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"Mein Engel!" Mit letzter Kraft küsst er sie, bevor er ohnmächtig wird - und weckt damit zärtliche Gefühle in Merrily! Als Royce Lawler erwacht, bittet er sie, ihn nach seinem Sturz zu pflegen. Sie zieht zu ihm - und merkt, dass sie sich auch um sein Herz kümmern will...
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Seitenzahl: 202
IMPRESSUM
Zärtliche Gefühle erscheint in der HarperCollins Germany GmbH
© 2002 by Deborah Rather Originaltitel: „His private nurse“ erschienen bei: Silhouette Books, Toronto Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.
© Deutsche Erstausgabe in der Reihe BIANCABand 1382 - 2003 by CORA Verlag GmbH, Hamburg Übersetzung: Linda Strehl
Umschlagsmotive: Jacob Ammentorp Lund /GettyImages
Veröffentlicht im ePub Format in 09/2017 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.
E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 9783733753368
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:BACCARA, JULIA, ROMANA, HISTORICAL, MYSTERY, TIFFANY
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Angestrengt starrte Royce in die nachtschwarze Dunkelheit. In einer warmen Sommernacht wie dieser hörte man normalerweise den Chor der Zikaden und Kojoten und manchmal auch den Ruf einer Eule auf Beutefang. Doch heute Nacht herrschte eine ungewöhnliche Stille, und Royce wusste auch, warum: Dort draußen lauerte jemand.
Royce packte das Holzgeländer fester. Es fühlte sich rau und stabil an und gab ihm ein Gefühl der Sicherheit. Jenseits der Sonnenterrasse, auf der er stand, erstreckte sich unterhalb seines Hauses die schwarze unregelmäßige Silhouette der Zedern und dürren Kakteen. Dahinter in der Ebene sah er die Lichter von San Antonio, die ein unregelmäßiges buntes Muster bildeten.
Sie war irgendwo hier draußen. Royce konnte sie zwar nicht sehen, aber er wusste, dass sie da war. Er spürte die Bösartigkeit seiner Exfrau regelrecht, selbst jetzt noch, wo schon so viele Monate seit der Trennung vergangen waren. Jedes Mal, wenn die Kinder bei ihm übernachteten, ruinierte sie den Abend. Diesmal würde sie bestimmt keine Ausnahme machen.
Doch es war zunächst nichts zu sehen, daher drehte sich Royce um und ging zu der steilen Außentreppe, die zu einer schmalen Auffahrt hinter dem Haus führte. Er war nicht auf eine Konfrontation aus, aber dieser Wahnsinn musste endlich ein Ende haben.
Royce war sicher, dass sie dort irgendwo war, ihn belauerte und ihre nächste Szene plante, um es ihm heimzuzahlen, dass er sie nicht glücklich gemacht und ihre wahnsinnigen Träume nicht erfüllt hatte. Ihr ging es nur darum, ihm wehzutun. Und vor allem darum, die Kinder gegen ihn aufzuwiegeln oder wenigstens jeden ihrer Besuche bei ihm zur Hölle zu machen.
Doch erst, als er die Hände an seinem Rücken spürte, wusste er, dass sie ihn nicht nur fertigmachen, sondern sogar töten wollte.
Sein ganzer Körper war von Schmerz erfüllt, einem dumpfen, pochenden Schmerz. Royce war wie benebelt, er versuchte nachzudenken, aber die Gedanken glitten ihm davon. Dann war es ihm plötzlich, als risse ihm jemand mit glühenden Zangen die Muskeln vom Oberschenkel. Er hörte einen heiseren, qualvollen Schrei. Wer schrie da? War er das etwa selbst? Sein rechter Arm fühlte sich an, als wäre er festgenagelt, und wenn Royce versuchte, ihn zu bewegen, durchflutete ihn der Schmerz von Neuem.
Irgendjemand sagte: „Alles in Ordnung. Es ist alles in Ordnung.“ Es hörte sich an wie die Stimme eines Engels, melodisch und weich.
Kleine, kühle Hände massierten seine Qualen fort. Die glühende Zange verschwand, und die Erleichterung war unendlich. Voll und ganz konzentrierte sich Royce nun auf diese Hände, die sich langsam sein Bein hocharbeiteten und ihn elektrisierten. Nahe der Ohnmacht, spürte er eine verlockende Erregung.
