zu sagen. Zum einen liegt das daran, dass meine Gedanken wild durcheinanderrasen und mir kaum die Möglichkeit geben, einen davon zu greifen. Zum anderen daran, dass ich mich in keiner Gesellschaft befinde, in der ich reden möchte. Ich sitze nur in diesem Wagen, weil ich Vi nicht noch mehr Sorgen aufbürden will. Dass Chris immer wieder flüchtig zu mir sieht, ist mir mehr als bewusst. Ich ignoriere es. Er soll sich aufs Fahren konzentrieren – oder von mir aus auch auf einen Fussel am Armaturenbrett. Aber nicht auf mich.
»Hey«, höre ich ihn nach wenigen Minuten Fahrt sagen. »Alles okay bei dir?«
Statt zu antworten, starre ich weiter aus dem Fenster. Dieser Wagen wirkt wie das Unterweltmobil, das es ist. Ein SUV in Tiefschwarz, mit abgedunkelten Scheiben und einer hellen Lederausstattung.
»Camy«, versucht Chris es erneut. »Ich kann mir vorstellen, dass die Situation nicht leicht für dich ist. Und glaub mir, ich find’s auch nicht besonders spaßig, schon wieder abtauchen zu müssen. Solltest du Fragen haben, kannst du sie mir stellen. Vielleicht hilft es dir, wenn du alles weißt. Ich kann …«
»Nichts kannst du!«, erwidere ich wütend und schaue ihn nun doch an. »Heute sollte endlich wieder Normalität in mein Leben einziehen. Aber was ist stattdessen passiert? Ich erfahre, dass ich meine beste Freundin für weitere Monate nicht zu Gesicht bekomme. Wäre sie Ian nie begegnet, hätte ihr Bruder Jack keinen solchen Hass auf sie entwickelt. Und wir würden einfach unser Leben leben. Glücklich und sicher.«
Mein Körper zittert vor aufgestautem Frust. Ich wollte das nicht sagen. Wollte nicht zugeben, wie tief es mich trifft, Violet erneut gehen lassen zu müssen. Ich will kein Mitleid und auch keinen Trost, der ohnehin nichts besser macht. Das Einzige, was ich will, ist, das Leben zurückzubekommen, das ich bis vor knapp einem Jahr hatte. Ein Leben, in dem alles möglich schien.
Chris erwidert nichts. Stattdessen hat der sonst so aufgeweckte Kerl die Schultern angezogen und scheint plötzlich tief in Gedanken versunken zu sein. Die Stimmung im Wagen ist zum Zerreißen angespannt, als wir schließlich vor meinem Wohnhaus ankommen. Ich hatte gar nicht bemerkt, wie schnell die Fahrt vergangen ist. Chris parkt vor dem überdachten Eingang und stellt den Motor aus. Seine Hände umfassen das Lenkrad so fest, dass seine Knöchel weiß hervortreten, und seine Lippen sind zu einem dünnen Strich gepresst.
»Danke fürs Fahren«, sage ich tonlos und löse den Gurt. Ehe Chris doch noch etwas erwidern kann, schnappe ich mir meine Handtasche vom Rücksitz und steige aus. Ich verkneife es mir, einen letzten Blick in den Innenraum zu werfen, bevor ich die Tür hinter mir zuwerfe. Stark und stolz, so will ich wirken, während ich mir die Tasche über die Schulter hänge, den Kopf hebe und ins Haus marschiere.
