Zehn Tage, zehn Nächte - Kate Hoffmann - E-Book

Zehn Tage, zehn Nächte E-Book

Kate Hoffmann

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Beschreibung

Eine Affäre mit einer Schutzbefohlenen ist das Letzte, was einem Polizisten passieren darf! Conor Quinn weiß das genau, als er die Bewachung der mehr als anziehenden Olivia übernimmt. Sie dem Zugriff der Mafia zu entziehen, traut Conor sich zu. Aber wie soll er sich vor dem unglaublich erotischen Knistern zwischen ihnen schützen?

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Seitenzahl: 205

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IMPRESSUM

Zehn Tage, zehn Nächte erscheint in der HarperCollins Germany GmbH

Redaktion und Verlag: Postfach 301161, 20304 Hamburg Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0 Fax: +49(0) 711/72 52-399 E-Mail: [email protected]
Geschäftsführung:Ralf MarkmeierRedaktionsleitung:Claudia Wuttke (v. i. S. d. P.)Produktion:Jennifer GalkaGrafik:Deborah Kuschel (Art Director), Birgit Tonn, Marina Grothues (Foto)

© by Peggy A. Hoffmann Originaltitel: „The Mighty Quinns: Conor” erschienen bei: Harlequin Enterprises Ltd., Toronto Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe TIFFANYBand 987 - 2002 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg Übersetzung: Christian Trautmann

Umschlagsmotive: Harlequin Books S.A.

Veröffentlicht im ePub Format in 07/2018 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783733736088

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:BACCARA, BIANCA, JULIA, ROMANA, HISTORICAL

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1. KAPITEL

Der Schuss kam aus dem Nichts und ließ die Schaufensterscheibe von „Ford-Farrell Antiques“ in tausend Stücke zersplittern. Zuerst dachte Olivia Farrell, einer der Schaukästen sei umgefallen, oder eine Kristallvase sei aus einem Regal gekippt. Doch dann krachte ein zweiter Schuss. Die Kugel pfiff an ihrem Kopf vorbei und bohrte sich mit einem leisen Zischen in die Wand. Glasscherben fielen in die Schaufensterauslage rund um einen Bücherschrank aus der Zeit des Bürgerkriegs.

Ihr erster Impuls war es, sich über den Bücherschrank zu werfen, ein seltenes Stück im Wert von 60000 Dollar. Immerhin befand sich in den sprossenfensterartigen Türen des Schranks noch das Originalglas. Außerdem wäre das Stück für ihre kritische Kundschaft wertlos, falls sich irgendwelche Kratzer auf den sehr gut erhaltenen Intarsien befänden. Doch dann siegte ihr Verstand, und sie duckte sich hinter einer Chaiselongue im viktorianischen Stil.

„Verdammt“, murmelte sie, nicht sicher, was sie als Nächstes tun sollte. Wegrennen? Sich verstecken? Zurückschießen konnte sie jedenfalls nicht, da sie keine Waffe besaß. Sie dachte daran, die Ladentür abzuschließen. Aber wer immer dort draußen stand und auf sie schoss, konnte jetzt einfach durch von keiner Glasscheibe geschützte Schaufenster zu ihr in den Laden marschieren.

Sie stieß sich vom Boden ab und versuchte die Entfernung zwischen ihrem Standort und der Hintertür der Galerie abzuschätzen. Und wenn sie draußen in der Gasse auf sie warteten? Außerdem hatte sie keine Ahnung, ob der Schütze fest entschlossen war, sie um jeden Preis zu töten, oder ob er sich zurückziehen und es später noch einmal versuchen würde. Schließlich hatte er sie nicht getroffen. Vielleicht hatte er ihr nur Angst einjagen wollen.

Olivia zog das kleine graue Handy aus ihrer Jacketttasche und wählte die Notrufnummer. Vielleicht sollte sie sich einfach tot stellen, für den Fall, dass der oder die Täter wild um sich feuernd den Laden stürmten.

