Wo bitte ist denn hier der Jakobsweg? - Kathrin Renner - E-Book

Wo bitte ist denn hier der Jakobsweg? E-Book

Kathrin Renner

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Beschreibung

Tausende Menschen brechen jährlich auf, um nach Santiago de Compostela zu pilgern. So nutzen auch die beiden Thüringer Jens und Kathrin ihre Jahresurlaube, um in Teilabschnitten das Geheimnis dieses Weges zu entdecken. Schon die ersten Etappen sind gespickt mit Pannen und Irrwegen und nicht alle können verstehen, warum zwei sonst so "normale" Menschen sich dies antun. Höhenangst, Fußprobleme, ständiges Verlaufen und allerlei Missgeschicke sind ihre Wegbegleiter und immer wieder tauchen neue Probleme in Form von Krankheiten oder drohendenTierangriffen auf. Beide sind berührt von der Güte und Hilfsbereitschaft der Menschen am Wegesrand. Aus Begegnungen werden Freundschaften, doch recht oft verlieren sie liebgewordene Weggefährten wieder aus den Augen. Und so manches Mal stehen sie vor der Entscheidung, ihre Pilgerreise abbrechen zu müssen.

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Dieses Buch beruht ausschließlich auf wahren Begebenheiten. Zum Schutz der Persönlichkeitsrechte wurden manche Namen geändert. Alle Fotos einschließlich Titelfoto sind privat.

Für meine Eltern

Inhalt

Vorwort

2008 • Leutenberg – Bamberg 133 km

26.06. – 28.06. 2008 • Bamberg – Nürnberg

Tag Bamberg – Trailsdorf 25 km

Tag Trailsdorf – Neunkirchen am Brand 33 km

Tag Neunkirchen am Brand – Nürnberg 40 km

5.4. – 11.4. 2009 • Nürnberg – Nördlingen

Tag Nürnberg – Unterreichenbach 25 km

Tag Unterreichenbach – Spalt 25 km

Tag Spalt – Gunzenhausen 20 km

Tag Gunzenhausen – Markt Heidenheim 17 km (32)

Tag Markt Heidenheim – Oettingen 18 km

Tag Oettingen – Nördlingen 25 km

27.03. – 03.04.2010 • Nördlingen – Biberach

Tag Nördlingen – Neresheim 25 km (34)

Tag Neresheim – Giengen an der Brenz 23 km

Tag Giengen – Nerenstetten über Niederstotzingen 31 km

Tag Nerenstetten – Neu-Ulm 35 km

Tag Neu-Ulm – Oberdischingen 25 km

Tag Oberdischingen – Äpfingen 22 km(24)

Tag Äpfingen – Biberach 12 km

11.09. – 25.09.2010 • Biberach – Interlaken

Tag Biberach – Steinhausen 18 km(12)

Tag Steinhausen – Bad Waldsee 28 km(24)

Tag Bad Waldsee – Weingarten 25 km(20)

Tag Weingarten – Brochenzell 22 km(21)

Tag Brochenzell – St. Gallen 28 km

Tag Sankt Gallen – Schwellbrunn 17 km

Tag Schwellbrunn – Wattwil 18 km

Tag Wattwil – Rapperswil 27 km

Tag Rapperswil – Einsiedeln 17 km

Tag Einsiedeln – Brunnen 25 km

Tag Brunnen – Stans 18 km

Tag Stans – Sachseln 20 km

Tag Sachseln – Brünigpass 19 km

Tag Brünigpass – Ringgenberg 25 km

Tag Ringgenberg – Interlaken 4 km / Abreise

03.09. – 11.09.2011 • Interlaken – Epalinges

Tag Ringgenberg – Oberhofen 24 km

Tag Oberhofen – Wattenwil 27 km

Tag Wattenwil – Heitenried 25 km

Tag Heitenried – Freiburg 20 km

Tag Freiburg – Chavannes sus Orsonnens 22 km

Tag Chavannes sus Orsonnes – Bressonanz 25 km

Tag Bressonanz – Lausanne 18 km

13.9. – 03.10.2014 • Epalinges – Le Puy en Velay

Tag Epalinges – Morges 20 km

Tag Morges – Rolle 17 km

Tag Rolle – Tannay 28 km

Tag Tannay – Neydens 29 km

Tag Neydens – Chaumont 28 km

Tag Chaumont – Seyssel 19 km

Tag Seyssel – Chanaz 22 km

Tag Chanaz – Yenne 16 km

Tag Yenne – Saint-Génix-sur-Guiers 25 km

Tag Ruhetag in Saint-Génix-sur-Guiers

Tag Saint-Génix–sur-Guiers – Le Pin 27 km

Tag Le Pin – Balbins 29 km

Tag Balbins – Moissieu-sur-Dolon 28 km

Tag Moissieu-sur-Dolon – Roussilion 15 km

Tag Roussilion – Le Buisson 26 km

Tag Le Buisson – Le Setoux 31 km

Tag Le Setoux – Montfaucon-en-Velay 24 km

Tag Montfaucon-en-Velay – Araules 24 km

Tag Araules – Saint-Julien-Chapteuil 14 km

Tag Saint-Julien-Chapteuil – Le Puy en Velay 19 km

Tag – Ruhetag in Le Puy en Velay

Tag Abreise

Nachwort

Dank

Vorwort

Ich habe ein paar Pfund zu viel auf den Hüften, leide unter mehrfachen Fußproblemen und bin weder schwindelfrei noch trittsicher. Dafür aber zuweilen recht tollpatschig. Mit nur wenig Orientierungssinn ausgestattet, bringe ich es sogar fertig, mich in kleineren Ortschaften sowie Einkaufszentren zu verlaufen. Deshalb sage ich manchmal aus Spaß, wenn ich meine Lieben mal wieder zu nerven scheine: »Wenn Ihr mich los sein wollt, dann setzt mich doch einfach irgendwo aus.«

Vor Jahren hätte ich es nicht für möglich gehalten, auch nur zehn Kilometer am Stück zu laufen.

Und dennoch zog mich das Thema Jakobsweg an wie ein Magnet.

Aber nicht nur ich, sondern auch mein Partner Jens war von diesem Virus betroffen.

Ich weiß noch, wie ich staunend zum ersten Mal hier in meiner Heimat Thüringen ein Schild erblickte, welches den Fernwanderweg nach Budapest auswies.

»Was, bis dorthin kann man laufen?«, dachte ich bei mir. Es faszinierte mich unwahrscheinlich, zu Fuß Ländergrenzen überwinden zu können.

