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Für Eliza ist nichts mehr so, wie es mal schien. Ihr Name, ihre Vergangenheit, Ians Liebe - alles war eine Lüge. Der Einzige, bei dem sie sich je sicher und geborgen gefühlt hat, ist ihr größter Feind und hat ihr die Familie geraubt. Doch selbst diese bittere Erkenntnis kann die Sehnsucht nach Ian nicht vertreiben. Tief in ihrem Inneren spürt Eliza, dass sie noch immer nicht die ganze Wahrheit kennt - und dass sie ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen muss, um sie herauszufinden.
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Seitenzahl: 299
Originalausgabe © 2021 by MIRA Taschenbuch in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg Covergestaltung: zero Werbeagentur, München (Ute Mildt) Coverabbildung: plainpicture / Hanka Steidle E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN E-Book 9783745752038
www.harpercollins.de
Triggerwarnung: Dieser Roman enthält Szenen von Gewalt.
Für meinen Mann. Weil du mir täglich zeigst, wie sich wahre Liebe anfühlt.
War es das alles wert? Genügen Erinnerungen an glückliche Momente, um aufzuwiegen, wie schmerzhaft es endet? Meine Antwort darauf ist simpel: Ja. Aufrichtig zu lieben und ebenso geliebt zu werden, war den Schmerz mehr als wert.
»Von vorn.« Seine eisige Stimme durchbricht die Stille wie ein Peitschenknall.
Ich zucke heftig zusammen, weigere mich aber, den Blick zu heben. Stattdessen konzentriere ich mich auf das warme Blut, das aus der Platzwunde an meiner Lippe tropft, und auf den Schweiß, der über meinen Körper rinnt und die Kleidung an meiner Haut kleben lässt. Ich sitze auf einem Stuhl, die Hände wurden mir mit Kabelbindern eng auf dem Rücken fixiert, ebenso sind auch meine Beine fest aneinandergebunden. So habe ich keine Chance, um den Schmerz ein wenig zu lindern – oder mich zu wehren.
Ein frustriertes Seufzen lässt mich schließlich doch aufblicken. Der blasse bullige Mann, von dem es kommt, ist sein Handlanger für schmutzige Dinge. Derjenige, der sich um Probleme kümmert und sie löst, ohne dass Fragen entstehen. An dem Tag, an dem ich Ian zum ersten Mal küsste, hätte mir klar sein müssen, dass ich irgendwann in seinen Radar geraten würde. Ich war so dumm und naiv.
Dieses Mal trifft mich seine Faust gezielt in die Rippen. Ich höre es erschreckend laut knacken, und mein markerschütternder Schrei erfüllt die gesamte Halle. Er prallt von den kahlen Wänden ab und klingelt laut in meinen Ohren nach. Als Antwort erwartet mich eine heftige Backpfeife, die meinen Kopf zur Seite wirft.
»Ich habe nichts verraten!«, brülle ich mit tränenerstickter Stimme.
Trevor schnalzt unzufrieden mit der Zunge und hockt sich so dicht vor meine Knie, dass ich seinen heißen, nach Zigarettenqualm riechenden Atem im Gesicht spüre.
»Wenn du nicht kooperierst, muss ich zu drastischeren Mitteln greifen. Das hast du dir selbst zuzuschreiben«, erklärt er drohend und richtet sich abrupt auf.
Erschöpft beobachte ich, wie der Hüne kräftig an die rostige Metalltür klopft, die sich daraufhin quietschend öffnet.
Zwei glatzköpfige Männer betreten mit selbstsicheren Schritten die Lagerhalle und steuern direkt auf mich zu. Ihre Blicke strahlen etwas Erbarmungsloses und Brutales aus, das mich in Panik versetzt. Je näher sie mir kommen, umso ängstlicher zerre ich am Kabelbinder, kreische und brülle um Hilfe – auch wenn ich weiß, dass es zwecklos ist. Mich wird niemand retten.
Einer der Glatzköpfe packt meine Haare und zerrt mich daran brutal vom Stuhl. Er knallt meinen Kopf mit Wucht auf den harten Betonboden, stellt seinen Fuß auf meine Wange und lacht dreckig. Ich schließe die Augen und atme tief ein, um mich innerlich für das Kommende zu wappnen.
Mein Schicksal ist besiegelt, und ich habe es selbst gewählt. Für die Liebe war es wert, zu leiden.
Fluchend schiebe ich die Sonnenbrille in mein Haar und reibe mir über die brennenden Augen. So viel Tequila zu trinken, ist keine besonders clevere Idee von mir gewesen. Und ein Trinkspiel daraus zu machen, war noch idiotischer. Tja, hinterher ist man bekanntlich immer schlauer.
»Wenn Jack spitzkriegt, was du mit den Angestellten treibst, dreht er durch«, prophezeit eine amüsierte Stimme.
Zwei Aspirin und ein dampfender Kaffeebecher erscheinen in meinem Blickfeld. Augenrollend nehme ich die Tabletten entgegen und spüle sie eilig mit dem göttlichen Schwarz hinunter. Mhmh, Koffein.
»Mach dir lieber Sorgen um dich selbst. Wenn er erfährt, dass du mittrinkst, bist du nämlich deinen Job los«, erwidere ich frech und stelle die Tasse neben mir auf dem niedrigen Beistelltischchen ab. »Wenn er dich nicht sogar beseitigt, weil du deine Aufgaben nicht vernünftig erledigst. Immerhin sollst du mich von Blödsinn abhalten und nicht dabei mitmachen.«
Caleb macht eine wegwerfende Handbewegung und zuckt mit den Schultern, als würde ihn meine Drohung nicht interessieren. Was vermutlich tatsächlich so ist. Als Jacks rechte Hand genießt er Narrenfreiheit. Das beinhaltet ein extrem überzogenes Gehalt, heiße Frauen und sehr viel Macht – was ihm wiederum noch mehr Frauen einbringt.
