Wo Jugendliche sind, sind Wege (E-Book) - Annamarie Ryter - E-Book

Wo Jugendliche sind, sind Wege (E-Book) E-Book

Annamarie Ryter

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  • Herausgeber: hep verlag
  • Kategorie: Bildung
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

Dieses E-Book enthält komplexe Grafiken und Tabellen, welche nur auf E-Readern gut lesbar sind, auf denen sich Bilder vergrössern lassen. Dieser Band bietet vielfältige methodische Impulse zur Begleitung des Berufsfindungsprozesses. Lehrpersonen, Sonderpädagoginnen und -pädagogen, Sozialarbeitende und Coaches finden hier Anregungen für fünf relevante Themenbereiche: Ressourcen entdecken, Visionen entwickeln, Entscheidungen fällen, im Prozess bleiben, Emotionen einbeziehen. Die Impulse öffnen den Blick für ungewohnte Wege und stossen Entwicklungen an. Sie ergänzen bestehende Lehrmittel und lassen sich frei kombinieren.

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Seitenzahl: 304

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Corinne Joho / Dorothee Schaffner / Annamarie Ryter

Wo Jugendliche sind, sind Wege

Impulse für eine motivierende Berufsorientierung

 

ISBN Print: 978-3-0355-2170-2

ISBN E-Book: 978-3-0355-2171-9

 

mit Beiträgen von

Lalitha Chamakalayil und Erich Steiner

 

Grafiken

Michael Mittag und Tobias Tim

 

1. Auflage 2022

Alle Rechte vorbehalten

© 2022 hep Verlag AG, Bern

 

hep-verlag.ch

Materialien (u.a. Arbeitsblätter, Karten, Grafiken) zu den einzelnen Impulsen können über den QR-Code aufgerufen werden.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Zu diesem Buch

Berufsorientierung als Prozessbegleitung

1 Ressourcen entdecken

1.1 Sack-stark

1.2 Ressourcenreise

1.3 Meine Bedienungsanleitung

1.4 Live on Stage

1.5 Warum bin ich so, wie ich bin?

1.6 Charakterstärken ausspielen

1.7 Symbolische Familie

1.8 Werbeplakat für Grossmutter & Co.

1.9 Fähigkeiten aufspüren

1.10 Schön, dich zu sehen!

1.11 Das trauen wir dir zu!

1.12 Mit Brücken zum Feedback

2 Visionen entwickeln

2.1 Gute Zukunft denken

2.2 Abheben mit Visionen

2.3 Brief an mich

2.4 Sieben Leben denken

2.5 Traumfänger

2.6 Sinn-Kiste

2.7 Das ist es mir wert!

2.8 Ausmisten darf sein

3 Entscheidungen fällen

3.1 Überzeugt richtig entscheiden

3.2 Dies – das – beides – keins

3.3 Bauch, entscheide mit!

3.4 Innere Player steuern

3.5 Selbstportrait mit Beruf

3.6 Casting für die Insel

3.7 Heimliche Entscheider*innen

3.8 Berufe auspacken

3.9 Loslassen und gestalten: Mein Puzzlebild!

4 Im Prozess bleiben

4.1 Kapitän*in auf meinem Schiff

4.2 Übergänge gestalten

4.3 Den Elch austricksen

4.4 Positives Tagebuch

4.5 Der andere Blick

4.6 Blockaden lösen

4.7 Rituale wirken

4.8 Mein Helfer*innennetz

5 Emotionen einbeziehen

5.1 Notfallkoffer packen

5.2 Stress, lass nach!

5.3 Let’s talk about feelings

5.4 Selbstbewusste Posen ausprobieren

5.5 Was du nicht sagst!

5.6 Alle Jugendlichen sind …

5.7 Hey, lass das!

5.8 Unterwegs mit Gegenwind

5.9 Lösungen auf Lager

Autorinnenportraits

Vorwort

Von Zygmunt Bauman stammt die schöne Formel, dass Modernsein bedeutet, in Bewegung zu bleiben. Unruhig. Flexibel. Mobil. Dynamisch. Innovativ. Und so weiter. Diese Modernitätsdynamik treibt auch jeden einzelnen Lebenslauf an und verpflichtet dazu, in Bewegung zu bleiben. Kurz: Moderne Lebensläufe müssen am Laufen gehalten werden. Und zwar von jeder Lebensläuferin beziehungsweise jedem Lebensläufer selbst. Ein Leben lang. In Bewegung bleiben, nicht ins Stocken geraten, sonst drohen rasch: Misserfolg, Desintegration, Prekariat. Nun gehört es allerdings zu den Modernitätserfahrungen, dass man durchaus ins Straucheln geraten kann, ins Schleudern, dass es wenig braucht, um zu stocken. Ein kritisches Lebensereignis. Ein folgenschwerer Unfall. Eine lange Krankheit. Eine schwierige Trennung. Und so weiter. Deshalb haben moderne Gesellschaften zahlreiche und ganz unterschiedliche Lebenslaufhilfen entwickelt.

Denn erstens kommt kein einziger Lebenslauf ganz alleine in Bewegung – es «läuft» ja in der Regel so: Lebensläuferinnen und Lebensläufer lernen im Familienraum der frühen Kindheit das Laufen. Das freie Gehen. Drei Viertel aller Kinder wagen zwischen elf und fünfzehn Monaten ihre ersten Schritte. Kinder lernen im Familienraum wichtige Fähigkeiten wie Selbstwirksamkeit, Selbstvertrauen, Selbstverantwortung. Mit der frühen Sprachbildung beginnen auch erste Selberlebensbeschreibungen. So lernen die Kinder, im Leben zu laufen.

Und zweitens braucht die grosse Mehrheit aller Lebensläufe hie und da, über einen kürzeren oder längeren Zeitraum hinweg, mehr oder weniger intensive Lebenslaufhilfen. Zusammengefasst: Lebensläuferinnen und Lebensläufer brauchen einen guten Start und geeignete Hilfestellungen. Denn Modernsein bedeutet eben auch: Atemlosigkeit, ins Straucheln geraten, vom Weg abkommen, das Ziel aus den Augen verlieren, aus dem Tritt geraten. In Bewegung bleiben, heisst also durchaus: Wieder in Bewegung kommen! In besonderem Masse gilt das für die sogenannten Übergänge. Das sind die Schlüsselstellen in modernen Lebensläufen. Und davon gibt es gerade in modernen Lebensläufen unzählige. Lebensläuferinnen und Lebensläufer reihen Übergang an Übergang.

