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Comedian und Autor Patrick Salmen seziert urbane Selbstoptimierer: Kurzgeschichten mit reichlich schwarzem Humor, bissige Dialoge und messerscharfe Beobachtungen Wir alle kennen mindestens ein Exemplar dieser seltsamen Spezies: Stadtneurotiker mit einem nabelbeschauenden Drang zur Selbstoptimierung. Mit satirischem Scharfsinn, viel Selbstironie und leicht melancholisch angehauchtem Mitgefühl entlarvt Patrick Salmen ihre pathologischen Züge, die sich unter dem Mäntelchen esoterischer Achtsamkeitsbewegtheit verbergen. Schwarzer Humor ist bei den Kurzgeschichten, Dialog-Szenen und Alltagsbeobachtungen ebenso garantiert wie der ein oder andere Aha-Moment. Denn niemand weiß so gut wie der Dortmunder Bühnenkünstler, dass einem das Gegenüber oft nur deshalb so schräg vorkommt, weil man gerade in einen Spiegel schaut. Der sympathische Zyniker Patrick Salmen begegnet auch in seiner sechsten Kurzgeschichten-Sammlung der seltsamen Spezies namens Mensch mit dem gebotenen Mitgefühl. Was ihn keineswegs daran hindert, den Finger genüsslich in die ein oder andere neo-esoterische Wunde zu legen. Entdecke auch die anderen Bände mit humorvollen Kurzgeschichten von Bühnen-Poet und Kabarettist Patrick Salmen: - Ich habe eine Axt – Urlaub in den Misantropen - Genauer betrachtet sind Menschen auch nur Leute - Treffen sich zwei Träume. Beide platzen. - Ekstase – ist doch auch mal ganz schön - Im Regenbogen der guten Laune bin ich das Beige
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Seitenzahl: 179
Patrick Salmen
Knaur eBooks
Vorwort
Die Kunst der Begrüßung
Cremige Dialoge im Café I
Am Abgrund ist die Aussicht schöner
Die Welt stört meine Selfcare
Mein schönes neues Leben
Norbert
Cremige Dialoge im Café II
Mein Dankbarkeitstagebuch I
Die Evolution von Instagram
Endlich Influencer!
Cremige Dialoge im Café III
Tierfreier Nichtraucherhaushalt
Elternsprechtag
Pastell
Spielplatzlegenden
Cremige Dialoge im Café IV
Mein Dankbarkeitstagebuch II
Irgendwie ernüchternd
Mit dem Swipen sieht man besser
Onlinedating: Ein Ratgeber
Granola-Boy
Cremige Dialoge im Café V
Toi! Toi! Toi!
Es ist kompliziert!
Mein Undankbarkeitstagebuch
Interview eines beliebigen Musikmagazins
Cremige Dialoge im Café VI
Paddel räumt auf
Toxische Versöhnung
Die Kunst des Abschieds
Das große Achtsamkeitsquiz
Eine Art Nachwort
Leseprobe »Treffen sich zwei Träume. Beide platzen.«
Kuckuck! Herzlichen Glückwunsch zu Ihrem neuen Buch. An dieser Stelle würde ich mich gern kurz und knapp vorstellen, allerdings habe ich mehrere Identitäten, was die Sache nur unnötig verkopft macht. Es gibt allerhand Forschungen darüber, dass die Sprachen, in denen wir kommunizieren, verschiedene Facetten unserer Persönlichkeit ans Tageslicht bringen und wir deswegen oft das Gefühl haben, uns in einer anderen Sprache zu »kleiden«. Ich bin nun tief in mich gegangen und kann das bestätigen. Hier meine vorläufigen Ergebnisse …
Kernidentität! Patrick Salmen, freiberuflicher Autor, 38, geboren in Wuppertal. Stadtmensch und Philanthrop. Sonniges Gemüt, aber manchmal grummelig drauf. Hobbys: Knabbergebäck und Tretbootfahren. Spielt gern Tennis, hasst aber Leute, die Tennis spielen. Beschreibt sich selbst als »kreativen Typ«, seit er in der elften Klasse ein trauriges Gedicht über Herbstlaub geschrieben hat. Insgesamt fragwürdige Person.
Paddy Salomon, 27, ehemaliger Fabrikarbeiter aus Plymouth (Plimmes), der seit seinem unerwarteten Erbe und vereinzelten Investment-Erfolgen zum snobistischen Dandy wurde und die meiste Zeit im Golfverein abhängt. Seine Wurzeln leugnet er, und mit der Arbeiterklasse will er nichts mehr zu tun haben. Glücklicher und exzentrischer Typ. Leider im Gesamtbild unsympathisch!
