Wolfs Brut - Roman Rausch - E-Book

Wolfs Brut E-Book

Roman Rausch

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Beschreibung

Gerührt und geschüttelt: Würzburg im Netz der Geheimdienste Großer Bahnhof in der Residenzstadt: Der EU-Sicherheitsgipfel ist zu Gast am Main. Die Sicherheitsvorbereitungen laufen auf Hochtouren. Ein tödlicher Fenstersturz des unterfränkischen Regierungspräsidenten trübt allerdings das schöne Bild perfekter Organisation. Der strafversetzte Kommissar Kilian soll die Ermittlungen möglichst rasch und leise zum Abschluss bringen. Doch je weiter er und sein Kollege Heinlein in diesem Fall vordringen, desto mehr geraten sie zwischen die Fronten internationaler Geheimdienstaktivitäten. Als auch noch fränkische Rebellen auf den Plan treten, kommt es auf der Festung Marienberg zur Katastrophe, bei der so mancher bayerische Würdenträger Federn lassen muss.

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Seitenzahl: 415

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Roman Rausch

Wolfs Brut

Ein Fall für Kommissar Kilian

Für Dich

Dank an…

das Institut für Rechtsmedizin, Dr.Thomas Tatschner, die Schloss- und Gartenverwaltung Würzburg, Herrn Weiler und Herrn Derlath, Herrn Elmar Hofmann für die Führung in den Geheimgängen und an meine Familie, Freunde und Leser für die emsige Promotion, Bernd für die Loosche und Blanka– Ideengeberin, Kritikerin und Rückhalt.

Anmerkung

«Der fränkische Dialekt», wenn es ihn überhaupt gibt, ist im vorliegenden Buch so gehalten, dass er auch von «Nicht-Franken» gelesen und verstanden werden kann. Dialektvermischungen und unterschiedliche Schreibweisen kommen vor und entsprechen dem Status quo.

Berlin, 9.November 1989, 22.30Uhr

Die Welt schaut fern und auf «die Mauer».

So auch im Würzburger Maulaffenbäck in der Maulhardsgass:

«Des Kommunistepack. Jetz isses vorbei mit der Herrlichkeit.»

«Guck ner, die Ostvöchel, wie se renne und flenne.»

«Mehnst echt, die wern jetz hemmkolt, Erich? Hemm ins Reich?»

«Renate, was hast du denn wieder für Parolen drauf?»

«Och, Heinz-Günther, du wesst doch, wie’s gemehnt is.»

«Isch glaab net, dass der Russ die Zaunkönisch anfach zieh’n lässt.»

«So ein Käs, Walder. Der Russ is doch froh, wenn er die los is.»

«Schau mal, Schorsch, wie die angezoche sin, die Ossis!»

«Ouh, Renadde, mir ham’s bolitisch, und du künnst mit Kläder.»

«Für Geld verkauft der Russ, wenn’s sei muss, sogar sei’ Großmudder.»

«Mennst echt? Aber, was woll’mer denn mit denne?»

«Die wolle doch nur unner Tschiens und unner Banane!»

«Was des alles wieder kost’ und wer des bezahl’ soll…»

«Da wächst eben zamm, was zamm k’hört.»

«Wart mer’s erscht mal ab. Irma, no enn vo dem Randersackerer!»

«Erich, sauf net scho widder.»

«Lass mer mei Ruh, Fraa. Du wirscht scho senn: In Zukunft hammer no viel mehr Gründ zum Saufen.»

«Da könnt der Erich Recht haben.»

«Wiesou?»

«Fraach net, Fraa, schenk ei!»

«Ach, wo bist du, beste aller Welten?»

Voltaire

Prolog

«Charles Saunders.»

Heinrich dehnte das «a» in Charles und das «au» in Saunders, als sei er Brite von Geburt an. Lässig und selbstverständlich. Sein Spiegelbild lächelte ihm dabei zu: «Charles Saunders.»

Der Name gefiel ihm. Er gefiel ihm so gut, dass er die leise Hoffnung hegte, ihn für immer behalten zu können. Heinrich konnte sich sogar vorstellen, Saunders zu seiner einzigen und wahren Identität zu machen. Nach allen vorangegangenen fühlte er sich mit diesem neuen Ich wie in seiner eigenen Haut. Der auf alt gemachte Pass und der täuschend echt wirkende Presseausweis zeigten einen Mann in den Dreißigern mit goldumrandeter Brille und kurzen dunklen Haaren. Er war nun Charles Saunders, Reporter bei der britischen Nachrichtenagentur Reuters. Die Fälscher der Staatssicherheit hatten sich wieder einmal selbst übertroffen.

Jetzt war es so weit. Nach diesem letzten Auftrag wartete die Freiheit. Der Anruf war am frühen Morgen erfolgt. Ein einziges Wort, zweimal wiederholt, war der Code, der ihm das Versteck verriet. Am helllichten Tage in der Normannenstraße zu erscheinen wäre in diesen Tagen zu gefährlich gewesen. Die einstigen Bewacher waren nun selbst zum Ziel des Argwohns geworden. In der kleinen konspirativen Wohnung am Spreeufer hatte er die schriftlichen Instruktionen eingesehen und sie anschließend vorschriftsmäßig verbrannt. Ein Bündel englischer Pfundnoten, Bilder seiner fiktiven Familie und der Buchungsbeleg der Hotelreservierung im Westen der Stadt sollten die Legende eines Reporters im Einsatz untermauern, sofern er mit Armee- oder Polizeikräften konfrontiert werden würde. Die englische Sprache bereitete ihm keine Probleme. Als Informatikstudent im Dienste der Staatssicherheit hatte er sich im Ausland genügend darin üben können.

Zurück in seiner Wohnung hatte er begonnen, die Befehle minuziös auszuführen. Er löschte die Festplatte seines Robotron-Rechners, vernichtete alle persönlichen Aufzeichnungen, entfernte den Namen vom Klingelschild und wischte die Wohnung nebst Geschirr und Einrichtungsgegenständen mit einem fettlösenden Tuch. Weitere Hinweise, wie Bilder, Briefe oder Urkunden, hatte es bereits vorher nicht gegeben. Am Abend existierte «Heinrich» nicht mehr.

Charles Saunders schloss die Tür hinter sich, achtete darauf, dass ihm niemand auf der Treppe begegnete, und verließ das Haus in Richtung Normannenstraße, wo er erwartet wurde.

15.Januar 1990.Ministerium für Staatssicherheit (MfS), Normannenstraße.

Wie von Sinnen schlug der Mann auf die Überwachungskamera ein. Er saß auf den Schultern eines anderen, der keuchend die Balance zu halten suchte. Frenetisch wurde er angetrieben, bis das Augenlicht der Verbrecher auf immer erloschen war.

«Schlag sie tot, schlag sie tot!», schrie das eine Volk mit einer Stimme. Jung und Alt, Lehrer und Schüler, Krankenschwester und Busfahrer, Arbeiter und Privilegierter, Atheist und Katholik, Witwe und Familienvater. Sie waren belogen und betrogen, ausspioniert und erpresst, entführt, weggesperrt, gefoltert und getötet worden. Vom Nachbarn und Freund, vom Vater und von der Mutter, vom Bruder und von der Schwester, vom Ehemann und vom eigenen Kind. Nach fünfzig Jahren, einem Monat und zwei Tagen hatte sich mit dem Fall der Mauer vor wenigen Wochen ihr Traum von einer besseren und gerechteren Welt noch nicht erfüllt – so lange nicht, wie die Verbrecher im MfS noch arbeiteten. Dieser Januartag des neuen Jahrzehnts sollte die Befreiung und der Aufbruch in ein neues Leben sein.

Saunders trieb in der wogenden Menge. Um ihn herum Tausende mit vor grenzenloser Wut verzerrten Fratzen und erhobenen Fäusten, fest entschlossen, die Fesseln von Bevormundung und Knechtschaft zu sprengen. Er hatte das sichere Gefühl, dass sein Auftrag mit diesem Ereignis zusammenhing. Ebenso sicher wusste er, dass sich unter dem einen Volk viele Kollegen befanden und dass er sich rasch zum verborgenen Eingang des Stasi-Gebäudes durcharbeiten musste, um nicht erkannt zu werden.

