ZEN - „Der Duft Hunderter von Blumen“ - Dietrich Roloff - E-Book

ZEN - „Der Duft Hunderter von Blumen“ E-Book

Dietrich Roloff

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Beschreibung

Im Kapitel 24 der Song-zeitlichen Kôan-Sammlung Wu-men-guan/Mumonkan zitiert Feng-xue Yan-zhao (896 – 973) aus einem Gedicht des Du Fu (712 – 770) die Zeilen: Beständig denke ich an Jiang-nan im Monat März – Die Rebhühner rufen und der Duft Hunderter von Blumen Zu dieser vorbehaltlosen Welt- und Lebensbejahung des chinesischen Chan gibt es in unserem europäischen Kulturkreis nur eine gleichwertige und gleichfalls jeder Zuflucht in etwas Ewigem zuwiderlaufende Entsprechung – Parádeisos (παράδεισος), altper-sisch pairidaëza, das Glück der ‚Gärten des Großkönigs‘. Und genau das ist es, worauf ZEN nach dem unumgänglichen Abschied von einer ‚Buddha-Natur‘ hinauswill – dass wir, statt Zuflucht und Geborgenheit in einer Sphäre der Vollkommenheit jenseits der Welt der Dinge zu suchen, eben diese Geborgenheit in der Welt der Dinge selbst erfahren, einer durchaus gebrechlichen Welt, die gleich-wohl schon von unserer evolutionären Herkunft her unsere Heimat ist, unsere einzige und darum auch unsere ‚wahre‘ Heimat. Dass dabei die Vergänglichkeit alles Irdischen, unsere eigene und die der ‚Gärten des Großkönigs‘, unserem Aufgehoben-Sein inmitten der Welt, gar einem unbedingten, keinen Abbruch tut, dazu verhilft uns ZEN.

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Der greise Zhao-zhou! Der greise Zhao-zhou!

Unruhe in den Chan-Klöstern zu stiften –

noch im hohen Alter hört er nicht damit auf!

Kôan 47 Cong-rong-lu

In der Tat – er treibt es fort und fort: www.zen-gedichte.de

Inhalt

Wo blühen sie denn, diese Blumen des ZEN?

Abschied nehmen

I.1 Eine ›Buddha-Natur‹– ja oder nein?

I.1 (1) Das KÔAN MU

I.1 (2)

De-shans

›Da ist nichts! Da ist nichts!‹

I.1 (3)

Xue-fengs

›… ist was?‹

I.1 (4)

Dong-shans

›Nur dies ist der Fall!‹

I.1 (5)

Dong-shan

zu ‚Kälte und Hitze‘

I.1 (6)

Nan-quans

›Nicht Geist, nicht Buddha, nicht sonst etwas!‹

I.1 (7)

Pan-shans

›In allen drei Welten …‹

I.1 (8)

Da-longs

›Bergblumen und Gebirgsbäche‹

I.1 (9)

Eine ‚Buddha-Natur‘? Mitnichten!

I.2 Ist, was da übrig bleibt, immer noch ZEN?

I.3 Überraschende Konsequenzen des KÔAN MU

I.4 Ein ZEN aus MU – reicht das? Mehr als genug!

Von Wehmut keine Spur

II.1

Xin-xin-ming / Shinjinmei

(8. Jh.)

II.1 (1) Der Text

II.1 (2) Was haben der/die Verfasser ihren Zeitgenossen sagen wollen?

II.1 (3) Und was sagt uns das

Xin-xin-ming

heute noch?

II.2 Die Lehrreden des

Hong-zhi Zheng-jue / Wanshi Shôgaku

(12. Jh.)

II.2 (1) Der Text

II.2 (2) Und dennoch gilt:

›Es bleibt alles beim Alten‹

II.2 (3) Ist

Hong-zhis

Weltsicht noch die unsere?

II.2 (4)

Haus Lin-ji

contra

Haus Cao-Dong

II.2 (5) Und was ist dann mit dem

Cong-rong-lu?

Die Gärten des Großkönigs – Παράδεισος

Anhang: Zu einigen Eigenheiten der chinesischen Sprache

Dietrich Roloff

Wo blühen sie denn, diese Blumen des ZEN?

In der ›Großen Leere‹? Als die ›Zehntausend Ereignisse der Blumen der Leere‹ (kōng huá wàn xíng), wie es in einem klassischen Zen-Wort oder genauer, in einem Wort des klassischen Zen heißt? Oder in Jiang-nan, der einst wegen ihrer landschaftlichen Schönheit berühmten Gegend ›südlich des Stromes‹, zu der sich der Dichter Du Fu (712 – 770) einst enthusiastisch bekannt hat: Beständig denke ich an Jiang-nan im Monat März – / Die Rebhühner rufen und der Duft Hunderter von Blumen!

Im ersteren Fall hätten wir eine Anspielung auf einen der ›Zehn Großen Jünger‹ Buddhas vor uns, auf Subhûti, der sich so ausdauernd und restlos in die ›Große Leere‹, die shûnyatâ, versenkt hat, dass die Götter ihn mit einem Blumenregen aus blauem Himmel geehrt haben; und diese ›Große Leere‹ ist im Mahâyâna zur allumfassenden ›Buddha-Natur‹ (fó-xìng) geworden, die noch heute zu den großen Verlockungen des Zen-Buddhismus gehört.

Im zweiten Fall hingegen begegnen wir dem Duft der Blumen hier in der Welt, als Ausdruck dessen, dass es sich lohnt, ja dass wir ›unsere Seligkeit‹ erst recht darin finden können, in dieser irdischen Welt zu verweilen und uns von ihrer Schönheit beglücken zu lassen. Und um genau das zu verdeutlichen, habe ich für den Haupt- und Schlussteil dieses Buches die Metapher der Gärten des Großkönigs gewählt.

Angesichts dieser Alternative geht es in vorliegendem Buch, ›frank und frei herausgesagt‹, um ein ZEN, das nicht länger dem Aberglauben an eine ewige ›Buddha-Natur‹ aufsitzt – eine ›Buddha-Natur‹, die Zuflucht verspricht und unsere Sehnsucht nach Unvergänglichkeit und Unsterblichkeit zu erfüllen scheint; kurz, um ein ZEN ohne unsere angebliche ›Buddha-Natur‹ als Gottesersatz. Stattdessen wird hier ein ZEN vorgestellt, das sich im Gegenteil – mit dem Feng-xue des Kôan 24 Wu-men-guan – zu dem Duft der Blumen von Jiang-nan, oder noch pointierter gesagt, zu einem glückserfüllten Aufenthalt in den Gärten des Großkönigs bekennt.

Dass wir Heutig-Morgigen dieser ›Buddha-Natur‹ – auch ›Buddha-Wesen‹ (fó-xìng), ›wahre Wirklichkeit‹ (dharmadhâtu), ›Wahrheitsleib‹ (dharmakâya) oder ›Große Leere‹ (shûnyatâ) genannt – den Glauben aufgekündigt haben – diese radikale Abkehr vom traditionellen Zen hat ihren Grund in der vertieften und selbstkritischen Reflexion unserer spirituellen Erfahrung über Jahre und Jahrzehnte hinweg sowie in der schließlich unausweichlichen Zur-Kenntnisnahme dessen, was moderne Kognitionswissenschaft uns unwiderruflich gelehrt hat: dass wir alles, was wir als Welt erfahren, in uns selbst erzeugen und dann in die Welt außerhalb unseres Körpers hinein- bzw. hinausprojizieren, also auch etwaige Erfahrungen (samt ekstatischem Erleben) einer vermeintlich objektiv gegebenen ›Buddha-Natur‹!

Es ist uns Heutig-Morgigen stattdessen daran gelegen, ZEN zukunftsfähig zu machen; unsere Abkehr vom traditionellen Zen darf nicht dahin missverstanden werden, wir wollten Zen überhaupt preisgeben; wir sehen uns, trotz aller notwendigen Dekonstruktion, nicht als diejenigen, die Zen zu Grabe tragen; das sind in unsren Augen vielmehr diejenigen, die an der überkommenen, durchweg mythisch-mittelalterlichen Metaphysik des bisherigen Zen meinen festhalten zu müssen. Eine Rettung des ZEN können wir im Gegenteil nur dadurch zu Wege bringen, dass wir uns mit dem traditionellen Zen kritisch auseinandersetzen und über Bord werfen, was sich angesichts unseres heutigen Weltverständnisses nicht länger aufrechterhalten lässt.

Wem das eine unzulässige Pauschalisierung oder gar zu sehr von oben herab gesprochen erscheint, der sei, Mann oder Frau, zu einem längeren Umweg eingeladen:

Angeregt durch so verfängliche, ja irreführende Bücher wie E. Herrigels Zen in der Kunst des Bogenschießens oder D.T. Suzukis Der westliche und der östliche Weg habe ich selbst mich Ende der achtziger Jahre dem japanischen Zen zugewandt. Bei der Entscheidung für das Rinzai-Zen hat ein weiteres Buch, faszinierend und herausfordernd zugleich, haben Shibayama Zenkeis Comments on the Mumonkan, damals unter dem reißerischen Titel Zu den Quellen des Zen neu auf den Markt gebracht, den Ausschlag gegeben.

In Roseburg, im Haus der Stille, habe ich mich auf meinen ersten Sesshin von der eindringlichen Aufforderung ansprechen und antreiben lassen, die – angeblich – allen Dingen innewohnende ›Buddha-Natur‹ auch in mir selbst zu entdecken und aus ihr heraus zu leben; und ich bin – schlimmer noch – in diesen ersten Jahren auf Herrigels in uns allen waltendes ›ES‹ hereingefallen, aus dem – angeblich – all unser Handeln fließt, und zwar als ein niemals fehlgehendes Handeln, wenn wir uns nur diesem ›ES‹ überlassen. Kurz gesagt, habe ich damals tatsächlich geglaubt, es gebe hinter den Dingen und jenseits unseres rationalen Verständnisses der Dinge eine geheimnisvolle andere und höhere Wirklichkeit, zugänglich allein durch mushin, die Übung des Nicht-Denkens im Zazen.

Mir war damals sehr wohl bewusst, dass ich mich damit auf ein im wörtlichen Sinne metaphysisches, weil über die physische Welt hinausgehendes Abenteuer eingelassen hatte. Etwaige Zweifel kamen schon deshalb nicht auf, weil ich die typische Metaphysik des von mir inbrünstig betriebenen Zen in allen weiteren Texten meiner einschlägigen Lektüre immer nur bestätigt sah.