Tränen stiegen ihr in die Augen, und ihre Hand zitterte, während sie darauf wartete, dass sich in der Notrufzentrale jemand meldete. Doch sie weigerte sich, sich von ihrer Angst besiegen zu lassen. Stattdessen unterdrückte sie die Tränen und nahm ihren Mut zusammen. Sie hatte sich beigebracht, ihre Gefühle zu kontrollieren und immer Haltung zu bewahren. Aber das galt nur für ihren Job. Ein Schuss durchs Fenster war möglicherweise eine gute Entschuldigung für ein wenig Hysterie.

Das alles wäre nicht passiert, wenn sie einfach ihren Mund gehalten hätte. Wenn sie sich in jener Nacht vor einigen Monaten einfach umgedreht hätte und weggegangen wäre. Aber sie hatte damals Angst gehabt, dass ihr alles, wofür sie so hart gearbeitet hatte, genommen werden könnte.

Bisher war das Einzige, was sie sich jemals hatte zuschulden kommen lassen, eine Geschwindigkeitsübertretung gewesen. Jetzt waren ihre Geschäftsunterlagen beschlagnahmt worden, man hatte ihre Vergangenheit durchleuchtet, ihr Geschäftspartner saß im Gefängnis, und ihr guter Ruf war ruiniert. Olivia war eine wichtige Zeugin in einem Verfahren wegen Mord und Geldwäsche gegen einen sehr gefährlichen Mann – einen Mann, der offenbar nichts dabei fand, sie umzubringen, bevor sie ihre Geschichte vor Gericht erzählen konnte.

Als die Notrufzentrale sich meldete, gab Olivia rasch ihren Standort und eine kurze Beschreibung der Ereignisse durch. Die Telefonistin bat sie am Apparat zu bleiben, und Olivia lauschte abwesend, während die Frau sie zu beruhigen versuchte. Olivia hatte immer gehört, dass kurz vor dem Tod noch einmal das Leben an einem vorbeizog. Aber alles, woran sie jetzt denken konnte, war, wie sehr sie es hasste, sich so hilflos zu fühlen.

„Reden Sie nur weiter mit mir“, drängte die Telefonistin sie.

„Worüber soll ich denn reden?“, erwiderte Olivia gereizt. Das einzige Thema, das ihr einfiel, war ihr Leben, das sich innerhalb kürzester Zeit völlig verändert hatte. Vor zwei Monaten noch war sie ganz oben gewesen, die erfolgreichste Antiquitätenhändlerin Bostons. Sie war überall im Land herumgereist, immer auf der Suche nach den besten Antiquitäten. Ihre Kundenliste las sich wie ein „Who is who“ der Ostküsten-High-Society. Erst kürzlich war sie in den Vorstand einer der renommiertesten historischen Gesellschaften Bostons gewählt worden. Es gab sogar das Gerücht, man wolle sie bitten, in der TV-Show „Antiques Caravan“ aufzutreten.

Und all das ihr, die nicht in Beacon Hill aufgewachsen war, sondern in einer Arbeitergegend von Boston. Aber sie war über ihre ziemlich einfachen Anfänge hinausgewachsen, hatte ihre Vergangenheit hinter sich gelassen und sich ein eigenes Leben aufgebaut – ein Leben, zu dem Reisen, Partys und einflussreiche Freunde gehörten. Und finanzielle Sicherheit. Nur eines hatte sie sich aus ihrer Kindheit bewahrt – ein Interesse an allem, was hundert Jahre oder älter war.