»Er liebt mich wie einen Bruder«, erklärt er selbstsicher.
Bitter lachend lehne ich mich auf der Sonnenliege zurück und schiebe mir die schwarze Fliegersonnenbrille auf die Nase, damit die aggressive mexikanische Sonne mir nicht die Netzhäute verätzt.
»Ich bin seine Schwester, und trotzdem hätte er mich beinahe umgebracht. Sei dir deines Lebens also nicht zu sicher.«
»Weil du ihn hintergangen hast und mit dem Feind ins Bett gestiegen bist«, kontert Caleb gelassen und setzt sich gähnend auf die Liege neben meiner.
Noch vor drei Monaten wäre ich an dieser Stelle definitiv ausgeflippt. Inzwischen habe ich jedoch gelernt, bei diesem Thema nach außen hin entspannt zu wirken. Also zucke ich lediglich mit den Schultern und gebe mich uninteressiert. Wie es tatsächlich in mir aussieht, darf niemand wissen. Das ist eine Lektion, die ich ziemlich schnell begriffen habe.
Nachdem ich zu Jack zurückgekehrt war, musste ich ihm versprechen, mich von Ian fernzuhalten. Und ich halte mich daran. Es ist der einzige Weg, um Ians Leben zu schützen und mir wieder Jacks Vertrauen zu verdienen. Im Gegenzug versprach mir mein Bruder einen Neuanfang. Und das ist alles, was ich will. Ich will endlich wieder erfahren, wie es sich anfühlt, eine echte Familie zu haben.
Anthony, Aria und auch Ian hatten mir so viel Schlechtes über Jack erzählt, dass ich ihn für den Teufel persönlich gehalten hatte. Und ja, Jack hat seine Schläger auf mich gehetzt, nachdem er von Ian und mir erfahren hatte. Er wollte mir eine Lektion erteilen, damit ich nie wieder in Versuchung gerate, mich mit dem – wie er und Caleb ihn nennen – Feind einzulassen. Schließlich ist Ians Familie für den Tod unserer Eltern verantwortlich. Eine Tatsache, die ich wohl niemals werde vergessen können.
Doch es war nie die Absicht meines Bruders, mich zu töten. Das beteuert er immer wieder. Jack ist davon überzeugt, dass Ian mir seine Gefühle bloß vorgespielt hat, um einen Keil zwischen meinen Bruder und mich zu treiben und damit die Familie Hasting endgültig zu zerstören.
Dass Ian in dieser Geschichte kein Heiliger ist, ist mir mittlerweile mehr als bewusst. Ich kann nicht ausblenden, was ich inzwischen über ihn weiß, auch wenn mein Herz sich wünscht, die Wahrheit über ihn niemals erfahren zu haben. Er hat mir verschwiegen, dass der Auftrag, meine Eltern zu töten, von seiner Familie ausging, und das kann ich nicht verzeihen. Wer sagt mir also, dass Jacks Behauptungen nicht der Wahrheit entsprechen und Ian mich tatsächlich nur benutzt hat?
»Was ist dein Plan für heute, Prinzessin?«, fragt Caleb und zieht sich das rote T-Shirt über den Kopf.
Mit einer hochgezogenen Braue beobachte ich, wie er das T-Shirt achtlos neben sich auf den Steinboden fallen lässt und es sich auf der Liege gemütlich macht. Ich lasse den Blick über Calebs muskulösen, definierten Oberkörper gleiten und beiße mir angestrengt auf die Unterlippe. Eins steht fest: Wäre er nicht die rechte Hand meines Bruders und würde ich nicht noch immer ständig an Ian denken, hätte ich schon längst versucht, Caleb näherzukommen.
Er ist ein typischer Sunnyboy: verwuscheltes dunkelblondes Haar, braun gebrannter Körper und ein so intensiver Blick aus vertrauenserweckenden braunen Augen, dass die Frauen Schlange stehen. Caleb ist frech, auf eine extrem charmante Art – und genau das ist es, was ihn für mich so anziehend macht.
Um mich von seinem halb nackten Körper abzulenken, lasse ich den Blick umherschweifen und genieße die Schönheit dieses Ortes. Der Garten unseres mexikanischen Anwesens ist riesig. Man könnte hier problemlos eine Party mit vierhundert Gästen feiern und hätte dennoch genügend Platz, um mit niemandem zusammenzustoßen. Neben dem Pool in Form eines Hexagons gibt es einen großzügigen Grillplatz, einen Tennisplatz, eine gemütliche Terrasse und eine Feuerstelle. Obwohl wir uns in einer Dürreperiode befinden, blüht hier jede einzelne Blume und jeder noch so winzige Strauch. Selbst der Rasen sticht mit seinem kräftigen Grün hervor. Das Anwesen ist dekadent und luxuriös. So wie Jack es liebt. Wenn man die Kameras ignoriert, die an den hohen Mauern rings um das Grundstück angebracht sind, könnte man sich hier beinahe wie zu Hause fühlen. Für mich ist es allerdings unmöglich, sie zu übersehen, denn sie übersehen mich nicht. Jack überwacht jeden meiner Schritte. Vermutlich weiß er sogar, wann ich auf die Toilette gehe. Nur so kann er für meinen Schutz sorgen, beteuert er mir immer wieder.