Wieder flüsterte die Stimme ihm etwas ins Ohr. „So, wie fühlt sich das an? Besser? Ist der Krampf jetzt vorbei?“
Royce versuchte zu antworten, aber die Zunge lag ihm dick und schwer im Mund, daher kam nur ein Stöhnen heraus.
Die wundersamen Hände verschwanden, und langsam machten sich seine schmerzenden Muskeln wieder bemerkbar. Dazu fühlte er sich wie benebelt. Wo war er bloß? Die ungewohnte Schwere auf seiner rechten Seite machte ihn bewegungslos. Dann spürte er, wie etwas über seine Lippen strich. Ah, sein Engel hatte ihn also nicht verlassen. Das Gefühl in seinen Lenden wurde deutlicher. Er schloss die Lippen um etwas Rundes.
„Nippen. Nur nippen.“
Wie Honig war sie, diese Stimme. Eine kühle, süße Flüssigkeit rann ihm in den Mund, und Royce schluckte gierig. Angestrengt versuchte er, seine Augen scharf zu stellen und den Kopf zu heben.
„So ist es richtig.“
Schlanke Finger umschlossen seine. Der Nebel lichtete sich, und Royce erblickte ein hübsches, fein geschnittenes Gesicht, das er vorher noch nie gesehen hatte. Er nahm dunkle Haare wahr, die zu einem dicken Zopf geflochten waren, und freundliche grüne Augen. Die Nase war fast zu klein für das Gesicht, das Kinn eine Spur zu spitz, aber der Mund … oh, dieser Mund. Ein perfekter, rosafarbener üppiger Bogen. Ein Mund, der nur darauf wartete, von ihm geküsst zu werden.
Hitze pulsierte durch seine Lenden. Royce hob den linken Arm, denn der rechte war wie aus Stein. Dann legte er dem Engel mit der süßen Stimme und den sanften Händen die Hand um den Nacken und brachte mit einem leichten Zug seinen Mund an ihren. Ihre weichen Lippen öffneten sich bei der Berührung leicht, und er nahm all seine Kraft zusammen, um sie näher an sich zu drücken. Solange er konnte, genoss er ihren süßen Geschmack, die einzige Erleichterung in seinem quälenden Albtraum.
Hitze und Schmerz, Begehren und Lust ergriffen ihn. Wer war diese Frau, und warum konnte er sich an nichts erinnern? So sehr Royce sich auch bemühte, er fand keine Antwort. Langsam legte sich ein lähmender Nebel um sein Gehirn, der alle Schatten immer dunkler erscheinen ließ … bis die Welt um ihn herum wieder tiefschwarz war.
Das regelmäßige Klingeln der Notfallglocke durchbrach die Stille. Merrily, die mit verschiedenen Unterlagen beschäftigt war, sah auf und zuckte zusammen. Zimmer 18. Royce Lawler mit den schweren Verletzungen und dem Aussehen eines Filmstars war selbst in halb bewusstlosem Zustand äußerst verführerisch. Offensichtlich war er gerade aufgewacht. Normalerweise wäre Merrily sofort zu ihrem Patienten geeilt, doch diesmal zögerte sie kurz.
Seit sie als Krankenschwester arbeitete, hatte sie schon alles Mögliche erlebt, aber noch nie war sie von einem Patienten geküsst worden. Bei der Erinnerung an die Intensität und die Erfahrung, die in diesem Kuss gelegen hatten, beschleunigte sich ihr Herzschlag. Irgendwie hatte ihre übliche Professionalität sie im Stich gelassen, als sie den Patienten massierte, der beunruhigend häufig Krämpfe bekam.
Angesichts seiner schweren Verletzungen und der starken Medikamente, die er erhielt, erinnerte er sich wahrscheinlich nicht mehr an den Kuss, das hoffte Merrily jedenfalls. Trotzdem ging ihr Puls schneller, als sie die Tür zu seinem Einzelzimmer öffnete.
Royce biss die Zähne zusammen und verfluchte sich im Stillen. Sein linker Arm zitterte, als er angestrengt versuchte, sich hochzustützen, während er mit dem Oberkörper halb aus dem Bett hing. Sein schmerzendes geschientes Bein war zur Fixierung in einer Schlinge aufgehängt, was es ihm unmöglich machte, das Telefon auf dem Rolltisch neben seinem Bett zu erreichen. Der Gips am rechten Arm und an der rechten Schulter schien Tonnen zu wiegen. Vom linken Arm aus führte ein Schlauch zu einer Infusionsflasche über seinem Kopf.