Und dann passierte es, dass diese andere, jenseitige und nur im ›Durchbruch‹ zugängliche Wirklichkeit mich gleichsam vom blauen Himmel Roseburgs herab förmlich überfiel: In ekstatischen Episoden stieg sie von innen her auf und drang zugleich von außen in mich ein. Wie hätte ich da an ihrer Realität, gar an ihrer höheren Realität zweifeln sollen!? Die bis dahin nur eigenmächtig angelesene und in diesem oder jenem Teishô eines Lehrers mit Eifer vorgetragene ›wahre Wirklichkeit‹ war nunmehr gleichsam handgreifliche, physisch spürbare diesseitige Wirklichkeit. Unmöglich, im Banne einer solchen ›Entrückung‹ mich dem Glauben an eine ›Wesenswelt‹, eine unvergängliche weltumspannende ›Buddha-Natur‹ zu verweigern, von der die auch hierzulande in Wort und Tat beinahe allgegenwärtigen japanischen Zen-Meister und in ihrem Gefolge deren deutsche sog. Dharma-Nachfolger im Brustton der Überzeugung sprachen.

Dieser ›wahren Wirklichkeit‹ noch deutlicher auf die Spur zu kommen habe ich mich über Jahre hinweg daran gemacht, die drei für die Rinzai-Praxis wichtigsten chinesischen Kôan-Sammlungen in der Originalsprache zu studieren und samt eigenen, aus der persönlichen Erfahrung gespeisten Erläuterungen in Buchform zu bringen. Dabei kam es zu einer anfangs allmählichen, dann aber sich überstürzenden Koinzidenz: Je tiefer ich in das Dreigestirn von Bi-yan-lu, Cong-rong-lu und Wu-men-guan in dieser ihrer zeitlichen Abfolge eindrang und dabei Zeuge einer zunehmend Metaphysik-kritischen Haltung ihrer Verfasser wurde, desto deutlicher trat in meinem eigenen Zen-Erleben zutage, dass die Erfahrung einer ›anderen Wirklichkeit‹ jenseits der Dinge lediglich der Projektion meiner eigenen, von der Zen-Übung ausgelösten entrückungsartigen Befindlichkeit entsprungen war.

Meine persönliche, zunächst unterschwellig anwachsende Metaphysik-kritische Haltung fand sich ab 2013 durch eine erneute Auseinandersetzung mit dem Wu-men-guan, insbesondere mit seinem KÔAN MU, zu regelrechter Radikalität gesteigert. Die mich befremdende Feststellung, dass das japanische Zen bei seiner Behauptung einer ›Wesenswelt‹ oder ›wahren Wirklichkeit‹ einfach so weitermacht, als hätte es die chinesischen Chan-Meister der Song-Zeit mit ihrer mehr oder weniger radikalen shûnyatâ-Kritik nie gegeben, ist dann folgerichtig zur Keimzelle meines bisher letzten Buches geworden: ZEN – vom Kopf auf die Füße gestellt.

Mit diesem Buch habe ich zeigen wollen, dass ZEN, für mich weiterhin von existenzieller Bedeutsamkeit, keineswegs in sich zusammenbricht, wenn man ihm seine traditionelle Metaphysik entzieht. Im Gegenteil sollte es beweisen, dass ZEN auch ohne ›Wesenswelt‹ etc. auskommen kann, ja erst ohne solch vergangenheitsverhaftete Metaphysik zur vollen Reife gelangt. Ich habe zeigen wollen, dass Zen als Jahrhunderte alte chinesisch-japanische Tradition auch mit neuzeitlich-wissenschaftlichem Denken vereinbar und nach seinem eigenen Selbstverständnis letztlich allein auf das Diesseits ausgerichtet ist.

ZEN – vom Kopf auf die Füße gestellt sollte daher als der Versuch gelesen werden, ZEN gegen die Gefahr abzusichern, zu einer randständigen, weil von sich selbst an den Rand verbannten Sekte zu verkommen und in der Unhaltbarkeit für gültig gehaltener Mythologeme einer fernen Vergangenheit endgültig unterzugehen. ZEN – vom Kopf auf die Füße gestellt ist also eine – obendrein leidenschaftliche – Verteidigung des ZEN. Doch kann dieses Buch, zumindest von den konservativen Vertretern des heutigen Zen, sehr wohl auch als Angriff verstanden werden, als der nicht einmal heimtückische, sondern ganz offen vorgetragene Versuch, dem heutigen japanisch-westlichen Zen den Boden zu entziehen und es dem Absturz in leere Inhaltslosigkeit preiszugeben. Das würde mich, wenn es denn zuträfe – mich, den erklärten Befürworter eines neuen ZEN! – geradezu zum Totengräber des Zen-Buddhismus abstempeln.

Stattdessen zielt jedoch auch das hier einzuleitende neue Buch ZEN – »Der Duft Hunderter von Blumen« darauf ab, ZEN vielmehr ganz entschieden aufzuwerten – es als eine Praxis existenzvertiefender Lebensgestaltung und Selbstformung auszuweisen, die uns davon befreit, uns zu Schutz und Trost von einer vermeintlichen höheren Instanz (ob Gott, ob ›Buddha-Natur‹) abhängig zu machen, und die uns befähigt, wohlgemut nur auf den eigenen, allzeit gefährdeten Füßen zu stehen – unserer allgegenwärtigen Hinfälligkeit und schlechterdings marginalen Stellung in den Weiten eines expandierenden und allumfassender Entropie zustrebenden Universums vollauf bewusst.

Dass ich auch in dieses neue Buch alte chinesische Chan-Texte aufgenommen habe, dient dazu, der Selbstvergewisserung eines zukünftigen ZEN durch Abgrenzung von – immer noch – hochgeschätzten traditionellen Lehrmeinungen eine höchstmögliche Schärfe der Kontur zu verleihen. Dabei soll dem Xin-xin-ming alias Shinjinmei als einem der Gründungstexte des Zen der erste Platz eingeräumt sein. Das entsprechende Kapitel bemüht sich, die chinesische Vorlage zunächst einmal durch eine möglichst textnahe Übersetzung Schritt für Schritt nachvollziehbar zu erschließen und anschließend die so erarbeitete Lehrmeinung des oder der Verfasser des 8. Jahrhunderts kritisch zu bewerten.

Als zweiten Text habe ich die Lehrreden ausgewählt, die Hong-zhi Zheng-jue alias Wanshi Shôgaku (1091 – 1157) im 12. Jahrhundert vor seinen Mönchen gehalten hat. Dieser Hong-zhi ist nicht irgendeiner der vielen Chan-Meister der Tang- und der Song-Zeit, sondern derjenige, der die 100 Kôan des Cong-rong-lu alias Shôyôroku zusammengestellt und mit erläuternden ›Lobgesängen‹ versehen hat. Meine Wahl ist deshalb auf diesen der Cao-Dong-Schule angehörenden Chan-Meister gefallen, weil er in seinen Lehrreden ein auffallend traditionelles Chan vertritt und eine Metaphysik-kritische Haltung nur in wenigen Kôan seines Congrong-lu halbherzig durchscheinen lässt. Damit bleibt er sogar noch hinter dem um hundert Jahre älteren Xue-dou Zhong-xian (980 – 1052), dem Ko-Autor und Dichter der ›Lobgesänge‹ des Bi-yan-lu zurück, der es immerhin in vollem Freimut gewagt hat zu sagen: Ich schnipse sie hinweg, bedauernswerte Shûnyatâ! Erst recht weist Hong-zhi einen ganz erheblichen Abstand zu der Metaphysik-Kritik eines Wu-men Huai-kai (1183 – 1260) auf, wie sich an den beiden Kôan 18 Cong-rong-lu und 1 Wu-men-guan zeigen wird, die ein und dasselbe Thema, Zhao-zhou zur Buddha-Natur eines Hundes, auf höchst unterschiedliche Weise behandeln.

Die Entwicklung des chinesischen Chan ist zweifellos nicht einstrangig verlaufen; es hat verschiedene Strömungen mit unterschiedlichem Tempo des Wandels gegeben, und noch Wu-men ist nicht so radikal in seiner Ablehnung von Metaphysik gewesen, wie wir es heutzutage zu sein hinreichend Gründe haben. Möglicherweise ist dieser Wandel innerhalb der beiden Häuser Yun-men und Lin-ji, von denen dem ersteren Xue-dou Zhong-xian und dem anderen Yuan-wu Ke-qin, die beiden Autoren des Bi-yan-lu, und letzterem im 13. Jahrhundert auch noch Wu-men Huai-kai mit seinem Wu-men-guan angehört haben, schneller verlaufen als in der Cao-Dong-Schule, der sowohl Hong-zhi Zheng-jue als auch sein Ko-Autor Wan-song Xing-xiu, der Herausgeber des Cong-rong-lu, zuzurechnen sind.

Mein Doppelgriff in die Schatztruhe des traditionellen chinesischen Chan – hier das Xinxin-ming und dort die Lehrreden eines Hong-zhi – hat eine durchaus ironische Funktion: Was da zum Vorschein kommt, soll den Hintergrund abgeben, vor dem das ZEN der Zukunft umso heller erstrahlt. Der Abschied von der Vergangenheit, der eine Lücke aufzureißen scheint, die sich nie wieder schließen lässt, hat keineswegs Wehmut im Gefolge. Im Gegenteil, die Differenz zwischen Einst und Jetzt bewirkt, dass wir uns wohlgemut auf die Möglichkeiten eines Lebens einlassen können, das aus der Vertiefung in unsere je eigene Existenz und aus nichts anderem sonst gespeist wird – im vorerst rein theoretischen Vorgriff frei nach Platons gleichfalls ironischem Parmenides-Projekt: Was für Auswirkungen hat ein existenziell verstandenes ZEN auf mich selbst, sowohl inbezug auf mich selbst als auch inbezug auf die Anderen, und ebenso auf die Anderen, sowohl inbezug auf sich selbst als auch inbezug auf mich – den oder die durch ein existenzvertiefendes ZEN durchaus Veränderte(n). Ich bin es nicht mehr – einen so hohen Anspruch völliger Selbstentäußerung allerdings, wie er Ernst Barlachs Frühwerk Der Arme Vetter beschließt, wollen wir Heutig-Morgigen bei solcher Erforschung unserer selbst nicht erheben – ein Anspruch übrigens, der auch nur dann wenigstens den Hauch einer Chance auf Verwirklichung hätte, wenn wir uns weiterhin zu einem Hohen Herrn (Barlach), einem ›ewigen Buddha‹, einer gnädigen ›Buddha-Natur‹ bekennen könnten. Wohl aber fühlen wir uns gedrängt, uns der schwärmerischen Begeisterung eines Du Fu anzuschließen: Beständig denke ich an Jiang-nan im Monat März – / Die Rebhühner rufen und der Duft Hunderter von Blumen!