Der letzte Hieb mit der Eisenstange riss die Kamera samt Halterung aus der Wand. An zwei Kabeln hängend, baumelte sie kopfüber herunter. Das Volk heulte auf und drängte weiter an das Stahlgittertor. Die Vordersten rüttelten und traten gegen das Gestänge.

«Stasi raus! Stasi raus!», hallte es durch die kalte Januarnacht. Die Ersten stiegen auf das Tor und feuerten die Menge an.

«Macht das Tor auf!», kam es tausendfach zurück. Blitzlichter zuckten auf, und Kameras westlicher Nachrichtensender katapultierten das Unfassbare in jeden Winkel der Welt.

«Macht das Tor auf!»

In den oberen Stockwerken des Ministeriums kollabierten währenddessen die Reißwölfe unter der Last. Akten wurden hektisch von Hand zerrissen und auf einen Berg geworfen. Offiziere trieben die Mannschaften an, schneller zu arbeiten. Über die Bildschirme der Robotron-Rechner flimmerten Zahlenkolonnen, Namen, Adressen und intime Details, die in mühevoller Kleinarbeit zusammengetragen worden waren. Stahlschränke wurden aufgerissen und Computerbänder herausgenommen. Sie verschwanden in Taschen, Koffern und Rucksäcken. Zivil gekleidete Kuriere drängten zur Eile. Lange konnte es nicht mehr dauern. Steine flogen durch die Fenster, und Stasi-raus-Rufe erfüllten den Raum.

Saunders öffnete die Tür zu Referat 7.Oberst Weinmann brüllte auf einen Untergebenen ein, der drei silberfarbene Filmdosen in eine schwarze Kuriertasche steckte. Dann sah er Saunders.

«Na endlich. Sie müssen diese Tasche rausbringen, egal, was passiert, egal, wer sich Ihnen in den Weg stellt. Haben Sie das verstanden?», fragte Oberst Weinmann eindringlich.

«Ich bin kein Anfänger», antwortete Heinrich kühl.

«Trauen Sie niemandem. Sollte sich Ihnen jemand in den Weg stellen, schießen Sie ihn nieder.»

«Wohin und an wen geht die Lieferung?»

Weinmann zog ihn zur Seite, neben das Fenster.

«Moskau. Generalmajor Ropow. Alexander Ropow. Vergessen Sie den Namen nicht», sagte Weinmann. «Nur er darf die Tasche bekommen. Haben Sie verstanden? Nur er kann sie in Sicherheit bringen.»

«Eine letzte Frage: Was soll ich nach der Übergabe tun?»

Weinmann zuckte mit den Schultern. «Sie müssen sich dann selbst durchschlagen. Mein letzter freundschaftlicher Rat ist, dass Sie so schnell wie möglich Ihr Geld auf neue Konten transferieren und alle Spuren verwischen. Ich weiß nicht, ob wir das rechtzeitig schaffen.»

Saunders nahm die Tasche, heftete seinen Presseausweis ans Revers und verließ grußlos das Referat 7.

Mehrere Einsatzkommandos, fünf bis sechs Mann stark und in ziviler Kleidung, drangen im Schutz der Demonstranten in das Gebäude ein. Während die siegestaumelnden Revolutionäre Honecker-Bilder und DDR-Flaggen von den Wänden rissen, darauf herumtrampelten, sie bespuckten und sich richtungslos im weiten Bürokomplex verloren, verteilten sich die einzelnen Trupps zielsicher auf verschiedene Gebäudebereiche. Ihre Anführer hatten von Hand gezeichnete Karten bei sich und gaben ihre Kommandos auf Englisch.

Saunders rannte mit der schwarzen Kuriertasche auf die Treppen zu. Kaum hatte er die ersten Stufen genommen, kam ihm ein Trupp entgegen. Sie musterten ihn, erkannten den Presseausweis und liefen an ihm vorbei Richtung Referat 7.Sie stießen die Tür auf und fanden Oberst Weinmann vor, wie er mit einem Stuhl auf den Robotron-Rechner einschlug. Der Truppführer stürzte sich auf die leeren Wandschränke, die anderen hielten Weinmann fest, um zu retten, wonach sie suchten.

«Wo sind die verdammten Filme?!», schrie der Truppführer Weinmann auf Deutsch an und packte ihn an der Uniform.

Weinmann lächelte zufrieden: «Ihr Amerikaner werdet es niemals schaffen.»

Saunders kam ins Erdgeschoss gelaufen, wo johlende Demonstranten im Siegesrausch tanzten. Einige musterten ihn misstrauisch.

«Stasi raus!», brüllte er ihnen entgegen und lief durch den Hof hinaus in die Normannenstraße. Nach wenigen Metern verschwand er im Dunkel einer Seitenstraße.

Hinter einer Hausecke beobachtete ihn ein Mann, der lange Zeit die Geschicke im Stasi-Gebäude bestimmt hatte.

Eine Woche später. Moskau. KGB-Zentrale.

Die Straße war menschenleer. Dienstfahrzeuge parkten verlassen am Straßenrand. Saunders stand hinter einem Baum, die Kuriertasche fest unter dem Arm. Zwei Wachposten patrouillierten mit geschulterten Kalaschnikows am Hauptportal. Von Saunders aus waren es etwa fünfzig Meter bis zum rettenden Hauptportal des Gebäudes. Hinter dem Gitter ragte das mehrstöckige KGB-Gebäude in den Nachthimmel. Im dritten Obergeschoss, links außen, waren zwei Fenster erleuchtet. Dahinter musste Ropow auf ihn warten. Er hatte sich in den letzten Tagen versichert, dass Generalmajor Alexander Ropow zu dieser späten Stunde noch zugegen war. Saunders hatte ihm eine Nachricht zukommen lassen, dass er heute Nacht die Lieferung überbringen werde.

Er schaute prüfend die Straße entlang und ging los. Sein Schritt war fest entschlossen, sein Wille, den Auftrag zu Ende zu führen, auch. Als er auf die Straße trat, bog ein Fahrzeug ein und hielt auf ihn zu. Im Scheinwerferlicht war er ein leichtes Ziel. Saunders lief schneller und rannte auf die beiden Wachposten zu. Hinter ihm beschleunigte der Wagen. Der Motor heulte auf.

«Schießt! Los, schießt endlich!», rief er den Russen zu.

Die Soldaten rissen ihre Waffen von der Schulter und legten an. Doch bevor sie den Fahrer anvisieren konnten, bog der Wagen ab und verschwand im Park. Saunders kam keuchend bei den Russen an. Er verlangte, umgehend Ropow zu sprechen, er würde bereits erwartet. Der Wachoffizier ließ Saunders von einem Soldaten ins Gebäude bringen. Der Gang im dritten Obergeschoss war nicht beleuchtet. Durch die Fenster drang blasses Mondlicht ein und warf ein Muster, gleich einem Spinnennetz, auf den Boden.

«Da bist du ja endlich, Tavarisch», begrüßte ihn Ropow. «Wie war deine Reise? Ich hatte schon befürchtet, dir wäre etwas zugestoßen.»

Saunders stand still. «Genosse Generalmajor», sagte er knapp und reichte ihm die Tasche. «Die übrigen Unterlagen sind rechtzeitig vernichtet worden und…»

«Jaja, ich weiß», unterbrach ihn Ropow, nicht sonderlich an weiteren Berichten über die Vorgänge in der Stasi-Zentrale interessiert. Er griff die Tasche, öffnete sie und nahm eine Filmdose heraus. Am Schreibtisch zog er einen Filmstreifen durch das Licht einer Lampe. Mit einem Lächeln wandte er sich Saunders zu: «Du hast große Gefahren auf dich genommen. Wie mir meine Leute berichteten, waren dir Amerikaner, Engländer und sogar die Israelis auf den Fersen.»

«Ich weiß nicht, wer sie waren, aber es waren viele. Ich bin froh, dass ich es geschafft habe.»

«Du hast dir eine Belohnung verdient», sagte Ropow.

Saunders hatte seinen Auftrag erfüllt und wollte nun möglichst schnell das Gebäude verlassen.

«Nicht nötig, ich…»

«Keine Widerrede. Bleib ein paar Tage auf meiner Datscha. Wodka und Frauen sind inklusive.»