Ein zentraler Übergang ist jener von der obligatorischen Schulzeit in die nachobligatorische Berufsbildung. Ein Übergang, der für den weiteren Lebenslauf überaus entscheidend ist. Nur mit einem Abschluss der Sekundarstufe II erhalten Jugendliche und junge Erwachsene den Zugang zur Tertiärstufe oder zum Arbeitsmarkt. Er gilt daher als zentrale Voraussetzung für eine nachhaltige Integration in die Wirtschaft und die Gesellschaft. 2020 verfügten etwas mehr als 90 Prozent der rund 82500 jungen Erwachsenen im Alter von 25 Jahren in der Schweiz über einen Abschluss der Sekundarstufe II. Dies geht aus einer topaktuellen Studie des Bundesamtes für Statistik (BFS 2022) hervor, in der die Bildungsverläufe aller Jugendlichen, die 2010 fünfzehn Jahre alt wurden, über einen Zeitraum von zehn Jahren beobachtet wurden. Die wichtigsten Einflussfaktoren für einen erfolgreichen Abschluss der Sekundarstufe II sind: die soziale Herkunft, der Bildungsverlauf in der obligatorischen Schule und die Aufenthaltsdauer in der Schweiz. Auch die statistischen Ergebnisse zeigen also: Es braucht einen möglichst guten Start und dann und wann eine geeignete Hilfestellung. Insbesondere an Übergängen, zu denen es ja durchaus gehört, dass Lebensläuferinnen und Lebensläufer stehen bleiben, die (Bildungs-)Landschaft prüfen, zögern, zurückschauen, nachdenken, zweifeln, einen ersten möglichen Weg ausprobieren, vielleicht den Mut verlieren, sich dann doch entscheiden und wieder ins Grübeln geraten und so weiter. Und mit jedem Übergang auch das Hinübergehen üben. Lebenslaufkompetenz ist auch Übergangskompetenz. Für ein ganzes Leben lang. In Bewegung bleiben heisst: übergänglich sein!

Lehrerinnen und Lehrer, Sonderpädagogen, Berufsberaterinnen, Sozialarbeiter, Sozialpädagoginnen, Berufsintegrationscoachs, die Jugendliche im Berufswahlprozess unterstützen, müssen diese Übergangskompetenzen kennen, berücksichtigen, in Rechnung stellen. Dann sind sie in der Lage, Übergänge so mitzugestalten, dass sie zwar schwierig und anspruchsvoll bleiben und gerade deshalb Entwicklungen fordern und ermöglichen. Und nicht: überfordern, deprimieren, ohnmächtig machen. Wer Lebensläuferinnen und Lebensläufer begleitet, braucht erstens Sensibilität für Übergangskompetenz. Und zweitens: ein Set an methodischen Möglichkeiten, um diese Kompetenzen zu fördern, zu stärken und zu vermitteln. Lebenslaufhilfen laufen vielleicht ein Wegstück lang mit. Oder sie zeigen eine Karte mit den möglichen Wegen. Oder sie installieren Wegmarken und Meilensteine. Und stets: sensibel, angemessen, methodisch geschickt. Der Band «Wo Jugendliche sind, sind Wege» nimmt junge Lebensläuferinnen und Lebensläufer in den Blick und leistet genau hierzu eine überaus wichtige Hilfestellung. Es handelt sich um methodisch-konzeptionelle Hilfen, um die Lebenslaufgestaltung zu unterstützen. Denn auch Fachpersonen sollen in Bewegung bleiben.

 

Zürich, den 05.03.2022

André Woodtli, Amtschef, Amt für Jugend und Berufsberatung, Bildungsdirektion des Kantons Zürich

Zu diesem Buch

«Die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten kann angesichts der Hindernisse der Umweg sein.» (Bertolt Brecht, Schriftsteller, 1898–1956)

Dieses Buch liegt heute dank zahlreicher Fachpersonen, die uns mit ihren Ideen, Anliegen und Arbeiten bereichert und so zu seinem Entstehen beigetragen haben, vor. Seit 15 Jahren bieten wir Weiterbildungen[1] für Lehrpersonen, Sozialarbeitende, Sonderpädagogen und Sonderpädagoginnen, Jobcoaches sowie andere Fachpersonen an. Diese arbeiten mit verschiedenen Zielgruppen an unterschiedlichen Orten – in der Regelschule, in Brückenangeboten, Motivationssemestern oder anderen Berufsintegrationsangeboten. Was sie verbindet, ist die Aufgabe, Jugendliche und junge Erwachsene im Prozess der Berufsfindung[2] zu begleiten (vgl. Ryter & Schaffner 2015, 2020).

Eine berufliche Ausbildung zu haben, ist unter gegenwärtigen Bedingungen des Arbeitsmarktes eine zentrale Voraussetzung für eine nachhaltige Integration in den Arbeitsmarkt und lebenslanges Lernen. Zugleich sind die Übergänge in die Erwerbsarbeit länger und in der Bewältigung anspruchsvoller geworden (u.a. Meyer 2018; Neuenschwander & Nägele 2017). Das fordert die Jugendlichen heraus – insbesondere dann, wenn persönliche, soziale oder strukturelle Voraussetzungen die Berufsfindung erschweren. Erfreulich ist: Der beruflichen Ausbildung wird gegenwärtig hohe Bedeutung beigemessen. Leitend ist das bildungspolitische Ziel, wonach 95 Prozent der jungen Menschen bis zum 25. Altersjahr einen Abschluss auf der Sekundarstufe II erwerben sollen (vgl. EDK 2020). Damit verbunden gewinnt die Begleitung bei der Berufsfindung zunehmend an Gewicht. Berufliche Orientierung wurde im Lehrplan der Regelschule verankert, die Berufs-, Studien- und Laufbahnberatung ausgebaut. Im Übergang in die Berufsbildung stehen vielfältige Zwischenlösungen und Angebote zur Unterstützung und Beratung im Berufsfindungsprozess bereit. Vielfältige Lehrmittel für unterschiedliche Zielgruppen sind verfügbar und berufswahlrelevante Informationen werden auch online angeboten.

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage: Braucht es noch einen weiteren Methodenband? Bestehende Lehrmittel und Informationsmaterialien bieten eine gute Grundlage für die Berufsorientierung. Sie strukturieren den Prozess, bieten eine Übersicht über relevante Themen sowie konkrete Unterrichtseinheiten. Strukturierte Lehrmittel, lineare Prozessmodelle und Informationsvermittlung reichen allerdings oft nicht aus. Denn der Berufsfindungsprozess verläuft individuell, und nicht immer lässt sich so einfach eine Passung zwischen individuellen Voraussetzungen und beruflichen Anforderungen herstellen. Fachpersonen in der Weiterbildung fragen häufig: Was können wir tun, wenn Jugendliche auf ihren Berufswünschen beharren, offerierte Ausbildungsmöglichkeiten ablehnen, zu hochgegriffene Wünsche haben oder ihre Energie für andere Entwicklungsthemen benötigen? Dann – so unsere Erfahrung – wird es interessant und die Fachpersonen können ihr pädagogisches Knowhow einbringen. Uns Autorinnen wurde im gemeinsamen Denken und im Austausch mit Fachpersonen und Jugendlichen klar: «Wo Jugendliche sind, sind Wege.» Prozesse können zwar ins Stocken geraten oder Umwege erforderlich machen, doch Entwicklung geschieht immer und sorgt oft für Überraschungen.