„Meine Eltern waren begeisterte Antiquitätensammler“, erzählte sie leise der Telefonistin. „Sie schleppten mich als Kind von einer Versteigerung zur anderen und bestritten ihren Lebensunterhalt mit einem kleinen Secondhandladen in North End. Wir wussten nie, woher die nächste Mahlzeit kommen sollte und ob wir genug zusammenbekommen würden, um die Miete bezahlen zu können. Diese Unsicherheit war für ein Kind beängstigend.“

„Ängstigen Sie sich nicht“, sagte die Telefonistin. „Die Polizei ist unterwegs.“

„Als ich älter wurde“, fuhr Olivia fort, „wandten sie sich für Gutachten an mich. So wurde ich eine Expertin für Möbel des 18. und 19. Jahrhunderts in New England. Meine Eltern besaßen kein gutes Auge für wertvolle Antiquitäten, und als ich die Highschool hinter mir hatte, beschlossen sie, es in der Gastronomie zu versuchen. Sie übernahmen eine Raststätte am Interstate in Jacksonville, Florida.“

„Die Polizei ist in wenigen Minuten da, Miss Farrell.“

Olivia redete weiter, und der Klang ihrer eigenen Stimme vertrieb ihre Ängste. Solange sie reden konnte, war sie noch am Leben, und die Angst siegte nicht über sie. „Ich blieb zurück, um das College zu besuchen. Ich hatte drei verschiedene Jobs, um mein Studium zu finanzieren, und lebte das gesamte erste Jahr auf dem Boston College von der Hand in den Mund. Es war sehr schwer, die Studiengebühren und die Miete zusammenzubekommen. Aber dann stieß ich auf einen Sheraton-Sessel, den ich für fünfzehn Dollar auf einem Flohmarkt erstand und für viertausend bei einer Auktion weiterverkaufte.“

Von diesem Moment an hatte Olivia ihr Studium durch Handel mit Antiquitäten finanziert. Dabei entdeckte sie, dass sie ein unglaubliches Talent für das Aufspüren wertvoller Stücke an unwahrscheinlichen Orten hatte – auf Flohmärkten, Secondhandshops, Haushaltsauflösungen. Sie konnte sehr schnell eine Reproduktion von einem Original unterscheiden und war eine geschickte Bieterin.

„Meinen ersten Laden mietete ich in dem Jahr, in dem ich meinen Abschluss machte. Sechs Jahre später ging ich eine Partnerschaft mit einem meiner Kunden ein. Kevin Ford war ein Mann mit Geld. Ich dachte, ich hätte es geschafft. Er kaufte einen wunderschönen Laden in der Charles Street am Fuß von Beacon Hill.“ Olivia seufzte.

„Die Polizei wird in etwa dreißig Sekunden da sein, Ma’am“, sagte die Telefonistin.

Olivia konnte bereits die näher kommenden Sirenen hören. Aber auch die Polizei konnte sie nicht aus dem Chaos befreien, in das sie ihr Leben verwandelt hatte. Sie gab sich selbst für die ganze Sache die Schuld. Als Kevin das Gebäude gekauft hatte, war sie im ersten Moment skeptisch gewesen. Obwohl er reich war, konnte er kaum die Millionen besitzen, um einen Laden in der Charles Street zu kaufen. Doch dann hatte sie ihre Bedenken verdrängt und nur ihren meteoritengleichen Aufstieg an die Spitze der Bostoner Gesellschaft gesehen – und die Geschäfte, die sich ihr eröffneten.

Hätte sie ihrem Instinkt vertraut, wäre ihr vielleicht klar geworden, dass Kevin Fords unerschöpfliches Kapital aus Unterweltverbindungen stammte. Die Bestätigung dafür bekam sie, als sie spätabends zufällig eine Unterhaltung zwischen Ford und einem seiner wichtigsten Kunden mit anhörte – einem Mann, der, wie sie später erfuhr, ein Bostoner Gangsterboss war, der allein im letzten Jahr eine Handvoll Morde befohlen hatte.

Das erneute Geräusch von splitterndem Glas ließ sie hochschrecken und sich schon auf das Schlimmste vorbereiten. Doch dann hörte sie zu ihrer Erleichterung eine vertraute Stimme. „Miss Farrell, ist alles in Ordnung mit Ihnen?“

Olivia spähte über die Chaiselongue und winkte schwach dem stellvertretenden Bezirksstaatsanwalt, Elliott Shulman, zu, der für die Mordanklage gegen Red Keenan zuständig war. „Ich bin noch am Leben“, erwiderte sie.