I. Abschied nehmen

Aber wovon? – Von unserem Wunsch, Trost und Zuflucht in einem Höheren, Allumfassenden und Ewigen zu finden. Soweit wir uns dem Buddhismus, insbesondere dem Zen-Buddhismus zugewandt haben (oder auch nur für ihn empfänglich sind), trägt dieses Ewige den Namen ›Buddha-Natur‹, ursprünglich und chinesisch fó-xìng. Doch warum sollten wir überhaupt von unserem tiefsitzenden Verlangen nach einer solchen Zuflucht Abschied nehmen? Nun, wir tun es nicht freiwillig, sondern notgedrungen: weil es dieses Ewige namens ›Buddha-Natur‹ nun einmal nicht gibt.

Die Frage, wie wir dann mit unserer Verlorenheit angesichts der unendlichen Weiten eines immer weiter expandierenden Universums (ähnlich dem Entsetzen, das Pascal in seinem berühmten Fragment 72 Wort werden lässt) sowie mit unserer im Grunde animalischen Angst vor der Auslöschung im Tod zurechtkommen sollen, muss bis auf Weiteres darauf warten, eine tragfähige Beantwortung zu erfahren.

I.1 Eine ›Buddha-Natur‹– ja oder nein?

Wenn wir im Folgenden darangehen herauszufinden, ob und inwieweit die alten Chinesen selbst, die Erfinder des fó-xìng, sich kritisch zu ihrer eigenen Erfindung, der ewigen ›Buddha-Natur‹, verhalten haben, so sehen wir uns auf eine recht kleine Anzahl von Kôan beschränkt, in deren einschlägigen Aussagen wir – bis auf eine einzige Ausnahme – lediglich Hinweise und Wegweiser vor uns haben: Hinweise darauf, wie wir die dort vorfindlichen Tendenzen aufgreifen, und Wegweiser dafür, wie wir diese Hinweise weiterführen und sie – im Falle mangelnder ihnen selbst innewohnender Konsequenz – aus eigenem Recht zu Ende denken können: In der Regel legen sich Kôan in ihrer Zielsetzung nicht fest, so dass wir uns häufig vor die Aufgabe gestellt sehen, sie radikaler zu interpretieren, als sie ursprünglich gemeint gewesen sind – oder vorsichtiger formuliert, als sie ursprünglich gemeint gewesen sein dürften. So ist auch der bereits zitierte Ausruf eines Xue-dou: Ich schnipse sie hinweg, bedauernswerte shûnyatâ! alles anderes als eindeutig: Er muss nicht zwangsläufig bedeuten, dass Xue-dou mit ihm auch die Existenz einer ›Buddha-Natur‹ verwirft; er ist auch dann sinnvoll, wenn er lediglich dazu gedacht ist, die ›Buddha-Natur‹ gegenüber einer anderen Instanz abzuwerten. Gleichwohl werden wir ihn in seiner radikaleren Variante für uns nutzen.

Die eine und einzige rühmliche Ausnahme – rühmlich wegen ihrer Eindeutigkeit und Radikalität – ist das KÔAN MU, die Nummer Eins in der Kôan-Sammlung Wu-men-guan/ Mumonkan:

I.1 (1)

Die Chan-Anekdote, die diesem KÔAN MU zugrunde liegt, handelt von der – vielleicht nur fiktiven – Begegnung zwischen dem Tang-zeitlichen Chan-Meister Zhao-zhou und einem Mönch, der ihm mit der Frage zu Leibe rückt, ob auch ein Hund die ›Buddha-Natur‹ besitze oder nicht. Die einschlägige Geschichte wird allerdings außer im Wu-men-guan von 1229 auch noch – freilich in einer erweiterten und geradezu harmlosen Version – im Cong-rong-lu von 1224 abgehandelt, dort als Kôan 18. Gegen den Anschein, den die Veröffentlichungsdaten der beiden Kôan-Sammlungen erwecken, liegen zwischen den beiden Versionen nicht etwa nur 5 Jahre Abstand, sondern fast ein ganzes Jahrhundert, weil der Wortlaut des Wechselgesprächs im Cong-rong-lu bereits von Hong-zhi Zheng-jue, Todesjahr 1157, formuliert (oder von anderswoher übernommen) und in seine Sammlung von 100 Kôan eingefügt worden ist, aus der dann wiederum fast ein Jahrhundert später Wan-song Xing-xiu, Todesjahr 1246, das Cong-rong-lu als dessen Kommentator und Herausgeber hat hervorgehen lassen.

Beginnen wir mit der älteren Version des Kôan 18 Cong-rong-lu:

Ein Mönch fragt Zhao-zhou: »Hat auch ein Hund die Buddha-Natur oder nicht?« Und Zhao-zhou sagt: »Er hat!« Der Mönch fragt weiter: »Wenn er sie aber bereits hat, warum begibt er sich dennoch in diesen Sack aus Haut?« Darauf Zhao-zhou: »Weil er es weiß und doch vorsätzlich einen Fehltritt begeht.«

Ein anderer Mönch fragt Zhao-zhou gleichfalls: »Hat auch ein Hund die Buddha-Natur oder nicht?« Und diesmal antwortet Zhao-zhou: »Nein!« Der Mönch fragt weiter: »Alle lebenden Wesen haben sämtlich die Buddha-Natur; warum hat ein Hund sie jedoch nicht?« Zhao-zhou fertigt den lästigen Frager ab: »Weil in ihm das karmische Bewusstsein immer noch lebendig ist.«

Die entscheidenden Sätze dieses Kôan sind die beiden Antworten Zhao-zhous. Sie lauten zunächst: Er hat!, chinesisch yŏu, und danach: Nein!, chinesisch wú. Der Widerspruch beider Antworten ist ein nur scheinbarer. Bezögen sie sich, wie es zunächst den Anschein hat, auf denselben Sachverhalt, nämlich auf die Existenz einer ewigen ›Buddha-Natur‹, dann höben sie sich gegenseitig auf und die Frage, ob es tatsächlich eine ewige ›Buddha-Natur‹ gibt oder nicht, bliebe in der Schwebe. Doch in der zweiten Episode geht es um etwas anderes als in der ersten. Dort, in der ersten Episode, zielt Zhao-zhous ›Ja, er hat!‹ in der Tat auf eine ewige ›Buddha-Natur‹, wie die erläuternde Fortsetzung zeigt: Die Anschlussfrage des Mönchs will darauf hinaus, warum ein Hund, der die ›Buddha-Natur‹ bereits besitzt und mithin in diese unvergängliche ›Buddha-Natur‹ immer schon eingebettet ist, diesen Ort der Vollkommenheit verlässt und sich in einen irdisch-vergänglichen Hundeleib begibt. Zhao-zhous paradoxe Antwort erklärt nichts und dient einzig dazu, weitere Fragen vonseiten des Mönchs von vornherein abzuschneiden. In der zweiten Episode protestiert der Mönch gegen Zhao-zhous ›Nein!‹ mit dem Hinweis auf das für ihn unbestreitbare Mahâyâna-Axiom, dass alle Lebewesen ohne Ausnahmen die ewige ›Buddha-Natur‹ besitzen; doch Zhao-zhou wechselt stillschweigend auf eine andere ontologische Ebene, auf die der sterblichen Wesen, die durch Erwachen – wörtlich: durch Überwindung des karmischen Bewusstseins – bereits selbst Buddhas sein können, was im Fall eines Hundes jedoch entfällt. Während also das Haben der Buddha-Natur in der ersten Episode bedeutet, in dieser ›Buddha-Natur‹ mit enthalten und aufgehoben zu sein, besagt es im zweiten Fall, dass ein irdisches Wesen – und da kommen nur Menschen in Frage – die ›Buddha-Natur‹ in seiner sterblichen Existenz verwirklicht hat und somit selbst ein irdischer Buddha geworden ist. Das Kôan 18 Cong-rong-lu spielt also mit der Doppeldeutigkeit der Begriffe ›Buddha‹ (fó) und ›Buddha-Natur‹ (fó-xìng) derart, dass einmal ein ›ewiger Buddha‹ bzw. eine ›ewige Buddha-Natur‹ und ein andermal ein einzelner Mensch mit erreichter Buddhaschaft gemeint ist. Und aufs Ganze der beiden Episoden gesehen stellen Hong-zhi und Wan-song mit diesem ihrem Kôan 18 die ewige ›Buddha-Natur‹ nicht infrage; es läuft eher auf eine – allerdings unausgesprochene – Bekräftigung ihrer Existenz hinaus.

Demgegenüber nun die Fassung derselben Geschichte, die Wu-men in seinem Kôan 1 vorträgt und die dem Wortreichtum der Cong-rong-lu-Version eine geradezu minimalistische Kürze entgegensetzt:

Weil ein Mönch ihn fragte: »Hat auch ein Hund die Buddha-Natur (fó-xìng) oder nicht?«, sagte Zhao-zhou: Wú.

Das ist alles. Kein weiteres Wort scheint vonnöten. Denn die Sache ist sonnenklar: Auf eine Frage folgt die erschöpfende Antwort: Wú. – Und doch: Was heißt dieses wú? Während in der Cong-rong-lu-Version aufgrund des Zusammenhangs das yŏu und das wú eindeutig ›Ja!‹ und ›Nein!‹ bedeuten, fehlt hier jeder weitere Zusammenhang, der das wú in gleicher Weise eindeutig auf ein ›Nein!‹ festlegen könnte. Was also bedeutet es hier, im Kôan 1 Wu-men-guan? Kann es denn überhaupt noch eine andere Bedeutung haben als eben ›Nein!‹? Durchaus, denn wú kann auch als ›nicht‹, ›es gibt nicht‹, ›nichts‹, ›da ist nichts‹ verstanden werden. Selbstverständlich könnte das wú wie im Kôan 18 Cong-rong-lu so auch hier schlicht ›Nein!‹ bedeuten, und dann besagte das Kôan lediglich, dass ein Hund eben keine ›Buddha-Natur‹ besitzt. Punktum. Doch was für ein Kôan wäre das? Für uns Menschen sicherlich ohne Belang – allenfalls insofern beunruhigend, als es eine – für uns, wie gesagt, belanglose – Ausnahme innerhalb der Allgültigkeit des Mahâyâna-Axioms zur ›Buddha-Natur‹ zuließe. Somit bleibt die Frage weiterhin bestehen, was denn hier im Kôan 1 Wu-men-guan mit dem wú tatsächlich gemeint sei. Das Kôan selbst hilft uns da nicht weiter – denn auf das wú folgt nichts mehr, kein einziges Wort.