»Erde an Violet. Antwortest du mir nicht mehr?«
Verspielt strecke ich Caleb die Zunge heraus und reiße mich von den Kameras los. »Fürs Erste brate ich faul in der Sonne und versuche meinen Kater loszuwerden. Und heute Abend sorge ich dafür, dass ich morgen wieder rumheule, weil ich verkatert bin«, antworte ich ihm schließlich schulterzuckend. »Du bist übrigens herzlich dazu eingeladen, Caleb. Vorausgesetzt, du lässt mich dieses Mal beim Tequila-Pong gewinnen.«
»So verlockend es auch klingt, deinem Ego erneut einen Dämpfer zu verpassen, aber aus dem Plan wird nichts.«
»Und wieso nicht? Hast du Angst vor einer Niederlage?«, feixe ich, was Caleb abfällig schnauben lässt.
»Jack hat potenzielle Geschäftspartner zum Dinner eingeladen.«
»Verdammt, nein!« Ich setze mich ruckartig auf, wodurch mein Kopf heftig zu pochen anfängt. »Jack hat mir versprochen, mich nicht in seine illegalen Geschäfte mit reinzuziehen! Und erzähl mir jetzt nicht, seine Gäste kommen, um ihm Blumen zu verkaufen. Dabei geht es um Drogen, oder?«
»Du sollst das Koks weder probieren noch verkaufen, Prinzessin. Du sollst bloß beim Essen anwesend sein, um den Mexikanern zu demonstrieren, dass die Hastings wieder vereint auftreten. Sieh es als Marketingkampagne«, rät Caleb mir gelassen. »Mit so etwas kennst du dich schließlich aus.«
»Hab ich eine andere Wahl?«, murmele ich und stehe wackelig auf.
»Nein. Aber damit hast du zumindest eine Ausrede, um shoppen zu gehen«, erwidert er unbedarft, was meinen Unmut für den Moment vertreibt und mir ein vorfreudiges Lächeln ins Gesicht zaubert.
Viele Möglichkeiten, um etwas Privatsphäre zu bekommen, habe ich nicht. Deshalb nutze ich jede noch so winzige Gelegenheit, den bewachten Mauern zu entkommen. Selbst wenn ich dabei eine Schar aus Wachmännern ertragen muss.
Caleb steht entspannt auf und schlendert zwinkernd an mir vorbei, um im nächsten Moment kopfüber in den Pool zu springen. Kühles Wasser spritzt durch die Luft und erwischt mich am Bein. Quietschend tipple ich von einem Fuß auf den anderen, als er direkt vor mir aus dem Wasser auftaucht und einen riesigen Schwall in meine Richtung drückt.
»Blödmann!«, rufe ich lachend und werfe die Sonnenbrille hinter mich, um ebenfalls in den Pool zu hüpfen.
Sobald mich das kühle, erfrischende Nass umgibt, schließe ich die Augen und lasse mich auf dem Rücken liegend auf dem Wasser treiben. In Texas habe ich unter der Hitze ständig gelitten und sie gehasst. An so einem Ort lässt sie sich allerdings verdammt gut ertragen.
»Die Karte bitte«, sage ich und strecke auffordernd die Hand aus. Einer von Jacks Wachleuten reicht mir wortlos die schwarze Kreditkarte, und ich lächle zufrieden in mich hinein, während ich sie an die Verkäuferin weiterreiche. Die Konten meines Bruders mit sinnlosen Käufen zu belasten, ist meine extrem kindische Art, ihn zu ärgern. Zu meiner Verteidigung muss ich sagen, dass er selbst die Schuld daran trägt. Immerhin weigert Jack sich, mir Zugang zu meinem eigenen Geld zu gewähren. Daher werde ich weiterhin mit dem größten Vergnügen auf seine Kosten leben, bis er endlich kapiert, dass ich nicht bei jedem noch so winzigen Einkauf von ihm abhängig sein möchte. Das ist demütigend. Schließlich bin ich eine erwachsene Frau und verdiene es, auch so behandelt zu werden.
Heute habe ich zur Abwechslung auch etwas für Jack gekauft. Wir haben nach wie vor ein schwieriges Verhältnis, das nicht über Nacht liebevoll und innig werden kann. Vieles aus der Vergangenheit ist noch nicht aufgearbeitet, und ich möchte meinen Teil dazu beitragen, dies zu tun. Nach so vielen Jahren habe ich endlich eine echte Familie, da will ich auch, dass sie funktioniert.
Ich bedanke mich bei der jungen Verkäuferin und reiche die Tüten an die zwei Wachhunde weiter, die mich heute begleiten. Na ja, verfolgen und stalken trifft es eher. Die Männer lieben es, mit mir shoppen zu gehen, auch wenn sie es nie offen zugeben würden. Der Grund dafür ist simpel: Ich gehe extrem großzügig mit Jacks Geld um. Heute gab es für sie Burritos, Eis und italienische Lederschuhe. Wenn ich eins in den letzten Wochen gelernt habe, dann, dass beinahe jeder Mensch käuflich ist. Bei den Wachhunden dauert es zwar länger, als ich erwartet hatte, aber ich habe Zeit.
»Ich geh noch kurz auf die Toilette«, lüge ich und gehe bereits auf die Türen neben dem Kassentresen zu, als mich der kleinere meiner heutigen Stalker am Arm zurückhält und bestimmend den Kopf schüttelt.
»Sie kennen die Regeln, Miss«, raunt er entschuldigend.
Gespielt gleichgültig zucke ich mit den Schultern. »Natürlich. Kein Problem.«
Der Glatzkopf legt eine Hand an sein Pistolenholster und öffnet bedächtig die Toilettentür, während der andere hinter ihm Stellung bezieht, als rechneten sie mit einem Überraschungsangriff aus der Toilette. Wachsam mustert er den winzigen kahlen Raum, bevor er seinem Kollegen entwarnend zunickt und mich an sich vorbei eintreten lässt.