Patrice Salmôn, 43, Feingeist und einfühlsamer Liebhaber mit Hang zur Melancholie. Insgesamt recht wortkarg, sein eindringlicher Blick kann allerdings ganze Romane erzählen. Anfangs ein bisschen schüchtern und introvertiert, aber irgendwann blüht er im Sozialgefüge auf und brilliert durch natürlichen Charme. Überzeugter Single und Lebemann! Hätte gern ein eigenes Weingut in Avignon, schlägt sich jedoch solange als Bildhauer durch. Verwegener Bohemien.
Joost van der Bouten, 72, lebensfroher Witwer aus Zwolle. Liebt Ausflüge in das Gartencenter und die Natur im Allgemeinen. Pensionierter Allgemeinmediziner mit Schwerpunkt Akupunktur. Hobbys: Zeit mit den Enkeln verbringen, ausgedehnte Fahrradtouren sowie Beiz- und Restaurationsarbeiten an Landhausmöbeln. Schweigsamer Typ, aber immer vorzüglich gelaunt. Mit Abstand beliebtester Typ im Dorf.
Ich hoffe, Sie haben nun eine grobe Vorstellung zu meiner Person. Alles ein wenig kompliziert. Kommen wir zu dem hier vorliegenden Buch. Ich müsste jetzt so was schreiben wie: »Dies ist mit Abstand mein persönlichstes Werk!« Das wäre allerdings eine Lüge, denn vieles habe ich mir nur ausgedacht. Der Rest ist frei erfunden. Aber was soll man in so einem Vorwort groß fabulieren? »Vielen Dank! Ohne meine Fans wäre ich nichts!« Dieser Satz würde Demut und Bodenständigkeit beweisen, zeugt jedoch auch von starker Überheblichkeit, denn Fan ist schon eine krasse Bezeichnung, wenn man bedenkt, dass sich das Wort von Fanatiker ableitet. Ein Fanatiker ist für mich jemand, der nächtelang im Schlafsack vorm Jugendkulturzentrum in Wipperfürth übernachtet und sich für ein gemeinsames Meet & Greet mit seinem angehimmelten Star abgrundtief verschulden würde. Und ehrlicherweise bin ich dahingehend ziemlich von Ihnen enttäuscht. Einen Schlafsack habe ich auf meinen Lesungen noch nie gesehen, allenfalls mal eine Yogamatte, weil jemand vor der Show noch beim Vinyasa-Flow-Kurs war. In Richtung Fanatismus kam da bisweilen ziemlich wenig! Keine anonymen Geldspenden, keine creepy Heiratsanträge oder spontanen Besuche in meinen Privatgemächern. Ein einziges Mal wurde während einer Lesung ein Schlüpfer auf die Bühne geworfen, aber das auch nur ironisch, und er war nicht ansatzweise aus Satin oder sexy Spitze, sondern vielmehr aus grobem Feinripp! Alles in allem sehr enttäuschend.
Was bleibt zu sagen? Dieses Buch besteht aus Kurzgeschichten, Ratgeber-Texten und kleineren Dialog-Sequenzen, eignet sich also für Menschen mit geringer Aufmerksamkeitsspanne oder als kleines Must-have für die heimische Gästetoilette. Falls Sie dieses Werk als trivial empfinden und sich selbst eher als intellektuellen Leser begreifen, der zu Hause nur abstrakte Lyrikbände oder belletristische Weltliteratur hortet, können Sie mit diesem frechen Büchlein einen popkulturellen Kontrast setzen und Ihren Gästen etwas Bodenständigkeit vermitteln. Wenn Sie nach dem Lesen feststellen, dass Sie mich und meinen Humor nicht mögen, empfehle ich Ihnen, noch weitere meiner Bücher zu kaufen, denn je schneller ich monetär ausgesorgt habe, desto eher werde ich mich als mürrischer Winzer und Privatier in die Wuppertaler Berge zurückziehen, ein wortkarges Leben führen und Sie nicht länger belästigen. Sollte Ihnen dieses Buch hingegen gefallen, bitte ich Sie ebenfalls, noch viele weitere Bücher zu erwerben. Einfach nur, um Druck auf meinen Verlag auszuüben, damit sie dort endlich meinen Roman herausbringen. Im Wesentlichen geht es um das Dasein eines Mannes mit furchtbar eintönigem Charakter, in dessen Leben nicht ansatzweise etwas Spannendes passiert. Arbeitstitel: Der Schweigsame Manfred oder Der Mann ohne Eigenschaften II: Jetzt mit noch weniger Eigenschaften.