Doch so ganz stimmt das nicht – es folgt vielmehr ein ausführlicher Kommentar von Wumens eigener Hand, in dem er erläutert, was es mit seinem wú auf sich hat. Wu-men spricht da von einer Sperre der Gründerväter (zŭ-shī guān), durch die hindurchdringen muss, wer das wunderbare Erwachen erlangen will. Sodann fragt er uns, seine Leser und Schüler: Wie steht es denn nun mit dieser Sperre der Gründerväter? (rú-hé shì zŭ-shī guān) und gibt sich selbst die Antwort: Nur dieses eine Schriftzeichen wú – das ist die eine Sperre vor dem Tor unserer Schule! (zhĭ zhè yī gè wú zì – năi zōng-mén yī guān yĕ). Ein paar Sätze weiter ermahnt er uns: Erwäge das Schriftzeichen wú und nimm es Tag und Nacht fest in die Hände! Und als wäre das noch nicht eindringlich genug, fügt er gegen Ende seines Kommentars noch eine Steigerung hinzu: Dein ganzes Leben hindurch betreibe es mit voller Tatkraft, dieses Schriftzeichen wú!

Wollten wir nach alledem Wu-mens wú im Sinne der älteren, der Cong-rong-lu-Version derselben Anekdote als ein ›Nein!‹ verstehen, dann sähen wir uns nicht nur zu der vergeblichen Grübelei verurteilt, warum denn ausgerechnet und allein die Gattung Hund von dem Axiom des Mahâyâna ausgenommen sein sollte, dass alles Lebende die ›Buddha-Natur‹ in sich trägt. Viel schwerer wöge, dass die Verneinung der ›Buddha-Natur‹ für die Gattung Hund und nur für sie kaum geeignet erscheint, als Sperre vor dem Tor der Chan-Schule zu fungieren: Warum sollte die Behauptung, dass Hunde und nur Hunde ohne die ›Buddha-Natur‹ auskommen müssen, für uns Menschen eine derart existenzielle Bedeutung haben, wie Wu-men sie seinem wú unzweifelhaft zuschreibt? Es müsste doch, um das wunderbare Erwachen zu erlangen, ausreichen, dass wir selbst die ›Buddha-Natur‹ in uns tragen, die allein es uns erlaubt, im Erwachen auch selbst Buddhas zu werden und mit unserer individuellen Buddhaschaft in dem für uns so wichtigen Allumfassenden und Ewigen geborgen zu sein.

Wú gleich ›Nein!‹ entfällt mithin. Übrigbleibt nur die andere Möglichkeit, Wu-mens wú im Sinne von ›es gibt nicht‹ bzw. ›da ist nichts‹ oder kurz als ›nichts‹ zu verstehen (›nichts‹ klein geschrieben, wohlgemerkt)! Und dann gilt, dass uns Wu-men mit seinem wú gleich ›nichts‹ oder ›da ist nichts‹ wie folgt belehrt: Wo Ihr – gemeint sind seine Mönche, aber auch jeder Einzelne von uns – bei einem Hund nach einer ›Buddha-Natur‹ sucht, da ist nichts! Und weil die ›Buddha-Natur‹ per definitionem – sie gilt als das ›wahre Wesen‹ aller Dinge, als der Grund der Welt insgesamt – unteilbar und allumfassend ist, bedeutet Wu-mens wú, dass ganz allgemein eine ›Buddha-Natur‹ nicht gegeben ist, also nicht existiert. Anders und offen heraus gesagt: Der Glaube an eine ›Buddha-Natur‹ ist nichts als unverzeihlicher Irrtum! Und von dem Mahâyâna-Axiom, dass alle lebenden Wesen die eine allgemeine ›Buddha-Natur‹ in sich tragen, kann auch keine Rede mehr sein! (Vertreter des japanischen Zen versuchen freilich, dieser zwangsläufigen doppelten Folgerung dadurch zu entgehen, dass sie die Aussage ›Da ist nichts!‹ zu einem ›Nichts‹ (diesmal groß geschrieben!), bisweilen gar zu einem ›absoluten Nichts‹ umdeuten, das sie dann, als tatsächlich gegeben, zur letztgültigen Bestimmung einer ›Buddha-Natur‹ erklären können. So wird Wu-mens strikte Ermahnung, uns vom Glauben an eine ›Buddha-Natur‹ loszusagen, im Gegenteil dazu benutzt, eben diese ›Buddha-Natur‹ zu retten: »Ja, es gibt sehr wohl eine ›Buddha-Natur‹, nur ist diese ›Buddha-Natur‹ das reine Nichts!« Genau das aber gibt das Kôan 1 Wu-menguan nicht her; es widerruft im Gegenteil jegliche Behauptung einer ›Buddha-Natur‹ und erlaubt nur den einen Schluss: Dort, wo laut Mahâyâna-Lehre eine ›Buddha-Natur‹ den Grund der Welt darstellt, ›da ist nichts!‹ Also auch kein Grund der Welt, auch kein Nichts als Grund der Welt, und ebenso keine ›wahre Wirklichkeit‹ im Unterschied zur Wirklichkeit der Dinge! Doch davon erst später das Genauere.

Kehren wir noch einmal zu Wu-mens eigenem Kommentar zurück. Was soll das heißen, das Schriftzeichen wú Tag und Nacht fest in die Hände zu nehmen? Das weiß auch Wu-men, dass man ein Schriftzeichen – es sei denn, es läge auf einen Schriftträger gedruckt vor und ließe sich ausschneiden – nicht in die Hände nehmen kann, weshalb er uns ja vorweg dazu auffordert, es zu erwägen. Das In-die-Hände-Nehmen ist also nur eine Metapher für das Erwägen, und das wiederum besagt, der Bedeutung dieses wú auf den Grund zu gehen. Solches Erwägen, so Wu-men, schließt ein, massenhaft Zweifel zu erzeugen. Dieser Zweifel mag sich in anderen Zusammenhängen darauf beziehen, die Wirklichkeit der irdischen Dinge anzuzweifeln, um sie als bloßen Schein zu entlarven, und sich stattdessen einer anderen und ›wahren Wirklichkeit‹ anzuvertrauen. Doch hier, in seinem Kôan 1, hat Wu-men mit dem absichtlichen Erwecken massenhaften Zweifels etwas anderes im Sinn: den Zweifel an der Existenz einer ›Buddha-Natur‹, die der Mönch in seiner Frage stillschweigend voraussetzt. Ein solcher Zweifel ist schmerzhaft, höchst schmerzhaft sogar. Und so setzt Wu-men sein Schriftzeichen wú einer heißen Eisenkugel gleich, die es zu verschlucken gilt und die dabei solchen Schmerz verursacht, dass wir das Gefühlt haben, uns erbrechen zu müssen, und doch die quälende Kugel (dass da keine ›Buddha-Natur‹ existiert) nicht wieder ausspeien können. Selbst heute noch können wir das nachfühlen, dass für einen gläubigen Anhänger des Mahâyâna die Einsicht, von einer ›Buddha-Natur‹ Abstand nehmen zu müssen, höchste Qual bedeutet – den Absturz ins Bodenlose. (Wie es dabei mit uns steht, das steht auf einem anderen, späteren Blatt.)

Wenn wir uns das wú – so will Wu-men uns trösten – gehörig einverleibt haben (›wenn du dann für lange Zeit ganz damit vertraut bist, …‹), erwartet uns eine höchst überraschende Erfahrung: dann … fallen Außen und Innen ganz von selbst in eins zusammen. Es ist, wie wenn ein Stummer einen Traum erlebt – nur er selbst kann ihn kennen! Versuchen wir uns vorzustellen, was es bedeutet, dass Außen und Innen in eins zusammenfallen: Das Außen verschwindet im Innen und das Innen verschwindet im Außen; keines von Beiden bleibt, was es ist! Und was bleibt stattdessen? Nur die Erfahrung, dass ›da nichts ist‹! Eine Erfahrung, die sich nicht mitteilen lässt, für die es, so formuliert Huang-bo, kein Leck gibt, durch das etwas nach draußen dringen kann, sich einem anderen mitteilen lässt. Doch dies Eingesperrt-Sein in das Geheimnis des wú führt nicht in Klaustrophobie, in einen Zustand des Erstickens. Im Gegenteil setzt es eine Kraft der Lebendigkeit frei, die den Himmel in Erstaunen setzt und die Erde erschüttert. Die Erfahrung, dass ›da nichts ist‹, sprengt gleichsam das Weltall auseinander, das Gefüge der Dinge, in das wir uns bis dahin eingebettet gefühlt haben. Auch das löst jedoch keine Angst aus; es ist, so Wu-men weiter, als ob wir das große Schwert des mythischen Generals Guan an uns gerissen und in die Hände genommen hätten. Dieses Schwert verleiht uns eine Selbstgewissheit und Freiheit, die sich durch nichts einschüchtern und beengen lässt: Wenn du dem Buddha begegnest, tötest du den Buddha; wenn du einem Patriarchen begegnest, tötest du den Patriarchen! Diese metaphorische Aussage findet sich bereits im Lin-ji Lu von 1120, und Wu-men mag sie von dorther übernommen haben. Und in beiden Fällen hat sie es nicht darauf abgesehen, geradewegs die Existenz einer ewigen ›Buddha-Natur‹ zu leugnen. Vielmehr will auch Wu-men an dieser Stelle lediglich darauf hinaus, dass wir uns um die Lehren Buddhas und aller nachfolgenden Patriarchen den Teufel kümmern müssen. Allerdings gehört zu diesen Lehren – zumindest innerhalb des Mahâyâna-Buddhismus – auch und gerade die Existenz einer ewigen ›Buddha-Natur‹, die folglich gleichfalls dem Verdikt zukünftiger Ungültigkeit verfällt. So bestätigt Wu-men nachträglich, wenn auch nur indirekt, noch einmal, dass er es mit seinem wú, seinem ›Da ist nichts!‹, darauf abgesehen hat, nicht nur dem fragenden Mönch, sondern auch uns den Glauben an eine ›Buddha-Natur‹ auszutreiben.