Er griff zum Telefon und gab seinem Fahrer Befehl vorzufahren. Dann wandte er sich den Akten zu und sagte beiläufig: «Bleib, so lange du willst. Danach werden wir sehen, wie wir dich unterbringen können.»

«Danke, Genosse Generalmajor. Aber ich möchte lieber…»

«Willst du mich beleidigen?», fuhr Ropow ihn an.

«Nein, natürlich nicht.»

«Gut.»

Damit war die Audienz für Saunders beendet, und er verließ den Raum.

Ropow holte aus dem Seitenfach seines Schreibtisches eine Flasche Wodka und füllte zwei Gläser. Aus dem Hintergrund trat ein Mann ins Licht, nahm eine Filmrolle, überprüfte sie unter der Lampe und legte sie zufrieden zurück. Dann stellte er einen Diplomatenkoffer vor Ropow auf den Tisch.

«Du spielst mit hohen Einsätzen», sagte James Redwood. Er steckte die Filmrollen in seine Manteltaschen und setzte sich.

Ropow öffnete den Koffer und fand ihn randvoll mit 1000-Dollar-Scheinen. Obenauf lagen ein Flugticket und ein amerikanischer Pass. Ropow überprüfte beides.

«Wie du siehst, Tavarisch, bestellt und prompt geliefert. Das nenne ich Marktwirtschaft. Nasdarovje», sagte er und reichte Redwood ein Wodkaglas.

«Hiermit heiße ich dich als neuen Bürger in meinem Land willkommen. Oder wie man bei uns zu Hause sagt: Cheers», erwiderte Redwood und leerte das Glas mit einem Schluck.

Ropow kippte den Wodka hinunter, warf das Glas in eine Ecke und griff ein Bündel heraus. Er roch genüsslich daran. «Viva Las Vegas!»

Saunders wollte kein Risiko eingehen und überzeugte Ropows Fahrer mit ein paar Pfundnoten davon, ihn in einer Seitenstraße abzusetzen. Er wollte die Nacht in einer kleinen Pension verbringen, die nur von Fernfahrern frequentiert wurde. Irgendwie musste er schnell einen Weg finden, wie er aus Moskau herauskam. Ropows Drängen beunruhigte ihn. Eine Fernfahrerkneipe und eine mögliche Flucht im Bauch eines Containers erschienen ihm die besten von seinen wenigen Möglichkeiten zu sein, unbemerkt unterzutauchen. Das war nicht ohne Risiko, denn derartige Treffs wurden von den Behörden überwacht. Trotz allem aber berechenbarer, als sich in Ropows Datscha auf dem Silbertablett zu präsentieren.

Nach einer Stunde mehrmaliger Richtungswechsel, Straßenbahnfahrten und Seitenstraßen fühlte er sich unverfolgt. Am Stadtrand fand er das gesuchte Lokal. Mit einem polnischen und einem deutschen Fernfahrer trank er Wodka in einem schäbigen Nebenzimmer. Im Gespräch zeigte sich, dass offenbar keine Geheimdienstler an diesem Abend im Hause waren, sonst hätten sich die beiden Fernfahrer anders verhalten. Eine Mitfahrgelegenheit konnte er jedoch nicht aushandeln. Die Kontrollen seien verschärft worden, und keiner der beiden hatte Lust, die nächsten zwanzig Jahre in einem russischen Gefängnis zu verbringen. Nicht für die paar Kröten, die er anbieten konnte. Saunders entschloss sich, sein Glück am nächsten Morgen nochmals zu probieren, und verschwand auf sein Zimmer, das über dem Lokal lag.

Als er die Tür öffnete, sprach jemand aus dem Dunkel zu ihm: «Ich habe Sie lange gesucht, Mr.Saunders.»

Saunders erschrak und griff nach seiner Waffe. «Sie hätten sich die Mühe sparen können. Ich habe die Tasche nicht mehr», antwortete er und machte das Licht an, das die Mitte des Zimmers nur schwach erleuchtete.

James Redwood saß in einem Sessel und trank Whiskey. «Ach, die Tasche», sagte er und lehnte sich nach vorn, sodass sein Gesicht in den Lichtkegel fiel. «Ich bin hier, um Sie kennen zu lernen, Charles. Ich darf Sie doch Charles nennen? Wie gesagt, die Tasche ist nicht von Belang. Ich habe sie bereits. Besser gesagt, ihren Inhalt.»

Saunders war irritiert. Er ging mit vorgehaltener Waffe an Redwood vorbei zum Fenster und blickte zwischen den speckigen Plastikvorhängen hinunter auf die Straße. Er fragte sich, ob noch jemand seinen Unterschlupf hatte ausfindig machen können.

«Keine Sorge, ich bin alleine gekommen», sagte Redwood.

«Wie haben Sie mich so schnell gefunden? Und überhaupt, woher kennen Sie meinen Namen?», fragte Saunders.

Er setzte sich und hielt mit der Waffe Redwood in Schach.

«Wer kennt ihn nicht? CIA, MI6, Mossad. Die Deutschen wahrscheinlich nicht. Egal. Jeder kennt Sie, und jeder sucht Sie, Mr.Saunders», antwortete Redwood.

«Aber wie…?»

«Sie haben noch immer nicht verstanden. Namen bedeuten in diesem Geschäft nichts. Identitäten auch nicht. Sie wechseln schneller als Sie und ich die Unterwäsche. Wenn sie anfängt zu stinken, muss eine neue her. Das sollten doch gerade Sie zur Genüge wissen. Sehen Sie…», sagte Redwood und holte eine Filmrolle aus der Manteltasche hervor. «Alle diese Namen sind nur etwas wert, solange sie im Dunkeln bleiben. Ab dem Moment, an dem sie ans Licht kommen, werden sie unbrauchbar. Für unsere Zwecke versteht sich. Nicht für diejenigen, die sie benutzen. Für die wird es dann gefährlich. Wie für Sie, Herr Heinrich.»

«Was haben Sie Ropow gezahlt, damit er Ihnen die Filme gibt?»

«Im Vergleich zur Bedeutung der Informationen wenig. Wir haben ihm einen Wunsch erfüllt. Und das Gleiche haben wir mit Ihnen vor.» Er stand auf und reichte Saunders die Hand. «Mein Name ist James Redwood. Ich arbeite für die Regierung der Vereinigten Staaten.»

Saunders’ Gedanken überschlugen sich. Er mochte Situationen nicht, in denen er das Ziel des Feindes nicht kannte. Er musste Zeit gewinnen und die Taktik ändern.

«Sie haben mir noch nicht gesagt, was Sie von mir wollen, James. Ich darf Sie doch James nennen?»

«Lassen Sie es mich so ausdrücken: Ich löse Probleme und erfülle Wünsche.»

Saunders lachte: «Schöner Beruf. Ich wünschte, es wäre meiner. Meinen Wunsch können Sie jedoch nicht erfüllen. Das ist unmöglich.»

«Warten Sie’s ab und lassen Sie mich raten. Sie sind Ihres Lebens, so wie Sie es bisher geführt haben, überdrüssig. Es lockt Sie kein Geld und auch keine Position. Mit Ideologien brauche ich Ihnen nicht kommen, davon hatten Sie reichlich. Sie wollen Ihre Ruhe haben und das tun, was Sie am liebsten tun.»

«Nicht schlecht. Und das wäre?», fragte Saunders belustigt.

«Sie wollen Computerprogramme entwickeln.»

Saunders zuckte innerlich zusammen. Er bemühte sich, seine Verwunderung über den Treffer zu verbergen. «Angenommen, Sie hätten Recht, dann ist Ihnen auch bewusst, dass wir nichts weiter zu besprechen haben. Software und Sicherheit gehen einher. Spione bringen dafür die denkbar schlechtesten Voraussetzungen mit.»

«Im Gegenteil. Sehen sie, Charles, wir können dafür sorgen, dass die nächste Identität, die Sie annehmen, ihre letzte ist. Und damit sind wir auch schon bei Ihrem größten Wunsch neben der Computerei: eine neue und unbelastete Identität, die Sie für den Rest ihres Lebens behalten. Kein schlechter Gedanke, oder?»

Treffer und versenkt. Saunders ließ die Waffe sinken, die er noch immer auf Redwood gerichtet hatte. «Wie kommen Sie darauf, dass ich mir das wünsche?»