Berufsfindung ist zu einem hohen Anteil Persönlichkeitsentwicklung. Diese verläuft individuell, offen, selten idealtypisch, kann beschleunigt erfolgen oder verzögert. Sie wird durch biologische Veränderungen, oft aber durch äussere Anforderungen und Krisen ausgelöst: «Krisen sind Angebote des Lebens, sich zu wandeln», so die Schriftstellerin Luise Rinser. Entwicklung braucht daher manchmal Zeit. In der Weiterbildung hören wir jeweils: «Aber diese Zeit haben wir nicht.» Die engen Zielvorgaben und der knappe Zeitrahmen sind tatsächlich herausfordernd. Wir sind jedoch überzeugt, dass Entwicklung Zeit und Raum braucht, ebenso Auseinandersetzung und die Möglichkeit, Erfahrungen zu sammeln. Daher ist es wichtig, die Jugendlichen in ihrer individuellen Entwicklung zu begleiten und den Druck durch arbeitsmarktliche Erwartungen und Normalitätsvorstellungen zu Lebensläufen etwas zu vermindern.

Und noch etwas: Berufsfindungsprozesse werden zwar individuell durchlaufen, aber nicht losgelöst vom sozialen Kontext. Jugendliche finden über Eltern, Fachpersonen und Peers idealerweise Unterstützung und Orientierung. Zugleich wird ihnen durch konkrete Erfahrungen im Alltag, in der Schule, im Integrationsangebot oder im Betrieb bewusst, welche Erwartungen, Chancen, Benachteiligungen oder gar Diskriminierungen bestehen. Es geht in diesem Entwicklungsprozess daher auch um komplexe Abstimmungsprozesse zwischen inneren und äusseren Möglichkeiten und Begrenzungen. Dieser Prozess kann auch zu Frustrationen führen, ja Krisen auslösen und gerade dadurch Entwicklung anstossen. Hier ist Begleitung und Beratung wichtiger als Informationsvermittlung, wie auch die Forschung zeigt (vgl. Neuenschwander 2018).

Die Begleitung von Berufsfindungsprozessen erfordert daher ein umfassendes Entwicklungsverständnis und das Bewusstsein, dass Entwicklung grundsätzlich nicht geplant oder verfügt werden kann. Fachpersonen können Impulse setzen, Erfahrungen und Auseinandersetzungen mit Wünschen und Bedürfnissen ermöglichen, Reflexionen anregen und Strategien zur Bewältigung anspruchsvoller Erfahrungen anbieten. Und sie können Jugendliche im Umgang mit strukturellen Bedingungen, Erwartungen und Zuschreibungen stärken. Das heisst, «wir ziehen nicht am Gras, damit es wächst», sondern adressieren Jugendliche in ihren Ressourcen, unterstützen sie dabei, eigenverantwortlich zu handeln und ihren Weg zu finden.

Wir Autorinnen sind der Überzeugung, dass eine entwicklungsorientierte, offene Haltung wichtig ist. Dabei orientieren wir uns an

Coaching-Ansätzen, um die Jugendlichen in ihrer Eigenverantwortung zu stützen,

ressourcen- und kompetenzorientierten Ansätzen zur Auseinandersetzung mit ihren Fähigkeiten und ihrem Potenzial,

systemisch-lösungsorientierten Ansätzen, die auf motivationale Ziele und die Umsetzung bezogen sind,

handlungsorientierten Ansätzen, die die Notwendigkeit von eigenen Erfahrungen betonen und das Tun in den Vordergrund stellen,

diversitätsbewussten Ansätzen, die anerkennen, dass «wir gleich und anders sind» (Pat Parker),

spielerischen, künstlerischen und humorvollen Zugängen, weil es Jugendlichen damit leichter fällt, sich auf Entwicklungsthemen einzulassen und Neues zu erproben.

All diese Ansätze basieren auf einer wertschätzenden, ressourcenorientierten Haltung. Sie können Jugendliche motivieren, im Prozess zu bleiben oder wieder einzusteigen – wenn sie erleben, dass es um sie selbst geht. Ein als gemeinsam verstandener Prozess stärkt nicht nur die Selbstverantwortung der Jugendlichen, sondern auch die Beratungsbeziehung und das Gruppenklima. Der vorliegende Band «Wo Jugendliche sind, sind Wege» bietet eine Sammlung von methodischen Impulsen für eine entwicklungsorientierte Begleitung von Berufsfindungsprozessen.

Einleitend wird unser Verständnis der Berufsfindung als Prozess ausgeführt und im Sinne einer «Beratungs-Toolbox» eine knappe Einführung zu den methodischen Ansätzen angeboten. Dann folgen die methodischen und teilweise thematischen Impulse, die in fünf für den Berufsfindungsprozess zentrale Bereiche gegliedert sind.

Zu jedem dieser Bereiche gibt es eine kurze Einführung. Die einzelnen Impulse lassen sich frei kombinieren und einsetzen. Es ist deshalb nicht notwendig, den Methodenband systematisch von vorne bis hinten zu lesen. Die Impulse können situativ gewählt werden – nämlich dann, wenn es etwas anderes braucht, wenn Kreativität und neue Zugänge nötig sind. Die Impulse können auch leicht mit bestehenden Lehrmitteln für die Berufsorientierung kombiniert werden. Einsetzen lassen sie sich sowohl in der Einzelberatung als auch in der Arbeit mit Klein- und Grossgruppen. Sie beziehen sich nicht nur auf den Berufsfindungsprozess, sondern können auch in anderen Kontexten genutzt werden, um Persönlichkeitsentwicklung anzustossen. Wir grenzen uns explizit ab von psychotherapeutischen Ansätzen. Hier gilt es, sorgfältig zu prüfen, wann Jugendliche mit einer bestimmten Problematik die Hilfe von spezialisierten Fachpersonen benötigen.

Entwicklungen im Kontext der Berufsorientierung zeigen, dass die Digitalisierung auch hier Auswirkungen hat: Berufsportraits, Berufsmessen und Informationsmaterialien, aber auch Bewerbungstools werden zunehmend digital aufbereitet und online angeboten. Dagegen existieren noch wenig didaktische Hilfestellungen, wie diese vielfältigen Materialien und Technologien genutzt werden können. Einige Impulse im Methodenband bieten daher Ideen und Anregungen zum Einbezug von digitalen Medien. Wichtig ist jedoch: Es geht um das Tun, das Sammeln von Erfahrungen und um Reflexion. Die Informationen allein stossen kaum Entwicklungsprozesse an.