Allerdings ist es dabei keineswegs Wu-mens Absicht, uns in Verzweiflung und Nihilismus versinken zu lassen. Das Eintauchen ins ›Da ist nichts!‹ versetzt uns zwar an die Grenze von Leben und Tod, also dorthin, wo Leben in Sterben übergeht, aber auch umgekehrt Sterben in Leben. Und demgemäß ist das zugleich der Ort, wo wir das Große Wohlbefinden erlangen und den samâdhi des spielerisch-vergnüglichen Schlenderns erfahren – auch wenn wir uns mitten darin gar nicht mehr dessen bewusst sind, dass dieses ›spielerisch-vergnügliche Schlendern‹ ein Zustand der Versenkung ist. Das Kôan 1 Wu-men-guan, das mit seiner radikalen Verneinung einer ›Buddha-Natur‹ auf den ersten Blick lediglich zerstörerische Negativität ausstrahlt (auch das eine Formulierung Wu-mens), ist im Gegenteil ein emphatisches Hoffnungsversprechen, das Versprechen eines ›Großen Wohlbefindens‹ oder, wie sich Wu-men gleichfalls ausdrückt, eines freudevollen Glücks!

Wu-men steht mit seiner Kritik an einer ewigen ›Buddha-Natur‹ keineswegs allein; er hat seine Vorläufer. Da ist vor anderen Xue-dou Zhong-xuan (980 – 1052) zu nennen, der die Kôan des Bi-yan-lu zusammengestellt und mit erläuternden ›Lobgesängen‹ versehen hat. Der Nächste ist Yuan-wu Ke-qin (1063 – 1135), der Xue-dous Werk als Vorlage benutzt, diese durch ›Ankündigungen‹ zu jedem einzelnen ›Beispiel‹ sowie eingestreute Kommentare erweitert und das Ganze unter dem Titel Bi-yan-lu im Jahr 1128 veröffentlicht hat. Sehen wir also zu, was diese Beiden in Sachen ›Buddha-Natur‹ zu sagen haben.

I.1 (2)

Da wäre zunächst das Kôan 4 Bi-yan-lu, zu dem die ›Ankündigung‹ Yuan-wus allerdings nicht überliefert ist:

Als De-shan zu Wei-shan kam, stieg er, mit seinem Kleiderbündel unter dem Arm, zur Lehrhalle hinauf und durchquerte sie von West nach Ost und von Ost nach West. Dann schaute er in die Runde und sagte: Wú, wú! Und sogleich ging er wieder hinaus. Als er jedoch bis zum Klostertor gekommen war, sagte er [sich]: »Mit Nachlässigkeit erreicht man nichts!« Und sogleich nahm er ein würdevolles Verhalten an und ging noch einmal [zu Wei-shan] hinein, ihm gegenüberzutreten. Als Wei-shan Platz genommen hatte, nahm De-shan sein Begrüßungstuch [vom Arm] hoch, [um es auszubreiten,] und sagte: »Ehrwürden …« Doch Wei-shan wollte sofort nach seinem Fliegenwedel greifen – da stieß De-shan sogleich einen Schrei aus, strich seine Ärmel glatt und ging [ein zweites Mal] hinaus. Kaum hatte er der Lehrhalle den Rücken gekehrt hatte, zog De-shan sich seine Strohsandalen an und nahm sogleich seine Wanderschaft wieder auf.

Am späten Abend fragte Wei-shan seinen Mönch vom Ersten Sitz: »[Dieser] Ankömmling, der hier vor kurzem eingetroffen ist, wo befindet der sich jetzt?« Der Mönch vom Ersten Sitz sagte: »Sobald er der Lehrhalle den Rücken gekehrt hatte, hat er seine Strohsandalen angezogen und ist davongegangen!« Da sagte Wei-shan: »Dieser junge Bursche wird sich später einmal oben auf einer einsamen Bergspitze eine Hütte aus Binsengras zusammenbinden und fortan Buddha und die Patriarchen mit Schmähungen überhäufen!«

Für Leser, die meine Bi-yan-lu-Ausgabe von 2013 nicht zur Hand haben, seien hier die einschlägigen Erläuterungen zu den dramatis personae wiederholt:

De-shan Xuan-jian (782 – 865), der spätere Lehrer Xue-fengs, aus dessen Nachfolgerschaft sowohl die für tausend Jahre verschollene Sammlung der Halle der Patriarchen (Zu-tang Ji) aus dem Jahr 952 als auch das vom Kaiserhof autorisierte und 1009 erstmals publizierte Jing-de Chuan-deng-lu, die Aufzeichnungen von der Weitergabe der Leuchte, hervorgegangen sind – dieser De-shan erscheint in den Song-zeitlichen Quellen als eine der Ausnahmegestalten aus der Frühzeit des Chan-Buddhismus. Anfangs – so die uns zugängliche Überlieferung – war er ein Vortragsreisender in Sachen Diamant-Sûtra und leidenschaftlicher Verfechter jener Variante der Buddha-Lehre, die dem Menschen Erleuchtung, also den Eintritt in die ›Leere‹, ins nirvâna, erst nach einer nahezu unendlichen Abfolge von Wiedergeburten zugesteht. Als ihm zu Ohren kam, dass sich da im Süden die unerhörte Irrlehre von der Möglichkeit der Erleuchtung bereits in diesem einen Leben und obendrein in einem einzigen Augenblick ausgebreitet hatte, machte er sich umgehend, im Vertrauen auf seine gelehrten Studien und seine Beredsamkeit, auf den Weg, dieser Ketzerei ein Ende zu bereiten. Doch schon unterwegs erlitt er eine vollständige Niederlage: Eine alte Frau, die am Wegesrand kleine Stärkungen anbot und der er sich als stolzer Spezialist für das Diamant-Sûtra zu erkennen gegeben hatte, wollte ihm nur unter einer Bedingung die begehrte Kleinigkeit verkaufen: dass er ihr eine Fangfrage beantwortete: Im Sûtra heißt es: ›Den vergangenen Geist kannst du nicht fassen, den gegenwärtigen Geist kannst du nicht fassen, den zukünftigen Geist kannst du nicht fassen – welchen Geist also wollt Ihr stärken?‹ De-shan war fassungslos. Er muss so verwirrt und erstarrt dagestanden haben, dass die Alte ihn kurzerhand an Chong-xin, den Abt des Klosters auf dem nahe gelegenen Long-tan-shan, dem Berg ›Drachenteich‹, verwies.

Dort angekommen, widerfuhr ihm noch am selben Tag seine endgültige Verwandlung vom Chan-Vernichter zum späteren Chan-Großmeister mit erheblicher Fernwirkung über viele Generationen hinweg: Als er sich, nach einer ersten, zeremoniellen Begrüßung, am Abend noch einmal bei Long-tan eingefunden und, bescheiden zur Seite dastehend (er, der einst so hochgemute De-shan!), den Ausführungen des Abtes gelauscht hatte, forderte der ihn gegen Mitternacht auf, sich endlich zurückzuziehen. De-shan aber schreckte vor der Dunkelheit draußen jäh zurück und wollte gerade nach einer Kerze greifen, die Long-tan ihm zum Schein hinhielt, als dieser die Kerze wieder ausblies. Dieser plötzliche Absturz in die Finsternis löste bei De-shan (so Yuan-wu) das Große Erwachen aus. Auf die Frage Long-tans, was für eine Einsicht ihm denn gekommen sei, erklärte De-shan, nie wieder und nirgendwo im ›großen Reich der Tang‹ die Worte Long-tans in Zweifel ziehen zu wollen. Das klingt, auf den ersten Blick, recht schwach; doch tatsächlich ist es der endgültige Widerruf seiner ursprünglichen Absicht, die Lehre des Chan ein für alle Mal auszurotten. Dementsprechend revanchiert sich Long-tan, indem er vor seinen Mönchen De-shan zu einem Mann erklärt, dessen Zähne einem Baum aus Schwertern und dessen Mund einer Schale voll Blut gleichen, der sich auch dann nicht umwendet, wenn er einen Schlag auf den Kopf empfängt, und der, so prophezeit Long-tan, eines Tages oben auf einer einsamen Bergspitze seine Lehre als Fanal aufrichten wird. Folgerichtig verbrennt De-shan am nächsten Tag vor den Augen der Mönchsgemeinde sein Diamant-Sûtra samt all seinen Kommentaren und begibt sich auf die übliche ›Wolken und Wasser‹-Wanderschaft, die ihn, mehr oder weniger umweglos, zu Wei-shan führt.

Dieser Wei-shan (771 – 853) – das ist kein anderer als der ehemalige Mönch Ling-you, den Bai-zhang, Dharma-Nachfolger des Patriarchen Ma, unter ungewöhnlichen Umständen ausgesandt hatte, den gleichnamigen Berg zu ›öffnen‹ und dort ein Kloster zu errichten: Um unter seinen Mönchen einen geeigneten Kandidaten für diese ›Berg-Öffnung‹ zu finden, hatte er ihnen die Aufgabe gestellt, eine irdene Wasserflasche, die er vor sie hingestellt hatte, anders als mit ihrem angestammten Namen zu bezeichnen; der Mönch vom Ersten Sitz, dem diese Aufforderung vor allem galt, wusste sich nur mit einer reichlich ungeschickten Formulierung zu helfen, aber Ling-you tat nur einen Sprung und stieß die Flasche mit einem Fußtritt um. Das und nur das war nach Bai-zhangs Geschmack, der ihn daraufhin zum ›Berg-Öffner‹ ernannte und so – nach dem Namen des Berges – zu Wei-shan machte. Weishan, nur elf Jahre älter als De-shan, war zum Zeitpunkt ihres Zusammentreffens längst ein erfahrener Seelenführer seiner Mönchsgemeinde.

Nun also das Kôan, das von seinem erzählerischen Aufwand her das genaue Gegenteil zu Wumens Kôan 1 darstellt: langatmig, detailversessen und doch von gleicher Brisanz, nur dass diese Brisanz in der Fülle der Einzelheiten unterzugehen droht.