»Es dauert nicht lange, Jungs«, verspreche ich und schließe eilig die Tür hinter mir ab.
Ohne zu zögern, haste ich in die hinterste Ecke der letzten Kabine und schließe auch diese Tür ab, ehe ich das Wegwerfhandy aus dem Körbchen meines BHs ziehe und es einschalte. Nervös schiele ich zur verschlossenen Tür und tippe mit zittrigen Fingern die Nummer ins Handy, die ich sogar im Schlaf auswendig aufsagen könnte. Es tutet einige Male, und ich bete stumm, dass sie rangeht, als es plötzlich in der Leitung knackt und ich erleichtert ausatme.
»Hallo?«
Camys vertraute Stimme zu hören, ist Balsam für meine einsame Seele. Zum ersten Mal seit Tagen kann ich befreit durchatmen und verdrängen, wie allein ich mich fühle. Dennoch tut es auch weh, mit ihr zu sprechen, denn sie fehlt mir unbeschreiblich. Dass sie nicht mehr täglich bei mir ist, fühlt sich an, als würde man mir einen Teil meines Lebens vorenthalten. Einen wichtigen und unersetzbaren Teil.
»Ich bin’s«, flüstere ich und betätige die Toilettenspülung, um die Wachhunde nicht zu verunsichern.
»Wo steckst du? Geht’s dir gut?«
»Ja, keine Sorge«, beruhige ich sie. »Ich bin in der Sonne und bleibe hier wohl noch einige Tage. Es ist extrem heiß, aber zumindest gibt es tollen Tequila und einen Pool.«
Das Problem an unseren wenigen Telefonaten ist, dass ich Camy keine Einzelheiten über meinen Aufenthaltsort verraten darf, da ich nicht weiß, ob sie abgehört wird. Ian hat in New York Rache geschworen und würde ohne zu zögern aufkreuzen, wenn er wüsste, wo ich bin. Und das kann ich nicht zulassen. Zu meinem und zu seinem Schutz.
»Klingt lustig«, erwidert Camy verhalten und seufzt plötzlich tief. »Eric hat sich von mir getrennt«, gesteht sie unendlich traurig, und ich stoße einen wütenden Laut aus.
»Dieser Mistkerl! Ich hab ihn gewarnt, was passiert, sollte er dir das Herz brechen!«
»Wow.« Camy lacht dumpf. »Jetzt klingst du wirklich wie eine Gangsterbraut aus dem Kino.«
»Wie geht es dir damit?«, übergehe ich ihren Kommentar und öffne die Kabinentür extra laut. Ich drehe den rostigen Wasserhahn am Waschbecken auf und verdrücke mich eilig zurück in die Kabine.
»Was denkst du, wie’s mir geht? Eric ist zu seiner Ehefrau zurückgekrochen, obwohl sie ihn betrogen und sitzen gelassen hatte. Kann ich zu dir kommen? Tequila klingt extrem verlockend«, scherzt sie deprimiert.
»Keine gute Idee«, erwidere ich wehmütig. »Du wärst in meiner Nähe ständig in Gefahr.«
»Du fehlst mir, Liz.«
Ich zucke getroffen zusammen und schließe die Augen, um den aufsteigenden Tränen keine Chance zu geben. Seit Wochen hat mich niemand Liz genannt. Diesen Namen zu hören erinnert mich an eine Zeit, in der ich dachte, dass mein Leben ein unbeschriebenes Blatt sei, das nur darauf warte, dass ich es mit meiner Tinte fülle. Dass ich es zu etwas Buntem und Besonderem mache. Aber diese Zeit ist vorbei, und ich muss endlich lernen, mich damit abzufinden, nie Herrin über mein Schicksal sein zu können.
»Wie läuft die Suche nach David?«, lenke ich ab und versteife mich unwillkürlich, sobald ich die Worte ausgesprochen habe, die sich wie Gift in meinem Mund anfühlen. So zu tun, als sorge ich mich um diesen Dreckskerl, ist die reinste Show. Ich würde Camy extrem gern verraten, dass mich unser angeblich so netter Freund vergewaltigen wollte. Dass Ian sich um ihn »gekümmert« hat und er sehr wahrscheinlich nie wieder in den Staaten auftauchen wird. Aber auch das kann ich ihr nicht sagen, wenn ich sie nicht zur Mitwisserin machen will. Es fühlt sich an, als würde sich durch all das, was ich ihr verheimlichen muss, eine Kluft zwischen uns auftun, und ich habe Angst davor, dass diese irgendwann unüberwindbar wird.
»Mom war schon wieder bei der spanischen Botschaft. Angeblich wurde ein Hotelzimmer in Madrid mit Davids Kreditkarte bezahlt. Die Beamten haben inzwischen die Theorie aufgestellt, dass er Dreck am Stecken hatte und deshalb in Spanien untergetaucht ist«, erklärt sie, und ich höre an ihrem Tonfall, dass sie dem keinen Glauben schenkt – was mich extrem nervös macht.
Camy ist durch und durch Reporterin. Wenn sie eine Story wittert, lässt sie nicht eher locker, bis sie ihre Schlagzeile hat und jede Einzelheit kennt.
»Klingt ganz so, als hättest du Zweifel.«
»Klar hab ich Zweifel! Glaubst du ernsthaft, dass David einfach abtauchen würde? Dafür ist dieser Kerl viel zu stur.«
»Ich muss auflegen«, ignoriere ich ihre Frage. »Aber ich melde mich bald wieder bei dir. Versprochen.«
»Ich hab dich lieb, und pass bitte auf dich auf«, antwortet meine beste Freundin mit zitternder Stimme, die mir wie eine Nadel direkt ins Herz sticht und dort eine tiefe Wunde hinterlässt.