Die methodischen Impulse eignen sich für die Begleitung aller Schülerinnen und Schüler[3], Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Berufsfindungsprozess. Die vielfältigen Erfahrungen mit verschiedenen Zielgruppen zeigen, dass sie sich gerade auch für junge Menschen mit herausfordernden Verläufen eignen: für Schüler und Schülerinnen mit besonderen Bedürfnissen, für junge Erwachsene mit komplexen Problemlagen oder für spätmigrierte Jugendliche. Sie sind aber auch für Regelklassen und leistungsstarke Jugendliche attraktiv, weil sie andere, ganzheitliche Zugänge bieten, die Entwicklung anregen. Sie lassen sich fächerübergreifend einsetzen und erweitern, trotz knapper Ressourcen für die Berufsorientierung in der Regelschule. Die methodischen Impulse können und sollen an die jeweiligen Kontexte (Alter, kognitive Fähigkeiten, Aufmerksamkeitsspanne, Sprachfähigkeiten etc.) angepasst werden. Hier vertrauen wir auf die Fachpersonen, die wissen, was ihre Zielgruppen brauchen.

Dank

An dieser Stelle sei allen Fachpersonen gedankt, die Ideen zu den methodischen Impulsen beigesteuert haben, die Methoden ausprobiert und uns Feedback gegeben haben. Es sind dies: Antonio D’Agostino, Doris Bachmann, Nicole Boruvka, Stella Gött, Daniel Keiser, Jonas Meyer, Claudia Moritz-Stähelin, Brigitte Rey, Dorothee Schneider, Nadia Schoop, Evelin Studer und Fabiano Von Felten. Ebenso danken wir den Jugendlichen, die über die Fachpersonen Rückmeldung an uns gaben. Und schliesslich geht ein besonderer Dank an den Berufslernenden Tobias Tim, der die Illustrationen für die fünf Kapiteleinleitungen gezeichnet hat. Mit seiner «Mops-Figur» hat er den Blick eines Jugendlichen auf die Themenbereiche eingebracht. Als Letztes bleibt uns noch, den «Sponsoren» zu danken: der Ernst Göhner Stiftung.

Vertiefen

EDK (2020). Tätigkeitsprogramm 2021–2024. Online: https://www.edk.ch/de/themen/berufsbildung [Zugriff: 22.02.2022].

Meyer, Thomas (2018). Von der Schule ins Erwachsenenleben: Ausbildungs- und Erwerbsverläufe in der Schweiz. In: Social Change in Switzerland, Nr. 13.

Neuenschwander, Markus, P. & Nägele, Christof (Hrsg.) (2017). Bildungsverläufe von der Einschulung bis in den ersten Arbeitsmarkt. Theoretische Ansätze, empirische Befunde und Beispiele. Wiesbaden: Springer VS.

Neuenschwander, Markus, P. (2018). Wirksame Berufsorientierung. In: Bildung Schweiz, 163(10), S. 32–33.

Ryter, Annamarie & Schaffner, Dorothee (Hrsg.) (2015). Wer hilft mir, was zu werden? Professionelles Handeln in der Berufsintegration. Bern: hep.

Schaffner, Dorothee & Ryter, Annamarie (2020). Jugendliche im Übergang professionell begleiten: Auf dem Weg zu einem gemeinsamen Professionsverständnis in einem interprofessionellen Handlungsfeld. In: Brüggemann, Tim & Rahn, Silvia (Hrsg.). Berufsorientierung. Ein Lehr- und Arbeitsbuch (2. überarb. und erw. Auflage). Münster: Waxmann, S. 541–547.

Berufsorientierung als Prozessbegleitung

«Zu wissen, dass Veränderung möglich ist, und der Wunsch, Veränderungen vorzunehmen, dies sind zwei große erste Schritte.»

Virginia Satir, Psychologin und Familientherapeutin, 1916–1988

Berufsfindung als Entwicklungsaufgabe des Jugendalters

Jugendliche im Übergang von der Schule zum Beruf stehen vor einer ebenso bedeutsamen wie herausfordernden Aufgabe. Berufsorientierung heisst ja nicht nur, über eigene Wünsche und Fähigkeiten nachzudenken, sondern nach vielen Jahren die vertraute schulische Lebenswelt zu verlassen und den Schritt in ein neues, noch unbekanntes Umfeld zu wagen. Damit verbunden ist die Zunahme von Selbstbestimmung, also die Übernahme von Verantwortung für die eigenen Entscheidungen und Handlungen. Je nach sozialen, familiären und persönlichen Voraussetzungen stellt dies eine grosse Hürde dar und löst Verunsicherung aus. Meist wissen Jugendliche nicht genau, welche Anforderungen im künftigen Beruf an sie gestellt werden und was in der Arbeitswelt auf sie zukommt. Sie fürchten vielleicht den Verlust von Freiheiten, eigenes Versagen oder Ablehnung. Sie fragen sich: «Werde ich in der neuen Umgebung von Vorgesetzten und Mitarbeitenden angenommen und bestehen können? Wird es mir dort auch wirklich gefallen?» Gerade in der sensiblen Lebensphase der Adoleszenz mit vielen anderen Entwicklungsaufgaben sollen Jugendliche auch noch den «richtigen» Beruf bzw. die «richtige» Ausbildung finden. In dieser Phase sind sie zudem mit Erwartungen ihrer Eltern konfrontiert. Jene haben zuweilen klare, auch statusorientierte Vorstellungen, was erreicht werden soll. Nicht selten nehmen Eltern grosse Entbehrungen in Kauf, um ihren Kindern eine «bessere» Ausbildung zu ermöglichen. Ausbildungen der Kinder sind deshalb oft auch Familienprojekte.

Unter Druck von allen Seiten?

Der Zeitpunkt, an dem Jugendliche eine berufliche Entscheidung fällen müssen, unterscheidet sich je nach Ausbildungsweg. Jugendliche in allgemeinbildenden Ausbildungsgängen treffen ihre Studienwahl mit 18 oder 20 Jahren. Ihnen wird eine längere Phase zugestanden, in der sie sich selbst kennenlernen und ihre Möglichkeiten erkunden können. Wer jedoch direkt in die Berufsbildung einsteigt, muss sich bereits mit 15 Jahren kennen, einen Entscheid fällen und einen Ausbildungsplatz suchen. Für Jugendliche, die in belasteten Lebenssituationen aufwachsen, ist das besonders herausfordernd. Sie kommen zuweilen von vielen Seiten unter Druck und erfahren auch systembedingte Widersprüche hautnah. Das bereits genannte bildungspolitische Ziel, dass 95 Prozent der Jugendlichen einen Abschluss auf Sekundarstufe II erreichen, ist begrüssenswert. Zugleich finden gerade Jugendliche mit Mehrfachproblematiken nicht ohne Weiteres einen geeigneten Ausbildungsplatz. Sie verfügen für die hochtechnologische Arbeitswelt (noch) nicht über jene Fähigkeiten, die der aktuelle Ausbildungsmarkt sucht und verlangt. Das gilt besonders – aber nicht nur – für Jugendliche mit besonderen Bedürfnissen und Spätmigrierte. So erleben viele Jugendliche die angebliche «Berufswahl» als sehr eingeschränkt, sie müssen Rückschläge in Kauf nehmen, Kompromisse eingehen und doch den Selbstwert erhalten. Sie brauchen Mut, auch mal «Nein» sagen zu dürfen und äusserem Druck zu widerstehen, wenn es um ihr Leben geht. Denn wer sich zu sehr verbiegt, um «irgendeinen» Ausbildungsplatz zu bekommen, wird dort unglücklich und den Ausbildungsvertrag schon bald wieder auflösen.