Bevor ich nun endgültig abschweife, wünsche ich viel Freude beim Lesen!
Hochachtungsvoll
Patrice Salmôn
Ein Café in Dortmund. Ich sitze im gut besuchten Außenbereich, genieße die ersten Sonnenstrahlen des Tages und blättere ein wenig in meiner Lektüre. Neben mir ein älteres Pärchen. Beide etwa achtzig Jahre alt …
Er: »In der Sonne ist es aber echt warm.«
Sie: »Hm.«
Er: »Vorhin war kühler.«
Sie: »Da war ja auch noch keine Sonne.«
Er: »Hm.«
[kurze Pause]
Er: »Da haben sie heute Morgen im Radio gar nichts von gesagt.«
Sie: »Von was?«
Er: »Von der Sonne.«
[lange Pause]
Er: »Nicht dass ich mich noch verbrenne!«
Sie: »Holger, hast du denn dein Käppi nicht mit?«
Er: »Nee, heute Morgen war es ja frisch.«
Sie: »Hm.«
Er: »Konnte man ja nicht ahnen …«
Sie: »Sonst geh das Käppi doch mal eben holen! Ist doch nicht weit.«
Er: »Hm.«
Holger steht auf und geht. Etwa zehn Minuten später ist er zurück – auf seinem Kopf eine formschöne Schirmmütze.
Sie: »Das ging ja schnell. Ich habe uns derweil noch ’n Kännchen bestellt. Kommt gleich!«
Er: »Ach, herrlich!«
Sie: »Holger, hast du das Käppi gefunden?«
Er: »Ich hab’s doch auf!«
Sie: »Schön!«
[lange Pause]
Er: »Jetzt ist die Sonne wieder weg.«
Sie: »Hm.«
Er: »Brauch ich das Käppi eigentlich gar nicht mehr.«
Sie: »Ja, nimm es doch ab. Kannste hier auf den Tisch legen!«
Er: »Gute Idee.«
Sie: »Das Kännchen kommt bestimmt gleich. Dann kannst du das Käppi ja wieder woandershin legen. Ist sonst zu voll auf dem Tisch.«
Er: »Hm.«
[Pause]
Er: »Jetzt wo die Sonne weg ist, ist es fast ein bisschen kühl.«
Sie: »Hm.«
Er: »Windig wird’s auch.«
Sie: »Ja, ist schon ein Lüftchen.«
Er: »Vielleicht hol ich mir noch eben den Anorak.«
Sie: »Aber wenn das Kännchen jetzt kommt?«
Er: »Stimmt! Dann warte ich noch.«
Sie: »Aber nicht, dass du dich wieder erkältest. Hol das Jäckchen ruhig eben. Ich sag dann drinnen Bescheid wegen dem Kännchen.«
Er: »Ja, dann geh ich mal eben.«
Holger steht auf und zieht erneut von dannen. Ich bin absolut begeistert von dieser Konversation. Liebe im Alter ist etwas Wundervolles! Und wie souverän Holger hier mit diesen extremen Wetterbedingungen umgeht und den unberechenbaren Launen der Natur trotzt, imponiert mir ungemein. Ach, ein schöner Tag!
Seit Jahren sitze ich in der Zwickmühle, denn ich hätte gern einen Hund, bin ich doch zutiefst überzeugt, dass so ein flauschiges Haustier eine Bereicherung für mein Leben wäre. Allerdings habe ich Angst davor, langfristig so eine positive und glückstrunkene Hundebesitzerausstrahlung zu entwickeln, die andere positive und glückstrunkene Hundebesitzer dazu veranlasst, mir bei den täglichen Waldrunden einen Knopf an die Backe zu labern und mir ihre ermüdenden Hundebesitzergeschichten zu erzählen, während sich unsere vierbeinigen Begleitungen gegenseitig an der Poperze beschnuppern. Ich bin ein introvertierter Mensch, und trotz grundsätzlichen Interesses an anderen Personen möchte ich im Wald meine Ruhe.