Einige Zeit später saßen wir mit Freunden beisammen, als die beiden das Thema Pilgern ins Spiel brachten. Sie hatten schon mehrfach vom Jakobsweg gehört und waren total begeistert von dieser Idee, welche sich zum Hauptgesprächsthema des Abends entwickelte.

Irgendwann wurde im TV die Doku-Serie Promi-Pilgern übertragen, welche wir regelrecht verschlangen. In der Zwischenzeit lasen wir dann auch das berühmte Buch von Hape Kerkeling, was uns bestärkte, eigene Erfahrungen in dieser Richtung zu wagen.

Schon öfter haben wir im Rahmen von Wanderungen den Abschnitt von Rudolstadt nach Saalfeld mit stolzen zehn Kilometern zu Fuß zurückgelegt.

Nun also sollte ein Probepilgertag Aufschluss darüber geben, ob das Laufen längerer Strecken überhaupt etwas für uns ist. Deshalb beschlossen wir Ende des Jahres 2007, dies in die Tat umzusetzen.

Die Weihnachtszeit inklusive übermäßiger Leckereien und Festessen lag hinter uns und somit wurde es Zeit für etwas Bewegung. Der 29.Dezember war ein sehr kalter, rauer und stürmischer Tag, als wir aufbrachen, um von Saalfeld bis nach Leutenberg zu laufen. Das Wegeprofil hatte es in sich und von peitschendem Schneeregen begleitet, kämpften wir uns ununterbrochen bergauf und bergab. Immerhin legten wir beträchtliche fünfundzwanzig Kilometer zurück und kamen mehr tot als lebendig zu Hause an. Wir belagerten die Couch, um diese so schnell nicht mehr zu verlassen und auch noch Tage später waren wir sehr ruhebedürftig.

Aber wir hatten es geschafft und es hatte irgendwie auch Spaß gemacht! Das hieß für uns, das Geheimnis Jakobsweg selbst zu erkunden.

Mit diesem neuen Steckenpferd stießen wir in unserem persönlichen Umfeld vielfach auf Interesse, Bewunderung, aber auch zahlreiche Fragen. »Wovor lauft ihr denn bloß davon?«, »Warum fahrt ihr nicht mit dem Auto?«, »Warum tut Ihr euch das nur an?« Sogar Mutmaßungen, wir würden nun einer Sekte angehören beziehungsweise mit uns würde etwas nicht stimmen, wurden in den Raum gestellt.

Unsere Wege waren geprägt von ständigem Verlaufen und vielen lustigen Begebenheiten. Es verging kaum ein Tag, an dessen Abend wir nicht lachen mussten über derartige Dinge.

Den ersten Abschnitt, den wir in kleinen Etappen zurücklegten, habe ich lediglich in Kurzversion beschrieben.

2008 • Leutenberg – Bamberg 133 km

Ein spitzer Aufschrei durchbrach die friedliche Stille des Morgens!

»Mist!«, fluchte ich, während mein Versuch, im Gewirr von Ästen und Gestrüpp wieder auf die Beine zu kommen, kläglich scheiterte.

Jens, der die ganze Zeit vor mir lief, kam erschrocken zurück. »Wie hast du das angestellt?«, fragte er entgeistert und reichte mir die Hand, um mich aus dem Schlamassel zu befreien. Mit aller Kraft zog er an mir, was den Stein ins Rollen brachte! Wieder aufrecht stehend, machte ich einen großen Schritt. Während mein Schuh dabei im Astwerk hängen blieb, der Fuß in einem Schlammloch versank und ich in spagatähnlicher Stellung am nächstbesten Baum Halt fand, folgte ein zweiter, wütender Schrei.

«Ich will wieder heim!!«

Den Tränen nahe, befreite ich mich mit Jens’ Hilfe von sämtlichen, an mir haftendem Unrat und Schmutz und ließ mich schließlich doch davon überzeugen, diesen ersten richtigen Pilgertag nicht gleich wieder abzubrechen.

Wir befanden uns oberhalb von Leutenberg, mitten im Wald, auf sehr naturbelassenen Wanderwegen. Hier existiert noch kein offizieller Jakobsweg.

Mit zerzaustem Haar und einem Kratzer mitten auf der Stirn nahm ich an der Seite von Jens die weitere Wegstrecke in Angriff. Dies ähnelte mehr einer Schnitzeljagd als einer Pilgertour, da die Beschilderung recht dürftig war. Die ehemalige innerdeutsche Grenze querend, liefen wir auf einem Höhenweg an Ludwigstadt vorüber, welches idyllisch unten im Tal gelegen ist.

Mehrfach rätselten wir, trotz Kartenmaterials, über den Wegverlauf in dieser bergigen, wenig reizvollen und durch dunkle, unaufgeräumte Wälder geprägten Landschaft. Ich schickte einen dankbaren Blick zum Himmel, als wir endlich in Steinbach am Wald ankamen!

Mit neuem Elan waren wir auf dem Weg nach Kronach unterwegs. Die Sonne schien den ganzen Tag, trotzdem verfehlten wir aus unerfindlichen Gründen gleich zu Anfang die Richtung. Wir ließen uns davon aber nicht entmutigen und gelangten auf den Burgenweg, der alles andere als einladend war. Wir kämpften uns über schlecht passierbare, von Traktoren zerfurchte Wege, klebrige Felder und überflutete Wiesen. Versöhnt wurden wir jedoch letztendlich vom Anblick der gewaltigen Festung Rosenberg oberhalb von Kronach, welche sich stolz über die Landschaft erhebt. Niemals ist diese Burg erobert worden und nicht einmal der Dreißigjährige Krieg konnte ihr etwas anhaben.

Die oberfränkische Stadt Kronach liegt an der Bier – und Burgenstraße und ist sehr geschichtsträchtig. Zu bemerken wäre zum Beispiel die unter Denkmalschutz stehende Pfarrkirche St. Johannes der Täufer, die nach dem Heiligen benannt ist, dessen Figur an der Nordseite verewigt wurde.

Wer es sich zeitmäßig leisten kann, wird von einem ausführlichen Stadtrundgang nicht enttäuscht sein.

Ab Kronach beginnt dann der offizielle in südliche Richtung verlaufende Jakobsweg.

»Endlich können wir auf ordentlich markierten Wegen gehen!«, freute sich Jens.

»Ja, nun ist Schluss mit Verlaufen!«, jubelte ich beschwingt.