Ich warte nicht auf den Fahrstuhl, sondern nehme die Treppe für die vier Stockwerke, in der Hoffnung, dass die Bewegung meinen Frust abbaut. Der Flur ist wie meistens menschenleer, und ich frage mich, ob meine Nachbarn jemals ihre Wohnungen verlassen. Kopfschüttelnd schließe ich meine Tür auf, streife die Sandaletten ab und pfeffere meine Tasche auf die Kommode. Ein Schrei drängt sich meine Kehle hinauf, und ich lasse die aufgestauten Emotionen heraus. Schreie meinen Frust, die Wut, Enttäuschung und auch die Trauer mit aller Kraft in die Luft. Sobald der Schrei endet, ist ein zermürbender Druck von meiner Brust gewichen, sodass ich freier atmen kann. Für einen Augenblick habe ich die Stille besiegt und meinen Emotionen Luft gemacht. Um die Lautlosigkeit in der Wohnung weiter zu vertreiben, gehe ich ins Wohnzimmer und steuere die Stereoanlage an. Ich will auf den Knopf drücken, um sie anzuschalten, als hinter mir unvermittelt etwas raschelt. Ehe ich reagieren kann, packt mich jemand und schlingt von hinten einen Arm um meinen Hals. Eine Hand presst sich fest auf meinen Mund und dämpft das überraschte Kreischen zu einem dumpfen Laut.
»Du hörst mir jetzt genau zu«, raunt es dicht an meinem Ohr. Mein Angreifer hat eine tiefe Stimme und einen rollenden Akzent, der mich sofort an den Spanisch sprechenden Typen von heute Mittag denken lässt. Es war also tatsächlich kein Zufall, dass er mich so intensiv ansah, und den Blitz habe ich mir vermutlich auch nicht eingebildet. Er hat mich fotografiert.
Angst kriecht mir tief in die Knochen und lässt mich unwillkürlich erschaudern.
»Du und ich, wir beide werden jetzt eine Spritztour machen«, sagt er bedrohlich ruhig. »Wenn du irgendetwas versuchst, wirst du es bereuen. Glaub mir.«
Vor Schock versteift sich mein Körper. Mein Herz schlägt so stark, dass ich es bis in den Hals spüre. Mein Hirn arbeitet unaufhörlich und sucht nach einer Möglichkeit zu entkommen. Das Handy steckt in der Handtasche im Flur und ist somit außer Reichweite. Kampfsport kann ich auch nicht, was meine Chance zur Flucht gen null laufen lässt.
»Bevor es losgeht, beantwortest du mir aber noch ein paar Fragen. Bist du Camy Owsen?«, will er wissen.
Ich nicke zaghaft, wodurch seine Hand auf meinem Mund hin- und herrutscht und sein Schweiß meine Lippen benetzt, was mich beinahe zum Würgen bringt.
»Weißt du, wer der Mann ist, der mit dir im SUV war?«
Erneut nicke ich und frage mich, was er mit diesen Fragen bezweckt. Wieso er hier ist, brauche ich nicht zu hinterfragen. Es geht um Violet. Vermutlich gehört er zu ihrem Bruder Jack, und ich bin ein willkommenes Druckmittel.
»Gut«, raunt er und lockert seine Hand über meinem Mund. »Wohin ist er gefahren?«
Im ersten Moment will ich antworten, beiße mir dann aber auf die Lippen. Angst hin oder her. Ich werde niemandem helfen, der etwas gegen meine Freundin im Schilde führt.
Seine Hand verschwindet von meinem Mund und packt stattdessen fest meinen Kopf. Mein Angreifer reißt brutal an meinem Dutt, und ein schmerzhafter Schrei entschlüpft mir.
»Antworte!«, brüllt er.
Meine Kopfhaut brennt und pulsiert vor Schmerz, dennoch bleibe ich stumm.
»Wohin bringt das FBI Violet Hasting, Ian und Christian Green?«, fragt er weiter.
Dass ich erneut nicht antworte, scheint ihn zu amüsieren, denn ich höre ihn leise lachen. »Stur«, schnurrt er mir zufrieden ins Ohr. »Das gefällt mir. Es wird Spaß machen, dir die Sturheit auszutreiben.«
Seine Hand presst sich erneut fest auf meinen Mund, und ich reagiere instinktiv. Meine Zähne graben sich in das weiche Fleisch seiner Handinnenfläche, bis ich Blut schmecke. Er heult vor Schmerz auf und lässt mich abrupt los. Ohne zu zögern, renne ich aus dem Raum in den Flur. Hinter mir erklingt ein Fluchen, und mein Adrenalinspiegel schießt in die Höhe. Ich stolpere vor Aufregung beinahe über meine Füße, schaffe es aber wie durch ein Wunder heil zur Wohnungstür. Mit einem Ruck reiße ich sie auf und kreische dann vor Schreck panisch.
