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Noch nie war Amber so verliebt wie in den attraktiven Reece Carlyle, der mit dem Segelboot die Welt umrundet. Jeder Tag mit ihm ist wie ein Geschenk. Als er für ein paar Tage weg muss, macht er ihr ein überraschendes Geständnis: Er möchte danach für immer mit ihr zusammen sein...
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Seitenzahl: 200
IMPRESSUM
Bitte betrüg mich nicht erscheint in der HarperCollins Germany GmbH
© 2001 by Deborah A. Rather Originaltitel: „The Mesmerizing Mr. Carlyle“ erschienen bei: Silhouette Books, Toronto Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.
© Deutsche Erstausgabe in der Reihe BIANCABand 1283 - 2001 by CORA Verlag GmbH, Hamburg Übersetzung: Gisèle Bandilla
Umschlagsmotive: Zhe_Vasylieva / Getty Images
Veröffentlicht im ePub Format in 09/2017 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.
E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 9783733753306
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
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Mit schnellen Schritten stieg Amber Presley die Stufen zum Veranstaltungscenter hinauf. Die Absätze ihrer schwarzen, spitzen Pumps klackerten laut, und die Metallplättchen am Saum des langen schwarzen Kleides, das sie gerafft hatte, blitzten auf. Ihr schwarzes Cape war am Hals so eng, dass sie das Gefühl hatte zu ersticken. Sie suchte in den Taschen herum und stellte beruhigt fest, dass alles Bildmaterial an Ort und Stelle war, ebenso die Taschenlampe, die Erste-Hilfe-Tasche und die pyrotechnischen Utensilien, die für die Effekte vorgesehen waren.
Da sie keine Zeit mehr gefunden hatte, ihr kastanienbraunes Haar zu frisieren, hatte sie es einfach zu einem schwarzen Knoten gedreht und unter den breitkrempigen schwarzen Hut gestopft. Ein dicker Lidstrich, blutroter Lippenstift, ein schwarzes Muttermal im Gesicht sowie eine langärmelige Bluse machten die ausgefallene Kostümierung perfekt.
Obgleich es schon zehn Uhr abends war, herrschte noch immer eine Temperatur von dreißig Grad. Bei einer Luftfeuchtigkeit von fast fünfundneunzig Prozent fühlte Amber sich in ihrem Hexenkostüm, als koche sie bei lebendigem Leibe. Die unglaubliche Wärme gefiel ihr mit am wenigsten in Key West. Von Anfang Juni bis Mitte September wehte hier kein Lüftchen, um die Tageshitze zu mildern und die Mückenschwärme zu vertreiben. Den Rest des Jahres pflegte das Wetter milder zu sein, vorausgesetzt, es gab keinen Orkan und der Monsunregen dauerte nicht allzu lange.
Als unerfahrene Einundzwanzigjährige, die gerade vom College abgegangen war, hätte Amber sich nicht vorstellen können, dass ihr das tropische Wetter mal zu viel werden könnte, dass sie die unterschiedlichen Jahreszeiten, ja sogar die eiskalten Winter des Nordens vermissen könnte und dass der Charme des malerischen Key West an Reiz verlieren würde, wenn man sich auch noch für andere Dinge interessierte als für die längsten Partys der Welt. In drei Jahren war sie auf eine Weise gereift, wie sie es nicht für möglich gehalten hätte, als sie Hals über Kopf beschloss, so weit wie möglich von ihren allzu besorgten Eltern wegzukommen.
Jetzt sehnte sie sich zurück nach Texas. Im Juli und August konnte es in Dallas auch unerträglich heiß sein, und man durfte nicht ohne Kopfbedeckung herumlaufen. Aber im Schatten und mit ein bisschen Kühlung war es auszuhalten. Nach dem Sommer kam unausweichlich der Herbst mit seinen frischen, klaren Tagen, und die Blätter verfärbten sich. Im Winter konnte es einige Wochen lang klirrend kalt sein und sogar einen richtigen Schneesturm geben, aber der Frühling brachte dann wieder Knospen und Blüten sowie die Gewissheit, dass der Sommer nahte.
Leider war Texas auch das Zuhause ihrer Eltern Robert und Esther Presley, die einfach nicht akzeptieren konnten, dass ihre einzige Tochter ein eigenes Leben führen wollte.