De-shan, soeben in Wei-shans Kloster eingetroffen, begibt sich also – so die Anekdote, die das ›Beispiel‹ des Kôan 4 Bi-yan-lu bildet – schnurstracks in die Lehrhalle, in der gerade die Mönche versammelt sind, um Wei-shans Lehrvortrag zu lauschen. Man stelle sich vor: De-shan betritt die Halle auf der Westseite, auf der Nordseite sitzt der Abt auf seinem ›Lehrstuhl‹ und unterbricht vermutlich beim Anblick des Fremden seinen Vortrag, und die Mönche nehmen, dem Abt gegenüber, den südlichen Teil der Halle ein. De-shan geht geradeaus zur Ostseite hinüber, ohne sich auch nur im Geringsten um Wei-shans Anwesenheit zu kümmern, macht eine Kehrtwendung und geht zum Eingang auf der Westseite zurück; dort wendet er sich noch einmal um, sagt laut und deutlich Wú, wú! und tritt wieder ins Freie hinaus. Wei-shan hat sich nicht gerührt; wir können auch sagen: er hat sich diesen Auftritt ungerührt angeschaut. Die Mönche hingegen dürften fassungslos gewesen sein – fassungslos angesichts eines kaum noch zu überbietenden Verstoßes gegen das Zeremoniell der Höflichkeit.

Was soll das, werden sie sich gefragt haben, und was das soll, hängt ausschließlich davon ab, wie De-shans Wú, wú! zu verstehen ist. Auch dieses doppelte wú kann, genau wie das wú in Hong-zhis Version des ›Hunde-Kôan‹, zunächst einmal ›Nein!‹ bedeuten. Aber da dieses doppelte wú hier nicht auf eine Frage antwortet, die es verneinen könnte, wäre es als eine allgemeine, die gesamte Situation umfassende Verneinung zu verstehen: Das alles hier kann nicht auf meine Anerkennung rechnen! Der Mann da ist kein Abt, der etwas taugt, und die ganze Veranstaltung hier ist keine Lehrrede, die Anspruch darauf hätte, ernst genommen zu werden!

Wäre das Kôan so gemeint, hätten wir also das doppelte wú als ein ›Nein! Nein!‹ aufzufassen, dann müssten wir es als den hochmütigem Auftritt eines noch jungen Mannes deuten, der so sehr von seinem jüngst bei Long-tan erfahrenen Großen Erwachen (so – siehe oben – Yuan-wu) erfüllt ist, dass es ihm das Recht zu solch anmaßendem Gebaren zu geben scheint.

Eine derartige Lösung vermag freilich nicht so recht zu befriedigen, weil sie zu viel menschliche Schwäche ins Spiel bringt. Aber es bleibt ja noch eine andere Möglichkeit – die Möglichkeit, De-shans Wú, wú! als ›Nichts! Nichts!‹, und das heißt, als ›Da ist nichts! Da ist nichts!‹ zu verstehen. Damit bekommt die Situation einen ganz anderen Sinn:

Die De-shan/Wei-shan-Szene spielt sich in einer Lehr- oder Dharma-Halle ab, in der per definitionem der Buddha-Dharma vorgetragen und erläutert wird. Wenn da ein noch recht junger Heißsporn auftritt und vor aller Augen und Ohren sein ›Da ist nichts! Da ist nichts!‹ verkündet, so heißt das: Was auch immer die Lehre Buddhas und der Patriarchen behauptet – da ist nichts! Kein ›ewiger Buddha‹ am Grund der Welt, keine ›Buddha-Natur‹ als das Wesen aller Dinge also, aber auch keine ›Soheit‹, keine shûnyatâ und kein dharmakâya, also keine ›wahre Wirklichkeit‹ (›Soheit‹, shûnyatâ und dharmakâya stellen an dieser Stelle freilich einen Vorgriff auf Späteres dar; nur zur shûnyatâ so viel: Es ist kein geringerer als Xue-dougewesen, der im ›Lobgesang‹ zu seinem Kôan 6 – wie bereits berichtet – von sich selbst erklärt: Nur zu, ich schnipse sie mit meinen Fingern weg, bedauernswerte shûnyatâ!).

So verstanden, nämlich als Leugnung ›heiliger‹ Wesenheiten, wäre De-shans Auftritt kein Affront mehr Wei-shan gegenüber, auch keine Demonstration überhöhten Selbstwertgefühls, sondern nur noch (nur noch?) ein Kommentar zur Buddha-Lehre, im günstigsten Fall die komprimierte Formulierung einer Lehre, die nichts zu lehren hat – weil da, worüber sie meint etwas lehren zu können, in Wahrheit nichts ist.

Doch Vorsicht: De-shans Wú, wú, wenn als die Leugnung ›heiliger‹ Wesenheiten gemeint und verstanden, kann mit seiner Aussage, dass hinter den Dingen nichts, aber auch gar nichts ist, zugleich auch als Hinweis auf die shûnyatâ , ja als deren regelrechte Definition gelesen werden, dergestalt dass die shûnyatâ ja eben darin bestehen soll, dass da letztlich nichts, aber auch gar nichts existiert. Dann wäre allerdings De-shans Auftritt keiner gegen die Existenz einer shûnyatâ, sondern liefe im Gegenteil auf deren Bekräftigung hinaus. Doch wir Heutig-Morgigen geben uns mit dieser ›schwachen‹, weil allzu nachsichtigen Interpretation nicht zufrieden. Wir haben es im Gegenteil auf eine ›starke‹ Deutung abgesehen, die aus De-shans ikonoklastischem Auftritt die letztmögliche Konsequenz zieht: dass in sein doppeltes ›Da ist nichts!‹ auch noch die shûnyatâ mit einbezogen ist, dass sein Wú, wú letztlich auch noch darauf abzielt, dem Mahâyâna-Glauben an eine shûnyatâ den Boden zu entziehen.

Wie dem auch sei – was erfahren wir sodann über Wei-shans Reaktion auf den Auftritt des hitzköpfigen De-shan? Nichts, oder vielmehr dies: dass er eben nicht reagiert. Er schaut dem Spiel wortlos, reglos zu; er lässt, ohne einzugreifen, geschehen, was da geschieht. Xue-dou allerdings sieht sich zu einem Kommentar veranlasst: Geprüft und entlarvt! Xue-dou will uns damit verraten, was seinem Urteil nach bei De-shans Auftritt in Wei-shan vorgegangen ist: Ich schaue mir Deinen Auftritt an und durchschaue, was Du sagen willst! Wei-shan also hat verstanden – aber wie er es verstanden hat, das wissen wir immer noch nicht! Und ebenso wenig, ob er zustimmt oder nicht!

Eines freilich wird auch für uns gleich deutlich: dass De-shan seinen Auftritt als Aufforderung zu einem Dharma-Gefecht und zugleich auch schon als seinen Beitrag zu diesem Dharma-Gefecht verstanden wissen will (ob Wei-shan freilich dieser Aufforderung entspricht oder nicht, das bleibt jedoch schon wieder in der Schwebe, weil sein Schweigen sowohl Verweigerung bedeuten kann als auch seine Art, sich an dem angebotenen ›Schlagabtausch‹ zu beteiligen). De-shan nämlich ruft, kaum dass er die Lehrhalle verlassen hat, sich selbst zur Ordnung: Mit Nachlässigkeit erreicht man nichts! Und was kann das schon sein, was er hat erreichen wollen? Eine Gegen-Äußerung, versteht sich, an der er sich reiben kann oder die ihn bestätigt. Und genau das macht ein Dharma-Gefecht aus: mit einer Äußerung zum eigenen Verständnis der Buddha-Lehre den anderen zum Widerspruch oder zur Zustimmung zu zwingen – oder zum Eingeständnis seiner Inkompetenz.

De-shan nimmt also einen zweiten Anlauf; und diesmal soll alles nach der gehörigen Ordnung ablaufen: Er lässt dem Abt seinen Besuch ankündigen, begibt sich in den Raum, in dem der Abt Besucher zu empfangen pflegt, wartet, bis der Abt den Raum betritt und Platz genommen hat, nimmt dann das Knietuch, das er gefaltet über dem Arm trägt und für die respektvolle Niederwerfung auf dem Boden ausbreiten muss, hält es in die Höhe, um es besser entfalten zu können – doch dann gerät schon wieder alles aus den Fugen. Denn statt erst einmal seine Begrüßung auszuführen, spricht De-shan – ist das Ungeduld, ist das Überheblichkeit? – sogleich den Abt an: ›Ehrwürden …‹ Wei-shan aber lässt ihn gar nicht weiter zu Wort kommen und tut so, als wollte er nach seinem Fliegenwedel greifen, dem Zeichen seiner Würde als Abt. Da war wohl nur eine leichte seitliche Bewegung mit der Hand, doch De-shan missdeutet diese Geste, unterstellt dem Abt, ihn mit seinem Wedel in die Schranken weisen zu wollen, und setzt sich mit einem lauten Schrei zur Wehr. Ein solcher Akt der Selbstbehauptung wäre freilich gar nicht nötig gewesen, und der fluchtartige Abgang aus Lehrhalle und Kloster war sogar die falsche Reaktion. Denn Wei-shan hat nur so getan, als wollte er zum Wedel greifen; er hätte jedoch die Bewegung gar nicht zu Ende geführt. Was er mit diesem Unterlassen hat signalisieren wollen, ist, dass für eine Zurechtweisung kein Anlass bestand; dass De-shan, mit anderen Worten, seines, Wei-shans, Einverständnisses hätte sicher sein können.

De-shan jedoch hat es gar nicht so weit kommen lassen; er hat Wei-shans geplanter Unterlassung gar keine Chance gegeben, sich als Unterlassung zu enthüllen. Stattdessen dieser voreilige Schrei, dieser voreilige Aufbruch. Und folgerichtig sagt der ›Lobgesang‹ von ihm: Ungeduldig geht [der eine] davon! Beides, De-shans Schrei wie auch seinen jähen Rückzug aus den Abtsräumen, kommentiert Xue-dou mit einem zweiten Geprüft und entlarvt! Inwiefern das? Was hat denn Wei-shan mit seinem Schein-Griff nach dem Wedel an ihm aufgedeckt? Nun, seinen Stolz, den Stolz auf sein Großes Erwachen, von dem er noch ganz durchdrungen ist – einen Stolz, der es ihm nicht erlaubt, wenn auch nur zu Unrecht für einen Anfänger gehalten zu werden, der sich weiterer Belehrung nicht widersetzen darf.