»Ich dich auch, Camy. Und gib Eric einen Tritt in die Eier von mir, falls du ihn siehst.«
Sobald ich aufgelegt habe, entferne ich die SIM-Karte aus dem Wegwerfhandy und breche sie in der Mitte durch. Geübt lasse ich sie ins Waschbecken fallen und vom fließenden Wasser in den Abfluss treiben. Das Handy schlage ich hart gegen die geflieste Wand und werfe es anschließend achtlos in den Mülleimer. Das habe ich in den letzten Wochen so oft getan, dass es mir inzwischen spielend von der Hand geht.
Sobald ich die Toilettentür öffne, setze ich eine gut gelaunte Maske auf, die mich vor unangenehmen Fragen schützt, und grinse die wartenden Wachhunde gespielt unbedarft an.
»Dann mal weiter, meine Herren. Ich brauche noch Schuhe.«
Früher dachte ich, Models hätten einen extrem einfachen Job. Rumsitzen, sich aufbrezeln lassen und anschließend über einen Catwalk laufen, während man mit dem Hintern wackelt. Inzwischen habe ich allerdings enormen Respekt vor ihnen. Diese Frauen müssen eine Engelsgeduld haben. Eine Charaktereigenschaft, die mir eindeutig fehlt. Mich ständig von fremden Menschen zurechtmachen zu lassen, nervt mich nicht nur, es ist auch eine Qual für mein einsames Herz.
Während an mir gezupft und getupft wird wie an einer Leinwand, muss ich immer wieder an Camys Mutter Gloria und ihren Beautysalon in Rosehill denken. Dabei vergleiche ich die Frauen, die Jack als meine Stylistinnen einstellt, mit ihr. Und was soll ich sagen? Niemand kann Gloria Piper Owson auch nur ansatzweise das Wasser reichen.
Seit drei Wochen ist Esmeralda jetzt meine Stylistin, womit sie sich bereits wesentlich länger gehalten hat als ihre Vorgängerinnen. Ich schätze die Latina mit den dunkelrot gefärbten kurzen Haaren auf Mitte vierzig. Genau bestimmen kann ich es aber nicht, da sie ihre Falten verdammt gut unter Make-up kaschiert. Die Frauen vor ihr wollten mich ständig in Gespräche verstricken und sich bei mir einschmeicheln. Esmeralda ist anders, weshalb ich sie so mag. Sie kommt, lächelt, macht ihre Arbeit und geht wieder. Ich weiß, dass sie einen kleinen Sohn hat, der ungefähr acht sein muss. Allerdings hat nicht sie mir das erzählt, sondern Laurel, die Haushaltshilfe, mit der ich öfters abends zusammensitze.
Gekonnt zupft Esmeralda eine gelockte Strähne aus dem lockeren Dutt in meinem Nacken und drapiert sie über meiner Schulter. Anschließend tritt sie einen Schritt zurück und begutachtet kritisch ihr Werk.
»Muy bien«, erklärt sie lächelnd und bewaffnet sich mit einer bedrohlich großen Dose Haarspray.
Nachdem die Latina meinen Kopf so dick eingesprüht hat, dass nicht einmal ein Hurrikan meiner Frisur noch etwas anhaben könnte, verlässt sie zufrieden mein Zimmer und winkt mir zum Abschied gut gelaunt zu.
Sobald ich alleine bin, stehe ich vom Hocker vor dem vollgestopften Frisiertisch auf und stelle mich vor den bodentiefen Spiegel, der an der Tür zum Badezimmer hängt. Unwillkürlich frage ich mich, was Ian zu meinem Outfit sagen würde, und will mich dafür am liebsten sofort ohrfeigen. Dir müsste es völlig egal sein, was er davon hält! Du sollst ihn vergessen. Jack hat es dir wieder und wieder erklärt: Ian hat dich belogen! Und du weißt nicht mal, ob er dich tatsächlich geliebt hat oder du bloß Mittel zum Zweck warst.
Ich atme tief durch, streiche mein Kleid glatt und lenke meine Gedanken auf den heutigen Abend statt auf den brennenden Schmerz in meiner Brust.
Die Mexikaner, die zum Dinner kommen, sind sehr konservative Menschen. Ihnen ist ihr tadelloser Ruf in der Gesellschaft extrem wichtig, weshalb sie viel auf alte Werte geben und sich dementsprechend verhalten. Das hat Jack mir eingebläut, damit ich mich an diesem Abend korrekt benehme und nichts sage oder tue, was unsere Gäste verärgern könnte. Ich finde es lächerlich, dass es sie stört, wenn eine Frau ein Oberteil mit Ausschnitt trägt oder ehrlich ihre Meinung sagt. Wahrscheinlich interessieren unsere Gäste sich nur für eine Frau, wenn diese ihre Beine breit macht und sich ums Essen kümmert, denke ich schnaubend. Da mir aber keine andere Wahl bleibt, werde ich mein Bestes tun, um weder die Mexikaner noch Jack zu verärgern.
Mein Blick huscht über das hochgeschlossene königsblaue Kleid, das knapp unterhalb der Knie endet und dessen Saum sowie der kurze Stehkragen mit schwarzen Kristallen bestickt wurden. Das Kleid ist wunderschön. Konservativ, auf eine elegante und dennoch moderne Art. Aber es passt nicht zu Eliza East. Ebenso wenig wie der Dutt und die Locken. Ich muss mir wohl oder übel endlich eingestehen, dass ich täglich ein Stückchen mehr von Liz verliere. Sowohl die von Lügen gezeichnete Zeit in Rosehill als auch die drei Monate, die ich inzwischen an Jacks Seite verbracht habe, haben mich zu der Frau gemacht, die mich aus dem Spiegel heraus ansieht. Nur, dass ich immer noch nicht sagen kann, wer diese Frau im Grunde ihres Wesens ist.