«Charles, Sie sind doch ein intelligenter Mann. Sie wissen, dass Sie aufgeflogen sind. Spätestens nach dem Sturm auf die Staatssicherheit ist es höchste Zeit für Sie, sich in Sicherheit zu bringen. Ihre alten Freunde werden Sie für ein paar Dollar oder für die Aussicht auf Straffreiheit ans Messer liefern, wann immer sie die Gelegenheit dazu haben. Noch haben Sie die Chance, sich zu entscheiden. Ihr Gesicht ist bisher nur mir bekannt. Wenn Sie dieses Zimmer verlassen, sind Sie tot. Meine Kollegen aus den anderen Diensten warten schon. Egal, welche Grenzen Sie mit Ihrem Pass überschreiten wollen. Charles Saunders ist tot.»

Saunders erkannte, dass er in der Falle saß. Er hätte unbemerkt untertauchen können. Seine Freiheit war zum Greifen nah gewesen. Aber jetzt nicht mehr, da er enttarnt war und alle gezielt nach ihm suchen würden.

«Angenommen, Sie haben Recht. Wie sehen Ihre Vorstellungen aus?», fragte er.

«Ich biete Ihnen eine Karriere in der westlichen Computerindustrie. Sie werden neue Horizonte des Nachrichtenwesens erkunden und uns stärker machen als je zuvor.»

«Warum ich?»

«Weil Sie über Fachkenntnisse verfügen und ausreichend Erfahrung in unserem Geschäftsbereich gesammelt haben. Sie wissen, worauf es ankommt. Diese Kombination findet man nicht oft.»

«Wie wollen Sie verhindern, dass mich jemand erkennt? Wenn ich Ihr Angebot annehme, wird es Bilder von mir in den Zeitungen geben, Fernsehinterviews…»

«Einige kleine optische Änderungen und die passende Geschichte. Glauben Sie mir, die Leute würden eher den Präsidenten der Vereinigten Staaten der Spionage verdächtigen als einen amerikanischen Selfmade-Millionär.»

Saunders schwieg und dachte nach. Er kannte das Geschäft zu gut und wusste, dass Redwood ihn in der Hand hatte. Auf der anderen Seite erfüllte der ehemalige Klassenfeind soeben seinen dringlichsten Wunsch.

«In Ordnung, James. Wie sehen die Details aus?»

«Nachdem ich mich nun schon an den Namen gewöhnt habe, denke ich, wir bleiben bei Charles. Was den Nachnamen betrifft, haben wir einige Vorschläge. Die endgültige Wahl bleibt selbstverständlich Ihnen überlassen.»

1

Langley bei Washington. CIA-Zentrale. Zehn Jahre später.

«Wir dürfen Deutschland nicht aus den Augen verlieren», sagte der Mann von der NSA.1

«Was wollen Sie denn eigentlich noch? Der Finanzausschuss wird mich hochkant rauswerfen. Sie haben doch bereits eine Station dort», hielt ihm der Sicherheitsberater des amerikanischen Präsidenten entgegen. «Bad…»

«Aibling. Bad Aibling in Bayern», vervollständigte John Frankenheimer den Satz. «Das Außen- und insbesondere das Wirtschaftsministerium sind sehr zufrieden damit. Die Station hat uns bisher gute Dienste geleistet. Gablingen bei Augsburg mussten wir, wie Sie wissen, vom Netz nehmen. Es gab zu viel Aufregung. Aber ich gebe meinem Kollegen von der NSA Recht, wir dürfen uns nicht mit einer Station zufrieden geben. Denken Sie an die Europäische Zentralbank, die in Frankfurt entstanden ist. Sie ist der wahre Dreh- und Angelpunkt für die Europäische Union. Dort werden die Entscheidungen getroffen. Nicht in Brüssel oder Straßburg. Frankfurt ist es, an dem wir uns orientieren müssen. Nicht zuletzt wegen den Außenhandelsbeziehungen, die dort eingefädelt werden.»

Allgemeines Schweigen erfüllte den Raum, in dessen Mitte ein großer Konferenztisch platziert war. An ihm saßen Regierungsvertreter, CIA- und NSA-Leute und ein schweigsamer Charles Mendinski. Er war als Vertreter der amerikanischen Computerindustrie zum Gespräch eingeladen. An den Mienen der Männer war abzulesen, dass Frankenheimers Argument Wirkung zeigte. Allerdings schien seine Offenheit auch zu belasten.

«In erster Linie findet die neue Station ihren Einsatz in Sicherheitsfragen», fügte der CIA-Mann hinzu. «Das Korruptionsaufkommen und die Strukturen der organisierten Kriminalität haben sich dramatisch erweitert. Es wird grenzüberschreitend gearbeitet. Mit nationalen Gesetzen kommen wir da nicht mehr weit. Nehmen Sie nur eine Überweisung von einem Bankkonto zu einem anderen. Das dauert nicht länger als drei Tage. Ein Rechtshilfegesuch an einen befreundeten Staat mindestens ein halbes Jahr, wenn es überhaupt beantwortet wird. Bevor wir tätig werden können, haben sich die bösen Jungs längst aus unserem Zugriffsbereich entfernt und lachen sich ins Fäustchen. Wir müssen dieser Entwicklung geschlossen entgegentreten und sie in den Griff bekommen, bevor sie uns und unsere benachteiligten Unternehmen in den Griff bekommt. Nicht zuletzt: Denken Sie an die Osterweiterung der Europäischen Union und des nordatlantischen Bündnisses…»

«Genau darum geht es», fügte der Sicherheitsberater hinzu. «Unsere europäischen Partner erwarten das von uns. Wir brauchen ein wirksames Mittel, um größtmögliche Sicherheit auf den weltweiten Finanzmärkten zu gewährleisten. Und der Präsident macht sich ernsthaft Gedanken, wie wir den berechtigten Forderungen des Baltikums und der neuen Beitrittsländer in die EU nach militärischer Eingliederung gerecht werden wollen. Mr.Mendinski, wie sieht es mit der Unterstützung der Unternehmen, die Sie vertreten, in diesen Punkten aus?»

Mendinski räusperte sich und erwiderte: «Man macht sich große Sorgen um die Sicherheit. Insoweit stimmen wir überein. Doch viel entscheidender ist Sicherheit im Hinblick auf die von uns bereits eingegangenen Risiken. Der Zugang zu unseren Kommunikationsprodukten, den wir Ihnen bisher großzügig gestattet haben, stand in keiner Relation zu dem Schaden, der Ihrerseits verursacht wurde. Die deutsche Technik zur Windenergienutzung hätte niemals auf dem Tisch amerikanischer Konkurrenzunternehmen landen dürfen. Das war ein großer Fehler. Unsere Kunden fragen sich seitdem, wie sicher die Produkte noch sind, die wir ihnen verkauft haben. In der Flugzeugtechnik haben Sie auch wenig Geschick bewiesen. Die Firmen Thomson und Airbus senden vertrauliche Informationen sicherlich nicht mehr via E-Mail, die von Ihnen mitgelesen werden.»

«Die Gegenleistung, die Sie bekommen haben, hat Sie doch wohl in ausreichendem Maße entschädigt», konterte der NSA-Mann.

«Informationen über unsere Konkurrenten sind hilfreich. Das ist richtig. Aber mehr auch nicht. Mittlerweile müssen wir feststellen, dass sich eine breite Front gegen uns gebildet hat. Und dabei spreche ich nicht von Hackerangriffen Einzelner. Vielmehr geht es um den Ruf, den wir zu verlieren haben und somit um den Verlust von Kunden, die stattdessen zunehmend bei unserer europäischen und indischen Konkurrenz einkaufen. Und dieser Umstand kann sicherlich auch nicht in Ihrem Interesse liegen.»

«Darum werden wir uns kümmern», sagte der CIA-Mann. «An den entsprechenden Schaltstellen haben wir Mitarbeiter platziert, die uns über die neuesten Entwicklungen auf dem Laufenden halten. Doch kehren wir zurück zum eigentlichen Thema.»

Der Mann stand auf und ging zum Display, das sich über die gesamte Stirnseite des Raumes erstreckte. Dort waren sämtliche Standorte der Abhörstationen zwischen Morwenstow in Cornwall und dem australischen Geraldton aufgeführt.