Im Kern befürchte ich, ein richtig grundzufriedener Mensch zu werden, schließlich macht so ein gutmütiger Hund ja was mit der eigenen ängstlichen Seele. Zufriedenheit kann ich für meine Arbeit nicht gebrauchen, denn dann würde sich bestimmt mein Humor verändern und ich wüsste nicht mehr, was ich auf der Bühne erzählen sollte: »Heute mit Benny im Wald gewesen, nette Leute getroffen, insgesamt toller Tag« – solche Geschichten will ja keiner hören, also wäre mit Comedy erst mal Schluss. Vielleicht müsste ich umschulen und würde als Mental-Health-Coach oder Achtsamkeitsblogger enden. Es mag ein Klischee sein, aber zufriedene Menschen schreiben keine Bücher. Allenfalls Glücksratgeber oder kitschige Wohlfühlromane über Menschen, die einfach so fortgehen und deren treudoofe Hunde dann die Fährte aufnehmen und ihnen meilenweit hinterherlaufen. Und das gibt es sicher alles schon. Es ist alles nicht so einfach.
Mit einem Hund wäre ich ständig an der frischen Luft. Am Ende offenbart sich, dass mein allumfassender Weltschmerz und die Melancholie kein Zeugnis meiner Intellektualität und eines komplexen Charakters sind, sondern mir schlichtweg Bewegung und Vitamin D3 gefehlt haben. Das wäre durchaus entlarvend. Also hol ich mir wahrscheinlich doch eine Katze, die sich tagsüber liebevoll und mit all ihrer Flauschigkeit an mich schmiegt, nur um mir nachts heimlich die Augen auszukratzen, denn die implizierte Tragik und Unberechenbarkeit machen ja eben auch guten Humor aus, und das wäre schon allein vom Bild her die wesentlich bessere Pointe.
Viele Menschen haben mich gefragt: »Paddel, wie wird man eigentlich so ein entspannter und grundzufriedener Typ wie du? Was ist dein Geheimnis? Meditation? MDMA? Yogi-Tee-Microdosing?« Nun, hier ein kleiner Ratgeber:
Zufriedenheit ist ein Zustand, den man sehr leicht erlangen kann. Alles, was man braucht, sind gute Freunde, schönes Wetter, innere Ruhe, mentale Gesundheit, keine Existenzängste, ausreichend Schlaf, gute Musik und zwanzigtausend verschiedene Achtsamkeitsmagazine mit Titeln wie Atme! Atme! Atme!, Komm mal auf dein Leben klar! oder ENTSPANN DICH, DU LAPPEN!. Zudem darf man keine Nachrichten schauen, geschweige denn Zeitung lesen oder ins Internet gehen. Im Prinzip also alles ganz einfach.
Mir selbst wurden die trüben News zur allgemeinen Lage der Welt irgendwann zu viel. Die einfache Lösung: bedingungsloser Eskapismus. Ganz selten bekomme ich einen Impulsvortrag von meiner besten Freundin, bei dem sie mir von Dingen erzählt, die meine konkrete Lebenswelt betreffen: Inflation, sich anbahnende Weltkriege, drohende Orkanböen. Manchmal sagt sie aber auch einfach nur: »Wirsing ist im Angebot!« Denn das ist ja grundsätzlich auch gut zu wissen.
Um trotz mangelnder Informationen im Alltag nicht negativ aufzufallen, bediene ich mich in sämtlichen Small-Talk-Situationen folgender Floskeln:
»Wichtig ist jetzt, dass wir als Gesellschaft an einer gepflegten Debattenkultur festhalten. Wir dürfen nicht verlernen, respektvoll miteinander zu streiten!«
»Klima!? Hm, da müssen wir jetzt wirklich was tun!«
»Ja, Mensch. Der Putin wieder!«
»Es ist ja eben nicht immer alles schwarz oder weiß! Grauzonen! Grauzonen! Grauzonen!«
»Wirsing ist im Angebot!«
Das kann natürlich keine dauerhafte Lösung sein, aber diese radikale Form von Weltflucht tut mir momentan erstaunlich gut. Seitdem hat sich meine Laune deutlich verbessert, und den Satz »Wirsing ist im Angebot!« sollte man ohnehin viel öfter im Alltag benutzen. Am Ende ist der Wirsing immer irgendwo im Angebot.