Wie oben bereits dargelegt, ist Berufsfindung damit ein komplexer, anspruchsvoller Entwicklungsprozess – und zwar für die Jugendlichen selber, für ihre Eltern wie auch für die begleitenden Fachpersonen. Der Titel dieses Buches kann daher auch als Ermutigung verstanden werden, nämlich zuversichtlich darauf zu vertrauen: «Wo Jugendliche sind, sind Wege.»

Begleitung heisst Beziehung

Vertrauen und Zutrauen, Wohlwollen und Hoffnung bilden die Basis für eine gelingende Prozessbegleitung: Jugendliche brauchen Erwachsene, die ihre Verhaltensweisen zu verstehen versuchen (statt rasch zu urteilen), die sie partizipieren lassen und mit ihnen zusammen kreative Lösungen suchen. Sie brauchen Rückendeckung in ihrem Unterfangen oder mit den Begriffen von Bauer und Hegemann gesprochen: Erwachsene, die die «Versorgung» im «Base Camp sicherstellen» und gelassen mit widersprüchlichen Signalen und «Wetterwechseln» umgehen können (2021, S. 42f.). Es gilt, Jugendliche ernst zu nehmen und zugleich den Humor zu pflegen, denn systemisches Arbeiten «ohne Humor ist nicht nur witzlos, sondern auch fast chancenlos» (ebd., S. 43). Begleitung heisst also in erster Linie, eine kooperative Beziehung aufzubauen und Wertschätzung auch in Konflikten beizubehalten. Das ist nicht immer einfach, weil Fachpersonen oft unterschiedliche Rollen innehaben.

Unterschiedliche Rollen pädagogischer Begleitpersonen

Fachpersonen, die Jugendliche im Berufsfindungsprozess begleiten, sind vielfältig gefordert und übernehmen unterschiedliche Aufgaben (vgl. Schaffner & Ryter 2015). Sie vermitteln Fachwissen im Hinblick auf Berufe, das Bildungssystem und den Bewerbungsprozess. Gleichzeitig begleiten und fördern sie individuelle Entwicklungs- und Berufsfindungsprozesse, arbeiten mit Fachstellen zusammen und vernetzen sich mit Betrieben. Als Vertretung der Institutionen setzen sie gegenüber den Jugendlichen auch Regeln durch und zeigen Grenzen auf. Sie sind also je nach Situation Fachvermittelnde, Coaches, Vernetzende und Kontrollierende zugleich, handeln unter vier unterschiedlichen «Hüten». Das erfordert eine Auseinandersetzung mit den verschiedenen Rollen und Transparenz gegenüber den Jugendlichen. Weil es sich bei der Berufsfindung um einen Entwicklungsprozess handelt, lässt sich Berufliche Orientierung auch nicht einer reinen Fachlogik folgend vermitteln. Vielmehr geht es um ein Coaching von Lernprozessen, weshalb hier auch der Begriff «Berufsintegrationscoaching» verwendet wird (Ryter & Schaffner 2015, 2017). Begleitende Fachpersonen brauchen für diese Aufgabe – neben der Fähigkeit, gezielt Lernprozesse anzuleiten, Erfahrungen zu ermöglichen und Jugendlichen Struktur zu geben – Coachingkompetenzen.

«Coaching» als professionelle Orientierung für Fachpersonen

Gelingendes Coaching basiert auf einer entsprechenden Haltung.[4] Zentral ist die Einsicht, dass alle Menschen Expertinnen und Experten ihres eigenen Lebens sind. Auch für die Berufsintegration gilt: «Die Kunst im Coaching besteht darin, die Jugendlichen mit gezielten Fragen zu ermächtigen, ihre Ziele selber zu setzen.» (Ryter & Schaffner 2017). Die Jugendlichen wissen meist besser, was sie können bzw. realistisch anpacken werden. Strategien werden daher mit ihnen zusammen entwickelt, das ist deutlich wirksamer, als «Rat-schläge» zu geben. Ein Coach hört neugierig zu, hilft zu klären und unterstützt die Jugendlichen, an sich selbst zu glauben und ihren eigenen Weg zu gehen. Ein Coach würdigt die bisher unternommenen Schritte, findet mit den Jugendlichen zusammen heraus, was sie bewegt, was sie brauchen, was sie können, was sie motiviert. Es gilt, Klarheit zu schaffen, zu ermutigen, auch zu konfrontieren und den Lernenden immer wieder vieles zuzutrauen und zuzumuten, um Selbstverantwortung zu fördern. Und es heisst, Abstand zu nehmen von der Vorstellung, dass Fachpersonen am besten wissen, was für die Jugendlichen gut ist. Die folgende Parabel aus unbekannter Quelle illustriert, wie wenig hilfreich diese ist:

«Komm, lass dir aus dem Wasser helfen, sonst wirst du ertrinken!», sagte der freundliche Affe und setzte den Fisch behutsam auf einen Baum. (Ryter 2017).

«Affenratschläge» können für Fische also lebensgefährlich sein. Wünschbar wäre es, wenn der Affe zuerst fragen würde, was der Fisch will und braucht – um im Bild zu bleiben. Als Grundregel bei der Begleitung gilt: Antworten geben Sicherheit, sie können in Krisen kurzfristig helfen (sofern es keine falschen Sicherheiten sind wie in der Parabel). Fragen dagegen regen das Denken an, stärken Selbstverantwortung und Eigenmotivation. Das bedeutet auch, sich als Fachperson allfälligem Druck von Eltern, Behörden, Kollegien zu widersetzen. Erfolg im Berufsintegrationscoaching bedeutet nicht, die Lernenden möglichst rasch zu «platzieren», zu «versorgen». Wirkungsvolle Professionelle in diesem Feld überprüfen mit den jungen Menschen immer wieder: Sind sie im Rahmen ihrer Möglichkeiten noch motiviert dabei, erfahren sie eine Stärkung des Selbstwertes? Können sie auch Frustrationen verarbeiten, wieder Mut schöpfen und erkennen, was sie wirklich brauchen und wollen? Können sie selber aktiv sein? Denn nur so hat eine getroffene «Berufswahl» die Chance, einigermassen Bestand zu haben. Coaching ist nachhaltiger als Verordnen.