«Unsere Experten empfehlen eine Änderung der Strategie. Anstelle weniger großer Anlagen schlagen sie viele kleinere vor. Dadurch würde sich der Aufwand, der um eine einzige Anlage gemacht wird, verringern und dementsprechend ihre Wirkung auf die Öffentlichkeit. Im Gegenzug dazu werden viele kleine Stützpunkte entstehen, die gerade die Größe eines Trucks besitzen und zudem mobil sind. Damit erreichen wir eine Flexibilität, die uns schnell auf neue Entwicklungen reagieren lässt. Aufgrund der bereits angeführten Argumente werden wir ein schrittweises Vorgehen in diese Richtung vorschlagen und darum bitten, die notwendigen Mittel aus dem Sonderetat des Präsidenten abzufragen.»

«Sollte Ihr Vorschlag Gehör finden, wo würden die ersten neuen Anlagen platziert?», fragte der Sicherheitsberater.

«Mitteleuropa ist ein zentraler Punkt. Deutschland würde sich wegen der bereits dort befindlichen amerikanischen Einheiten anbieten. Auch wegen der eingangs geäußerten Wünsche, die EU und die Europäische Zentralbank betreffend, schlage ich Frankfurt am Main vor. Nicht unbedingt in der Stadt direkt, das könnte zu einer unerwünschten Aufmerksamkeit der Medien führen. Ich denke an einen Basis-Standort, der bis zu 100Kilometer außerhalb liegen kann. Östlich davon, wo es ruhiger ist.»

«Woran denken Sie?», fragte Frankenheimer.

«An eine Stadt namens Würzburg», antwortete der NSA-Mann. «Durch die Stationierung amerikanischer Truppen seit 1945 würde ein Projekt dieser Art nicht weiter auffallen.»

Der CIA-Mann kam an seinen Platz zurück und blätterte in seinen Unterlagen. «Mitarbeiter unseres Dienstes sind vor Ort.»

«Haben Sie auch den geeigneten Mann dafür?», fragte Frankenheimer.

Der CIA-Mann kramte in seinen Unterlagen und stieß auf einen Namen: «Governor könnte das handeln.»

«Wer ist Governor?», fragte Frankenheimer nach.

«Vorrangige Sicherheitsstufe. Dazu darf ich Ihnen nichts sagen», erwiderte der CIA-Mann.

«Soll ich erst eine Anfrage über das Außenministerium stellen?», drohte Frankenheimer.

«Können Sie. Wird Ihnen aber nichts helfen. Er ist A1 klassifiziert. Keine weiteren Informationen», kam es schroff zurück.

«Ich werde Ihnen gleich helfen», protestierte Frankenheimer.

«Wir sollten erst abwarten, ob der Mann dafür einsetzbar ist», sagte der NSA-Mann. «Ich schlage vor, wir machen eine kurze Pause, bis wir das überprüft haben.»

Die Konferenzteilnehmer erhoben sich und gingen vor die Tür.

Niemand war auf dem Gang zu sehen. Die Kameras überwachten jeden Winkel des Gebäudes. Vor ihnen musste er sich in Acht nehmen. Sein Pulsschlag beschleunigte sich, und er spürte, wie bei seinem allerersten Einsatz, das Pochen seines Herzens, das ihm ein entspanntes Atmen erschwerte. Für das, was er zu tun gedachte, brauchte er eine absolut ruhige Hand und ein entspanntes Auftreten. Jeder Anschein von Hektik hätte die Sicherheitskräfte auf ihn aufmerksam gemacht. Er setzte die schwarze Hornbrille auf, zog sich einen Overall des technischen Personals über und ging los.

Als er nach zahllosen Richtungswechseln durch die endlosen Gänge des CIA-Gebäudes vor der Tür angekommen war, tippte er auf dem Display einen sechsstelligen Code ein. Dann beugte er sich nach vorn, und ein Scanner las direkt vom präparierten Glas seiner Brille ab. Ein Klacken begleitete das spaltweite Öffnen der Tür. Er atmete erleichtert durch und ging hinein.

Inmitten des kahlen Raumes stand ein einziger Terminal, der mit einer Großrechenanlage verbunden war. Sie war in der Wand vor ihm installiert. Ein roter Punkt auf der schwarzen Wandverglasung zeigte ihm, dass die Anlage im Standby-Modus geschaltet war. Er kannte entsprechende Anlagen. Ein paar wenige Großunternehmen weltweit hatten sie für dreistellige Millionenbeträge angeschafft. Sie waren enorm leistungsstark und der marktüblichen Entwicklung um Jahre voraus.

Er setzte sich an den Terminal, nahm einen hauchdünnen, ebenfalls präparierten Latexhandschuh vorsichtig aus seiner Reverstasche und zog ihn über. Als er die Hand auf eine durchsichtige, im Tisch eingelassene Scheibe legte, startete die Anlage.

Der Lesestrahl fuhr die Handfläche entlang, und einzelne Bezugspunkte identifizierten das Profil eines Mitarbeiters aus dem Beraterstab des CIA-Direktors. Der Monitor zeigte das Bild eines gewissen Norman Ritchley und dessen ID-Daten.

Das Menü gab einen Hinweis auf seine Zuständigkeiten und seine Zugriffsberechtigungen. Unter ihnen fand er die A1-klassifizierten Agenten. Er startete eine Abfrage für das Einsatzgebiet Europa, und im Handumdrehen rollten Tausende A1-Klassifizierungen über den Bildschirm. Er suchte nach Governor und fand ihn. Daneben waren weitere Namen gelistet, die auf eine Verbindung untereinander verwiesen. Bevor er bestätigte, zögerte er. Bisher war alles ein Kinderspiel gewesen. Viel zu leicht war er ins Herz des Systems vorgedrungen. Hier konnte etwas nicht stimmen.

Doch die Zeit drängte, und er drückte auf Bestätigung. Die Datei öffnete sich, und im gleichen Moment verwandelte sich die schwarze Scheibe vor ihm an der Wand in eine aufgeregt blinkende Landschaft roter Punkte. Eine Karte von Deutschland wurde aufgebaut, in der der Aufenthaltsort von Governor, seine Querverbindungen zu anderen Städten und zur Abhörstation in Bad Aibling erschienen. Von Langley aus fraß sich ein grüner Strang in Richtung Osten, über einen Satelliten nach Menthwill in England. Von dort aus bog er ab in Richtung Süddeutschland, nach Augsburg. Die Verbindung stand. Augenblicklich schloss er die Datei, und die Übertragung brach ab. Er atmete erleichtert durch.

Aus seiner Tasche holte er einen kleinen Handheld Computer hervor und schloss ihn an den Terminal an. Dann startete er den Kopiervorgang. Der Rechner begann zu arbeiten, als erneut an der Wand eine Verbindung aufgebaut wurde. Von Bad Aibling fraß sich ein zweiter grüner Strang in Richtung England, um über den Satelliten eine Verbindung nach Langley herzustellen.

«Verdammt», fluchte er leise und betete, dass der Kopiervorgang bald abgeschlossen sein möge. Denn er konnte sich vorstellen, was passieren würde, wenn die Übertragung zustande gekommen war. Kurzerhand zog er den Stecker aus dem Computer, nahm seinen Handrechner und rannte zur Tür. Wieder gab er den sechsstelligen Zugangscode ein und wartete auf den Irisabgleich.

«Mach schon», flehte er leise.

Die Tür öffnete sich mit einem Klacken. Kaum war er auf dem Gang, ertönte der Alarm. Ruhig ging er unter den Videokameras hindurch, als wäre nichts geschehen. Dabei senkte er den Kopf und verbarg sein Gesicht vor den Kameras, so gut es möglich war. In einem leeren Raum entledigte er sich des Overalls, ließ die Brille in einem Abfalleimer verschwinden und ging hinaus auf den Gang. Kurz vor der rettenden Tür zum Konferenzraum tauchten Sicherheitsbeamte auf, die die Teilnehmer einer Körperkontrolle unterzogen. Der Handheld, schoss es ihm durch den Kopf. Er musste ihn loswerden, sonst war alles verloren. Die unerwartete Lösung nahte in Form eines Handwagens, mit der die interne Post verteilt wurde. Er wartete ab, bis der Bote mit einem Umschlag in einem Raum verschwand. Dann lief er auf den Wagen zu, durchstöberte die Umschläge und zog einen heraus. Er wechselte den Inhalt gegen den Rechner aus und schrieb auf die Top-Secret-Hülle: «Außenministerium. John Frankenheimer.»