Amber öffnete die schwere Glastür, eilte in den Empfangsraum und nickte dem Mann mittleren Alters hinter dem Tresen zu. „Hallo, Conn, tut mir leid, dass ich zu spät komme.“
„Ach, sind ja nur ein paar Minuten“, meinte er lässig. Amber hatte sich noch immer nicht daran gewöhnt, dass man in Key West so anders mit der Zeit umging. Für sie war Pünktlichkeit eine Tugend.
„Meine Ablösung im Café hat sich mal wieder verspätet“, erklärte sie, als sie den Tourenplan vom Tresen nahm.
Für einen Freitag waren es ziemlich wenig Besucher. Nur etwa zwei Dutzend Touristen hatten die beliebte Drei-Stunden-Tour gebucht, bei der man beim Herumwandern über seltsame Geschehnisse der Stadt informiert wurde. Zum Beispiel über einen Fall von Bigamie und Wahnsinn, von Leuten, die gehenkt wurden, und sogar von Morden. Vornehmlich waren es geschichtliche Tatsachen, aber die Touristen interessierten sich vor allem für Klatsch und Tratsch und liebten die gruseligen Tatortbesichtigungen.
Bei dieser Führung konnte Amber ihre Schauspielausbildung anwenden und sich damit etwas Geld nebenbei verdienen.
So wie die Spontanentscheidung, nach Key West zu gehen, war der Wunsch, Schauspielerin zu werden, mehr ein Akt der Rebellion gegen die strikte Kontrolle ihres Vaters und nicht etwa eine gut überlegte Entscheidung gewesen. Amber liebte das Theater, und irgendwie war es sogar ihre Rettung gewesen. Theaterleute waren viel toleranter und lockerer. In deren Welt konnte man auch mal anders sein, als es gesellschaftlich erwartet wurde, nämlich scheu und unsicher. So wie Amber, als sie im College für Mädchen, das ihr überbesorgter Vater ausgesucht hatte, angekommen war. Ja, das Theater hatte ihr viel gegeben – nur nicht den Wunsch, auf der Bühne zu stehen.
Dennoch spielte sie nun jeden Freitag und Samstag die Hexe und pflegte Erwachsenen und gelegentlich auch Kindern Gespenstergeschichten so zu erzählen, als glaubte sie selbst daran.
Das Extrageld konnte sie gut gebrauchen. Jeder Cent wanderte in die Kassette fürs „Fluchtgeld“. Mit dem Gehalt als Kellnerin konnte sie gerade ihren Unterhalt bezahlen, das Leben in Key West war teuer. Mit dem zusätzlichen Job wollte sie irgendwann den Fehler korrigieren, den sie gemacht hatte, indem sie hierher gezogen war. Sie wollte sich woanders ein Leben aufbauen, auf das sie stolz sein könnte. Und womöglich sogar ihren Eltern beweisen, dass sie selbstständig war.
„Gibt es irgendwas, was ich wissen sollte?“, fragte sie Conn und ging die Namensliste durch.
„Ich habe einer Gruppe Studenten zwei Flaschen Whiskey abgenommen und ihnen nur gestattet, je eine Flasche Bier mitzunehmen.“
„Ach, Conn“, klagte Amber, „ich dachte, wir hätten das letzte Mal, nachdem du mich mit einer Horde Betrunkener losgeschickt hast, abgemacht, dass das nicht noch einmal vorkommen sollte.“
„Ich sage nicht, dass sie betrunken sind. Sie sind nur gut drauf.“
„Gut drauf sein“ war in Key West der verklärende Ausdruck für jemanden, der schon ziemlich abgefüllt war, aber gerade noch stehen konnte. Amber konnte Betrunkene nicht ausstehen. Sie hatte gelernt, die Ausfälle solcher Leute zu verachten. Sonst nette Menschen wurden in dem Zustand ekelhaft und manchmal sogar gefährlich.
Seufzend streckte sie die Hand aus. „Gibst du mir das Handy?“
Conn öffnete eine Schublade des abgewetzten Schreibtisches, nahm das Handy heraus und reichte es Amber. Eine reine Sicherheitsmaßnahme, falls ein Gast ausfallend wurde oder ausrutschte und sich verletzte. Amber steckte das Handy in die Tasche und ging zur Hintertür hinaus auf die Straße, wo die Gruppe in der Dämmerung schon auf sie wartete. Das schwache Licht dort verschaffte der ausgefallen kostümierten Person den gebührenden Auftritt, und den unterstrich sie, indem sie mit einer großen Geste das Cape schwenkte.