Er eilte zu ihr und half ihr auf die Füße. „Das ist einfach inakzeptabel“, stellte er fest. „Wo ist der Polizeischutz, den ich angefordert habe?“

„Die Cops parken noch immer vor meinem Apartment“, antwortete Olivia und errötete leicht.

Shulman starrte sie an. „Sie sind verschwunden, ohne es ihnen mitzuteilen?“

Olivia nickte und straffte angesichts seines tadelnden Tons die Schultern. „Ich musste nur ein wenig Arbeit erledigen. Der Laden ist jetzt seit fast zwei Monaten geschlossen. Ich muss Rechnungen bezahlen und Antiquitäten verkaufen. Wenn ich mich nicht um meine Kunden kümmere, werden sie zu jemand anderem gehen.“

Shulman führte sie am Ellbogen zur Eingangstür. „Jetzt haben Sie erlebt, wozu Red Keenan fähig ist. Vielleicht hören Sie ja nun endlich auf uns und nehmen seine Drohungen ernst.“

Olivia befreite ihren Arm aus seinem festen Griff. „Ich verstehe immer noch nicht, wieso er meinen Tod will. Kevin kann in dieser schmutzigen Angelegenheit aussagen. Ich habe zwar ihre Unterhaltung belauscht, aber viel habe ich nicht mitbekommen.“

„Wie ich Ihnen schon erklärt habe, redet Ihr Partner nicht. Sie sind die einzige Zeugin, die eine Verbindung zwischen den beiden herstellen kann. Nach dem, was heute Abend passiert ist, werden wir Sie an einem sicheren Ort außerhalb der Stadt verstecken müssen.“

Olivia schnappte nach Luft. „Ich kann nicht weg! Schauen Sie sich diese Bescherung an! Wer wird das Fenster reparieren? Ich kann die Sachen nicht dem Wetter aussetzen. Diese Antiquitäten sind wertvoll. Und was ist mit meinen Kunden? Das könnte mich finanziell ruinieren!“

„Wir werden das Fenster umgehend ersetzen lassen. Bis dahin lasse ich einen Streifenbeamten draußen. Sie werden mit mir auf die Wache kommen, bis wir einen sicheren Unterschlupf für Sie gefunden haben.“

Olivia schnappte sich ihren Mantel und ihre Handtasche von dem antiken Garderobenschrank neben ihrem Schreibtisch und folgte Shulman widerstrebend zum Eingang. Vielleicht war es wirklich Zeit, sich zu verstecken. Es war ja nur für zwei Wochen, bis zum Beginn des Prozesses. Wenigstens würde sie sich dann wieder sicher fühlen. Als sie auf den Gehsteig hinaustrat, gab sie dem Streifenpolizisten ihre Schlüssel und nannte ihm den Sicherheitscode. Dann atmete sie tief durch und sagte: „Versprechen Sie mir, dass ich nach dem Prozess in mein gewohntes Leben zurückkehren kann.“

„Wir werden unser Bestes tun, Miss Farrell.“

Conor Quinn wusste, was ein schlechter Tag war. Drogen, Prostituierte, Alkohol, Schmutz – das war sein Leben. Er konnte sich an keinen Tag beim Sittendezernat des Boston Police Department erinnern, an dem er nicht mit den Übeln der Gesellschaft konfrontiert worden wäre. Er griff in die Innentasche seiner Jacke nach seinen Zigaretten, doch dann fiel ihm ein, dass er vor drei Tagen das Rauchen aufgegeben hatte.

Mit einem leisen Fluch schob er das leere Glas über den Tresen und gab dem Barkeeper ein Zeichen. Seamus Quinn kam zu ihm und wischte sich die narbenbedeckten Hände an einem Handtuch ab. Sein dunkles Haar war weiß geworden, und seine gebeugte Haltung hatte er der jahrelangen Rücken schädigenden Arbeit als Schwertfischer zu verdanken. Conors Vater hatte das Fischen vor ein paar Jahren aufgegeben. Sein Schiff, die „Mighty Quinn“, dümpelte jetzt friedlich an ihrem Liegeplatz im Hafen von Hull. Conors Bruder Brendan benutzte sie als Unterkunft bei seinen seltenen Besuchen in Boston. Seamus hatte seine mageren Ersparnisse und einen Glücksspielgewinn in den Kauf seiner Stammkneipe in einer wilden Gegend von South Boston investiert.