Erschrocken fahre ich herum, als es laut an der Tür klopft, und drücke automatisch den Rücken durch, sobald Jack eintritt und mich mit offener Bewunderung mustert.
»Du siehst großartig aus«, verkündet er stolz und lässt den Blick langsam an mir auf und ab gleiten.
»Danke, du aber auch. Muss an den Genen liegen«, feixe ich und deute auf das tiefschwarze Hemd und die königsblaue Krawatte, die er unter seinem schwarzen Jackett trägt. »Gefällt’s dir?«
»Natürlich. Und danke, dass du in deinem Shoppingwahn auch an mich gedacht hast statt nur an die Bodyguards.«
Ich zucke grinsend mit den Schultern und schlendere gelassen auf meinen großen Bruder zu. Jack ist ein verdammt gut aussehender junger Mann, der jedoch immer etwas steif und verkrampft wirkt. Er ist nur wenige Zentimeter größer als ich und somit nicht unbedingt der größte Kerl der Welt. Aber das macht er durch seine autoritäre Ausstrahlung locker wett. Gerade Haltung, erhobenes Kinn und durchgedrückte Knie. Nur in sehr seltenen Momenten schafft man es, hinter Jacks undurchdringliche Fassade zu blicken. Und genau diese Momente sind es, die mir Hoffnung geben, unser Verhältnis irgendwann vollkommen kitten und an seiner Seite ein erfülltes, glückliches Leben führen zu können. Wir werden es schaffen, die Schatten der Vergangenheit aufzuarbeiten und uns wieder so nah zu sein, wie wir es als Kinder waren. An diesem Glauben halte ich fest.
»Ich dachte, wenn wir äußerlich zusammenpassen, festigt es vor den Mexikanern das Bild einer wiedervereinten Familie«, sage ich.
Jack nickt anerkennend und hält mir galant seinen Arm entgegen, damit ich mich bei ihm einhaken kann.
»Clever mitgedacht, Violet«, erkennt er beeindruckt.
Seine Wertschätzung bedeutet mir viel. Was damals auch zwischen uns vorgefallen sein mag, er ist und bleibt mein Bruder. Und will nicht jedes Mädchen von seinem Bruder beschützt und geliebt werden?
Gemeinsam verlassen wir mein Zimmer im ersten Stock und steigen die geschwungenen Stufen mit der edlen weißen Marmorverzierung am Geländer hinunter, die in die riesige lichtdurchflutete Eingangshalle führen. Es ist seltsam, sich in diesem luxuriösen Anwesen aufzuhalten und zu wissen, dass es zur Hälfte mir gehört. So, wie mir von allem die Hälfte gehört. Auch von dem Koks, das Jack vermutlich gleich kaufen wird. Mein Mund wird beim Gedanken daran staubtrocken, und mein Magen zieht sich zu einem festen Knoten zusammen. Ich will mit Drogen nichts zu tun haben, das weiß Jack. Und trotzdem verlangt er von mir, beim Essen anwesend zu sein und so zu tun, als würde es mich nicht stören. Es wird viel zu oft unterschätzt, wie leicht man der Sucht verfallen kann und wie sehr Drogen einen Menschen verändern können. Ich bin dafür wohl das beste Beispiel. Während meiner Tablettenphase im Krankenhaus nach meinem Unfall wurde ich zu einer völlig anderen Person. Ich fühlte mich glücklich und sorglos unter ihrem Einfluss. Aber sobald die Wirkung nachließ, erwischten mich die zurückgedrängten Gefühle mit einer solchen Wucht, dass ich unter ihrer Last beinahe zusammengebrochen wäre. Die körperlichen Entzugserscheinungen kamen dazu und warfen meine Reha-Erfolge um Wochen zurück. Eine Mitschuld daran zu tragen, anderen Menschen das anzutun, was ich beim Entzug durchgemacht habe, will ich meinem Gewissen nicht aufbürden. Und doch bist du jetzt hier, farblich abgestimmt auf deinen Bruder und kurz davor, die Höhle der Löwen zu betreten.
Mit nagendem Gewissen lasse ich mich von Jack ins geräumige Esszimmer führen und versuche, mich durch die Eleganz meiner Umgebung abzulenken. Es ist feige, sich den eigenen Gefühlen nicht zu stellen, dessen bin ich mir bewusst. Ewig werde ich die Augen nicht vor der Realität verschließen können, und wenn es so weit ist, muss ich für mich entschieden haben, wie ich mit ihr umgehen soll.
Ich atme tief durch und richte den Blick geradeaus. In der Mitte des länglichen Raumes thront ein dunkler Esstisch aus schwerem Holz, um den sich zehn passende Stühle sammeln. An den Wänden hängen eindrucksvolle Landschaftsgemälde in kunstvollen Rahmen, die exotische Orte zeigen. Unsere Mutter Elaine war dafür zuständig, die Immobilien der Familie Hasting einzurichten, und ist an diese Aufgabe sehr liebevoll und mit Bedacht herangegangen. So zumindest hat Jack es mir erzählt. An unsere Eltern habe ich leider nach wie vor keine Erinnerung. Für jedes ihrer Kinder und sogar für meinen Cousin Brix hat unsere Mutter in jedem Anwesen ein individuelles Zimmer eingerichtet, damit wir uns überall auf der Welt zu Hause fühlen. Egal, wie weit entfernt wir sind.