Immer wieder kreisten Royce’ Gedanken um den Sturz.
Er hatte einen Stoß im Rücken gespürt und sich verzweifelt bemüht, das Gleichgewicht zu halten, bevor er fiel. Ein glühender Schmerz durchbohrte seinen rechten Arm, als Royce auf die harten Kanten der hölzernen Stufen prallte. Sein Fuß verfing sich in den unten offenen Stufen, und er erlebte den Fall wie in Zeitlupe. An seinem Bein riss irgendetwas. Er hörte Knochen knirschen, bevor er mit dem Kopf aufschlug. Die Terrasse lag nun ein ganzes Stück über ihm, nur schemenhaft konnte er die Liegestühle ausmachen, die er dort aufgestellt hatte … und die fahle Gestalt, die sich kaum vom dunklen Nachthimmel abhob. Dann wurde es schwarz um Royce, und er konnte sich an nichts mehr erinnern, was danach geschehen war.
„Mr. Lawler!“
Endlich kam jemand. Vor Erleichterung schloss Royce die Augen und spürte, wie ihm jemand die Arme um den Oberkörper legte und ihn wieder aufrichtete.
„Was machen Sie denn da?“, fragte die Stimme.
Royce war so erschöpft, dass er nur das Wort „Telefon“ hervorbrachte, bevor er zurück in die Kissen sank. Langsam wurde er immer unruhiger. Er musste etwas unternehmen, bevor jemand anderes zu Schaden kam. Ganz dringend musste er telefonieren, um mit seinen Kindern zu sprechen, mit seinem Bauleiter, mit den Ärzten. Doch zuallererst mit Dale, seinem besten Freund und Rechtsanwalt. Benommen öffnete Royce die Augen und sah in ein überraschend vertrautes Gesicht.
Also war es doch kein Traum gewesen. Sein Engel war Wirklichkeit. Während sie ihn routiniert versorgte, sah er, dass sie noch jung war, fast zu jung, um von jemandem wie ihm geküsst zu werden. Oder hatte er das bloß geträumt? Trotzdem stieg wieder der Wunsch in ihm auf, die Lippen auf diesen verlockenden Mund zu pressen.
„Wie fühlen Sie sich?“
„Als wäre ich eine Treppe hinuntergefallen“, gab Royce mit rauer Stimme zurück. Ein pochender Schmerz durchzog seine Schulter.
„Sie bekommen intravenös Morphium“, teilte die junge Frau ihm mit, während sie die Apparatur und die Schläuche überprüfte.
„Kein Morphium“, brachte Royce hervor. Zwar linderte es die Schmerzen, aber er brauchte jetzt einen klaren Geist.
„Keine Sorge“, beruhigte sie ihn und goss Wasser in einen blauen Plastikbecher mit Strohhalm. „Das Mittel wird ganz genau dosiert, es besteht gar keine Gefahr einer Überdosis.“ Sie hob den Strohhalm an seine Lippen, und er trank dankbar.
„Aber ich muss telefonieren“, sagte Royce dann.
Die Frau ignorierte seinen Einwand. „Wissen Sie, wo Sie sind?“
Er unterdrückte seine Ungeduld. „In einem Krankenhaus. Aber nicht, in welchem.“
„Big General“, informierte sie ihn, und damit wusste er, dass er in San Antonios größtem und modernsten Krankenhaus lag. „Zimmer 18. Ich bin Schwester Gage.“
„Sie sehen noch so jung aus.“
Auch diese Bemerkung wischte sie beiseite. „Wissen Sie noch, wie Sie hierher gekommen sind?“
Er rollte den Kopf auf dem Kissen hin und her. „Ich weiß nur noch, dass ich gefallen bin … die Treppe an meinem Haus hinunter.“
„Sie kamen mit dem Notarztwagen“, erklärte die Krankenschwester ihm, während sie mit dem Stethoskop seinen Brustkorb abhörte und ihm anschließend den Puls nahm. Royce bemerkte, dass ihre Hände zwar klein, ihre Finger aber schlank und lang waren und kurze ovale Nägel besaßen.
„Hören Sie, ich muss telefonieren. Dringend“, meldete Royce sich erneut zu Wort.