„Guten Abend, meine Damen und Herren. Willkommen zur dunklen Seite von Key West. Ich bin Amber Rose, Ihre Tourführerin, und es ist mir ein Vergnügen, Sie heute Abend mit Ausgefallenem, mit Geistern und Mord unterhalten zu dürfen. Nur schnell das Geschäftliche, und dann geht es gleich los.“ Während sie sprach, musterte sie die Gruppe.
Die meisten waren Paare in der üblichen Bekleidung: in Shorts, T-Shirts, Turnschuhen. Die vier jungen Männer, die etwas getrunken hatten, sowie zwei plappernde junge Mädchen trugen knappe Oberteile und luftige Kleidung. Nur ein einzelner Besucher stand abseits. Es war ein Mann um die Mitte dreißig in Safari-Shorts und aufgerolltem Baumwollhemd, unter dem kräftige, braun gebrannte Arme herausschauten. Sein etwas längeres Haar hatte sonnengebleichte Strähnen und war zerzaust. Sicher ein Bootsbesitzer, dachte Amber, wohlhabend, mit eigener Jacht. Solche gab es eine Menge in Key West, meistens mit einer aufreizend gekleideten Blondine am Arm. Die nahmen jedoch selten an der Tour teil.
„Mein Kollege Mr. Snow hat Sie gewiss schon auf die Teilnahmebedingungen aufmerksam gemacht. Ich möchte Ihnen noch raten, bevor wir aufbrechen, die Toiletten am Ende des Gebäudes zu benutzen. Denn während der Führung können Sie nicht austreten, und öffentliches Pinkeln ist nicht nur unpassend, sondern auch illegal. Außerdem stört es die Geister.“ Nach einer dramatischen Pause fügte Amber hinzu: „In zehn Minuten werde ich Sie mit ihnen bekannt machen.“
Unauffällig nahm sie ein Kügelchen und warf es auf den Boden, wo es sogleich eine winzige Explosion von Licht und Rauch bewirkte, trat zurück und verschwand hinter einer Tür. Sie hörte noch Gelächter und Applaus.
Wenige Minuten später erschien sie wieder, dieses Mal am anderen Ende der Gasse. Die Taschenlampe, in den Falten ihres Gewandes verborgen, beleuchtete ihr Gesicht von unten, sodass ihr Gesicht unheimlich wirkte und die knallroten Lippen und die schrägen Wildkatzenaugen betonte. Mit einer schwungvollen Geste des Capes drehte Amber sich um und gab der Gruppe ein Zeichen, ihr zu folgen. Hinter ihr setzten sich alle in Bewegung.
Sie begann mit einem Überblick über die Geschichte der Insel. Key West hatte sich aus einem Hafen für Piraten, die von dem davor liegenden Korallenriff aus auf Beutezüge gingen, zu einem Zentrum für Künstler, Schriftsteller, Musiker und Exzentriker entwickelt. Die Keys waren der südlichste Zipfel der Vereinigten Staaten und boten einen Vorgeschmack an tropischer Sinneslust. Man hatte gelernt, Dinge weniger wichtig zu nehmen und die Freiheiten zu genießen, die Sonne, Sand, Wasser und Abgeschiedenheit vermittelten.
Die Abgeschiedenheit hatte ihnen den Namen „Muschelrepublik“ eingebracht, und das entsprach mit seiner vergnügungssüchtigen Bevölkerung, den traumhaften Sonnenuntergängen und der Bereitschaft zu feiern, durchaus der Wirklichkeit. Der Ort hatte merkwürdigsten Gestalten eine Existenz gewährt, was in den Annalen zu lesen war. Darunter einem Bestattungsunternehmer, der die Leichen seiner Angehörigen stahl und weiter mit ihnen lebte, einer bösen Person, die durch Voodoo fortwirkte, und einem Pfarrer, der nicht nur seine untreue Ehefrau verbrannt hatte, sondern die ganze Klasse der Sonntagsschule dazu – unschuldige Kinder.