In Oberlangenstadt pausierten wir bei einem leckeren Weißwurstimbiss, wurden kurz darauf von aggressiven, schwarzen Schwänen verfolgt, die ihre Jungtiere vor uns gefährlichen Pilgern schützen mussten und fanden das im Plan beschriebene Schloss nicht. Dafür standen wir kurz darauf total orientierungslos mitten auf einem riesigen Golfplatz.

Nach dessen Überquerung und langem Umherirren fanden wir endlich die Grobrichtung wieder und wurden, zurück auf dem Jakobsweg, mit einem heftigen Gewitter belohnt. Da wir uns auf freiem Feld befanden, waren wir diesem voll ausgeliefert und rannten mit der Angst um die Wette. Immer wieder ließen uns grelle Blitze sowie gewaltige Donnerschläge zusammenschrecken. Erleichtert erreichten wir den Stadtrand, wo wir durchnässt und schreckensbleich in einem Hauseingang Schutz fanden.

Eine halbe Stunde später schlichen wir mit letzten Kräften und bei herrlichstem Sonnenschein in das Zentrum von Lichtenfels, um die Jakobuskirche zu finden. Nachdem wir dort unsere Pilgerausweise abgestempelt hatten, rückten wir in die nächstbeste Pizzeria ein, um den Tag entsprechend ausklingen zu lassen.

Der nächste große Anlaufpunkt war die sehr beeindruckende Wallfahrtskirche Vierzehnheiligen, erbaut von Balthasar Neumann in den Jahren von 1743 -1772. Noch heute leben hinter den Mauern des angrenzenden Klosters wenige Franziskanermönche. Dieses bedeutende fränkische Baudenkmal ist ein absolutes Muss auf dem Weg!

Wir erklommen den heiligen Berg der Franken, den Staffelberg mit seiner Adelgundiskapelle, für dessen Abstieg auf glitschigen Wegen ich eine gute halbe Stunde brauchte, während Jens sich über meinen Verbleib wunderte.

Als wir über Zapfendorf dann endlich Ebing erreichten, war es bereits stockdunkel. Im Brauereigasthof Schwanenbräu war ein Zimmer für uns reserviert, in dem ich zunächst ohne Worte und in voller Montur auf das mir zugedachte Bett fiel, um mich nicht mehr bewegen zu müssen. Dank der Überredungskünste von Jens saßen wir etwas später in der gemütlichen Gaststube bei einer Brotzeit und hauseigenem schmackhaftem Bier.

Ein schöner Pilgerweg führte uns am nächsten Tag von Ebing über Baunach und Hallstadt nach Bamberg. Auch als fränkisches Rom wird diese Stadt, welche auf sieben Hügeln liegen soll, bezeichnet. Bamberg gehört zu Deutschlands schönsten Städten und wurde 1993 in das Weltkulturerbe aufgenommen. Sehr sehenswert sind, nur um einige Beispiele zu nennen, der Dom, das ehemalige Benediktinerkloster am Michaelsberg, das alte Rathaus und Klein-Venedig. Ebenso bekannt und beliebt ist das Schlenkerla, eine kultige Kneipe, in der man sich an der oberfränkischen Bierspezialität, dem Rauchbier, laben kann. Dort herrscht stets großer Andrang, jedoch findet man irgendwo immer noch ein Eckchen zum Verweilen.

Gefährliche Tiere

Bedrohliche Wolken über dem »Heiligen Berg« der Franken

26.06. – 28.06. 2008 • Bamberg – Nürnberg

1.Tag Bamberg – Trailsdorf 25 km

Wir nutzten für unsere erste ausgiebige Pilgertour ein verlängertes Wochenende und reisten sehr früh mit dem Auto in Bamberg an. Bereits auf der Hinfahrt versprach das Wetter nicht sehr viel Gutes, der Himmel hing wie eine graue Decke über uns und es regnete leicht. Doch je weiter wir uns von zu Hause entfernten, um so mehr klärte es sich auf und kurz vor unserem Ziel blinzelte schon die Sonne hinter den Wolken hervor, als wolle sie uns einen guten Weg wünschen.

Da sich die Parkplatzsuche nicht so einfach gestaltete und wir wegen des Pilgerstempels noch ins Pfarramt mussten, kamen wir erst gegen halb elf an der Jakobskirche los.

Natürlich wollten wir nichts falsch machen und schauten genauestens auf die Markierung des Weges. Und es passierte trotzdem!!

Nach gefühlten fünfzig Metern wussten wir nicht mehr, wie es weitergehen sollte. Wir holten unseren Pilgerführer hervor, von dem wir dachten, dass wir ihn nicht so schnell bräuchten und orientierten uns – mitten in Bamberg!

Die Stadt verlassend, blickten wir noch einmal zurück. Von Weitem grüßte die alles überragende Altenburg, welche im Jahre 1109 erstmals geschichtlich erwähnt wurde.

Zum größten Teil war es ein sehr schöner Weg, mittlerweile knallte die Sonne kräftig herab und viele Obstbäume luden zum Naschen ein. Das mehrstimmige Summen von Insekten begleitete uns die ganze Zeit.

Eine größere Pause machten wir in Herrnsdorf. Die dortige Pfarrkirche Sankt Jakobus der Ältere war bisher eine der pilgerfreundlichsten Kirchen auf dem gesamten Weg. Es gab Obst sowie Getränke, was wir sehr praktisch fanden, da unsere Vorräte fast aufgebraucht waren. Ein Buch zum Einschreiben lag bereit und wegen des Pilgerstempels mussten wir bei einer im Ort wohnenden Dame klingeln.

Schnell fanden wir die Adresse und eine sehr freundliche ältere Frau öffnete die Tür. Sie bat uns herein, was wir aber leider ablehnen mussten, da die Zeit etwas drängte. Jedoch führten wir ein nettes, kurzes Gespräch, nachdem sie unsere Pässe abgestempelt hatte und setzten unseren Weg nach ein paar Minuten fort.

Herrnsdorf ist ein hübscher, kleiner Ort, den wir in guter Erinnerung behalten werden! Am Ortsausgang verweilten wir vor einer hellen Säule, auf der folgender Spruch geschrieben stand:

Weg der Sehnsucht,

Jakobusweg vormals

viel begangen.

Fromme Pilger

brachen auf, mutig,

voll Verlangen bis

ans End der Welt

zu gehen, an Jakobus

Grab zu stehn,

Santiago de Compostela.