„Wenn Sie möchten, rufe ich Ihre Eltern an, sobald ich hier fertig bin.“
Resigniert senkte Royce die Lider. Seine Eltern wären sicher die Letzten, die sich um ihn kümmerten. Er nahm seine ganze Überzeugungskraft zusammen. „Hören Sie mal, ich möchte Ihnen ja keine Umstände bereiten, aber es ist wirklich wichtig. Wenn Sie mir einfach den Hörer geben und eine Nummer für mich wählen, wäre ich Ihnen ewig dankbar.“ Er blickte hoch und sah in große blaue Augen. Und plötzlich las er in ihrem Blick, dass der Kuss kein Traum gewesen war. Verdammt!
Die Schwester trat einen Schritt zurück und prallte gegen den Rolltisch. Um ihre Schamesröte zu verbergen, rückte sie die Sachen darauf eilig zurecht und sagte über ihre Schulter: „Sie sollten sich aber ausruhen.“
„Das kann ich nicht, bevor ich nicht telefoniert habe“, stöhnte Royce. „Bitte.“
Sie warf ihm einen kritischen Blick zu, dann nahm sie das Telefon und klemmte ihm den Hörer zwischen Kopf und Schulter, ohne Royce dabei anzusehen. „Wie ist die Nummer?“
„Danke“, seufzte er und diktierte ihr die Nummer. Während er auf das Freizeichen lauschte, prüfte Schwester Gage den Gipsverband an seinem Bein, wo nur die Zehen heraussahen.
Dale ging dran. „Royce! Wie geht es dir?“
„Immer noch unter den Lebenden.“
„Was zum Teufel ist denn passiert, Mann? Ich konnte es kaum glauben, als Tammy mich anrief.“
Bei Royce gingen die Alarmglocken los. „Tammy hat dich angerufen?“
„Ja, nachdem sie den Notarzt informiert hatte. Wahrscheinlich hat sie dir das Leben gerettet, Mann.“
Die Gefühle übermannten Royce. Er schloss die Augen, um die Tränen zu unterdrücken. Die arme Tammy, hin- und hergerissen zwischen ihren Eltern. Unendliche Liebe zu seiner neunjährigen Tochter erstickte ihm die Stimme. Er räusperte sich und sagte so sachlich, wie er nur konnte: „Sie ist ein tolles Mädchen.“
„Ja. Das hat sie von dir“, meinte Dale.
Bestimmt nicht von Pamela. Was seine Exfrau den beiden Kindern zumutete, brach Royce fast das Herz. Seit er sich vor zwei Jahren hatte scheiden lassen, kämpfte er um das Sorgerecht für die Kinder. Bald würde die endgültige Verhandlung vor Gericht stattfinden, auch wenn Pamela nach Kräften alles tat, um das zu verhindern. Wenn er auch nur einen Augenblick lang überzeugt davon gewesen wäre, dass ihr wirklich etwas an den Kindern lag, hätte er nachgegeben, aber für Pamela waren Tammy und Cory nur eine Waffe, mit der sie ihn, Royce, verletzen wollte.
„Ich muss dich sehen, Dale. Wie bald kannst du hier sein?“
„In einer Stunde, passt dir das? Ich muss noch schnell in eine Konferenz. Soll ich etwas mitbringen?“
„Nein, komm einfach.“
„Klar. Und, Royce?“
„Was?“
„Du weißt nicht, wie schön es ist, deine Stimme zu hören.“
„Ganz meinerseits.“ Royce musste nicht erst hinzufügen, dass er nicht damit gerechnet hatte, jemals wieder mit jemandem zu sprechen.
Als Merrily ihm den Hörer aus der Hand nahm, bemerkte sie, dass Royce keinen Ehering trug. Dass ihr das überhaupt auffiel, beunruhigte sie, und sie versuchte sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren.
„Ihre Arme und Beine sehen gut aus. Sie haben eine gesunde Farbe und fühlen sich warm an. Versuchen Sie mal, Ihre Zehen zu bewegen.“
Royce sah zu seinen Zehen hinüber, die am Bettende aus dem Gips ragten. Offenbar hatte Schwester Gage sich mehr erhofft als das schwache Zucken, das er zustande brachte, aber immerhin.
„Wie steht es denn nun genau um mich?“, wollte er wissen.