Für erfolgreiches Coaching braucht es nicht allein eine unterstützende, ressourcenorientierte Haltung, sondern ebenso ganz konkrete Werkzeuge auf der Handlungsebene wie strukturierte Gesprächsführung, Fragetechniken, Visualisierungen und Anleitungen. Im Folgenden sind zentrale Elemente in Kürze aufgeführt. Einige von ihnen tauchen bei den einzelnen methodischen Impulsen auszugsweise wieder auf.

Coaching als Gesprächsstruktur

Coaching findet meist in Gesprächen statt, es bietet dafür eine klare, effiziente Struktur – gerade auch, wenn nur wenig Zeit zur Verfügung steht. Je nach Ansatz sind es vier bis sechs Phasen (vgl. Ryter & Mittag 2019, Hardeland 2017, Vogelauer 2011). Innerhalb dieser Phasen werden Ziele, Strategien und Lösungen erarbeitet. Zu Recht führen Fachpersonen an, dass viele Jugendliche eine einfache Sprache brauchen, weil Deutsch für sie eine Fremdsprache ist oder sie allgemein nicht gewohnt sind, viel zu sprechen. Wir haben daraus das «Minimal-Coaching» entwickelt. Es verbindet die Gesprächsstruktur von Coaching mit einfachen und wesentlichen Fragen. So wird Komplexität reduziert. Für einen klaren Aufbau des Gesprächs können die Fragen direkt in der unten dargestellten Reihenfolge verwendet werden. Je nach Verlauf können sie auch wiederholt und mit unterschiedlicher Betonung als Nachfragen gestellt werden: z.B. Was willst du oder was willst du? Oder was willst du? Das ähnelt der «Minimal-Music», bei der ein kurzes Thema repetitiv und in Variationen auftaucht.

Diese Beispiele können als Grundgerüst beim Einsatz vieler lösungsorientierter Fragen dienen. Bewährt hat sich, wenn die Fragen oder Gesprächsphasen als Karten auf dem Tisch liegen, so dass auch die Coachees der Struktur folgen können. Das gibt Klarheit und Sicherheit.

Fragetechniken im Coaching

Fürs Coaching eignen sich insbesondere Fragen der systemisch-lösungsorientierten Gesprächsführung (vgl. De Shazer 2020)[5]. Der Vielfalt von offenen Fragen sind dabei kaum Grenzen gesetzt. Im Folgenden sind die wichtigsten Fragetypen mit Beispielen aufgeführt:

Zielfragen

Zielfragen lenken den Blick in die Zukunft, zu einem erwünschten Zustand, den es auszumalen gilt. Ein positives Bild motiviert für die nächsten Schritte und erlöst von der «Problemhypnose». Das ist der Kern der lösungsorientierten Gesprächsführung. Zielfragen präzisieren auch das erwünschte Resultat eines einzelnen Coachings. Zentral ist dabei, dass die Coachees das Ziel selber formulieren (oder zeichnen) und nicht vom Coach ein verordnetes Ziel suggeriert wird.

Wo möchtest du nächsten Sommer stehen? Welches Ziel möchtest du konkret erreichen?

Wie würdest du dich fühlen, wenn du dieses Ziel erreicht hättest?

Was willst du bis nächste Woche getan haben?

Woran möchtest du heute arbeiten? Was wäre für dich ein gutes Resultat dieses Gesprächs?

Fragen nach Ressourcen

Fragen nach Ressourcen lenken den Blick gezielt auf das Positive und Gelingende: auf persönliche Stärken der Jugendlichen, auf bisherige Erfolge, auf Unterstützung im Umfeld. Menschen, die in ihren Ressourcen erkannt und deren Anstrengungen gewürdigt werden, fühlen sich gestärkt und finden eher Lösungen für ihre Situation.

Was alles hast du bis heute schon unternommen (z.B. im Hinblick auf das Ziel)?

Worin warst du erfolgreich? Was hat sich bewährt? Worauf bist du besonders stolz?

Was genau machst du alles besser als vor einem halben Jahr?

Wie hast du das geschafft? Welche deiner Fähigkeiten hast du da gezeigt? Was hast du gelernt?

Wer und was hat dich dabei unterstützt? Wer oder was noch?

Fragen nach Ausnahmen

Wirksam sind auch Fragen nach Ausnahmen, also danach, wann in der Vergangenheit ein Problem nicht da oder weniger belastend war.

Wann sind die Dinge in der Vergangenheit gut (oder ein wenig besser) gelaufen als jetzt? Was hast du damals (anders) gemacht?

In welchen Situationen im Alltag geht es dir ein wenig besser? Was machst du da konkret?

Fragen nach guten Gründen

Mit Fragen nach den guten Gründen für ein Verhalten würdigen Begleitpersonen ehrenwerte Absichten. (Das heisst nicht, dass alles toleriert würde!) Sie entsprechen der lösungsorientierten Annahme, dass Menschen aus ihrer Sicht jeweils das Beste tun, selbst wenn das von aussen nicht nachvollziehbar ist.

Du hast die Schnupperlehre abgebrochen, auch wenn das für dich negative Folgen hat. Ich gehe davon aus, dass du gute Gründe dafür hattest: Magst du mir davon erzählen? Was hat dich bewogen, so zu handeln?

Fragen, die Wahrnehmung und Perspektiven erweitern

Zu diesem Fragentyp gehören Fragen nach Unterschieden oder Skalierungsfragen. Diese ermöglichen in komplexen Situationen eine rasche Orientierung. Mit ihnen lassen sich Entscheide leichter fällen oder einzelne Schritte zum erwünschten Ziel Schritt für Schritt planen.

Wenn du wählen könntest, was wäre dir lieber, ein Ausbildungsplatz als Florist oder als Detailhandelsassistent?

Wo möchtest du dich zuerst bewerben? Bei A oder bei B?

Woran arbeiten wir heute: Möchtest du schauen, wie du selber mit der schwierigen Situation im Praktikum besser umgehen kannst oder möchtest du ein Gespräch mit der Leiterin vorbereiten?

Auf einer Skala von 1 bis 10 und 1 würde heissen «A gefällt mir gar nicht» und 10 «Ich bin begeistert von A», wo stehst du jetzt? Was alles macht es aus, dass du nicht auf 1, sondern auf dieser Zahl stehst?

Wenn du deinem Ziel Richtung 10 jetzt eine Zahl näherkommen möchtest: Was könntest du konkret tun?

Zirkuläre Fragen

Zirkuläre Fragen eignen sich besonders, um Beziehungen und Wechselwirkungen zu erfassen, z.B. die (vermutete) Einstellung von Eltern zu erfahren oder mit Jugendlichen den Perspektivenwechsel zu üben.

Angenommen, deine Eltern erfahren, was heute geschehen ist, was – denkst du – würden sie dazu sagen?

Was denkst du, würde Herr X sagen, warum er dich zu mir in die Beratung geschickt hat? Du kennst ihn gut: Was, denkst du, könntest du allenfalls tun, dass er mit dir zufrieden ist?