„Ein Bier, Con?“, fragte Seamus mit unverkennbarem irischen Akzent.

Conor schüttelte den Kopf. „Ich muss in einer halben Stunde zum Dienst. Danny holt mich hier ab.“

Seamus warf ihm einen schlauen Blick zu und stellte ein Glas Mineralwasser vor Conor, ehe er sich einem anderen Gast zuwandte. Conor beobachtete, wie sein Vater geschickt ein Guinness zapfte, das Glas in den perfekten Winkel neigte und den genauen Moment abpasste, um den Hahn zuzudrehen. Er stellte das große Glas auf die Bar, und der helle cremige Schaum stieg über dem nussbraunen Gebräu auf.

Sein Vater fragte nicht weiter. Obwohl die übrigen Stammgäste von Seamus’ klugen Ratschlägen profitierten, hatten die Quinn-Brüder im Lauf der Jahre gelernt, ohne väterliche Einmischung mit ihren Problemen fertig zu werden. Tatsächlich war Conor es gewesen, der seinen jüngeren Brüdern mit Rat und Tat zur Seite gestanden hatte. Das tat er noch immer. Fast sein ganzes Leben lang, seit seinem siebten Lebensjahr, war er damit beschäftigt gewesen, die Familie zusammenzuhalten und dafür zu sorgen, dass seine Brüder auf dem Pfad der Tugend blieben. Das Leben sicher zu machen war sein Job, damals wie heute. Nur dass er sich heute um eine Stadt mit einer halben Million Einwohner kümmerte statt um fünf Rabauken aus South Boston.

Er schaute sich in der Bar um, auf der Suche nach irgendetwas, was ihn die Ereignisse des Tages vergessen ließ. Seamus Quinns Pub war für drei Dinge bekannt – die echte irische Atmosphäre, das beste Irish Stew in Boston und die tolle irische Livemusik, die hier jeden Abend zu hören war. Und dass die sechs unverheirateten Söhne des Besitzers sich hier oft einfanden, war ebenfalls kein Geheimnis.

Dylan spielte Billard mit seinen Kollegen von der Feuerwehr, die alle dunkelblaue T-Shirts des Boston Fire Departments trugen. Eine Schar junger Frauen schaute ihnen zu und flirtete mit Dylan. Brian arbeitete heute Abend am anderen Ende des Tresens und war damit beschäftigt, die neue Kellnerin zu umgarnen. Liam war in eine flotte Runde Dart mit einer Rothaarigen vertieft, und Sean hielt sich im hinteren Teil des Pubs auf, wo er mit einer attraktiven Brünetten zur Musik einer Geige und einer Blechflöte tanzte.

Bei Brendan lief es nicht anders, wenn er sich in der Stadt aufhielt, nachdem er eine Reportage für eine Zeitschrift oder eine Recherchereise für sein neuestes Buch beendet hatte. Eine sanfte, bereitwillige Frau war das Erste, was er dann suchte. Alle noch so strikten Warnungen ihres Vaters vor Frauen hielten die sechs Brüder nicht davon ab, zu genießen, was das andere Geschlecht ihnen so freizügig anbot – natürlich ohne dass sich einer von ihnen ernsthaft verliebte oder gar eine feste Beziehung einging.