Weiter ging es über den Kreuzberg, auf dem sich drei große Bierkeller befanden. Bei diesem schönen Wetter herrschte reges, volksfestähnliches Treiben und Menschen jeden Alters belagerten die Biertische. Kellner, schwerbeladenen mit Tabletts voller Bierkrüge, flitzten umher und lecker duftende Schweinshaxn und Würstl wurden verteilt. Kinder verschiedenster Altersstufen tobten unbefangen auf dem Spielplatz herum. Stimmengewirr begleitet vom sanften Rauschen der Bäume untermalte diese fröhliche, ausgelassene Atmosphäre. Das kühle, goldene Nass floss in Strömen.

Leider nicht für uns!

Während des Laufens verzichten wir generell auf den Genuss von alkoholischen Getränken, da dies uns letztendlich nur ermüden würde. Wir wollen mit klaren Sinnen den Weg begehen.

Ein kleines Ritual jedoch gibt es bei uns! Meist haben wir ein kleines Fläschchen Sekt im Rucksack, welches wir etwa ein bis zwei Kilometer vor dem Tagesziel an einem schönen Fleck genießen.

Und dies war auch kurz vor Trailsdorf unumgänglich. Wir saßen am Zaum eines Gatters gelehnt, in welchem mehrere Dutzend, aufgeregt schnatternde Gänse hin und her rannten und uns argwöhnisch beäugten.

Unsere etwas abseits vom Jakobsweg liegende Unterkunft war eine Pension inklusive Gaststätte, was gut war, da wir an diesem Tag keinen Schritt mehr laufen konnten und wollten.

Auf dem fränkischen, teils auch auf dem schwäbischen Jakobsweg gibt es keine, beziehungsweise nur wenige Pilgerunterkünfte, dafür aber sind meist preiswerte Pensionen oder Privatzimmer leicht zu bekommen. Allerdings sollte man sich schon ein paar Tage im Voraus darum bemühen.

Unser Zimmer war groß, die Betten bequem und das Essen in der Gaststätte hervorragend. Vom fränkischen Bier ganz zu schweigen. Wir fühlten uns sehr gut aufgehoben und begaben uns recht bald zur Ruhe.

2. Tag Trailsdorf – Neunkirchen am Brand 33 km

Nach einem guten Frühstück und mit neuer Motivation machten wir uns auf den Weg und als Erstes auf die Suche nach einem Lebensmittelladen, um den Tagesproviant zu sichern. In der Bäckerei Der Lunz, wo es nicht nur Backwaren gab, fanden wir alles Notwendige für unterwegs.

Kurz vor Forchheim stießen wir auf den Seerosenweiher, an dem wir ein wenig verweilten. Ein schöner Name, fanden wir, und irgendwie passend für diese idyllische Stelle. Wir waren nicht die Einzigen hier, denn Scharen von Waldameisen belagerten den Waldboden um die kleine hölzerne Sitzgruppe herum. Sie rannten geschäftig in unterschiedliche Richtungen, einige von ihnen schleiften kleine Stöckchen und Grashalme hinter sich her und scheinbar wusste jede Einzelne von ihnen was sie zu tun hatte. Fasziniert beobachteten wir deren emsiges Treiben. Ein fleißiges Völkchen! So manch ein Zweibeiner, der achtlos an diesen Lebewesen vorbeigeht oder diese zertrampelt, könnte sich ein Beispiel an ihnen nehmen.

Forchheim, welches wir über eine große Brücke erreichten, gefiel uns richtig gut. Es handelt sich hierbei um eine Große Kreisstadt und zählt ungefähr 31.700 Einwohner. Geprägt von schönen Fachwerkhäusern und geschäftigem Treiben war die Stadt dabei, sich in eine riesige Festhalle zu verwandeln. Die Vorbereitungen für das Altstadtfest waren in vollem Gange und vor dem ansehnlichen Rathaus, welches schon vor 1402 als spätgotischer Fachwerkbau entstand, wurden zahlreiche Biertischgarnituren aufgestellt.

Mit einem Fünf-Liter-Kanister Wasser bewaffnet, unsere Trinkvorräte waren aufgrund der Hitze schon wieder aufgebraucht, schafften wie es ohne Zwischenfälle gerade mal bis Pinzberg.

Schön anzusehen war aus der Ferne der Walberla, ein markanter Tafelberg sowie eines der fränkischen Wahrzeichen und Eingang zur Fränkischen Schweiz. Genauestens achteten wir auf alle Wegweiser, was uns zum Verhängnis wurde, als wir Pinzberg erreichten.

»Komisch, genauso ein Haus habe ich vorhin schon mal gesehen.«, stellte ich verwundert fest. »Ich hatte mir Pinzberg nicht so groß vorgestellt!«

»Na guck doch mal! Das gibt’s ja gar nicht, hier waren wir doch vorhin schon!«, empörte sich Jens. »Die haben uns eine riesige Runde durch den Ort geschickt!«

Und tatsächlich hatte wohl irgendein Scherzkeks oder den Pilgern nicht Wohlgesonnener das Jakobswegzeichen falsch herum am Laternenpfahl angebracht. Notgedrungen wurde man so in die Irre geleitet.

Mühsam fanden wir aus dem Ort heraus. Meine Füße schmerzten und die Schultern brannten, was wohl auf meinen nicht sehr pilgerfreundlichen Rucksack zurückzuführen war. Ich wollte einfach nur noch ankommen, nicht einmal die viel gepriesene etwa tausendjährige Tanzlinde auf dem Dorfplatz in Effeltrich gegenüber der Wehrkirche weckte mein Interesse.

Während Jens diese begeistert aus allen erdenklichen Blickwinkeln fotografierte, saß ich teilnahmslos, stoisch vor mich hin starrend unter dem riesigen Blätterdach und versuchte, meinen Gedanken zu folgen.

Wie viele Pilger verweilten wohl schon im Schatten dieses stolzen und mächtigen Baumes? Was wurde hier schon getanzt, gelacht und geredet? Und wie oft mag diese Tanzlinde auf Fotos verewigt worden sein? Und ich sitze nun hier und sehe sie mir nicht einmal richtig an!

Nun waren es immer noch vier Kilometer und versunken in Selbstmitleid, war ich an diesem Tag besonders nah am Wasser gebaut. Warum nur hatten wir nicht Effeltrich als Tagesziel gewählt? Ich fühlte mich total ausgelaugt und Jens’ Versuche, mich während des Weiterlaufens aufzuheitern, scheiterten kläglich. Kurz vor Neunkirchen am Brand, auf der Suche nach einem würdigen Fleckchen zum Genuss unseres Sektes, protestierte ich schließlich mit Tränen in den Augen.