Genua.

Galina gab dem Fischer hunderttausend Lire für ein kleines Boot mit Außenborder. Sie startete den Motor und steuerte aufs offene Meer hinaus. Die Lichter Genuas verloren sich bereits am schwarzen Horizont, als sie vor sich die Begrenzungsleuchten eines Schiffes sah. Je näher sie kam, desto klarer wurden die Umrisse einer Hochseeyacht. Der Mann, der an der Bordwand stehend auf sie wartete, trank gelassen ein Glas Champagner und beobachtete ihre Ankunft. Trotz seines schmachvollen Abgangs, der Gefängnisstrafe und den Verfolgungen durch seine früheren Opfer hatte er nichts von seiner Ausstrahlung verloren. Wie ein Kapitän, dessen Mannschaft in alle Himmelsrichtungen zerstreut war, stand er dort oben, inmitten der einsamen See, und schien abzuwarten, dass sie den Weg zurück zu ihm fand.

Die internationale Presse berichtete ab und zu von ihm, wenn es um Spionage und das Spinnennetz der Staatssicherheit ging. Er war ein gefragter Mann in dieser Hinsicht, wenngleich man jedes Wort überprüfen musste, das er von sich gab. Noch immer beherrschte er das Instrument des Vertrauensaufbaus und der gezielten Steuerung von Fehlinformationen aus dem Effeff. Manche behaupteten sogar, dass diese und andere Mittel zur Unterwanderung ganzer Staatssysteme in seinen Jahren als Leiter der Auslandsaufklärung zur Perfektion entwickelt wurden. Respekt und Hochachtung vor seiner Arbeit hatten ihm vor allem seine Konkurrenten aus den anderen Nachrichtendiensten entgegengebracht. Jahrelang war er ein Phantom geblieben. Spuren hinterließ er keine, und wenn, dann nur in Form seiner früheren Mitarbeiter oder des Schadens, den seine Erfolge bei den Zielobjekten hinterlassen hatten. Nur wenige kannten sein wahres Gesicht. Manche behaupteten sogar, er habe keines.

Selbst Galina fragte sich des Öfteren, wer dieser Mann eigentlich war. Sie kannte ihn seit ihrer Kindheit. Er war wie ein Vater für sie geworden, obgleich er Dinge von ihr verlangt hatte, die ein richtiger Vater niemals von seinem Kind gefordert hätte. Für ihn hatte sie gelogen, betrogen, hintergangen, gekämpft und gesiegt. Sie hatte nie nach dem Grund und dem Ziel ihres Handelns gefragt. Disziplin, Vertrauen und Loyalität waren die Tugenden, die sie zu erfüllen hatte, und Antwort genug auf ihre Fragen gewesen. Lange hatte sie sich damit zufrieden gegeben. Doch irgendwann, sie wusste nicht mehr, wann genau, beschloss sie, sich seiner Einflussnahme zu entziehen. Es war nicht leicht, denn seine Krakenarme reichten über alle Grenzen hinweg, und er ließ sie spüren, dass sie nicht ungestraft gehen konnte. Erst als er aus dem Dienst ausgeschieden war, entspannte sich das Verhältnis, wenngleich sie wusste, dass sie nie würde aussteigen können.

Doch in letzter Zeit war es ruhig um ihn geworden. Woran es gelegen hatte, wusste sie nicht. Sie wollte es auch nicht wissen, denn sie war froh, keine Fragen mehr stellen zu müssen, auf die sie ohnehin nur ein «Tu es einfach» als Antwort bekommen hätte.

Galina hielt an der Backbordseite und stieg die Leiter hoch.

«Schön, dass du gleich gekommen bist», sagte Sascha.

Er war in die Jahre gekommen. Um die Siebzig, graues Haar, aber immer noch der gleiche wachsame Blick. Er half ihr über die Bordwand und führte sie an einen Tisch, auf dem Obst, Wein und Kerzen hergerichtet waren.

«Hast du jemanden ausgeraubt oder um sein Erbe erleichtert, dass du dir jetzt schon Yachten leisten kannst?», fragte Galina und setzte sich auf die weiße Ledercouch, die rings um den Tisch verlief.

«Ein guter Freund hat sie mir geliehen.»

«Seit wann hast du Freunde, die dir freiwillig etwas geben?»

Sascha antwortete nicht, sondern schenkte Wein ein und setzte sich an ihre Seite. Dann schaute er sie lange an, lächelte und legte seinen Arm um sie. Galina entzog sich ihm.

«Lass das», wies sie jede vertrauliche Annäherung zurück.

«Was ist los mit dir? Hattest du einen schlechten Tag?»

«Ich dachte, du weißt alles und siehst alles? Dann sollte dir auch nicht entgangen sein, dass mir die Käufer am laufenden Band abspringen.»

«Hattest du etwa anderes erwartet? Der Schrein ist heiß. Du wirst ihn nicht losbekommen, selbst wenn du ihn verschenkst. Jeder hat Angst, mit dir oder dem Schrein in Verbindung gebracht zu werden. Früher oder später stünden die Behörden vor ihrer Tür. Dann wären auch die anderen geklauten Kunstobjekte verloren. Nein, es ist besser, wenn du ihn sicher unterstellst und abwartest, bis sich die Aufregung gelegt hat. In ein paar Jahren kannst du das Doppelte verlangen.»

«Aber ich brauche das Geld jetzt, und außerdem will ich das Ding los sein.»

«Also wieder knapp bei Kasse.»

Sascha schüttelte verständnislos den Kopf und rutschte näher. «Habe ich dir nicht immer gesagt…»

«Ich weiß», unterbrach sie ihn. «In diesem Fall ist es aber wichtig, dass ich ihn jetzt verkaufe.»

«Nach deiner gestrigen Aktion am Flughafen ist es auch kein Wunder. So etwas zieht man diskret durch und nicht mit einer wilden Schießerei. Hast du denn alles vergessen, was ich dir beigebracht habe?»

Galina blickte genervt zur Seite. «Ja, ich weiß…», gab sie zu. «Die Sache lief aus dem Ruder. Daran ist nur dieser schmierige kleine Bulle schuld.»

«Kriminalhauptkommissar Kilian», warf Sascha wissend ein.

«Du kennst ihn?», platzte es aus ihr heraus.

«Nicht persönlich. Aber ich weiß über ihn Bescheid und über die Leute im Hintergrund.»

«Dann sag mir, wo ich ihn finde, damit ich ihm zurückzahlen kann, was er angerichtet hat», drängte sie.

«Das hat Zeit. Er wird dir nicht weglaufen. Zuvor will ich, dass du etwas für mich tust.»

«Was steht an?»

«Nichts Weltbewegendes. Lediglich eine CD, die gestern aus Amerika eingetroffen ist. Ein Bote hat sie herausgeschmuggelt. Ich will, dass du sie für mich in Empfang nimmst und sie mir übergibst. Das ist alles.»

Galina ahnte nichts Gutes. «Wieso holst du sie nicht selbst?»

«Wenn ich das könnte, würde ich dich nicht darum bitten.»

«Also ist die Sache heiß?»

«Tu es einfach.»

«Nein, das zieht nicht mehr. Ich habe bereits genug mit dem Schrein am Hals. Das Ding ist tonnenschwer, und ich krieg ihn nicht los. Hilf mir mit dem Schrein, und dann besorge ich dir diese CD.»

«Der Schrein kann warten. Der läuft dir nicht davon. Aber diese CD muss am vereinbarten Treffpunkt in Empfang genommen werden, sonst ist sie verloren.»

«Was ist auf der CD so Wichtiges drauf, dass du sie nicht selbst…»

«Hör auf damit», fuhr er sie an. «Wenn die CD keine Bedeutung hätte, wärst du nicht hier. Aber ich kann damit nicht irgendwen beauftragen, sondern nur jemanden, dem ich vertrauen kann.»

«Vertrauen? Du? Dass ich nicht lache. Es wäre das erste Mal, dass du jemandem vertraust. Du willst dir bloß nicht selbst die Finger schmutzig machen. Das ist es und nichts anderes.»