Wenn Amber anhielt, um etwas zu erzählen, wies sie gleichzeitig auf die architektonischen Besonderheiten der alten Gebäude hin und erzählte vielfältige Anekdoten, bevor sie zu den unheimlichen Geschichten überging, für die ihre Besichtigungstour berühmt war.
Vor einiger Zeit, als sie durch die Altstadt gingen, waren Zwischenrufe von einer Gruppe ortsansässiger Teenager gekommen. Amber hatte früh gelernt, dass weder Ermahnung noch das Ignorieren solcher Störenfriede half. So hatte sie deren freche Scherze in die Vorführung mit einbezogen und sie in Flüche und haarsträubende Verwünschungen umgewandelt, die Gelächter und Applaus bewirkten und den Plagegeistern den Wind aus den Segeln nahmen.
Manche Einwohner von Key West fanden Ambers Vorführung so amüsant, dass sie gelegentlich auf der Lauer lagen und ihr durch passende Bemerkungen die Möglichkeit gaben, ihre Show zu variieren. Ambers Improvisationsgeschick wurde dadurch ständig verbessert. Inzwischen waren sie und die Ansässigen zu richtigen Freunden geworden, und Amber nutzte ihre Anwesenheit dazu, sich selbst den Spaß an der Sache zu erhalten, damit sie nicht in Routine erstarrte.
Da es dieses Mal nicht viele Teilnehmer gab, ging die Führung schneller als sonst, und Amber konnte Fragen, die gelegentlich gestellt wurden, ausführlicher beantworten. Erstaunlicherweise schienen gerade die vier Studenten ziemlich fasziniert von dem Ganzen, was auch mit ihrem Alkoholkonsum zu tun haben mochte. Der einzelne Gast, der wie ein Seefahrer wirkte, hielt sich meistens abseits. Manchmal schien Ambers Darbietung ihn zu amüsieren. Dabei war er offenbar nicht eigentlich an den Geschichten selbst interessiert. Deshalb überraschte es Amber, dass er am Ende geduldig wartete, bis die Gruppe sich zerstreut hatte.
„Gut gemacht“, lobte er mit einem hinreißenden Lächeln. „Ich fand es wirklich unterhaltsam.“
Er war mittelgroß, braun gebrannt, hatte ein markantes Gesicht, dichte Augenbrauen über braungrünen Augen, um deren Winkel sich feine Krähenfüßchen zeigten, eine gerade Nase und einen schön geformten Mund. Das von der Sonne gebleichtes Haar fiel ihm in die Stirn.
Was er bei einer solchen Besichtigung an einem Freitagabend zu suchen hatte, war Amber ein Rätsel.
Sie spielte ihre Rolle weiter und neigte königlich das Haupt. „Ich danke Ihnen. Und die Geister ebenfalls.“
Er lachte amüsiert. „Keine Ursache.“
Amber, die das Gespräch für beendet hielt, wandte sich zum Gehen, aber der Mann eilte ihr nach und holte sie ein.
„Entschuldigen Sie, mein Name ist Reece Carlyle. Ich bin neu hier. Gestern Nachmittag erst angekommen, um es genau zu sagen. Da Sie sich hier auskennen, dachte ich, Sie könnten mir vielleicht ein paar Tipps geben.“
Ach, einer von denen. Amber pflegte Männern auf Frauenjagd öfter in dem Lokal zu begegnen, in dem sie kellnerte. Und sie hatte eine gewisse Routine darin, sie abzuwimmeln. „Natürlich“, sagte sie und stieg die Stufen zum Hintereingang des Büros hoch. „Passen Sie auf Ihre Brieftasche auf. Halten Sie sich in beleuchteten Gegenden auf. Rechnen Sie damit, in der Altstadt hohe Preise zahlen zu müssen und woanders weniger willkommen zu sein. Gewöhnen Sie sich daran, viel laufen zu müssen, und nehmen Sie ausreichend Flüssigkeit zu sich.“
Sie lehnte sich kurz über die Brüstung. „Und schauen Sie sich das Marinemuseum an“, rief sie hinunter. „Die Gegenstände, die von Schatzsuchern vor der Küste gefunden wurden, sind faszinierend.“ Sie drehte sich um und schloss die Tür auf. „Ach ja, vergessen Sie nicht die beiden wichtigsten Utensilien, die man auf den Keys zum Überleben braucht: Sonnencreme und Mücken-Spray. Schönen Abend noch, Mr. Carlyle“. Damit verschwand sie.