»Buenas tardes, caballeros«, begrüßt Jack die Mexikaner, die schon vor uns vom Butler hereingeführt worden sind.
Es sind drei Männer und eine Frau anwesend, die mit einem Glas Wein in der Hand vor einem der Gemälde stehen und es interessiert betrachten. Keine Ahnung, ob sie sich mit Kunst auskennen oder bloß darüber debattieren, wo auf der Welt diese Landschaft sein könnte. Jedenfalls wenden sie sich sofort uns zu, sobald wir den Raum betreten.
»Verzeihen Sie, dass wir Sie haben warten lassen. Meine Schwester brauchte noch etwas Zeit, um sich zurechtzumachen.« Jack geht auf unsere Gäste zu, mich weiterhin eingehakt.
»Frauen«, erwidert der bulligste der Männer abschätzig, und ich beiße mir angestrengt auf die Lippen, um mir meine Meinung zu seinem sexistischen Kommentar zu verkneifen. Ich schätze ihn auf Anfang sechzig und gehe davon aus, dass er der Kopf des Drogenkartells ist. Nach dem, was Caleb mir vorhin am Pool erzählt hat, sind neben dem Boss und seiner Frau auch die gemeinsamen beiden Söhne eingeladen worden. Alle vier haben tiefbraune, beinahe schwarze Augen und dunkles Haar. Wie Geier, die darauf warten, sich aufs Aas zu stürzen. Das Familienoberhaupt ist bereits leicht ergraut, und ich erkenne schwache Geheimratsecken, während die Haare seiner Söhne dicht und voll sind. Einer von ihnen trägt sie sehr kurz und akkurat getrimmt. Der andere hat sie wachsen lassen, sodass er sich immer wieder einzelne Strähnen hinter die Ohren schieben muss. Die Frau hat üppige Locken, die ihr, sorgsam frisiert und glänzend, auf die Schultern fallen.
»Guten Abend«, begrüße ich die Familie höflich und löse mich von Jack, um jedem die Hand zu reichen.
Der Boss stellt sich mir als Don Juan Herrero vor und lässt seinen Blick so eindeutig gierig über meinen Körper wandern, dass ich plötzlich extrem froh über das spießige Fehlen eines Ausschnitts bin. Angewidert wende ich mich seiner Frau zu, die mir freundlich die Hand reicht und so tut, als hätte sie diese Anzüglichkeit nicht bemerkt. Ihr Name ist Maria und ihr Lächeln ist so offen und ehrlich, dass ich sie sofort sympathisch finde. Die Söhne stellen sich als Eduardo und Carlos vor und sind zurückhaltender bei der Begutachtung meines Körpers als ihr Vater. Was aber leider nicht bedeutet, dass sie ganz darauf verzichten oder ich es nicht bemerken würde.
Nachdem die Fleischbeschau endlich überstanden ist, setzen wir uns an den Esstisch, lassen uns vom Butler Rotwein einschenken und stoßen miteinander an. Ich mag zwar keinen Rotwein, aber da muss ich heute Abend wohl durch. Ohne jeglichen Alkohol würde ich dieses Essen wohl kaum überstehen, also nehme ich, was ich kriegen kann.
»Es ist schön, Sie kennenzulernen, Violet. Erzählen Sie mir«, wendet sich Juan mir interessiert zu und starrt mich wieder ungeniert an. »Wo haben Sie die letzten Jahre verbracht?«
Ich stelle betont ruhig mein Glas ab und rattere die Geschichte herunter, die Jack mir zu erzählen aufgetragen hat. »Ich war in Texas«, beginne ich gespielt gelassen. »Es gab einen Vorfall, bei dem ich mein Gedächtnis verlor. Irrtümlicherweise wurde ich von der Polizei daraufhin für eine andere Frau gehalten und verbrachte die letzten Jahre unter ihrem Namen damit, meinen Collegeabschluss zu machen.«
»Was für ein Vorfall?«, will Carlos, der mit den längeren Haaren, wissen.
»Eine Gang erwischte mich während einer Gala in einem unbeobachteten Moment. Ich wurde entführt und schwer misshandelt. Meine Verletzungen führten letztlich zu einer Amnesie.«
»Was ist aus dieser Gang geworden?«, verlangt Juan zu erfahren und sieht eindringlich zu Jack.
»Nichts. Sie existiert nicht mehr« antwortet mein Bruder düster. »Wer sich mit einem Hasting anlegt, hat bereits verloren, bevor er seinen ersten Zug gemacht hat«, setzt er nach.
»Durch Zufall entdeckte mich einer von Jacks Kontaktmännern und informierte ihn, dass ich noch am Leben bin«, ergreife ich wieder das Wort und seufze theatralisch, als würde mich die Erinnerung daran immer noch aus der Bahn werfen. »Natürlich war es zuerst ein Schock zu erfahren, dass ich all die Jahre eine Lüge gelebt habe. Aber inzwischen erinnere ich mich an einiges aus meiner Vergangenheit und bin unendlich dankbar, wieder bei meinem Bruder sein zu dürfen. Ich dachte, ich sei allein auf der Welt, und nun habe ich meine Familie zurück. Das ist ein unbeschreiblicher Segen.«
Dieser Teil ist nicht einstudiert. Es berührt mich nach wie vor tief, nicht mehr allein auf der Welt zu sein. Okay, ich hatte Camy, die ich wie eine Schwester liebe. Aber eine echte, lebendige Familie zu haben, ist damit nicht zu vergleichen. In meinen dunkelsten Momenten habe ich mich nach einer vertrauten Person aus meiner Vergangenheit gesehnt. Nach einer Person, die mich wirklich kennt und eine Verbindung zu meinem früheren Ich darstellt. Nun habe ich diese endlich wiedergefunden.