Hypothetische Fragen

Hypothetische Fragen mit Konjunktiv gehören eng zum erwünschten Ziel. Sie lassen noch nicht Gedachtes entstehen, sie öffnen den Blick für Alternativen. Sie sind auch hilfreich bei Entscheidungen. Mit ihnen lassen sich zudem mögliche unerwünschte Situationen achtsam ins Auge fassen.

Stell dir vor, du hättest dein Ziel erreicht und den Ausbildungsplatz erhalten: Was hättest du konkret gemacht, dass sie gerade dich gewählt haben?

Angenommen, du könntest wählen, wo du ein Praktikum erhältst. Wie würdest du dich entscheiden (und warum)?

Angenommen, du hättest im Sommer nicht den gewünschten Notenschnitt. Was würdest du allenfalls tun?

Offene, lösungsorientierte Fragen können sehr kreativ oder «ver-rückt» sein, so etwa die Frage: «Was, denkst du, würde ein Adler zu deiner Situation sagen?» Weil die Fragen teilweise kompliziert sind, empfiehlt es sich, auch mit Visualisierungen zu arbeiten.

Visualisierungen

In der Begleitung bewähren sich verschiedenste Formen von Bildern und Visualisierungen als Ergänzung zur Sprache. Bilder sprechen tiefere Schichten des Bewusstseins an und lassen Ziele, Vorhaben, Lösungen lebendig werden. Sie sind für alle Coachees hilfreich, besonders jedoch für mehrsprachige Jugendliche mit (noch) eingeschränkten Deutschkenntnissen. Die folgende Auswahl dient als Anregung; Hinweise finden sich auch bei den einzelnen Impulsen.

Laufende Visualisierung

Zeichnung und Darstellung von Zusammenhängen während des Gesprächs auf Flipchart-Papier.

Moderationskarten einsetzen

Visualisierung eines Modells, entlang dessen das Gespräch organisiert wird; Gesprächsphasen können zur Klarheit mit je einer Moderationskarte auf dem Tisch aufliegen.

Skalierungsfragen in Bewegung

Bei den lösungsorientierten Skalierungsfragen zwischen eins und zehn lohnt es sich, die Zahlen und die Strecke dazwischen aufzuzeichnen bzw. die Nummern auf Karten auf dem Boden auszulegen. So sind Standorte, Ziele etc. stets sichtbar; Resultate können dazugesetzt und ergänzt werden.

Metaphern gestalten

Die Begleitperson bietet als Ausgangspunkt eine Visualisierung an, zeichnet z.B. grob eine Wegstrecke, eine Landschaft, einen Berg. Dabei können mit Fragen das Ziel, der aktuelle Standort, das schon Erreichte und weitere Etappen erfragt und eingezeichnet werden: «Wo stehst du jetzt, was liegt hinter dir, was willst du noch machen, bis wann willst du wo sein?» etc. Bei einem Baum kann nach Wurzeln, dem Stamm als Stütze und dem erwünschten Wachstum gefragt werden.

Mit Bildkarten arbeiten

Bildkarten von Landschaften, Menschen in verschiedenen Situationen etc. eignen sich, um Gefühle und Stimmungen zu erkennen und allenfalls zu thematisieren. Sie schaffen mehr Gemeinsamkeit und Tiefe als die Frage «Wie geht es dir?», so etwa, wenn Jugendliche zu Beginn eines Gesprächs aus Gefühlskarten jene auswählen, die gerade zu ihrer momentanen Stimmung passt.

Figuren anbieten

Viele Jugendliche arbeiten auch gerne mit Figuren, wenn sie diese selbst auswählen können, bspw. um eine Stimmung auszudrücken oder die aktuelle Position auf einer Skala, einem Weg zu markieren. Das können Holz-, Lego-, Playmobilfiguren oder auch Tiere sein. Mit mehreren Figuren können auch Situationen schnell erfasst werden, z.B. bei der Frage «Wer unterstützt dich in deinem Anliegen?». So kann ein Helfer*innen-Netzwerk plastisch werden; mit Figuren und der Distanz kann auch dargestellt werden, wie wichtig ein Thema oder eine Person für ein bestimmtes Vorhaben ist.

Sprachbilder der Coachees aufnehmen

Nicht selten brauchen Jugendliche selber eine bildhafte Sprache. Diese Bilder bewusst aufzunehmen, zu spiegeln, in dem Sprachbild weiterzudenken, fördert den Prozess, z.B.: «Mir hat es abgelöscht», «Was brauchst du, damit du wieder Feuer und Flamme wärst?».

Embodiment: Das Zusammenwirken von Geist und Körper beachten

Psychologie und Kognitionswissenschaften belegen, was wir schon längst wissen. Körper und Psyche hängen zusammen, neu wird dafür der Fachbegriff «Embodiment» verwendet. Storch und Weber (2015) formulieren pointiert: «Körperliches und Psychisches wirken permanent aufeinander ein und sind untrennbar miteinander verbunden. Unsere Handlungen, unser Urteilsvermögen, die Art und Weise, wie und was wir entscheiden, die Stimmungslage und die Gefühlsbewertung von Situationen – all dies ist aufs engste an unsere sinnlich-motorischen Eindrücke gekoppelt.» (S. 2)

Embodiment-Ansätze rechnen also dem Körper eine wichtige Funktion bei der Verarbeitung von Informationen zu. Zugleich kann durch eine bewusste Veränderung von Mimik oder Körperhaltung die Empfindung von Emotionen beeinflusst werden: Sind wir traurig, können wir unseren Körper aufrichten, ein Lächeln aufsetzen, und die Stimmung hebt sich bereits ein wenig. In Begleitung und Beratung lässt sich mit dem Wissen um diese Wechselwirkungen arbeiten; zentral ist bereits das Bewusstsein, dass Entscheide und Prozesse nicht nur rational erklärbar und Probleme nicht einfach mit Logik zu lösen sind. Begleitpersonen nehmen daher achtsam die Körpersprache von Jugendlichen wahr, beziehen körperliche Reaktionen in die Prozesse ein und spiegeln sie Jugendlichen vielleicht, um mit ihnen herauszufinden, was sie brauchen. Oder sie initiieren körperliche Aktivitäten, um mit «Lampenfieber» und Blockaden umzugehen. Dafür müssen Fachpersonen keine ausgebildeten Psycholog*innen sein, sie graben nicht in der Tiefe psychischer Prozesse, sondern arbeiten auf der Handlungsebene. In diesem Band beruhen verschiedene Impulse auf Methoden des Embodiments.[6]

Konkretes Tun und Erfahren

Die Integration von handlungsorientierten Aufgaben und Projekten wird in der Forschung zur Berufsorientierung diskutiert und gefordert (vgl. Driesel-Lange 2020). Erfahrungen sammeln beim konkreten Handeln fördert tiefere Erkenntnisse im komplexen Berufsfindungsprozess. Es bezieht Gefühle mit ein, ist nicht nur eine rationale – sondern auch eine körperliche Erfahrung. Wie anstrengend ist die Arbeit wirklich? Verrichte ich sie mit Freude? Wie riecht es in dem Betrieb? Welche Begeisterung fühle ich beim Handeln? Tun und Erfahren bildet so die Voraussetzung für eine konkrete Vorstellung, was zu einem passt, auch für die Formulierung von Wünschen und Zielen. Konkretes Tun ermöglicht, Neues sinnlich zu erleben, Reaktionen zu spüren, daraus zu lernen, Entscheide zu treffen. Deshalb sind Erfahrungen in Schnupperlehren und Praktika zentral und ausserordentlich wichtig.