In letzter Zeit jedoch war Conor dieser Affären überdrüssig geworden. Vielleicht lag es an seiner Stimmung, an der Gleichgültigkeit, die er ganz allgemein empfand. Himmel, die Blonde am Ende des Tresens warf ihm seit einer halben Stunde einladende Blicke zu, und er brachte nicht mal ein Lächeln zustande. Die Aussicht auf eine Frau, die ihm an diesem stürmischen Herbstabend das Bett wärmte, war zwar verlockend. Aber er war einfach zu müde, um sich dazu aufzuraffen, mit ihr zu flirten. Außerdem blieb ihm nur noch eine halbe Stunde, ehe er sich auf der Wache melden musste.

„Guten Abend, Sir. Wenn Sie bereit sind, der Wagen wartet.“

Conors Partner, Danny Wright, setzte sich zu seiner Rechten auf einen Barhocker. Der junge Detective war Conor letzten Monat zugeteilt worden, sehr zu Conors Bestürzung. Wright war zwar ein guter Polizist, aber er war wie ein Welpe – große Augen und immer ganz wild darauf, etwas zu unternehmen.

„Sie brauchen mich nicht Sir zu nennen“, murmelte Conor und trank einen Schluck von seinem Mineralwasser. „Ich bin Ihr Partner, Wright.“

Danny runzelte die Stirn, „Aber die Jungs auf der Wache sagten, Sie würden gern mit Sir angeredet werden.“

„Die haben Sie auf den Arm genommen. Das machen sie gern mit frischgebackenen Detectives. Wieso bestellen Sie sich nicht einfach einen Drink und entspannen sich?“

Bedacht darauf, es Conor recht zu machen, bestellte Danny sich ein Malzbier und nahm sich eine Handvoll Erdnüsse. „Der Lieutenant will uns am Ende der Schicht auf der Wache sehen. Er hat einen Spezialauftrag für uns.“

Conor lachte. „Wohl eher eine Spezialbestrafung.“

Danny warf ihm einen Seitenblick zu. „Der Lieutenant ist ziemlich wütend auf Sie. Die Jungs sagen, Sie sind ein guter Cop, der nur ein wenig aufbrausend ist. Der Lieutenant sagt, der Trickbetrüger strengt eine Klage wegen Brutalität an. Er hat sich bereits einen Anwalt genommen.“

Conors Züge verhärteten sich. „Dieser miese Kerl hat eine vierundachtzigjährige Frau um ihre Ersparnisse betrogen. Und als sie ihm ihre Kreditkarte nicht geben wollte, hat er sie fast totgeschlagen. Mit einer geplatzten Lippe ist er noch gut davongekommen.“

„Die Jungs sagen …“

„Was wird das, Wright? Sprechen Sie nie für sich selbst?“, unterbrach Conor ihn. „Ich werde Ihnen erklären, was die Jungs sagen. Sie sagen, es ist nicht das erste Mal, dass ich auf einen Verdächtigen losgegangen bin. Sie sagen, Conor Quinn eilt ein gewisser Ruf voraus. Und dieser Ruf verbessert meine Chancen nicht gerade, zur Mordkommission zu kommen. Nehmen Sie die geplatzte Lippe und meine anderen Missgeschicke, und dann haben Sie einen bösartigen Cop.“

„Ich … ich wollte nicht …“

„Keine Sorge, Wright. Es ist nicht ansteckend.“

„Um meinetwegen mache ich mir auch keine Sorgen“, erklärte Danny. „Aber Sie warten schon seit zwei Jahren auf Ihre Versetzung in die Mordkommission, und es sind nur zwei Stellen frei. Sie sind ein guter Detective, Sir. Sie haben eine dieser Stellen verdient.“

Conor schüttelte den Kopf. „Ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich noch daran interessiert bin.“

„Weshalb nicht?“

Über diese Frage dachte er jetzt schon seit Wochen nach, ohne eine vernünftige Antwort darauf zu finden. „Ich versuche seit etlichen Jahren, diese Stadt zu einem sicheren Ort zu machen. Ich glaubte wirklich, ich könnte etwas bewirken. Aber ich habe so gut wie nichts erreicht. Für jede Prostituierte, jeden Buchmacher oder Halunken, den ich hinter Gitter bringe, kommt sofort ein neuer. Wieso sollte ich glauben, ich könnte bei Mördern mehr erreichen?“

„Weil Sie es schaffen“, argumentierte Danny auf seine treuherzige Art.