Chris erfasst in Sekundenschnelle die Situation. Ohne Vorwarnung packt er mich an der Hand, zieht mich durch die Tür und stellt sich beschützend vor mich. Er macht einen Schritt in die Wohnung hinein und zieht etwas unter seinem Shirt hervor.
»Christian«, ertönt es vor uns. »Schön, dass du hier bist. Das erspart mir einen Weg.«
Chris stößt ein abfälliges Schnauben aus, und seine rechte Schulter hebt sich. Ich trete einen Schritt zur Seite, um besser an ihm vorbeisehen zu können, und wünsche mir prompt, ich hätte es nicht getan. Er hält eine Pistole in der Hand und zielt damit auf meinen Angreifer. Seine Hand ist erschreckend ruhig, und sein Gesicht wirkt eiskalt.
Der Angreifer starrt ihn grinsend an und legt nachdenklich den Kopf schief. »Was hast du vor, Green?«, höhnt er. »Mich erschießen und so die Cops anlocken? Dumme Idee, das müsste sogar dir klar sein. Außerdem würden sie dir nicht helfen, selbst wenn sie dir glauben sollten, dass du dich nur verteidigt hast.«
»Du bist die Kugel nicht wert«, spuckt Chris ihm hasserfüllt entgegen, und ich zucke unter der Wut in seiner Stimme zusammen. »Du bist nichts weiter als ein überbezahlter Lakai. Aber selbst Schaben können hilfreich sein«, setzt er nach. »Camy, komm her.«
Zu überrumpelt zum Reagieren, bleibe ich stehen, bis Chris mir einen knappen, strengen Blick zuwirft.
»Halt die Waffe«, weist er mich an.
»Spinnst du?«
»Tu es!«
Mit zitternden Fingern stelle ich mich neben ihn und greife widerwillig danach. Sie ist schwerer, als ich dachte, und fühlt sich verblüffend kühl an.
»Ziel auf ihn. Sollte er etwas versuchen, schieß.«
Ich schlucke trocken und beobachte, wie Chris sich dem Typen mit langen Schritten nähert, während dessen Augen immer wieder unsicher zwischen Chris und mir wechseln. Er versucht es zu überspielen, doch ich sehe ihm an, dass er auf diese Situation nicht vorbereitet war. Er dachte, er würde hier leichtes Spiel haben und mich ohne Gegenwehr entführen können.
Dicht vor dem Mann bleibt Chris stehen und mustert ihn einen Moment lang wortlos. Dann holt er aus.
Mein Angreifer reißt erschrocken die Augen auf, und sein Körper zuckt, als wollte er ausweichen, doch Chris ist schneller. Seine Faust trifft ihn mit einer solchen Wucht am Kinn, dass es mich nicht wundern würde, wenn sein Kiefer gebrochen wäre. Wie ein nasser Sack geht er mit geschlossenen Augen zu Boden.
Aufatmend senke ich die Waffe. Chris hält jedoch nicht inne, sondern kommt zu mir zurück und streckt fordernd die Hand aus. Nur zu gern drücke ich ihm die Pistole in die Hände.
»Du hast zwei Minuten.«
»Wofür?«, frage ich verwirrt, ohne den Blick von dem bewusstlosen Mann auf meinem Fußboden zu nehmen.