Sascha setzte erneut an: «Auf dieser CD sind sehr vertrauliche Informationen, die vor Jahren verloren gegangen sind. Erst vor ein paar Tagen sind sie in Amerika wieder aufgetaucht. Jemand, ein alter Freund, wenn du so willst, hat sie beschafft, und jetzt sind sie auf dem Weg nach Deutschland. Mit diesen Informationen kann ich… kann man ein paar alte Rechnungen begleichen. Ich kann sie nicht abholen. Ein paar von meinen früheren Freunden werden dort sein.»

«Wusst ich’s doch. Die alten Freunde sind wieder am Werk, und ich soll für dich die Kohlen aus dem Feuer holen.» Galina sprang auf und ging zur Bordwand. «Vergiss es. Ich bin fertig mit deinen Geschäften. Ich will nichts mehr davon wissen.» Sie stieg ins Boot hinunter.

«Und dieser Kilian? Willst du nicht wissen, wo du ihn findest?», fragte Sascha von der Bordwand her.

«Den finde ich schon. Keine Sorge. Weit kann er nicht sein.» Galina startete den Motor und war im Begriff abzulegen, als Sascha seinen letzten Trumpf ausspielte.

«Sergej ist wieder da», rief er ihr zu.

Die Hand wurde augenblicklich vom Gashebel genommen, und Galinas Kopf schoss herum.

«Sergej?», fragte sie. «Wo ist er?»

Würzburg, Residenzgarten. Drei Tage später.

Die Anlage glich einem Meer aus tausend kleinen Flammen.

Um den Teich, inmitten des Gartens, waren Stühle aufgereiht, auf denen die geladenen Gäste Platz genommen hatten. Sie lauschten dem ersten Satz der Kleinen Nachtmusik, der von den Bamberger Symphonikern gespielt wurde. In einer der ersten Reihen hatte es sich Kilian bequem gemacht. Er hielt die Augen geschlossen und nahm jeden einzelnen Ton in sich auf. Das metallische Klacken des schweren, schmiedeeisernen Tors am Eingang ließ ihn aufmerken. Ein Platzanweiser zeigte einer hoch gewachsenen, gertenschlanken Frau mit schwarzem, kurz geschnittenem Haar den Weg zu ihrem Platz. Sie hatte eine dunkle Hautfarbe und trug ein sündhaft dekolletiertes Abendkleid. Er konnte sie auf die Entfernung nicht sofort erkennen, doch als in ihrer Gefolgschaft zwei Hünen in dunklen Anzügen auftauchten, war er sich sicher. Das war sie. Und sie kam genau auf ihn zu.

Stolz und überlegen schritt Galina unter den Augen der 8000Zuhörer, die es sich auf den Treppen und Galerien bequem gemacht hatten, auf ihren Platz zu. Verhaltenes Gemurmel machte sich breit, und jeder fragte sich, wer diese exotische Frau sein könnte. Im Allgemeinen kannten sich die Würzburger Größen untereinander. Und Leibwächter hatte keiner von ihnen.

Davon unbeeindruckt nahm Galina ihren Platz unweit des Teiches und des Orchesters ein. Die zwei Leibwächter bezogen Position hinter ihr an den Lustgärten. Sie blickte gekonnt uninteressiert nach allen Seiten und versuchte ein Zeichen vom Boten mit der CD zu entdecken.

Kilian verfolgte ihren Auftritt wie gelähmt. Hinter seinem Kollegen Heinlein suchte er Deckung, bis Galina zwei Reihen vor ihm Platz genommen hatte. Die beiden Leibwächter kannte er nicht, also konnten auch sie ihn nicht erkennen und waren ungefährlich. Fürs Erste.

«Hast du dein Handy dabei?», fragte er Heinlein.

Heinlein verneinte und hielt den Zeigefinger an die Lippen. Er hörte voller Stolz dem Geigenspiel seiner Tochter Vera zu, die zum ersten Mal öffentlich auftrat. Und das beim «wichtigsten kulturellen Highlight», wie er sagte, das die Stadt zu bieten hatte.

Kilian schaute sich um, ob er einen Kollegen ausmachen konnte, um, unbemerkt von Galina, Verstärkung zu rufen. Doch außer seinem Boss, Polizeidirektor Oberhammer, der vor ihm saß, fand er niemanden. Er tippte ihm auf die Schulter.

«Ich brauche Ihr Handy. Dringend», flüsterte er seinem Chef ins Ohr.

«Was wollen Sie?», fragte Oberhammer ungehalten. «Sehen Sie nicht… hören Sie nicht diese wunderbare Musik?»

«Ich brauche Ihr Handy. Bitte!», wiederholte Kilian eindringlich.

Mehrere Aufforderungen zur Ruhe setzten Oberhammer unter Druck. Er griff in die Tasche und reichte es Kilian. «Wenn Sie nur ein Privatgespräch führen, ziehe ich es Ihnen vom Gehalt ab.»

Kilian überging die Drohung und rutschte zur Seite raus. Galina saß keine zwei Meter von ihm entfernt, zum Greifen nahe, aber er durfte sich jetzt keinen Fehler erlauben.

Die Leibwächter zeigten kein Interesse an ihm, und Kilian ging zu den Treppen, die hinauf zu den Galerien führten, von denen aus man einen erstklassigen Blick über die gesamte Hofgartenanlage hatte. Er tippte die Nummer der örtlichen Polizeiinspektion ein, als eine Stimme hinter ihm befahl: «Schalt das Ding ab.»

Kilian fuhr herum und erkannte seinen früheren Einsatzchef Schröder vom LKA aus München. «Was machst du denn hier?», fragte Kilian überrascht.

«Wir sind im Einsatz, und jetzt halt die Klappe», bestimmte Schröder und zog Kilian die Stufen hinauf, weg von der Aufmerksamkeit der vorderen Ränge.

«Jetzt sag schon, was machst du hier?»

«Nur ein Zugriff. Nichts von Belang für dich.»

«Moment mal. Du bist hier in meinem Verantwortungsbereich.»

«Ach ja? Du hast dich also schon eingelebt. Gut so. Aber das hier ist Angelegenheit einer übergeordneten Dienststelle. Das liegt jenseits deines Aufgabenbereiches.»

«Lass das mal meine Sorge sein», widersprach Kilian.

Doch Schröder hörte ihm nicht mehr zu. Er ging auf einen Mann zu, der am oberen Brüstungslauf mit einem Funksprechgerät am Ohr auf ihn wartete und offensichtlich mit dem Einsatzkommando im Hintergrund in Verbindung stand.

«Wieso bin ich nicht über euren Einsatz unterrichtet worden?», fragte Kilian.

«Weil du nicht mehr zu unserer Truppe gehörst. Ganz einfach», antwortete Schröder. Er blickte an Kilian vorbei, die Treppe hinunter auf die vorderen Ränge, wo Galina saß.

Kilian folgte seinem Blick und erkannte, worum es hier ging. «Ihr seid Galina auf der Spur? Richtig?»

Schröder nickte, ohne weiter auf ihn einzugehen.

«Na wunderbar. Dann arbeiten wir an der gleichen Sache.»

«Tun wir nicht. Das ist ein LKA-Job, und du hältst dich raus.»

«Einen Teufel werde ich. Sie ist mir einmal entkommen, ein zweites Mal wird das nicht passieren.»

«Du hattest deine Chance», sagte Schröder und beendete damit die Diskussion. Der Mann an seiner Seite gab ihm ein Zeichen. Galina hatte sich in Bewegung gesetzt und ging in Begleitung der Leibwächter die Stufen hinauf.

Schröder zog Kilian mit in Deckung.

«Otter», rief er dem Mann mit dem Funksprechgerät zu und zeigte an das obere Ende der Treppe, «auf die Galerie!»

Otter nickte und lief los. Doch nicht nur er. Als hätte jemand begonnen, unsichtbare Fäden zu ziehen, so herrschte im Residenzgarten auf einmal Unruhe. Kilian erkannte auf der gegenüberliegenden Seite, an den Treppen und bei den Lustgärten zivile Einsatzkräfte, die sich in ihre Richtung in Gang setzten. Jeder von ihnen schien in Verbindung mit den anderen zu stehen, da sie Kommandos gaben und offensichtlich welche erhielten. Eine konzertierte Aktion, dachte Kilian. Schröder musste sich mächtig ins Zeug gelegt haben, um den ganzen Apparat bewilligt bekommen zu haben.