»Ich laufe nicht mehr weiter! Ich bleibe jetzt hier und wenn ich mich mitten auf die Straße setzen muss!«

So leerten wir einträchtig am staubigen Straßenrand genussvoll unsere kleinen Sektfläschchen, was mich auch wirklich etwas aufpäppelte. Etwa eine halbe Stunde später kamen wir in Neunkirchen an, wo wir im Gasthof Zur Seku herzlich empfangen wurden.

Zünftiges Essen, ein kühles Bier sowie die Freundlichkeit der Leute stimmten mich versöhnlich und so begann ich allmählich, mich auf den nächsten Pilgertag zu freuen.

Durst ohne Ende

Die tausendjährige Tanzlinde in Effeltrich

3. Tag Neunkirchen am Brand – Nürnberg 40 km

Wir waren schon sehr gespannt auf diese Etappe und konnten kaum erwarten, unsere Rucksäcke zu schultern, um weiterzuziehen! Wir würden zum Kreuzweiher kommen, einen Umweg über Marloffstein gehen und die dortige Jakobskirche aufsuchen, um dann schließlich stolz in Nürnberg einzumarschieren. So war der Plan! Unser Weg führte vorbei an einem großen Erdbeerfeld sowie riesigen Kirschplantagen, welche wir nicht einfach so links liegen lassen konnten. Die Früchte schmeckten herrlich süß und obendrein bekamen wir noch ein exklusives Katz und Maus Spiel geboten. Eine fuchsrote Katze saß mitten auf der Straße mit ausgestreckten Vorderpfoten, zwischen denen eine kleine Maus hin und her rannte.

Ein nettes älteres Ehepaar, mit dem wir etwas plauderten, schenkte uns ein Schälchen selbstangebauter Kulturheidelbeeren. Die Sonne knallte vom Himmel herab und meinte es an diesem Tag besonders gut mit uns. So wie auch ich am Morgen mit Jens, den ich angesichts der weiten Strecke überredet hatte, die Füße mit Hirschtalg einzucremen. Ein Riesenfehler!!

Als ich ihn ratlos am Wegesrand sitzen sah, ahnte ich Schlimmes:

»Was ist passiert?«

Vorwurfsvoll präsentierte er mir die in den letzten Stunden entstandenen Blasen an beiden Füßen.

»Noch niemals in meinem Leben hatte ich Blasen, hätte ich sie nur nicht mit diesem blöden Hirschtalg eingeschmiert!«, fluchte er.

»Das sieht ja schlimm aus, vielleicht sollte man die Füße lieber am Abend eincremen …?«, murmelte ich schlechten Gewissens. »Überall wird doch Hirschtalg angepriesen …!«

Angekommen in Marloffstein, steuerten wir die im Jahre 1812 errichtete Jakobskirche an. Ein schlicht gehaltenes, kompaktes Bauwerk, dessen Ur-Geschichte viel weiter zurück liegt. Die Gemeinde Marloffstein selbst hat an die 1.600 Einwohner und gehört dem Landkreis Erlangen-Höchstadt an.

Wir stempelten unsere Pilgerpässe im Vorraum der Kirche, deren Inneres wir leider nicht besichtigen konnten, da die Tür verschlossen war.

Vorbei an blühenden Wiesen und Feldern ging es in Richtung Kreuzweiher und weil dieser sicher wunderschön war, wollten wir dort rasten. Ein längeres Stück mussten wir auf dem Grünstreifen direkt neben der Leitplanke an der Straße zurücklegen, bevor wir links in den Wald abbiegen konnten.

Die Spannung stieg!

Einen Waldweg entlang kommend, standen wir schließlich vor einem Teich und erkannten, dass Wunschdenken und Realität zwei total verschiedene Dinge waren …

»Was, dieser Tümpel kann doch nicht der Kreuzweiher sein …!«

Er war es aber!

Ein paar Enten schwammen auf dem trüben Gewässer in unsere Richtung, da sie Leckerbissen erhofften, kehrten aber sogleich wieder um, als sie die Lage checkten.

Unter dunklen Bäumen befanden sich weitere kleine Teiche, umgeben von geschlossenen Imbissbuden und Kiosks. Alles wirkte verlassen und trostlos und nichts animierte uns zum Bleiben. Wir kämpften uns, sehr auf die Wegmarkierung achtend, durch lichte Wälder und schließlich wieder bergauf nach Kalchreuth, womit wir uns nun endgültig in Mittelfranken befanden. Bei einem Metzger versorgten wir uns mit einem kleinen Imbiss sowie eiskalter Cola und pausierten auf der Bank einer Bushaltestelle.

Viele Wiesen und zahlreiche Kirschplantagen sind charakteristisch für diese Gegend. Nach einer anschließenden, ausgiebigen Kirschmahlzeit am Ortsausgang konnten wir schon bald schon die im Dunst liegende Silhouette Nürnbergs in der Ferne erblicken. Bis dorthin sollten es wirklich noch neun Kilometer sein??

»Wir sind bald da!«, jubelte ich Jens entgegen, der zustimmend meinte: »Das sieht ja echt nicht mehr weit aus.«

Das Ziel war sichtbar und enthusiastisch marschierten wir drauflos.

Durch den idyllischen Kalchreuther Forst gelangten wir in die Stettenberger Schlucht. Wir waren guter Dinge und kamen uns vor wie in einem Zauberwald. Bis zum Boden reichende, blätterbehangene Äste, gnomenhaft aussehende Wurzelgebilde und kleine Rinnsale, die zwischen Felsplatten hervorquollen, wirkten märchenhaft!

Doch bald schon verflog die Magie, als wir uns mitten im riesengroßen Reichswald befanden, der kein Ende nehmen wollte. Die langen Waldwege schienen bis zum Horizont zu gehen und kaum waren wir am Ende angelangt, voller Neugier auf das was wohl dahinter auftauchen würde, tat sich ein wieder ein ebenso langer Weg auf. Endlos setzte dies sich fort!

Wir wurden fast wahnsinnig und es kam uns vor, als ob wir schon seit Stunden hier umherirrten. Wir waren erschöpft, genervt und durstig. Als wir einen Moment innehielten, um auszuruhen, »ermunterte« uns eine des Weges kommende, ältere Dame, indem sie sämtliche Nahverkehrsmittel aufzählte, welche uns in die Innenstadt bringen würden. Denn diese Strecke könne man doch gar nicht zu Fuß gehen.