»Zum Packen. Nur das Nötigste, und wehe, du steckst irgendwas Elektronisches ein.«
»Warte mal!«, verlange ich und reiße den Blick von dem Angreifer los. »Wieso soll ich packen?«
»Der Kerl ist nicht hier, weil er einen Kaffee mit dir trinken will«, erwidert er sachlich. »Er wollte dich mitnehmen und gegen uns – gegen Vi – einsetzen. Denkst du, sie geben auf, nur weil sie einmal gescheitert sind?«
Mein Kopf versucht das Gehörte zu verarbeiten, aber mein Geist weigert sich, den Sinn seiner Worte zu erfassen.
»Ich bringe dich in Sicherheit, bis wir mit Ian und dem FBI gesprochen haben«, setzt Chris nach. »Zwei Minuten, Curls. Die Uhr tickt.«
Camy
Wie konnte dieser Tag zu einer solchen Katastrophe werden? Immer wieder stelle ich mir diese Frage, während ich wahllos Sachen in meine giftgrüne Reisetasche werfe. Da ich nicht weiß, wie lange wir unterwegs sein werden, packe ich alles ein, was mir sinnvoll erscheint. Der Kulturbeutel ist dementsprechend randvoll, als ich ihn obendrauf werfe und den Reißverschluss schließe. Mein Blick schweift hektisch durchs Zimmer, auf der Suche nach etwas Wichtigem, was ich nicht vergessen darf. Dabei bleiben meine Augen wehmütig an der Uhr in Form einer lächelnden Sonne über meinem Bett hängen. Olivia hat sie mir vor einigen Jahren zum Geburtstag geschenkt. Beim Gedanken an meine kleine Schwester zieht sich mein Herz krampfartig zusammen. Hoffentlich bekomme ich die Möglichkeit, meiner Familie Bescheid zu geben, dass es mir gut geht. Wenn ich mich länger als zwei Tage nicht bei ihnen melde, werden sie anfangen, sich Sorgen zu machen, und das möchte ich ihnen ersparen.
»Camy! Beeil dich!«
Mit einem zittrigen Seufzer schultere ich meine Tasche. Als ich im Wohnzimmer ankomme, kniet Chris neben dem noch immer bewusstlosen Mann. Sobald er mich bemerkt, hebt er den Kopf und sieht mich einen Moment lang stumm an. Ich könnte schwören, einen bedauernden Schatten über sein schönes Gesicht huschen zu sehen. Doch er ist so schnell verschwunden, dass ich mir nicht sicher bin, ob ich es mir doch nur eingebildet habe.
»Lass uns abhauen, ehe er wach wird«, fordert Chris und steht auf.
»Du willst den Kerl doch nicht ernsthaft in meiner Wohnung liegen lassen?«, erwidere ich.
»Ich werde ihn wohl kaum einladen, bei uns mitzufahren.«
»Chris!«
»Camy!«, äfft er mich nach. »Wir haben keine Zeit zu verlieren. Wer weiß, ob er Komplizen dabeihatte. Ich bin zwar ein geselliger Typ, aber auf eine weitere Begegnung wie die von eben würde ich lieber verzichten.«
Da er damit recht hat, beiße ich die Lippen zusammen und folge ihm notgedrungen. Hinter Chris meine Wohnung zu verlassen und ihm schweigend die Treppen hinunter zu folgen, fühlt sich an wie ein Lebewohl. Als würde ich mein Leben hinter mir lassen, sobald ich in sein Auto steige. Mein Herz weint vor Trauer, als Chris meine Tasche auf den Rücksitz wirft und mich auffordert, mich anzuschnallen. Mein Geist schottet sich von der Realität ab und nimmt alles wie in einem Film wahr. Wie etwas Unechtes, das nicht mir passiert. Auch Chris ist untypisch ruhig und in sich zurückgezogen. Er sagt kein Wort und konzentriert sich stattdessen aufs Fahren und seine Gedanken.
»Chris?«, frage ich ihn irgendwann und rutsche unruhig auf meinem Sitz umher. »Was tun wir jetzt?«
»Ich habe einen Plan. Mach dir keine Sorgen«, entgegnet er ernst. »Erst mal verschwinden wir aus Rosehill. Wir brauchen einen Vorsprung, um uns zu sortieren.«