«Achtung an alle», sprach Schröder in sein Funksprechgerät. «Zielobjekt bewegt sich auf die obere Galerie zu. Kein Zugriff, nur beobachten. Wiederhole, kein Zugriff.»

«Wieso schnappen wir sie uns nicht gleich? Die Situation ist mehr als günstig», fragte Kilian ungeduldig, während Galina näher kam. Es juckte ihm in den Fingern, unmittelbar zuzuschlagen, wenn sie auf seiner Höhe angekommen war.

«Ich sage es dir zum letzten Mal. Du hältst dich bei der Sache raus. Es geht um mehr als nur um sie.»

Noch bevor Kilian mehr erfahren konnte, schritt Galina an ihnen vorbei. Die Konzertbesucher drehten sich reihenweise nach ihr um, sodass Kilian und Schröder nahezu die Deckung verloren. Doch Galina zollte den ihr folgenden Blicken keine Aufmerksamkeit. Sie war sich ihrer Wirkung bewusst und genoss es. Als sie am obersten Punkt der Galerie angekommen war, ging Schröder los. Kilian folgte ihm. Er schaute hinüber auf die andere Seite und sah das Einsatzkommando. Aber irgendetwas stimmte da nicht. Seit wann beschäftigte das LKA so viele dunkelhäutige Agenten? Unter ihnen waren auch welche, die wie Araber aussahen. Bei derlei Einsätzen fielen sie gerade durch ihre augenscheinliche Andersartigkeit auf, anstatt in der Masse gesichtslos unterzugehen. Hier stimmte etwas nicht. Würden Schröder solche Fahrlässigkeiten unterlaufen?

Kilian nahm die letzte Stufe und sah Galina an der Brüstung stehen. Die beiden Leibwächter standen einige Schritte hinter ihr. Aufmerksam wie Schlosshunde beobachteten sie das Umfeld. Schröder gab erneut Kommandos über das Funkgerät. Einige seiner Beamten schienen sich daran zu halten, da sie sich in gebührendem Abstand bereithielten. Andere jedoch kamen ungeachtet dessen näher. Kilian ging allmählich ein Licht auf. Das war nicht nur eine Falle für Galina, sondern auch ein Zugriff, an dem mehrere voneinander unabhängig operierende Einheiten beteiligt waren. Nur wer waren sie und für wen arbeiteten sie?

Inzwischen hatten die Einsatzkommandos Galina eingekreist. Sie konnten zuschlagen. Es gab kein Entrinnen. Sie saß wie der Fuchs in der Falle. Doch wider Erwarten taten sie es nicht. Sie warteten.

Kilian wurde unruhig.

«Was ist los? Wieso greift ihr nicht zu, verdammt?», ging er Schröder an. «Sie verschwindet uns noch.»

Das Orchester setzte zum Schluss des ersten Satzes an, als die ersten Tropfen fielen. Nicht viele, doch sie reichten aus, um das Orchester abrupt in den Gartensaal zurückzutreiben und die Besucher Schutz unter Bäumen, Mänteln und Decken suchen zu lassen. Im Handumdrehen herrschte auf der Galerie ein Hin-und-her-Gerenne, sodass Galina unter Hunderten kaum noch zu entdecken war. Schröder gab aufgeregt Befehl, noch nicht einzugreifen. Seine Leute hielten sich daran. Die anderen jedoch gerieten in Hektik und schlugen zu. Kilian folgte ihnen.

«Bleib hier!», schrie ihm Schröder hinterher.

Kilian hielt sich an die Leibwächter Galinas. Sie waren unübersehbar, und wo immer sie sich ihren Weg durch die Menge bahnten, fiel der eine oder andere zu Boden oder wurde einfach weggestoßen.

Plötzlich spürte er, wie ihm jemand an den Arm griff. Er drehte sich um und sah eine alte Frau, die verloren im Tumult Schutz und Halt bei ihm suchte.

«Entschuldigen Sie», sagte sie, «würden Sie mich bitte auf die andere Seite bringen. Die glatten Steine. Es ist einfach zu gefährlich für eine alte Frau…»

«Es tut mir Leid, gnädige Frau», antwortete Kilian, «ich kann Ihnen jetzt nicht helfen. Ich bin im Einsatz.» Kilian suchte sich von ihr loszumachen, aber die Frau hielt ihn fest.

«Es ist nicht weit», bestand sie auf ihrer Bitte. «Nur die paar Schritte.»

Ohne auf eine Antwort zu warten, lief sie los und zog Kilian untergehängt mit sich. «Wissen Sie, ich suche jemanden», fuhr sie fort. «Eine Frau, exotisch und schön.»

«Ich auch», hielt ihr Kilian genervt entgegen. Für eine weitere Diskussion hatte er keine Zeit. Er wollte die Frau an seiner Seite so schnell wie möglich loshaben. Er spähte nach den Leibwächtern, während in der Menge vor ihm Besucher stürzten. Andere stiegen über sie hinweg und suchten Schutz vor dem inzwischen prasselnden Regen. Ein Schlag auf seine Schulter ließ ihn herumfahren. Vor ihm stand einer der Leibwächter. Gleich hinter ihm Galina. Sie war nicht minder überrascht, als sie Kilian erkannte.

«Was machst du hier?!», fauchte sie und ging auf ihn zu.

Auch Kilian trat einen Schritt nach vorn, um sie zu fassen. Doch der Leibwächter war schneller. Er packte Kilian und zwang ihn in die Knie. Wie ein Berg ragte der Koloss vor ihm auf.

«Da sind Sie ja», sagte die alte Frau und verglich Galina mit einem Foto, das sie aus ihrer Handtasche gezogen hatte.

Galina stutzte und überlegte, was die alte Frau von ihr wollte.

«Was soll ich mit ihm machen?», fragte der Leibwächter mit Kilian zu seinen Füßen.

«Brich ihm das Genick», befahl sie.

«Ich soll Ihnen das hier geben», unterbrach die alte Frau. Sie hielt in ihrer Hand eine goldfarbene CD in einer Plastikhülle.

«Sind Sie der Bote?», fragte Galina erstaunt.

Die Frau lächelte zustimmend. Galina drängte sich an Konzertbesuchern vorbei und nahm die CD an sich.

«Schröder!», schrie Kilian und versuchte sich mit aller Gewalt aus dem Griff des Hünen zu befreien. Doch er hatte nicht den Hauch einer Chance gegen die Pranke, die im Begriff war, das Leben aus ihm herauszupressen. Unverhoffte Rettung nahte in Form eines Einsatzmannes, der sich auf Galina stürzte und sie zu Boden riss. Die CD glitt ihr dabei aus den Händen und verschwand zwischen den vielen Füßen in einer Pfütze.

«Die CD», rief Galina den Leibwächtern zu. «Holt euch die CD!»

Der Hüne ließ ab von Kilian und suchte nach der Scheibe im Morast. Kilian sank erschöpft zu Boden und schnappte nach Luft. Der zweite Leibwächter befreite Galina von dem Angreifer. In weitem Bogen segelte er über die Brüstung in einen Baum und krachte unter knackenden Ästen nach unten.

Wie die Jagdhunde fielen nicht nur Schröders Männer, sondern auch die anderen Einsatzkommandos über den Pulk her, der im prasselnden Regen vergeblich nach der CD suchte. Kilian rappelte sich hoch und schaute sich nach Galina um. Er fand sie auf Knien, wie sie eine Pfütze durchforstete. Vorbei an den Kämpfenden bahnte er sich einen Weg und konnte sie fassen.

«Hab ich dich», sagte er triumphierend.

«Lass mich los, verdammt!», schrie sie ihn an.

«Einen Teufel werde ich», erwiderte Kilian. Doch in seinem Nacken spürte er bereits den Atem des Leibwächters. Er drehte sich um und sah in eine Faust, die ihn wuchtig zu Boden schickte. Ein Fußtritt in die Rippen folgte und nahm ihm für kurze Zeit die Luft. Benommen blieb er liegen und sah das Weitere nur schemenhaft.

Die Einsatzleute stürmten auf Galina zu, und die Leibwächter kämpften wie wild, um sie zu befreien. Einer von ihnen hatte plötzlich die CD in der Hand.

«Bring sie in Sicherheit», rief Galina ihm zu.