Demotiviert gingen wir weiter auf unendlich langen Wegen, bis es allmählich lichter um uns herum wurde und wir völlig fertig die ersten Häuser von Nürnberg erreichten. Fast gleichzeitig steuerten wir die nächstbeste leere Bank an, welche sich in dem vor uns liegenden Park befand und sanken in stillem Einvernehmen darauf nieder.

»Vielleicht fährt ja doch ein Bus bis in die Stadt, das sind schon noch ein paar Kilometer ….«, murmelte Jens.

Mehr als ein »Hmm …!«, war ich nicht in der Lage zu antworten.

Nach etwa einer Viertelstunde gemeinsamen Schweigens wurde uns klar, dass wir irgendwie ins Zentrum gelangen mussten.

Der Proviant war alle, die Wasserflaschen leer und unser Energiepegel auf dem Nullpunkt. Mühsam schulterten wir die Rucksäcke und schleppten uns den Ohrwaschelweg entlang, vorbei am Nuschelbergweg und nicht einmal diese lustigen Straßennamen konnten uns erheitern. Zu unserer Freude aber entdeckten wir nach einer langen Geradeausstrecke rechterhand einen Supermarkt. Die Rettung!

Im Besitz von zwei kleinen Sektflaschen sowie reichlich Wasser, campierten wir auf einem Bordstein und ließen die lauwarme, geschmacklose Flüssigkeit gierig in uns hineinlaufen. Nichts konnte in diesem Augenblick besser munden.

Etwas belebt, jedoch leicht irre von Anstrengung und Sonneneinstrahlung schlichen wir weiter an der Strasse entlang, bis wir den angrenzenden Park entdeckten, in den wir voller Freude und mit letzten Kräften hineinstürzten, um uns auf die Wiese fallen zu lassen. Wie zwei Verrücktgewordene kicherten wir herum, schnitten uns gegenseitig Grimassen zu und hielten das Ganze auch noch mit der Kamera fest. Es schien, als hätte die Vernunft uns nun total verlassen!

Jedoch die fortgeschrittene Zeit ließ uns etwas zur Besinnung kommen, denn bis zwanzig Uhr nur konnten wir unseren Pilgerausweis in der Jakobskirche abstempeln lassen. Schon vor Antritt unserer Pilgerreise hatten wir telefonisch abgesprochen, uns zu melden, sobald wir in Nürnberg sind. Denn auch jeder Kirchendiener hat mal Feierabend.

So hasteten wir stupide mit letzten Kräften den noch sehr langen Weg durch Vororte hinein bis ins Zentrum von Nürnberg. Wir gelangten zur Kirche und gerieten dabei in ein zünftiges Stadtfest. Überall waren Stände und Biertischgarnituren aufgebaut, fröhliche Musik vermischte sich mit dem Stimmengewirr verschiedener Sprachen und es roch verlockend gut nach Gebratenem.

Eine halbe Stunde später verließen wir gemeinsam mit dem netten Kirchendiener die Jakobuskirche. So saßen wir mit gestempelten Pässen und vierzig Kilometer in den Knochen inmitten der Nürnberger Altstadt zwischen Menschenmassen an einem der Biertische bei Musik, Rostbrätel und Bier.

Erstmals 1050 wurde die Reichsstadt Nürnberg, zu dieser Zeit Norenberc genannt, in der Geschichte erwähnt. Die Burg, welche im 12. Jahrhundert von den Staufern ausgebaut wurde, könnte sicher einiges von dem Leben der vielen Kaiser erzählen, die bis ins 16. Jahrhundert hinein auf ihr regiert hatten. Erwähnenswert ist unter anderem auch die größte Stadtbefestigung Mitteleuropas in Form einer 3,8 Kilometer langen Mauer, inklusive der 67 kleinen noch intakten Türme. Zu bemerken wären auch die zahlreichen, von unterschiedlichen Religionen geprägten Kirchen.

An diesem Abend fuhren wir noch mit dem Zug nach Bamberg zurück und waren glücklich, dort unser Auto wiederzufinden, welches drei Tage lang treu gewartet hatte. Gegen Mitternacht kamen wir hundemüde zu Hause an.

Am nächsten Tag fühlten wir uns noch immer recht matt, waren mit unseren Wehwehchen beschäftigt und setzten keinen Fuß vor die Tür. Jens pflegte seine blasenübersäten Füße und ich lag fast bewegungslos, mit schmerzenden Schultern auf der Couch herum.

Für mich stand fest, dass ein neuer pilgerfreundlicher Rucksack her musste. Dies bedeutete auch, dass wir uns in Gedanken schon mit dem weiter führenden Weg in Richtung Santiago de Compostela beschäftigten.

Weg-Meditation

Andere Wege gibt es viele,

mit Sonnen- und mit Regentagen.

Sie bieten Rast und Schattenkühle –

Und du bleibst leer im Unbehagen …

Doch dieser Weg, er ist der deine,

er fordert dich ins harte Jetzt,

er will von Dir das letzte Eine,

er will dich ganz- nicht unverletzt.

Versag dich nicht – trau Deinem Sehnen,

folg seinem inn’ren Rufen.

Und wird es auch ein Weg der Tränen,

er führt dich neue Stufen.

Es ist der Weg, der dich erwählt,

brich mutig auf ohn’ Wanken.

Er ist’s, der dich mit Kraft beseelt,

du sollst nur geh’n- und danken!

Von Wolfgang Schneller

5.4. – 11.4. 2009 • Nürnberg – Nördlingen

1. Tag Nürnberg – Unterreichenbach 25 km

Die fertig gepackten Rucksäcke standen schon seit ein paar Tagen bereit und ich war sehr darauf gespannt, wie sich mein neu erstandenes Exemplar bewähren würde.

Es war ein Palmsonntag, als wir mit dem Zug nach Nürnberg fuhren. Erwartungsvoll, was wohl an diesem besonderen Tag in einer solchen Stadt los sein würde, steuerten wir das Zentrum an. Außer ein paar wenigen Marktbuden, in denen Händler ihre Waren anboten, gab es nichts Außergewöhnliches zu sehen und wir vermissten etwas die von uns erwartete, festliche Atmosphäre dieses besonderen Tages.