Drinnen zog sie sofort das schwere, verschwitzte Kostüm aus. Zumindest sehen die flirtwilligen Männer allmählich besser aus, dachte sie.
Conn war schon gegangen, obgleich er theoretisch bis zum Ende der Tour am Telefon bleiben musste. Doch Amber verstand sein Verhalten. Der Durchschnittseinwohner der Keys war so gelassen und naiv, dass er sich gar nicht vorstellen konnte, dass es Böses wie Übeltäter oder Unfälle in der Welt gab. Da Amber durch ihren übervorsichtigen Vater geprägt war, besaß sie einen Sinn für Unwägbarkeiten und hatte im Firmen-Handy die Telefonnummern von Polizei und Feuerwehr eingespeichert.
Nachdem sie Kostüm und Requisiten ins Cape gewickelt hatte, zog sie ihre Sandalen an, steckte sich das lange Haar wieder hoch, schloss das Büro ab und nahm das Kleiderbündel unter den Arm. Für Leute, die einen regulären Job hatten und nicht besinnungslos tranken, war die Nacht recht kurz.
Reece stand im Schatten einer riesigen Magnolie und beobachtete, wie die Tochter eines seiner Freunde und Geschäftspartners mit einem schwarzen Bündel, das sie sich über die Schulter gehängt hatte, den Bürgersteig betrat. Amber Rose Presley wirkte zierlich, und ihr mädchenhaftes Gesicht war trotz der dicken Schminke ein Spiegel der Unschuld. Im Kostüm war sie ihm sehr apart vorgekommen. Nun, in Shorts und T-Shirt, sah man erst, wie hübsch sie war. Kein Wunder, dass Robert sich Sorgen um sie machte und Reece gebeten hatte, sich unauffällig nach ihrem Befinden zu erkundigen.
Robert war im Großen und Ganzen auf dem Laufenden. Er hatte herausbekommen, wo Amber arbeitete und wo sie wohnte. Aber da sie jede Art von Kontakt mit den Eltern ablehnte, mündig war und sich in einer Stadt aufhielt, deren Behörden seine Sorgen lächerlich fanden, konnte er nichts weiter tun.
Als Reece ihm von seinem Plan erzählt hatte, nach der Scheidung für einige Monate mit dem Segelboot im Golf von Mexiko von Hafen zu Hafen zu fahren, hatte Robert ihn angefleht, doch in Key West haltzumachen und nach seiner „Kleinen“ zu schauen.
„Klein“ stimmte sogar, jedenfalls, was die Größe anging. Reece’ elfjährige Tochter Brittany war schon jetzt fast so groß. Aber so zierlich wie sie war, die Führung hatte Amber großartig gemacht. Man merkte, dass sie eine Schauspielausbildung hatte. Und wie sie die Bier trinkenden Jugendlichen in den Griff bekommen hatte, alle Achtung! Als die mit ihren dummen Sprüchen begannen, hatte Reece sich schon darauf eingestellt, ihr helfen zu müssen. Sie hatte jedoch alles allein gemanagt.
Einen der Jungs, der seine leere Bierdose achtlos wegwarf, hatte Amber ohne großes Aufsehen dazu gebracht, sie wieder aufzuheben. Herumliegender Müll und öffentliches Pinkeln beleidigten die Geister – und die Reiseleiterin. Reece hoffte, dass Brittany sich eines Tages ebenso selbstbewusst verhalten würde. Allerdings wünschte er sich auch, dass sie niemals Grund haben würde, sich von ihrer Familie loszusagen.
Brittany hatte im Augenblick ebenfalls Probleme, das arme Ding. Obgleich die ganze Sache nun schon ein Jahr her war, hatte sie sich noch immer nicht mit der Scheidung ihrer Eltern abgefunden. Vielleicht, dachte Reece, hatten sie sich zu sehr darum bemüht, das Unglück, das sie selbst empfanden, nicht vor ihrer Tochter auszubreiten. Die Scheidung war überfällig gewesen, und sowohl Joyce als auch er hatten sie herbeigesehnt. Brittany zuliebe hätte Reece noch ein paar Jahre länger ausgeharrt, aber Joyce meinte, sie würde schließlich nicht jünger, und sie wünschte sich die Möglichkeit, noch einmal von vorn zu beginnen.