Atmen Sie! Ich kann dieses Konzept nur empfehlen. Jedes Mal tief in den Bauch atmen. Was ich in den letzten Jahren nicht alles weggeatmet habe, seit ich mich dank meiner geliebten Psychotherapeutin mit dem Konzept des leider viel zu inflationär verwendeten Begriffes Achtsamkeit auseinandergesetzt habe, ist wirklich nicht mehr feierlich. Gefühlt habe ich sämtlichen Sauerstoff des erweiterten Ruhrgebiets in meinen Lungen. Atmen, atmen, atmen! Wiederholen Sie dabei stets Ihr Mantra: »Ich bin ein ausgeglichener Mensch. Ich bin eins mit mir. Ich spüre keine Wut mehr! Ich bin ein Glücksbärchen.«
Good vibes only! Bleiben Sie optimistisch und hören Sie auf Ihr Wandtattoo Live Love Laugh. Sie haben keine Zeit für Negativität, denn Sie müssen sich selbst erleben! Sie müssen mit Yoga-Jens und Batik-Bärbel psychedelische Trips auf Kakaobohnen erleben und ekstatische Tänze zu melodischem Deep House aufführen. Was fällt dem Putin ein, da irgendwelche Invasionskriege in der Ukraine zu führen? Der soll sich mal die Flow oder irgendein anderes dösiges Achtsamkeitsmagazin kaufen und Atemübungen im sibirischen Birkenwald machen. Krieg ist nicht Hygge. Kenner wissen: Im Grunde würden Sie sich gesellschaftspolitisch engagieren und auf der Straße für Ihre Meinung einstehen, aber Sie haben keine Zeit und politisch stehen Sie eh auf der richtigen Seite. Sie kaufen regional, besitzen ein Refugees Welcome-Shirt und haben erst neulich auf Facebook eine Anti-AfD-Zitatkachel geteilt. Um Ihr Gewissen zu beruhigen, reden Sie sich die Achtsamkeit als privatpolitischen Prozess schön. Atmen für den Frieden, Yoga gegen rechts, Selfcare für Lützerath!
Umgeben Sie sich mit schönen Dingen. Beschäftigen Sie sich mit dem Konzept Minimalismus und sagen Sie so oft es nur geht den Satz: »Zum Glücklichsein braucht man im Grunde gar nicht viel.« Sagen Sie diesen Satz möglichst, während Sie auf Ihrem Vitra-Lounge-Chair sitzen und den Ausblick auf Ihre überteuerten Designermöbel in Ihrer hundertzwanzig Quadratmeter großen Hamburger Altbauwohnung genießen. Sie brauchen ein Bouclé-Sofa, einen Sessel aus beiger Chenille und passives Licht für aktive Lebensfreude! Seien Sie Minimalist. Nicht bloß in der Wohnung, sondern auch im Kopf. Selfcare beginnt im Kürbis!
Lesen Sie jeden Tag einen Selfcare-Ratgeber. Neulich habe ich mir auf Anraten meiner Mutter solch ein pfiffiges Büchlein gekauft, und in besagtem Ratgeber gab es eine Seite mit praktischen Alltagstipps. Dort stand, dass man ab und zu im Alltag herumalbern soll. Ich zitiere: »Nimm dir fünf Minuten am Tag Zeit, um einfach mal kurz verrückt zu sein. Hüpf durch die Wohnung oder lach aus vollem Hals.« Na klar, dachte ich. Wir sind hier immer noch in Deutschland! Wenn schon verrückt, dann aber bitte geplant und nicht länger als fünf Minuten. Man kennt es doch – den ganzen Tag arbeitet man im Büro akribisch und humorlos seine To-do-Liste ab, und plötzlich heißt es: Time to be crazy, du wilde Maus! Da wird dann im Kundengespräch mal schnell am LSD geleckt und die Partytröte ausgepackt. Party! Party! Ich hasse dieses Buch. Dort stand auch: »Grenze dich von Menschen oder Situationen ab, die dir nicht guttun.« Anfangs war ich skeptisch, aber mittlerweile habe ich mich von einigen willkürlichen Passanten, einem Bund Koriander und meiner anstehenden Steuererklärung abgegrenzt. Ich denke, dafür werden die Leute vom Finanzamt durchaus Verständnis aufbringen, denn am Ende geht es hier um meine ausgewogene Work-Life-Balance. Auch von meinen Kindern habe ich mich abgegrenzt. Klar, das sind im Wesentlichen nette Leute, die mich ständig zum Lachen bringen und mein Leben mit Sinn erfüllen, aber letztlich haben sie einfach zu viele Bedürfnisse und wollen ständig was essen. Das stresst mich. Das Prinzip der Abgrenzung gefällt mir sehr gut. Wenn ich eines im Internet gelernt habe, dann das: Wer sich selbst in Watte packt und alles Negative in seinem Umfeld als toxisch definiert, braucht keine Widerstandskräfte mehr zu entwickeln. Mein neues Motto: Resilienz überwinden!