Sie sah ihm direkt in die Augen. „Gut. Die Gehirnerschütterung hat uns zunächst Sorgen gemacht, aber das CT hat nichts Außergewöhnliches ergeben. Sie wurden geröntgt und mehrfach am Bein, der Schulter und am Arm operiert.“
Während sie sprach, merkte sie, dass Royce Lawler die schönsten blauen Augen hatte, die sie je gesehen hatte. Gut aussehend war gar kein Ausdruck für ihn. Sein blondes Haar fiel ihm in verschiedenen Schattierungen von Kupfer bis Platin über eine Braue. Besorgnis verdunkelte seine klaren, ebenmäßigen Züge, und die winzigen Linien in seinen Augenwinkeln ließen darauf schließen, dass er viel an der frischen Luft war.
„Und sonst?“, hakte er nach.
„Bloß Schürfwunden und Prellungen. Es ist ein Wunder, dass Sie keine inneren Verletzungen davongetragen haben.“
Royce machte ein finsteres Gesicht. „Da kann ich wohl von Glück reden.“
„Ich weiß, dass Sie Schmerzen haben“, besänftigte Merrily ihn. „Wenn Sie möchten, kann ich die Morphiumdosis etwas erhöhen. Sie sind nicht zufällig Linkshänder?“
„Leider nein.“ Royce warf ihr einen ironischen Blick zu, der ihren Herzschlag beschleunigte.
„Schade.“ Sie bückte sich, um ihr Stethoskop aufzuheben, das ihr entglitten war. Was war nur los mit ihr? So nervös war sie doch sonst nicht. „Brauchen Sie noch etwas?“
Wieder richtete sich der Blick aus diesen blauen Augen auf sie, und ein kurzes anerkennendes Lächeln huschte über Royce’ Gesicht. „Essen.“
Merrily sah auf die Uhr. „Das Abendessen kommt in einer Stunde. Bis dahin können Sie Cracker oder Eis haben, wenn Sie möchten.“
„Cracker wären gut.“
„Gern“, erwiderte sie und verließ den Raum.
Royce drehte sich wieder auf den Rücken. Er fühlte sich schon besser als vor einer Stunde und ließ die Gedanken schweifen, die sich sofort auf Schwester Gage richteten. Sie war so nett zu ihm gewesen. Mit ihr fühlte er sich nicht ganz so hilflos, und er war ihr dankbar, dass sie den Kuss nicht erwähnt hatte. Am besten ließ er sie in dem Glauben, er könne sich nicht mehr daran erinnern. Anfangs hatte er ja selbst geglaubt, es sei ein Traum.
Eine merkwürdige Person, diese Schwester Gage, so klein und doch gleichzeitig stark, unerbittlich, aber mit einem sanften Blick in den grünen Augen. Er fragte sich, wie sie mit offenen Haaren aussehen würde. Entweder trug sie während der Arbeit keinen Ring oder sie war nicht verheiratet. Er tippte auf Letzteres, denn irgendwie sah sie nicht nach einer verheirateten Frau aus.
Verärgert runzelte Royce die Stirn. Eigentlich gab es wichtigere Dinge, über die er nachdenken musste. Und außerdem war jetzt nicht die Zeit, sich für eine Frau zu interessieren – nicht einmal, wenn er gesund gewesen wäre. Also richtete er seine Gedanken auf andere Dinge. Wann würde er endlich mit seiner Tochter reden können?
Er ist nicht verheiratet. Der Gedanke kreiste in Merrilys Kopf, während sie für Royce Cracker holte. An seiner Tür angelangt, rief sie sich endlich zur Ordnung. „Nun werd endlich vernünftig, Merrily“, schalt sie sich leise. „Er trägt vielleicht keinen Ring, aber trotzdem gibt es bestimmt eine Frau in seinem Leben.“ Zweifellos würde die über kurz oder lang hier auftauchen. Bei einem Mann wie ihm stand das weibliche Geschlecht sicherlich Schlange.
Diesen Kuss hatte Merrily nur dem Morphium zu verdanken. Royce Lawler würde sich nie im Leben ernsthaft für eine Frau interessieren, die mit sechsundzwanzig noch wie ein Teenager aussah. Nein, er war nichts für sie, da konnte sie sich jede Hoffnung sparen. Sie setzte ihre neutrale Krankenschwestermiene auf, bevor sie sein Zimmer betrat, um ihm ganz als barmherzige Schwester seine Cracker zu bringen.
„Offensichtlich hat Tammy dich gleich gefunden“, sagte Dale. Royce und er waren seit der Highschool miteinander befreundet.