Nach einem Besuch der Jakobskirche führte uns der Weg auch direkt von dort wieder aus der Stadt heraus. Ins Gespräch vertieft und mit genügend Kartenmaterial im Rucksack liefen wir vergnügt und selbstsicher entlang der stark befahrenen Hauptstraße. Als wir auf einer Brücke den Rhein-Main-Donau-Kanal schon zur Hälfte passiert hatten, sah Jens mich mit gerunzelter Stirn an:

»Sollten wir diesen Kanal nicht erst kurz vor Schwabach überqueren und eigentlich am Ludwig-Donau-Main-Kanal entlang laufen? Das sieht hier alles anders aus.«

»Lass mich auch mal auf die Karte schauen.«, brummelte ich und stierte etwas orientierungslos auf den Plan. Wir kamen zu dem Schluss, falsch zu sein und gingen missmutig ein Stück zurück, um in den vorher übersehenen Abzweig einzubiegen.

Obwohl erst Anfang April, waren die Temperaturen frühsommerlich, die Sonne knallte vom wolkenlosen Himmel und viele Menschen hatte es nach draußen gezogen.

Spaziergänger, Jogger und Familien mit Kindern bevölkerten den wunderschönen Weg am alten Ludwig-Donau-Main-Kanal. Einen Moment ruhten wir uns auf einer der vielen Bänke aus und beobachteten dieses lebensfrohe Treiben. Ein idyllisch gelegener, kleiner Biergarten unter schattenspendenden hohen Bäumen wirkte einladend, in der Luft hing der Geruch von gebratenen Würstchen und der Anblick der überschäumenden Bierkrüge ließ uns ziemlich durstig werden. Nach einem faden Schluck aus unseren Wasserflaschen zogen wir weiter, nicht ohne noch einen sehnsüchtigen Blick zurück in Richtung Biergarten zu werfen.

Vorbei an vielen Schleusen zog sich der Weg endlos bis zur Schleuse Nummer 64, an welcher wir den Ludwig-Donau-Main-Kanal verließen. In Richtung Schwabach laufend, bereitete uns ein anderer Augenschmaus viel Freude! Wir bewunderten die vielen liebevoll gestalteten Vorgärten sowie zahlreiche festlich geschmückte Osterbrunnen. Überall zeigten sich leuchtend gelbe Osterglocken, zarte Narzissen und erste Tulpen.

Auch aus diesem Grund sind wir unwahrscheinlich gern in der Osterzeit unterwegs. Besonders in der fränkischen Gegend wird dieser Brauch mit sehr viel Liebe zelebriert.

Kurz hinter Neuses unterquerten wir den gewaltigen Rhein-Main-Donau-Kanal und gingen nicht weiter, ohne die Treppe hochzusteigen, um uns diesen anzuschauen. Ein überwältigender Anblick!

Nun war es nicht mehr weit bis Schwabach. Dort angekommen, bestaunten wir einen großen, schön verzierten Osterbrunnen, während ein kleiner, etwa fünfjähriger Knirps staunend zu uns hinüber sah und seinen Papa fragte: »Wo wollen denn die mit den Rucksäcken hin?«

Der kleine Junge bekam eine ausführliche Antwort, welche wir jedoch nicht mehr verstanden, da wir bereits weiterliefen. Wir wollten endlich ankommen und tatsächlich bezogen wir eine halbe Stunde später unser Zimmer in einer kleinen Pension in Unterreichenbach. Es war Zeit für die üblichen Pilgerverrichtungen, wie Wäsche waschen, duschen, sowie die Pflege der Füße. Kurz darauf machten wir uns auf den Weg zum Spackmüller, einer Kneipe, die uns schon beim Einmarsch in den Ort auffiel. Auch hier war alles liebevoll österlich geschmückt und ganz besonders tat es uns wieder einmal der Brunnen an!

Jedoch trieb uns schließlich der Hunger in die gemütliche Gaststätte, wo wir sehr freundlich bewirtet wurden. Das Essen war köstlich und das Spalter Bier, von dem wir noch niemals zuvor etwas gehört hatten, schien in unseren Gläsern zu verdunsten.

Der Ort Spalt sollte übrigens unser nächster Übernachtungsort werden. Wieder mal ging ein Pilgertag, begleitet von den vielen neuen Eindrücken, zu Ende.

2. Tag Unterreichenbach – Spalt 25 km

Die Nacht in unserem gemütlichen Zimmer war sehr erholsam und nach einem kleinen Frühstück starteten wir in den neuen Tag. Am Ortsausgang verweilten wir kurz vor einer Kapelle, um unsere Pilgerpässe abzustempeln.

»Wo soll es denn hin gehen? Sie sind doch Pilger, oder?«, sprach eine jüngere Frau uns an. Sie zeigte sich sehr interessiert, zumal auch sie schon ein Stück auf dem Jakobsweg bis Einsiedeln unterwegs gewesen war.

»Bewundernswert!«, dachte ich so für mich » …irgendwann kommen wir auch dorthin, aber das wird noch lang dauern.«

»Laufen Sie zwischen Neppersreuth und Mildach nur geradeaus und biegen Sie nicht an der Hecke ab. Die Beschilderung ist hier etwas dürftig und hat schon so manche Pilger in die Irre geleitet.«, meinte sie und verabschiedete sich mit einem »Buen Camino!«, was bedeutet »Einen guten Weg!«

Dankbar für diesen Hinweis, winkten wir ihr hinterher und zogen zielsicher weiter.

Der Himmel war von einer vollständigen Wolkendecke überzogen und es war noch zu kühl, um die Jacken auszuziehen. Ein kräftiges Maunzen machte uns auf eine pechschwarze, kleine Katze aufmerksam, die uns von einem Fenstersims aus beobachtete. Wiederholt maunzte sie in unsere Richtung und sah mit großen, gelben Augen interessiert zu uns herüber. Ob sie wohl wissen wollte, wohin wir laufen oder eher, ob sich in unseren Rucksäcken ein paar Leckerbissen befinden?

Wir verließen Unterreichenbach auf der Ortsstraße und gingen bald darauf über eine große Brücke, an deren Geländer Jens stehen blieb, um hinunterzuschauen.

«Nun latschen wir schon wieder über die Autobahn!«, murmelte er vor sich hin.

Durch Haag hindurch kommend ging es weiter bis Neppersreuth, wo wir in einer Bäckerei ein reichhaltiges zweites Frühstück einnahmen. Da ich keinerlei Kopfbedeckung in meinem Gepäck mitführte, erwarb ich im gegenüberliegenden Laden einen Hut, denn alles deutete mittlerweile daraufhin, dass dieser Tag wieder sehr heiß werden würde.