Lieben Sie sich selbst! Selbstliebe ist ein erstrebenswerter Zustand. Aber bloß nicht zu konsequent, denn wer die Selbstliebe perfektioniert, ist in den Augen mancher Hobbytherapeuten, die wieder zu viele Zitatkacheln von Funk gelesen haben, sofort toxischer Narzisst.Und toxischer Narzisst möchte man ja wirklich nicht sein, also sollte man doch hin und wieder auch an andere denken, aber eben echt nicht zu viel, sonst neigt man am Ende zu toxischer Empathie, und das führt dann wiederum zu absoluter Selbstaufgabe! Es ist kompliziert.
Zuletzt möchte ich Ihnen mein Konzept der fiktiven Hyperachtsamkeit vorstellen. Entwickelt habe ich das FiHyA-Prinzip mit renommierten Feel good-Forschern und einigen seelenlosen Sinnfluencern, die zu viel Pampasgras geraucht haben. Bei der autogenen FiHyA schärfen wir den Fokus auf Betätigungen außerhalb der eigenen Komfortzone, indem wir sie bewusst NICHT erleben. Heute war ich zum Beispiel bewusst NICHT joggen (toxisch), habe die Fenster nicht geputzt (toxisch) und danach keinen Grünkohl-Sellerie-Smoothie getrunken (detoxisch), um diese Handlungen und Prozesse nicht durch reales Erleben zu entwerten. Nur nach dem FiHyA-Prinzip »Fühlen statt Erleben« und dank der Kraft der Imagination schenken wir vermeintlich ungeliebten Dingen die Wertschätzung, die sie nicht verdienen. Wollen Sie mehr über FiHyA wissen? Dann weiß ich jetzt auch nicht weiter …
Therapie schön und gut. Suchen Sie sich wahre Vorbilder zum Thema Mental Health, aber lieber im Internet! Jahrelang hatte ich mit Depressionen zu kämpfen, aber seit ich am Yoga-Retreat von Cathy Hummels teilgenommen habe, geht es mir besser. Danke, Cathy! Ich wäre so gern wie du und all die anderen yogabehosten Sinnfluencer, die mit einem reden, als wäre man drei Jahre alt. Dann hätte ich eine Gymnastikmatte aus Kork, eine inspirierende Aura und eine daily Morgenroutine. Dann wäre ich thankful. Dann wäre ich blessed. »Hey, ihr Süßmäuse«, würde ich dann jeden Tag hochoktavig in die Kamera sagen, während ich mit beiden Händen meine Tasse umklammere und schmusig dreinblicke: »Jeder Tag ist ein Geschenk, und dementsprechend lege ich viel Wert darauf, ihn mit Selbstliebe, Achtsamkeit und Wertschätzung zu starten. Im Trubel unseres hektischen Alltags vergessen wir doch manchmal, dass es der Zauber scheinbar gewöhnlicher Momente ist, der dieses Leben so kostbar macht. Mein Matcha-Tee duftet heute wieder besonders gut. Seit 6:30 Uhr rieche ich an dieser Tasse und grinse grenzdebil vor mich hin, weil ich so unendlich dankbar bin. Wart ihr auch schon mal dankbar? Bin so neugierig auf eure Kommis, denn jedes Wort von euch ist wie ein kleiner Tropfen Glück in meine innere Leere.« Immer daran denken: Selflove ist auch nur ein Anagramm von neoesoterischem Ausbeuterkapitalismus.
Humor kann ein wundervolles trojanisches Pferd sein. Jetzt, wo ich Ihre Aufmerksamkeit habe, ein paar kurze aufrichtige Worte: Ich möchte Depression wirklich nicht zu meinem Hauptthema machen, weil ich nach wie vor über vieles andere zu berichten habe, aber eine Sache will ich trotzdem kurz loswerden. Die letzten Jahre waren für mich sehr zermürbend, und für einen gewissen Zeitraum dachte ich, dass ich nie wieder auf einer Bühne stehen kann. Auslöser war damals eine mittelschwere Depression, die letztlich in einer Angststörung mündete. Panikattacken, Schweißausbrüche, Herzrasen, Atemnot – das volle Programm.