Royce nickte und versuchte zu lächeln. „Zum Glück.“
„Das kann man wohl sagen. Sie rief erst den Notarzt und dann mich an, warf dir eine Decke über und wartete bei dir, bis die Sanitäter kamen.“
Royce verzog das Gesicht. „Ich kann mich an nichts erinnern.“
„Ziemlich mutig von ihr“, befand der schlanke, groß gewachsene Anwalt. „Sie war voller Angst, du könntest tot sein. Sie schluchzte, das arme Kind, und war am Telefon kaum zu beruhigen. Ich bin Hals über Kopf hingefahren. Der Notarzt war schon da. Ich nehme an, sie hat auch ihre Mutter angerufen, denn Pamela ist vor mir angekommen. Seltsam, dabei wohnt sie doch viel weiter weg von dir als ich.“ Er betrachtete Royce nachdenklich und fügte hinzu: „Sie behauptete, sie sei in einem Restaurant im Süden der Stadt gewesen, aber sie wollte nicht sagen, in welchem.“
Royce bewahrte eine ausdruckslose Miene. „Tammy weiß doch, dass mit mir alles wieder in Ordnung kommt?“
„Ja, das hat der Doktor uns mitgeteilt, bevor Pamela sie und Cory mit dem Kindermädchen nach Hause geschickt hat. Deine Eltern waren übrigens auch da, aber nur so lange, bis sie wussten, dass dir nichts Ernsthaftes fehlt.“
Royce hätte nichts anderes von seinen Eltern erwartet. Seit er denken konnte, stand er mit ihnen in keinem guten Verhältnis. Als Kind meinte er manchmal, er sei bei der Geburt vertauscht worden, denn er hatte praktisch nichts mit seinen Eltern gemeinsam, die sehr auf äußere Werte und ihr Ansehen in der Gesellschaft bedacht waren. Sie hatten es ihm nie verziehen, dass er nicht wie sein Bruder ins Bankwesen gegangen, sondern lieber Architekt geworden war.
Dale wechselte zum Glück das Thema. „Ich bemühe mich jetzt am besten um die Vertagung der Sorgerechtsanhörung. In deinem momentanen Zustand könntest du dich sowieso nicht um die beiden Kinder kümmern, und wir sollten die schwierige Lage nicht überstrapazieren.“
Widerwillig stimmte Royce zu und rieb sich mit der Hand übers Gesicht. Seine Schulter schmerzte, der Kopf fühlte sich schwer an, und oberhalb des Knies pulsierte ein hartnäckiger Schmerz. „Wir sind ja auch noch keinen Schritt weiter mit unseren Beweisen, dass Pamela eine Bedrohung für die Kinder darstellt.“
„Ja, diese Frau ist verrückt, aber schlau. Hör zu“, schlug Dale vor und zog seinen Stuhl näher zum Bett, „wenn wir nur eins der Kinder dazu brächten, auszusagen, dass Pamela wiederholt die Geduld mit ihnen verloren hat …“
Royce schüttelte entschieden den Kopf. „Nein. Ich will nicht, dass meine Kinder gegen ihren Willen gegen ihre Mutter aussagen müssen. Du hast keine Ahnung, unter was für einem Druck Tammy steht. Pamela bezieht einfach alles auf sich, nimmt alles persönlich, und das bedeutet einen irrationalen Ausbruch nach dem anderen. Ich weiß Bescheid. Selbst Jahre nach der Scheidung verfolgt sie mich noch. Ganz ehrlich – wenn ich sie nicht in flagranti auf meinem Wohnzimmersofa erwischt hätte, wäre ich immer noch mit diesem Vampir verheiratet.“
„Du warst noch in der Highschool, als du Pamela geheiratet hast“, tröstete ihn Dale. „Woher hättest du wissen sollen, mit was für einem Drachen du dich da einlässt?“
Royce lächelte über den gut gemeinten Versuch, seinen Irrtum zu entschuldigen. „Jedenfalls“, sagte er, um wieder zum Thema zu kommen, „will ich nicht, dass irgendjemand Tammy unter Druck setzt, was ihre Mutter und meinen Sturz betrifft. Ist das klar?“
Dale nickte. „Wie du willst. Jedenfalls hat Tammy dir das Leben gerettet. Wenn sie dich nicht gefunden und den Notarzt gerufen hätte, hätte der Schock wahrscheinlich …“
„… vollendet, was ihre Mutter begonnen hat“, murmelte Royce unvorsichtigerweise.