Genau so schätzt Wei-shan seinen ungestümen Besucher nun gerade nicht ein, wie die abschließende Szene zeigt: Gegenüber seinem Mönch vom Ersten Sitz bekennt Wei-shan, was er in Wahrheit von seinem höchst eigenwilligen Besucher hält: Dieser junge Bursche wird sich später einmal oben auf einer einsamen Bergspitze eine Hütte aus Binsengras zusammenbinden und fortan Buddha und die Patriarchen mit Schmähungen überhäufen! Diese hochpathetische Verkündung, die diejenige Long-tans teils wörtlich wiederaufnimmt, teils noch deutlich überbietet, und mit der Wei-shan, laut Xue-dou, den davongelaufenen Heißsporn wie an einer langen Leine festhält (›Nicht lässt der andere ihn los!‹, so der ›Lobgesang‹), sie besagt, wie leicht ersichtlich, dreierlei: Die Formel: oben auf einer einsamen Bergspitze spricht demjenigen, auf den sie gemünzt ist, den Status eines gewissermaßen Vollendeten zu, der auf dem Weg nach oben hin, also hinauf und hinein in die – vermeintliche – shûnyatâ, das Äußerste, das ›Da ist nichts!‹ bereits erreicht hat. Der zweite Bestandteil der Prophezeiung, der Hinweis auf De-shans zukünftige Hütte aus zusammengebundenem Binsen- oder Bambusgras, unterstreicht vordergründig die Ernsthaftigkeit und Rigorosität seiner zur Schau getragenen Ausrichtung nach oben hin – vordergründig deshalb, weil Xue-dou dieser Grashütte in der Schlusszeile seines ›Lobgesangs‹ noch eine ganz andere Nuance abzugewinnen vermag, die De-shans scheinbarer Ausrichtung nach oben hin die Spitze abbricht: Oben auf einsamer Bergspitze sitzt er im weichen Gras! So freilich, auf den ersten Blick gesehen, geht es allein darum, dass sich De-shan in seiner ›Überweltlichkeit‹ mit einem absolut unerlässlichen Mindestmaß an irdischem Wohlbefinden begnügt. Und dann, zum Schluss, der Paukenschlag: und fortan wird er Buddha und die Patriarchen mit Schmähungen überhäufen! Was für einen Grund aber könnte es in Wei-shans und vor allem in De-shans Augen geben, die großen Gründergestalten der Vergangenheit in Grund und Boden zu verdammen? Wenn wir uns an De-shans ›Da ist nichts! Da ist nichts!‹ erinnern, ist die Sache klar: Der Vorwurf, der Buddha (Shâkyamuni) und den Patriarchen nicht erspart werden kann, lautet: »Ihr hättet schweigen sollen, statt zu reden und zu reden und zu reden! Ihr wusstet doch, Ihr habt es ja selbst überhaupt erst aufgedeckt, dass es nichts zu sagen gibt – wie konntet Ihr da durch Eure endlosen Lehrreden die Menschen so in die Irre führen zu glauben, es gäbe da geheimnisvolle und erhebende Dinge auszusprechen!?« Und für Wei-shan selbst lässt sich aus diesem fulminanten Abschluss seiner Verkündung ableiten, dass er die Lage derer, die da nach oben hin unterwegs sind, genauso beurteilt wie sein kurzfristiger Gast – nämlich als Irrweg. Und dementsprechend kann Xue-dou mit seinem dritten Kommentar Wei-shan einer überflüssigen, nichts als redseligen Verdopplung zeihen: Auf Schnee noch Reif gehäuft!, und hinzufügen: Fast wäre er dabei gestürzt!

War das Ganze denn nun ein Dharma-Gefecht oder war es das nicht? Xue-dou immerhin sieht den Tatbestand eines solchen eindeutig gegeben. In seinem ›Lobgesang‹ setzt er De-shan einem der größten Helden der chinesischen Geschichte gleich: dem Reitergeneral Li Guang, der zu Beginn der Späteren Han-Dynastie in einer Schlacht gegen die übermächtigen Mongolen ganz allein in die tiefgestaffelten Reihen der Feinde eindrang, gefangen genommen wurde und im feindlichen Lager verwundet zwischen zwei Pferden gefesselt am Boden lag, sich jedoch zu befreien vermochte, um in einem günstigen Augenblick einen Mongolen von seinem Pferd zu stürzen, sich aufzuschwingen, davonzujagen und seine Verfolger mit dem erbeuteten Bogen erfolgreich abzuwehren. Xue-dou allerdings ändert die historische Vorlage mit Blick auf De-shan dahin ab, dass er seinen ›Helden‹ des Dharma-Gefechts ganz unversehrt davonkommen lasst – womit noch einmal unterstrichen wird, dass Wei-shan, sein Kontrahent, statt ihm am Zeug flicken zu wollen, ihn insgeheim mit voller Zustimmung bedenkt. Wei-shans Schweigen, Wei-shans nur vorgetäuschten Griff zum Fliegenwedel – beides dürfen wir also mit Xue-dous Einverständnis als dessen Beitrag zu dem ihm förmlich aufgezwungen Dharma-Gefecht begreifen.

Der ›Lobgesang‹ lautet:

Einmal ›Geprüft und entlarvt!‹, zweimal ›Geprüft und entlarvt!‹,

›Auf Schnee noch Reif gehäuft!‹ – Fast wäre er gestürzt!

Der Anführer der schnellen Reiterei: ein Gefangener im Lager der Feinde;

Ganz unversehrt zurückgekehrt – wie viele sind zu solcher Tat imstande?

Ungeduldig geht [der eine] davon, nicht lässt [der andere] ihn los!

Oben auf einsamer Bergspitze sitzt er im weichen Gras!

Pfui!

Es bleibt noch nachzutragen, inwiefern denn der Schluss des ›Lobgesangs‹ jener Hütte aus Binsengras, von der Wei-shan in seiner Prophezeiung gesprochen hat, die angedeutete ›ganz andere Nuance‹ verleiht, die Xue-dou ihr angeblich abzugewinnen vermag: Xue-dou macht – wie bereits zitiert – aus Wei-shans Worten die Zeile: Oben auf einsamer Bergspitze sitzt er im weichen Gras! Und fügt ein empörtes Pfui! hinzu. Deuten wir den ersten Teil, die Formel von der einsamen Bergspitze, als Hinweis auf eine Ausrichtung nach oben hin, mithin über die Welt hinaus in die Transzendenz des ›Da ist nichts!‹, dann stellt der zweite Teil› das Sitzen im weichen Gras, einen krassen Gegensatz dar, der davon spricht, dass ein Mann wie De-shan bei all seiner Ausrichtung nach oben hin zugleich sich hier im Irdischen wohl und zuhause fühlt: als jemand, der die Welt der Immanenz als so behaglich empfindet, dass er keines festen Daches über seinem Kopf bedarf, es ihm vielmehr ausreicht, sich zum Schlafen ein paar Büschel Bambusgras zu einem kleinen Zelt zusammenzubinden! Eine derartige Einstellung ist verständlicherweise für die Traditionalisten, die allein in der – vermeintlichen – shûnyatâ ihr Heil sehen, schlechterdings verabscheuenswert, und in eben diesem Sinne setzt Xue-dou sein Pfui! als Schlusspunkt ein. Doch dieses Pfui! ist reine Ironie! Xue-dou kaschiert damit nur seine volle Zustimmung!

Was aber fangen wir Heutig-Morgigen mit einer so wortreichen Geschichte (samt ihren noch wortreicheren Erläuterungen) wie dem Auftritt zwischen De-shan und Wei-shan an? Nun, zum einen zeigt sie uns, dass Chan-Meister wie Xue-dou und Yuan-wu schon weit vor Wu-men mit seinem Kôan 1 uns mit der Nase darauf haben stoßen wollen, dass hinter den Dingen nichts ist! Und zum anderen stellt diese Geschichte auch uns vor ein grundlegendes existenzielles Problem: Wie sein Leben führen, wenn es auf letzte Sinnfragen keine Antwort gibt, ja wenn letzte Sinnfragen, weil sinnlos, sich überhaupt verbieten? Wenn wir wissen, dass wir nicht wissen können, was hinter den Dingen ist und ob es ein solches ›hinter den Dingen‹ überhaupt gibt, wir uns vielmehr auf das Faktum einstellen müssen, dass hinter den Dingen schlichtweg nichts ist? Kann Leben unter solchen Umständen überhaupt etwas anderes sein als Verzweiflung oder der – verzweifelte – Versuch, diese Verzweiflung durch Vergnügen (die Vergnügungen der ›Spaßgesellschaft‹), den Rausch des Konsums, die Allgegenwart stimulierender Reize zu betäuben? Wie könnten wir – vorausgesetzt, wir sind dazu genötigt – ein Leben ohne Sinn, in einem Weltall gleichfalls ohne Sinn, so führen, dass wir, allem ›Da ist nichts!‹ zum Trotz, mitten im Irdisch-Hiesigen wie De-shan dasitzen im weichen Gras – klaren Geistes, gelassen, heiter, von Frieden erfüllt?

So hat das Kôan 4 Bi-yan-lu ein Doppelgesicht: Es verneint, wenn ganz zu Ende gedacht, nicht nur die Existenz einer mit der ›Buddha-Natur‹ gleichzusetzenden shûnyatâ und anderer gleichbedeutender Entitäten wie dharmakâya, dharmadhâtu, ›Soheit‹ etc.; es will uns darüber hinaus zugleich Mut machen, auch ohne eine ›Buddha-Natur‹ und seine vielfältigen Äquivalente – um Albert Camus‹ Äußerung zu Sisyphos aufzugreifen – glückliche Menschen sein zu können.

I.1 (3)

Noch eine weitere Chan-Anekdote beschäftigt sich mit der Frage: Eine ›Buddha-Natur‹ – ja oder nein? Allerdings geht sie diese Frage nicht mit der direkten Attacke eines ›Da ist nichts!‹ an (Wu-mens wú oder De-shans Verdopplung zu wú, wú), sondern auf dem Umweg über das, was übrig bleibt, wenn es eine ›Buddha-Natur‹ gerade nicht gibt. Es ist dies Xue-dous Kôan 51 Bi-yan-lu bzw. Hong-zhis um gute einhundert Jahre jüngeres Kôan 50 Cong-rong-lu, die in der Ausgestaltung der Anekdote bis auf ein, zwei Kleinigkeiten von Anfang bis Ende übereinstimmen. Ich halte mich hier an das Kapitel 51 Bi-yan-lu, das mit seiner ›Ankündigung‹, seinem ›Beispiel‹ und seinem ›Lobgesang‹ im Unterschied zum zuvor besprochenen Kôan 4 Bi-yan lu zu den vollständigen Kapiteln der Aufzeichnungen vor Smaragdener Felswand gehört. Hier zuerst das ›Beispiel‹:

Zu der Zeit, da Xue-feng in einer Einsiedlerhütte lebte, kamen einmal zwei Mönche, um ihm ihre Verehrung zu bezeugen. Als Xue-feng sie kommen sah, stützte er sich mit den Händen auf [das Unterteil] der Tür seiner Hütte, streckte seinen Oberkörper hinaus und sagte: »… ist was (shì shén-me)?« Einer [der beiden] Mönche sagte ebenso: »… ist was (shì shén-me)?« Xue-feng senkte seinen Kopf und zog sich in seine Einsiedlerhütte zurück.