Reece, der mit achtunddreißig nur ein Jahr älter war als sie, verstand das. Er selbst fühlte sich schon irgendwie verbraucht. In geschäftlicher Hinsicht hatte er sicher noch ein paar gute Jahre vor sich, aber was das Privatleben anging, war das Beste wohl vorbei.
Joyce dagegen hatte gleich danach eine neue Beziehung angefangen, mit Mike Allen, einem seiner langjährigen Geschäftspartner. Einige Freunde von Reece hatten den Verdacht, die Beziehung könnte schon länger bestanden haben. Da die Ehe jedoch ohnehin zum Scheitern verurteilt gewesen war, machte Reece sich keine weiteren Gedanken darüber.
Brittany hatte allerdings Schwierigkeiten, den neuen Partner ihrer Mutter zu akzeptieren. Besonders seitdem die verkündet hatte, bald wieder heiraten zu wollen. Reece hoffte, dass sie sich an den Gedanken gewöhnen würde, sobald sie ihre Mutter wieder glücklich sähe. Er nahm es Joyce jedenfalls nicht übel.
Die Scheidung hatte natürlich allerhand Nebenwirkungen. Nicht nur war seine Tochter enttäuscht und verwirrt, sondern eine Familie, die beinahe vierzehn Jahre lang existiert hatte, war auf einmal zerstört. Dazu kam das Finanzielle.
Reece hatte lange und hart daran gearbeitet, „Carlyle Systems“ zu einer erfolgreichen Firma aufzubauen. Vielleicht härter, als er es getan hätte, wenn er privat glücklicher gewesen wäre. Mit der Scheidung war der Verkauf der Firma unumgänglich geworden, um die finanzielle Sicherheit für alle zu gewährleisten. Das hatte sein Leben total verändert. Abgesehen von seiner Tochter, wusste er kaum noch, was er mit sich anfangen sollte. Er hätte natürlich als Berater tätig sein können, sein Wissen über firmenintegrierte Computersysteme wurde hochgeschätzt, und schon einige Unternehmen in Houston hatten es sich zu Nutze gemacht. Aber die Beratertätigkeit füllte ihn nicht wirklich aus. Alles erschien ihm irgendwie schal. Und genau deshalb war er nun in Key West, Florida.
Er war im Inland aufgewachsen, lebte nun aber in Houston, was den Vorteil hatte, dass man schnell an die Küste zum Golf von Mexiko fahren konnte. Reece liebte das Wasser. Als er sich dazu entschloss, eine Weile lang nichts zu tun, um den Kopf wieder klar zu bekommen und sich zu überlegen, was er mit dem Rest seines Lebens anfangen sollte, waren ihm einige Monate an Bord seines Schiffes „Merry Haven“ als die perfekte Lösung erschienen.
Drei Monate lang war er bereits von Hafen zu Hafen unterwegs. Inzwischen konnte er zwei Dinge mit Bestimmtheit sagen. Zum einen, dass schlichte Zufriedenheit völlig unterbewertet wurde. Die hatte er allein durch den Aufenthalt an Bord gefunden, inmitten des blauen Meeres. Abgesehen davon, dass er seine Tochter vermisste, mit der er regelmäßig in Kontakt war, war er auf eine Weise glücklich, die er nie vermutet hätte. Dazu war ihm seine eigene Gesellschaft nicht annähernd so anstrengend, wie er befürchtet hatte. Die langen, unglücklichen Ehejahre und die bittere Wahrheit, dass die Liebe zwischen ihm und seiner Frau vor Langem gestorben war, hatten ihn früher denken lassen, etwas versäumt zu haben. Inzwischen dachte er anders darüber.
Er war zu dem Schluss gekommen, dass er das Beste aus einer verfahrenen Situation gemacht hatte. Mit vierundzwanzig – mit der ersten Hoffnung auf Erfolg – hatte er sich für einen Glückspilz gehalten, was dazu führte, dass er die falsche Wahl traf und die einzige Frau heiratete, die es damals in seinem Leben gab. Reece Carlyle war ein Mann, der sich nur auf eine Frau konzentrierte. Er hatte viele gekannt, aber immer nur eine zur Zeit gehabt.