„Verdammt, ich habe es satt, auf Nummer sicher zu gehen. Es wird Zeit, dass ich anfange, mein Leben zu leben. Ich will morgens aufwachen und mich auf den Tag freuen. Nehmen Sie meinen Bruder Brendan. Er entscheidet, was er schreibt, wann er schreibt und ob er schreibt. Er führt ein Leben nach seinen eigenen Bedingungen. Und dann Dylan. Er bewirkt wirklich etwas. Er rettet Leben.“

„Was wollen Sie tun? Sie sind ein Cop. Es liegt Ihnen im Blut, für Recht und Ordnung zu sorgen.“

„Möglicherweise ist genau darin das Problem. Zuerst kümmerte ich mich um meine Familie und anschließend um diese Stadt. Ich war neunzehn, als ich auf die Polizeiakademie kam, Wright. Ich hatte Verpflichtungen zu Hause und brauchte einen geregelten Job. Vielleicht hätte ich mich für etwas völlig anderes entschieden. Natürlich wäre ich lieber aufs College gegangen, statt jahrelang Abendkurse zu besuchen.“

„Sie werden sich besser fühlen, wenn Sie beim Lieutenant nicht mehr in Ungnade sind“, versuchte Danny ihn zu trösten. „Er kann schließlich nicht ewig wütend auf Sie bleiben.“

„Also, was für niedere Dienste hat er heute Abend für uns?“, fragte Conor, trank einen großen Schluck von seinem Mineralwasser und wischte sich mit der Hand über den Mund.

„Es klingt ziemlich interessant, Sir“, antwortete Danny. „Wir sollen einen Zeugen im Red-Keenan-Fall beschützen. Wir müssen den Zeugen zu einem geheimen Unterschlupf nach Cape Cod bringen und ein paar Tage auf ihn aufpassen. Ein seltsamer Platz zum Untertauchen, meinen Sie nicht?“

„Nein“, entgegnete Conor. „Man geht vermutlich davon aus, dass man dort um diese Jahreszeit jeden beobachten kann, der kommt oder geht. Es gibt dort nur einen Flughafen und einen Highway. Dadurch ist es leichter, Verdächtige zu entdecken.“

Conor stand auf, winkte nur kurz Sean zu und ging zur Tür. Wright folgte ihm. Als Conor auf die Straße trat, schlug er den Kragen seiner Lederjacke hoch und drehte das Gesicht in den Wind. Er konnte das Meer riechen und wusste, dass ein Unwetter aufzog. Einen Moment lang machte er sich Sorgen wegen Brendan, der eigentlich schon seit zwei Tagen von einem Ausflug mit ein paar Schwertfischern heimgekehrt sein sollte. Wieso er sich entschlossen hatte, ein Buch über den Schwertfischfang zu schreiben, würde Conor nie begreifen.

Der Schwertfischfang war schließlich der Ruin des Familienlebens gewesen, der Grund, weshalb ihre Mutter verschwunden war und ihr Vater Conor die Elternrolle überlassen hatte. Conor seufzte und fluchte leise. Brendan konnte mit einem Sturm auf See fertig werden – er hatte viele Sommerferien auf Fahrten mit ihrem Vater verbracht. Und Dylan konnte mit einem außer Kontrolle geratenen Feuer fertig werden. Es war Conor, der in letzter Zeit Probleme hatte, sein Leben in den Griff zu bekommen und allem noch einen Sinn zu geben.

Den Wind im Gesicht, die Hände tief in den Taschen vergraben, ging er die regennasse Straße hinunter zu seinem Wagen. Danny marschierte hinterdrein. Beim Geräusch näher kommender Schritte sah Conor auf. Sofort erwachte sein Polizisteninstinkt. Eine schlanke Frau mit kurzen dunklen Haaren ging an ihnen vorbei und wäre dabei fast mit ihm zusammengestoßen. Für einen Moment trafen sich ihre Blicke. Er schaute über die Schulter und glaubte sie wiederzuerkennen. Eine Trickbetrügerin? Eine Prostituierte? Eine Undercover-Agentin?