„Ich wusste es!“ Dale sprang auf. „Du bist nicht von allein gefallen! Sie hat dich gestoßen, diese alte Hexe!“ Entschlossen fügte er hinzu: „Wir finden eine Lücke in ihrem Alibi, wir kriegen sie klein!“
Royce versuchte sich auf seinem linken Ellbogen aufzurichten. „Nein!“
„Aber du hast doch eben selbst gesagt …“
„Das war ein Missverständnis.“ Royce ließ sich wieder in die Kissen fallen und rieb sich die Schläfen. „Ich meinte nur, dass Pamela mich immer für alles bestraft hat, was in ihrem Leben schief gelaufen ist. Ohne Zweifel glaubt sie, dass es mir recht geschieht, wenn ich sterbe. Das erzählt sie meinen Kindern ja seit der Scheidung.“
Erheblich in seinem Eifer gedämpft, setzte Dale sich wieder hin. „Und was machen wir jetzt?“
Royce kämpfte gegen die Müdigkeit an, die von den Medikamenten gegen die Schmerzen kamen. „Ich möchte, dass du dich um eine Therapeutin für Tammy kümmerst. Das Mädchen muss mit einer neutralen Person sprechen. Sie braucht Hilfe.“
Der Rechtsanwalt straffte sich. „Gut. Ich werde mich sofort darum kümmern. Aber du weißt hoffentlich, dass Pamela alles tun wird, um das zu verhindern.“
Royce nickte erschöpft. In diesem Moment öffnete sich die Tür, und Schwester Gage kam mit einem grünen Plastiktablett herein. „Abendessen.“ Sie stellte das Tablett ab und wies auf Dale. „Und Sie waren lang genug hier. Er muss jetzt essen, seine Medizin nehmen und sich ausruhen.“
Dale hob die Augenbrauen. Mit einem amüsierten Blick zu Royce stand er auf und salutierte kurz vor der viel kleineren Krankenschwester. „Jawohl, Sir!“
Merrily schenkte ihm kaum einen Blick, sondern drängte ihn zur Seite, um für Royce das Tablett auf dem Bett zu richten.
Dale wandte sich zum Gehen. „Bis bald!“, rief er fröhlich.
Merrily stellte das Kopfteil höher. Als Royce aufrecht saß, den rechten eingegipsten Arm auf einem hohen Kissen und das geschiente Bein etwas abgesenkt in der Aufhängung, steckte sie ihm eine Serviette in den Kragen seines verhassten Krankenhauskittels. „So“, verkündete sie energisch, „dann schreiten wir zur Fütterung.“
Sie hob den Deckel vom Tablett und schnitt ihm mit Messer und Gabel das Essen in mundgerechte Häppchen. Royce fragte sich schon belustigt, ob sie ihn wirklich füttern wollte, bis sie ihm die Gabel in die Hand drückte.
Ping, ping, ping, ping.
Mit einem Blick auf die Notruflampen schlüpfte Merrily in ihren Arbeitskittel. Zimmer 18, Royce Lawler. Lydia Joiner, die Oberschwester, stöhnte. „Nicht schon wieder!“
„Was hat er denn?“, fragte Merrily und prüfte den Inhalt ihrer Taschen.
„Nummer 18 macht einen Aufstand“, erklärte Lydia und stand auf. „Er hat erfahren, dass er noch einmal am Bein operiert werden muss, und jetzt hält er die ganze Belegschaft auf Trab.“
„Ich gehe schon“, erbot sich Merrily, obwohl ihre Schicht noch nicht angefangen hatte.
Lydia neigte dankbar den Kopf. „Das ist nett, Kindchen.“
Kindchen. Lydia war nur drei Jahre älter, aber Merrily blieb das Kindchen, weil sie so jung aussah. Seufzend machte sie sich zu Royce’ Zimmer auf.
„Endlich!“, rief der. „Es wird auch Zeit, dass jemand Vernünftiges aufkreuzt. Wo um Himmels willen waren Sie denn die ganze Zeit?“
Bei seiner Begrüßung unterdrückte Merrily ihre Genugtuung. „Meine Schicht beginnt gerade erst.“
„Das blöde Telefon ist schon wieder außer Reichweite. Jedes Mal, wenn jemand reinkommt, schiebt er den Tisch weg, und ich komme nicht mehr dran!“