Sobald er in der Lage war, eine Familie zu ernähren, war es ihm ganz natürlich erschienen, Joyce zu heiraten. Drei Jahre später, nachdem Brittany geboren war, wurde ihm klar, dass er einen Fehler gemacht hatte. Joyce schien das ebenso zu sehen. Aber sie hatten nun ein Kind, und das war ihnen beiden wichtig. Die Situation hatte sich jedoch derart verschlechtert, dass sie zu dem Schluss kamen, kein weiteres Kind mehr zu wollen.
Hier stand er nun, im nächtlichen Key West, und überlegte, was Amber Rose Presley wohl denken würde, wenn sie wüsste, dass er nicht mit ihr flirten, sondern nur ihrem Vater einen Gefallen tun und herausfinden wollte, wie es ihr ging.
Rob hatte ihn gewarnt, ihr keinen reinen Wein einzuschenken. Sollte sie merken, dass ihr Vater hinter diesem „Zufallstreffen“ stand, würde sie sofort die Flucht ergreifen. Aber wie sollte er etwas über sie herausfinden?
Er ging die dunkle kleine Straße hinunter in Richtung Hafenpromenade, wo das Beiboot lag, mit dem er zur „Merry Haven“ fahren konnte. Er war enttäuscht darüber, dass es ihm nicht gelungen war, Amber in ein Gespräch zu verwickeln. Nun würde er nur noch ein spätes Abendessen einnehmen und schlafen gehen.
Unterwegs kam er an malerischen alten Gebäuden vorbei. In Ecken und Eingängen lagerten Obdachlose. Zum Ausgehen in Key West war es noch etwas früh, doch als er sich der Eaton Street näherte, wurde der Verkehr immer dichter. Die meisten Leute gingen zu Fuß, trotzdem war alles voller Taxis, Personenwagen und motorisierter Rikschas. Alle eilten in die Duval Street, von der Amber bei der Führung berichtet hatte, der Alkohol ströme dort mehr als in jedem anderen Bundesstaat der Vereinigten Staaten.
Morgen wollte Reece Brit anrufen, um mit ihr abzusprechen, wo und wann er sie für die restlichen vier Wochen Sommerferien abholen sollte. Danach plante er, Proviant einzukaufen und sich die Stadt anzuschauen. Und anschließend wollte er in der Angela Street ein frühes Abendessen einnehmen. Dort sollte eine gewisse Person arbeiten … Mit einem bisschen Glück könnte er mit ihr sprechen und etwas Konkreteres über sie herausfinden. Sie möglicherweise sogar dazu bringen, nach Dallas zu ihren Eltern zurückzukehren.
Aber damit erwartete er vermutlich zu viel. Es war sicher besser, erst mal Ambers Vertrauen zu gewinnen und sich vielleicht mit ihr zu verabreden. Aber wie? Wenn er sich nicht vorsah, würde er nur wie ein lüsterner alter Verehrer wirken, der eine naive junge Frau verführen wollte. Ekelhaft! Der Gedanke, Amber etwas vormachen zu müssen, gefiel überhaupt nicht, aber schließlich war es zu ihrem Besten.
Vielleicht könnte er sie dazu überreden, sich kurz zu ihm zu setzen und ihm etwas über sich zu erzählen. Amber war noch ziemlich jung, aber auch sehr sympathisch.
Reece überlegte, wie er ihr Vertrauen gewinnen könnte. Schließlich wirkte er bei Präsentationen immer recht überzeugend. Das hier war schließlich nicht anders, als wenn er einen neuen Kunden gewinnen wollte. Von seinen romantischen Fähigkeiten war zwar nicht viel übrig, aber auf seine Erfahrungen konnte er sich verlassen. Ja, das würde er schon hinkriegen. Mit schwierigen kleinen Mädchen kannte er sich aus!
Amber war ein bisschen wie Brittany, nur eben ein paar Jahre älter. Er würde sie behandeln wie eine von Brits munteren Freundinnen. Ein bisschen Charme, ein bisschen Nachsicht, ein bisschen Autorität und Überlegenheit. Freundlich, aber distanziert.
Zuversichtlich, dass er die Situation in den Griff bekommen würde, machte Reece sich auf den Weg in den Hafen zur „Merry Haven“.
„Einmal Muscheln, einen Burger, Medium, und einen Apfelkrapfen für Tisch sechs.“