Erfolgsversprechend in der Prozessbegleitung sind auch handlungsorientierte Übungen wie etwa Bewerbungsgespräche oder Kontakte und Interviews mit unbekannten Personen. Ein Spaziergang mit oder ohne Hund hilft manchmal mehr als ein steifes Gespräch am Tisch. Gemeinsam einen Weg gehen, zurück und vorwärts schauen, eventuell sogar Ziele draussen in der Natur besprechen, lässt aufschnaufen, durchatmen, macht den Kopf frei für neue Ideen und stärkt die Beziehung.

Schon in kurzen Sequenzen können handlungsorientierte Methoden eingesetzt werden. Die Bedeutung der Selbstverantwortung verstehen Jugendliche sofort, wenn sie in einem Gespräch eine Spielkonsole in die Hand bekommen: «Und was machst du? Wo steuerst du selber?» Geht es darum, herauszuarbeiten, wie viel Zeit im Alltag wofür gebraucht wird, kann das mit einem Krug Wasser und verschiedenen Gläsern geschehen: «Wo willst du wie viel einschenken? Du hast nicht beliebig Ressourcen.»[7]

Und wenn eine selbst gewählte Karte zerschnitten und Stücke daraus weitergegeben werden sollen, lässt sich Loslassen hautnah erfahren.

Die methodischen Impulse in diesem Band geben immer wieder Ideen und Hinweise zu den genannten Prinzipien der Begleitung: zur Haltung im Coaching, zu Fragetechniken, zu Visualisierungen und bewegungsorientierten Übungen. Eine Weiterentwicklung und situative Anpassung der Impulse sind erwünscht. Denn die Autorinnen betrachten die begleitenden Fachpersonen als Expertinnen und Experten für ihre Lerngruppe. Diese wissen am besten, was zu ihrer Zielgruppe passt und was sie wirksam einsetzen können.

Vertiefen

Baeschlin, Marianne & Baeschlin, Kaspar (2004). Basisdokumentation: Grundlagen der lösungsorientierten Gesprächsführung. Download unter www.zlb-schweiz.ch [Zugriff: 22.02.2022].

Bauer, Christiane & Hegemann, Thomas (2021). Ich schaffs! – Cool ans Ziel. Das lösungsorientierte Programm für die Arbeit mit Jugendlichen. Heidelberg: Carl Auer.

Berg, Insoo Kim & Shilts, Lee (2005). Der WOWW-Ansatz. Handbuch für lösungs(er)schaffende Strategien im Unterricht. Schriftenreihe: Einfach, aber nicht leicht, Bd. 3. Winterthur: Zentrum für lösungsorientierte Beratung.

De Shazer, Steve (2020). Mehr als ein Wunder. Lösungsfokussierte Kurztherapie heute. Heidelberg: Carl Auer.

Driesel-Lange, Katja (2020). Kompetenzfeststellungsverfahren als Instrument der Berufsorientierung. In: Brüggemann, Tim & Rahn, Silvia (Hrsg.). Berufsorientierung. Ein Lehr- und Arbeitsbuch (2. überarb. und erw. Auflage). Münster: Waxmann, S. 386–397.

Hardeland, Hanna (2017). Lerncoaching und Lernberatung. Lernende in ihrem Lernprozess wirksam begleiten und unterstützen. Ein Buch zur (Weiter-)Entwicklung der theoretischen und praktischen (Lern-)Coachingkompetenz. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren.

Herkner, Volkmar & Pahl, Jörg-Peter (2020). Handlungsorientierung in der Berufsbildung. In: Arnold, Rolf; Lipsmeier, Antonius & Rohs, Matthias (Hrsg.). Handbuch Berufsbildung. Wiesbaden, Springer Fachmedien, S. 189–203.

Ryter, Annamarie & Schaffner, Dorothee (2015). Wer hilft mir, was zu werden? Professionelles Handeln in der Berufsintegration. Bern: hep.

Ryter, Annamarie (2015). Jonglieren, balancieren, den Spagat wagen. Coaching in der Berufsintegration. In: Ryter, Annamarie & Schaffner, Dorothee (Hrsg.). Wer hilft mir, was zu werden? Professionelles Handeln in der Berufsintegration. Bern: hep, S. 185–198.

Ryter, Annamarie & Mittag, Michael (2019). Coaching. Kurzfilm unter https://www.michaelmittag.ch/filme/?&cat=komm&vid=lPwZ1JQobJM [Zugriff: 22.02.2022].

Storch, Maja & Weber, Julia (2015). Embodiment und seine Bedeutung für das Coaching. In: Greif, Siegfried; Möller, Heidi & Scholl, Wolfgang (Hrsg.). Handbuch Schlüsselkonzepte im Coaching. Heidelberg: Springer Berlin, S. 125–134.

Vogelauer, Werner (2011). Methoden-ABC im Coaching. Praktisches Handwerkszeug für den erfolgreichen Coach. München: Luchterhand.

1Ressourcen entdecken

«Wenn es einen Glauben gibt, der Berge versetzen kann, so ist es der Glaube an die eigene Kraft.»

Marie von Ebner-Eschenbach, österreichische Schriftstellerin, 1830–1916

Fachpersonen in der Weiterbildung bemerken häufig: «Den Ressourcenblick muss ich noch üben, in der Regel schaue ich auf das, was fehlt.» Es scheint leichter zu fallen, das zu sehen, was noch zu bearbeiten ist, als was schon zur Verfügung steht. Zudem verführt der zeitlich eng getaktete Berufsfindungsprozess dazu, sich auf das zu Korrigierende zu fokussieren. Das kann für Jugendliche demotivierend sein und zu Widerstand beitragen. Freudvoller und erfolgsversprechender ist es dagegen, wenn konsequent Ressourcen im Fokus stehen, also das, was bereits gut funktioniert. Gerade in der Begleitung des Berufsfindungsprozesses wird ein ressourcenorientierter Ansatz als sehr wirkungsvoll erachtet: Erstens, weil es für die Jugendlichen um die Auseinandersetzung mit den eigenen Stärken geht, und zweitens, weil eine ressourcenorientierte Haltung zum Lernen motiviert und Veränderung unterstützt.