Er beobachtete, wie sie zögernd vor Quinn’s stehen blieb und durch das Fenster hineinsah. Ein paar Sekunden später ging sie die Stufen hinauf. Doch dann hielt sie inne, lief wieder zurück und verschwand in der Dunkelheit. Conor schüttelte den Kopf. War er schon so abgestumpft, dass er einem harmlosen Passanten kriminelle Absichten unterstellte? Vielleicht würde ihm die Einsamkeit auf Cape Cod mal ganz guttun und alles wieder in die richtige Perspektive rücken.

Auf der Wache des vierten Bezirks herrschte reger Betrieb, als Conor und Danny dort eintrafen. Conor war daran gewöhnt, in der Tagschicht zu arbeiten, aber der Unterschied zwischen Tag und Nacht würde jetzt ohnehin bedeutungslos werden, wenn sie den Zeugen beschützen mussten. Es würde nichts als endlose Stunden voller Langeweile geben und schlechtes Essen zum Mitnehmen. Letztlich würde es so spannend sein wie Babysitting.

Laut Danny war der Zeuge früher am Abend von der Wache in der Innenstadt hierher gebracht worden. Der Lieutenant hatte nur vage Einzelheiten über den Fall verlauten lassen, da er sich mit Danny und Conor persönlich über ihren neuen Auftrag unterhalten wollte. Zweifellos würde er dieses Gespräch zur Zurechtweisung seines aufsässigen Detectives nutzen.

Doch als sie die Wache betraten, war die Tür zum Büro des Lieutenants geschlossen. Conor holte sich einen Becher Kaffee und suchte in dem Durcheinander auf seinem Schreibtisch nach seinem Notizbuch, das jeder Detective für Zeugenaussagen bei sich trug. Er erinnerte sich, dass er es zuletzt im Überwachungsraum benutzt hatte, von wo aus er durch das verspiegelte Fenster ein Verhör verfolgt hatte.

Er nahm einen Kugelschreiber und ging zum Überwachungsraum, dessen Tür offen stand. Doch seine Suche nach dem verschwundenen Notizbuch wurde unterbrochen, als er durch das verspiegelte Fenster in den „Zeugenstand“ sah. Die Einrichtung des nichtssagenden Verhörzimmers bestand lediglich aus einem Tisch mit einem Stuhl an jeder Seite, einer Lampe darüber und dem verspiegelten Fenster, durch das Conor jetzt schaute.

Die einzige Person in dem Raum war eine Frau, eine schlanke Gestalt mit aschblondem Haar, aristokratischen Zügen und teurer Garderobe. Er war sich nicht sicher, woher er es wusste, doch er war überzeugt, dass sie kein Callgirl, keine Drogendealerin oder Trickbetrügerin war. Er hätte seine Dienstmarke darauf verwettet, dass sie nichts verbrochen hatte.

Er trat näher ans Fenster und betrachtete sie genauer. Er bemerkte das Zittern ihrer zarten Hand, als sie aus einem Pappbecher trüben Kaffee trank. Plötzlich drehte sie den Kopf in seine Richtung, und Conor trat rasch in die Dunkelheit zurück. Obwohl er wusste, dass sie ihn nicht sehen konnte, fühlte er sich ertappt.

Grundgütiger, sie war so schön. Ihr Gesicht war vollkommen – eine hohe Stirn, ausdrucksvolle Augen, markante Wangenknochen und ein sinnlicher Mund, der wie zum Küssen gemacht war. Ihr sanft gewelltes Haar umgab ihr Gesicht und fiel ihr auf die Schultern. Conor stellte sich vor, wie weich ihre Haare sich anfühlen würden, wenn er sie berührte, und dass sie wie warme Seide über seine Haut gleiten würden, wenn sie sich über ihn beugte und …