»Schau mal, mein neuer Hut!«, posierte ich stolz vor Jens.

»Der sieht ja aus wie eine Melkermütze.«, meinte er grinsend.

»Na und! Mir gefällt’s und zur Modenschau will ich auch nicht damit.«

Das weitere Wegstück war etwas eintönig, die Landschaft karg und wir kamen flotten Schrittes zwischen Feldern und Wiesen voran. Es gab keine Markierung und so bogen wir, einer Eingebung folgend, an einer freistehenden Hecke links ab. An den Hinweis der jungen Frau dachten wir nicht mehr. So wir kamen in Neumühle heraus und damit vom richtigen Weg ab! Wir folgten der Straße nach Mildach, um dann, zurück auf Jakobus Spuren, weiter bis Abenberg zu gelangen.

Dort erreichten wir durch das untere Tor das Zentrum dieser Kleinstadt, in der etwa 5.500 Einwohner leben. In der Jakobuskirche stempelten wir unsere Pilgerpässe und pausierten schließlich auf einer Bank am Marktplatz vor dem österlich geschmückten Stillabrunnen.

Platz und Brunnen sind nach der seligen Stilla benannt, die in der Zeit von 1100 bis voraussichtlich 1140 sehr zurückgezogen lebte und derzeit ihr Leben den Armen und Kranken widmete. Im Jahre 1927 wurde sie selig gesprochen.

Zwei Frauen waren gerade damit beschäftigt, den Brunnen fertig zu schmücken und einige beschädigte Eier durch neue auszutauschen. Sie erzählten uns von den Osterbräuchen und wie traurig sie es fanden, dass es Menschen gab, die aus purer Sinnlosigkeit und Zerstörungswut einfach mühsam gestaltete Dekorationen beschädigten. Leider wird der zunehmende Vandalismus überall immer mehr zu einem Problem.

Die Sonne knallte vom Himmel und bald erreichten wir Dürrenmungenau, wo wir uns im kühlen Inneren der 400 Jahre alten Sankt Jakobus-Kirche ausruhten. Vorbei an der sagenumwobenen weißen Säule, die den Kreuzungspunkt alter Straßen markiert, gelangten wir schon bald nach Beerbach, wo wir den Jakobsweg verließen. Denn bei unserer Suche nach einer preiswerten Unterkunft für die Nacht wurden wir auf den Wittelsbacher Hof aufmerksam, welcher sich abseits des Pilgerweges in der fränkischen Bierstadt Spalt befindet.

Gleich hinter Beerbach ging der Wahnsinn los! Nur Wald – sehr viel Wald! Um uns herum wurde es immer dunkler und mittlerweile war kein Weg mehr erkennbar. Ein paar hundert Meter kämpften wir uns durch Gestrüpp, krochen unter quer liegenden Bäumen hindurch und sprangen über Pfützen. Zu guter Letzt mussten wir einen Steilanstieg bewältigen, hinter dem es zum Glück heller wurde und diese furchtbare Wildnis ein Ende hatte. Der Weg führte zwischen riesigen Hopfenfeldern entlang, was mich staunen ließ!

»So also wird Hopfen angebaut? So was hab ich noch nie vorher gesehen … na ja ist ja auch eine Biergegend hier.«, schlussfolgerte ich wissend.

Etwas von der Markierung irritiert, liefen wir über Wiesen, entlang am Waldrand, wo wir auf mehrere Schilder mit der Aufschrift Spalt stießen. Die Pfeile wiesen unterschiedliche Richtungen aus und waren wenig hilfreich. Alle Wege schienen nach Spalt zu führen.

Planlos entschieden wir uns, rechts abzubiegen, was sich als riesengroßer Umweg erwies. Ein einsam auf einer großen Wiese stehendes, steinernes Kreuz war für uns Anlass, kurz inne zu halten.

Nun erblickten wir unten im Tal auch unser heutiges Tagesziel – die Stadt Spalt. Da es mittlerweile unerträglich heiß war, schützte sich Jens wie selbstverständlich mit meiner Melkermütze vor der Sonne ….

Osterbrunnen in Abenberg

Alle Wege führen nach Spalt

Es war nicht schwer, den Wittelsbacher Hof zu finden, wo der Anblick des kleinen Biergartens vor dem Gasthaus uns geradezu in Euphorie versetzte. Ohne jegliche Anmeldeformalitäten erledigt zu haben, ließen wir uns an einem der Tische nieder und bestellten uns sogleich zwei große, kühle Spalter Bier. Es schmeckte herrlich!

Die Stadt Spalt hat knapp 5.000 Einwohner, befindet sich im fränkischen Seenland und nennt sich auch Hopfenmetropole. Bier und Hopfen spielen hier eine wichtige Rolle, da die Stadtbrauerei Spalt gegenwärtig die letzte kommunale Brauerei Deutschlands ist.

Nachdem der freundliche Wirt uns das Zimmer zugewiesen hatte, gingen wir nach den üblichen Pilgerverrichtungen im Ort etwas essen und ließen den Tag gemütlich ausklingen.

3. Tag Spalt – Gunzenhausen 20 km

Das reichhaltige Frühstück in der Gaststube vom Wittelsbacher Hof war ein guter Start in den Tag. Wieder sollten laut Wetterbericht die Temperaturen endlos in die Höhe steigen, doch wir hatten ja unsere Melkermütze!

Ein schöner Weg führte uns in das kleine Dorf Fünfbronn, welches 1989 im Wettbewerb «Unser Dorf soll schöner werden« mit einer Goldmedaille ausgezeichnet wurde. Nur etwa hundert Einwohner sind hier zuhause.

In Igelsbach gelangten wir wieder auf den Jakobsweg und langsam wurde es Zeit für eine Pause. Weit und breit konnten wir keine Sitzgelegenheit finden, bis wir uns auf mein Drängen hin endlich am Wegesrand niederließen, um sogleich wieder empor zu springen. Tausende kleiner Ameisen waren im Anmarsch, belagerten Schuhe und Rucksäcke, krochen in Jackenärmel und Hosenbeine, als ob sie nur auf uns gewartet hätten. Nichts war vor diesen flinken Tierchen sicher. Fluchtartig entfernten wir uns, um einen anderen, ameisenfreien Rastplatz zu suchen.

Herrlich war es, auf der Wiese zu liegen und die wärmenden Strahlen