Später kam [dieser] Mönch zu Yan-tou. Der fragte ihn: »Woher kommst [Du]?« Der Mönch sagte: »Von der Südseite des Passes.« Yan-tou sagte: »Bist [Du] auch bei Xue-feng gewesen?« Der Mönch sagte: »[Ja, ich] bin da gewesen.« Yan-tou sagte: »Welchen Ausspruch hast [Du mitgebracht]?« Der Mönch erwähnte den obigen Wortwechsel. Yan-tou sagte: »Was hat er [dann] gesagt?« Der Mönch sagte: »Ohne ein Wort hat er den Kopf gesenkt und sich in seine Hütte zurückgezogen.« Yan-tou sagte: »Ach, wie bedauerlich, dass ich ihm nicht gleich zu Beginn den allerletzten Satz verraten habe! Wenn ich ihm [den] verraten hätte, dann könnte kein Mensch unter dem Himmel dem alten Xue-feng noch etwas anhaben.«

Gegen Ende der Sommer-[Übungszeit] trug der Mönch dieses letztere Zwiegespräch noch einmal vor und bat um einen hilfreichen Hinweis. Yan-tou sagte: »Warum hast [Du das] nicht schon längst gesagt?« Der Mönch sagte: »[Ich habe] nicht gewagt, [es mir so] leicht [zu machen].« Yan-tou sagte: »Obwohl Xue-feng mit mir zusammen demselben Zweig entstammt, wird [er] nicht mit mir zusammen im selben Zweig sterben. [Wenn Du nun] den allerletzten Satz wissen willst: ›Nur dies ist der Fall‹ (zhĭ zhè shì)!«

Xue-feng Yi-cun (822 – 908) und Yan-tou Quan-huo (828 – 887) sind beide Dharma-Nachfolger des De-shan Xuan-jian (782 – 865; Kôan 4) und entstammen insofern – so Yan-tou in seiner Selbst-Auskunft – demselben Zweig am Stammbaum des Chan. Dass sie deshalb auch ein gemeinsames Verständnis des Chan besitzen, wie Xue-dou in seinem ›Lobgesang‹ folgert (›Demselben Zweig entstammen bedeutet ein gemeinsames Verständnis‹), besagt in seiner Abstraktheit wenig oder gar nichts. Wir müssen uns schon der besonderen Einstellung De-shans zuwenden, wenn wir Xue-dous Hinweis auf dieses vom gemeinsamen Lehrer vermittelte gemeinsame Verständnis mit Inhalt füllen wollen. Dazu brauchen wir uns freilich nur an das zuvor besprochene Kôan 4 Bi-yan-lu zu erinnern, in dem De-shan nach seiner zweimaligen Durchquerung der Lehrhalle Wei-shans samt völliger Nicht-Beachtung des gerade im Lehren begriffenen Abtes sein Wú, wú! ausruft, das entweder nur ›Nein! Nein!‹ oder gar ›Da ist nichts! Da ist nichts!‹ bedeutet. Die Deutungsmöglichkeit ›Nein! Nein!‹ entfällt, weil es – wie oben bereits erläutert – an der Situation, in die hinein dieses ›Nein! Nein!‹ fiele, nichts zu verneinen gibt. Und im zweiten Fall besagt De-shans Wú, wú!, dass an der gesamten Buddha-Lehre nichts ist, weil es angesichts des letzten Geheimnisses der Dinge nichts zu sagen gibt. Das wiederum erlaubt zwei unterschiedliche Deutungen, entweder dass sich über den tiefsten Grund der Welt, anders gesagt, über die allgemeine ›Buddha-Natur‹ nichts aussagen lässt, oder aber dass – weit radikaler – dort, wo buddhistische Tradition einen Grund der Welt in Gestalt einer ›wahren Wirklichkeit‹ vermutet, in Wahrheit nichts ist! Ich selbst habe mich anlässlich des Kôan 4 für diese zweite Möglichkeit entschieden, was aber nicht ausschließt, dass Xue-dou sich hier vorerst noch beide Varianten als gleichberechtigt offenhält. Das ergäbe dann das gemeinsame Verständnis, das Xue-feng und Yan-tou laut Xue-dou von De-shan übernommen haben. Das hiesige ›Beispiel‹ wird allerdings ans Licht bringen, dass die beiden Männer diesem gemeinsamen Verständnis jeweils eine andere Ausprägung gegeben und den entscheidenden Akzent jeweils anders gesetzt haben, weshalb Yan-tou davon sprechen kann, dass Xue-feng nicht mit mir zusammen im selben Zweig sterben wird. Xue-dou nimmt diese Aussage in seinem ›Lobgesang‹ auf: Nicht im selben Zweig sterben [heißt], zugleich ganz und gar verschieden sein! / Zugleich ganz und gar verschieden – Noch Gelbgesicht und Blauauge müssen [zwischen ihnen] unterscheiden! Es muss das ein ganz gravierendes Unterscheidungsmerkmal sein, wenn – wie Xue-dou es da formuliert – noch Buddha Shâkyamuni (das Gelbgesicht) und Bodhidharma (das Blauauge), beide Vertreter einer entschiedenen Jenseits-Ausrichtung (hier das nirvâna, dort die ›Leere‹ oder shûnyatâ), sich genötigt sehen, deutlich zwischen Xue-feng und Yan-tou zu unterscheiden! Worin die grundlegende Verschiedenheit in den Auffassungen der Beiden besteht, das sei hier vorweg schon einmal angedeutet: Der eine, Xue-feng, legt den Akzent auf die bloße Feststellung, dass sich über den letzten Grund der Dinge nichts aussagen lässt, was die Existenz eben dieses Grundes nicht ausschließt, wohingegen der andere, Yan-tou, sich bei einem gleichermaßen erzwungenen Verstummen darauf berufen wird, dass da am Grunde der Welt nun einmal nichts ist, keine ›Buddha-Natur‹, keine ›wahre Wirklichkeit‹, kurz, mit Bodhidharma gesprochen, nichts Heiliges, und dass sich deshalb – weil über nichts – auch nichts aussagen lässt.

Wenden wir uns nunmehr den Einzelheiten des ›Beispiels‹ zu. Es schildert ein Geschehen, das in drei Etappen vor uns abläuft. Die erste umfasst lediglich die kurze Begegnung zwischen Xue-feng und zwei Mönchen, die ihn in seiner Einsiedelei besuchen. Xue-feng hört sie kommen; sie machen sich ungewollt durch das Klimpern der Zinnringe oben an ihrem Wanderstab bemerkbar; Xue-feng streckt daraufhin den Oberkörper aus der Tür seiner Hütte und ruft ihnen, noch bevor sie sich verbeugen können, sein ›… ist was?‹ (shì shén-me) entgegen. Er will sie auf die Probe stellen, das Ausmaß ihrer Einsicht testen. Einer der Mönche weiß sich Rat; zumindest das Eine hat er auf seiner bisherigen ›Wolken und Wasser‹-Wanderschaft gelernt, dass es oftmals ein probates Mittel ist, statt des Versuchs einer eigenständigen Antwort einfach die an ihn gerichtete Frage zu wiederholen – dass sein zweites ›… ist was?‹ (shì shén-me), mit dem er Xue-fengs erstes ›… ist was?‹ (shì shén-me) kontern zu können meint, nicht tieferer Einsicht entspringt, zeigt der weitere Verlauf des Geschehens.

Sehen wir uns also Xue-fengs ›… ist was?‹ genauer an. Rein sprachlich fällt an der chinesischen Originalfassung der Frage shì shén-me auf, dass dasjenige, von dem da gefragt wird, was es sei, gar nicht vorkommt. Eine wörtliche Übersetzung der Frage muss daher die befremdliche Form: ›… ist was?‹ erhalten. Es handelt sich dabei um einen anderen Fragetyp als bei der häufig geäußerten Frage rú-hé shì fó, Was ist mit Buddha?, genauer gesagt: Welcher Zustand spiritueller Errungenschaft macht einen Buddha, macht Buddhaschaft aus? Die dem Fragetyp shì shén-me entsprechende Buddha-Frage hätte hingegen den Wortlaut fó shì shén-me, mit der Bedeutung: Was haben wir unter einem Buddha bzw. unter dem Buddha zu verstehen?, anders gesagt: Welche Merkmale und Eigenschaften weist ein Buddha bzw. der Buddha auf? Auf Xue-fengs shì shén-me angewandt ergibt sich so die Frage: Was haben wir darunter zu verstehen? – doch worunter? Genau das wird nicht erwähnt, wir müssen es also erschließen. Ein ›es‹, das wir bei Xue-fengs ›… ist was?‹ zu ergänzen geneigt sind, mag zwar durchaus Namen haben, einen oder auch mehrere; aber zugleich muss es etwas sein, dass sich durch keinen Namen tatsächlich bezeichnen, soll heißen, in dem, was es ist, bestimmen lässt, so dass alle Namen, die Menschen ihm je beigelegt haben, nur Metaphern sind, unzulängliche Metaphern obendrein. Für dieses X gibt es nur einen Kandidaten, der in der Tat vielerlei Namen trägt: ›Buddha-Natur‹, dharmakâya oder ›wahre Wirklichkeit‹, shûnyatâ, oder gar, höchst poetisch, unser ursprüngliches Antlitz, noch bevor unsere Eltern geboren waren. Dass nun keiner dieser Namen das Unbekannte und Unbenennbare beschreibt, für das er steht, und dass das auch sonst kein Name leisten kann – das eben drückt sich in Xue-fengs Frage shì shén-me durch den Wegfall dessen aus, von dem gefragt wird, was es sei. Das aber bedeutet, dass Xue-feng schon mit der Formulierung seiner Frage zugleich auch die Antwort auf seine Frage gibt, nämlich dass das, was sonst ›Buddha-Natur‹, dharmakâya und so weiter heißt, ein unbenennbares und unerkennbares Etwas, oder richtiger gesagt, ein Unbenennbares und Unerkennbares ist (denn korrekterweise lässt sich von ihm auch nicht einmal aussagen, dass es ein Etwas ist). Xue-fengs shì shén-me