»Auf die familia«, ruft Juan und erhebt sein Glas.
Erneut stoßen wir an und verfallen dann in Gespräche über die mexikanische Wirtschaft und die zerrüttete korrupte Regierung des Landes.
Als der Butler und das Hausmädchen dabei sind, die Vorspeisensalate aufzutragen, erscheint Caleb im Durchgang zum Esszimmer und huscht eilig auf den Platz neben meinem.
»Entschuldigen Sie die Verspätung, Juan. Aber ich hatte noch dringende geschäftliche Verpflichtungen«, erläutert er knapp und wirft einen langen Blick in die Runde.
Juan nickt wohlwollend und mustert flüchtig Calebs nasse Haare. Anscheinend musste er noch die Reste dieser geschäftlichen Verpflichtung beseitigen. Wobei ich mir nicht sicher bin, ob es Blut von einem Feind oder Schweiß einer lüsternen Frau war.
»Da Caleb nun auch da ist, lasst uns mit dem Essen beginnen«, verkündet Jack und greift zu seiner Gabel.
Das Dinner verläuft überraschend friedlich und angenehm. Ich unterhalte mich mit Maria über mein Kleid und das Geschäft, in dem ich es heute gekauft habe, und sie empfiehlt mir eine niedliche kleine Boutique am Rand von Hermosillo. Die Frau scheint nett zu sein, und ich frage mich, was sie dazu bewogen hat, sich einen Drogenbaron als Ehemann zu nehmen. Wurde sie dazu genötigt? War es aus Liebe oder stammt sie aus einer kriminellen Familie und ihre Verbindung diente einem Bündnis? Zu gern würde ich sie danach fragen, allerdings bin ich intelligent genug, um zu wissen, dass das eine schlechte Idee ist.
»Scotch?«, wendet sich Jack an seine männlichen Gäste, nachdem das Personal die letzten leeren Teller abgeräumt hat, und alle nicken zustimmend.
Wie aus dem Nichts erscheint eine Angestellte am Tisch und reicht den Männern bauchige Gläser mit dem wohl teuersten Scotch, den Jack auftreiben konnte. Wir Frauen hingegen werden erneut mit Rotwein abgespeist, was mich neidisch zu Calebs Drink blicken lässt. Er grinst überheblich und riecht betont genüsslich an seinem Scotch, sobald er es bemerkt. Blödmann.
»Kommen wir zum Geschäftlichen«, beschließt Juan ernst.
Darauf scheinen mein Bruder und Caleb gewartet zu haben. Zufrieden legt Caleb die Unterarme auf den Tisch und tauscht einen kurzen, aber bedeutsamen Blick mit Jack.
»Lassen Sie uns die Spielchen überspringen und direkt zum Wesentlichen kommen, Juan«, beginnt Caleb souverän. »Sie suchen nach Lagerflächen in den USA. Wir sind im Besitz von genügend frei stehenden und unauffälligen Immobilien, die für Ihre Zwecke ideal wären. Zudem sind wir auf der Suche nach Partnern, die unsere Klubs zuverlässig mit Stoff versorgen. Vorausgesetzt, die Konditionen stimmen.«
Carlos und Eduardo fixieren ihren Vater und warten auf seine Reaktion. Ebenso wie ich.
Ein Teil von mir wünscht sich, dass der Deal nicht zustande kommt. Immerhin geht es hierbei nicht um Süßigkeiten, sondern um Kokain. Ein anderer Teil von mir hingegen weiß mittlerweile, dass solche Geschäfte zu meiner Familie dazugehören. Und wenn ich mich nicht selbst ausschließen will, muss ich mich wohl oder übel damit arrangieren. Hin- und hergerissen leere ich den widerlich bitteren Rotwein und wende den Blick von Juan ab.
»Ihre Informanten haben durchaus recht mit der Annahme, dass ich vorhabe, in die USA zu expandieren, Caleb. Meine Ware ist zu fünfundneunzig Prozent rein und liegt damit weit über dem Durchschnitt, wie Sie wissen. Der US-amerikanische Markt scheint hungrig auf gute Qualität zu sein und wird mit Sicherheit den nötigen Preis dafür bezahlen. Das macht Ihr Land so interessant für mich«, erläutert Juan.
Das Lächeln, das er bei seinen Worten auf den Lippen trägt, macht mich stutzig. Irgendetwas stimmt nicht. Vorsichtshalber schaue ich mich nach unseren Sicherheitsmännern um und atme erleichtert aus, als ich zwei an der Tür zur Eingangshalle und zwei weitere an der Tür zur Küche entdecke. Ihre Waffen sitzen einsatzbereit an den Holstern um ihre Hüften und schenken mir Sicherheit. Auch wenn ich mir nicht wünsche, dass sie zum Einsatz kommen, ist es doch beruhigend zu wissen, dass sie da sind. Natürlich sind auch die Herreros nicht ohne Schutz gekommen. Ihre vier Bodyguards haben bei ihrem Erscheinen deutlich demonstriert, dass sie gut bewaffnet sind. Zwei von ihnen patrouillieren im Augenblick über das Außengelände des Anwesens, während die anderen zwei sich in der Eingangshalle aufhalten, wo sie für den Notfall in Hörweite sind.
»Was Ihre Informanten jedoch offenbar nicht wissen …«, fügt Juan nun gönnerhaft hinzu und zieht arrogant eine Braue in die Höhe, »… ist, dass ich anderweitige interessante Angebote erhalten habe.«
Schlagartig wird es still im Raum.