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Der greise Zhao-zhou! Der greise Zhao-zhou! Unruhe in den Chan-Klöstern zu stiften – noch im hohen Alter hört er nicht damit auf! Wieder einmal tritt hier Zhao-zhou hervor, mittlerweile 88 Jahre alt und notorischer Unruhestifter – um seine bisherigen Aufmüpfigkeiten fort-, vor allem aber, man staune, um sie zu Ende zu führen. Er will mit der Welt des Zen seinen Frieden schließen und nimmt dabei in Kauf, noch einmal anzuecken und vor den Kopf zu stoßen. Das aber nur, um umso deutlicher vor Augen zu stellen, warum und inwiefern Zen für ihn unverzichtbar geworden ist. Zhao-zhou bedient sich dazu der Antithese von Weißer Jade und falschem Gold. Weiße Jade, das ist ihm auch heute noch bewusst, hat im alten China als höchste Kostbarkeit gegolten und war allein dem Kaiser als dem Sohn des Himmels vorbehalten. Ebenso hegt unser Zhao-zhou keinen Zweifel daran, dass niemand, der echtes Gold in Händen halten möchte, sich mit falschem Gold zufrieden geben kann. Nun also ‚Zen – Weiße Jade, falsches Gold’: Die Geschichte des Chan/Zen weist bis hinein in die Gegenwart unserer persönlichen Praxis außergewöhnliche Stärken, aber auch erhebliche Schwächen auf. Die einen verdienen es, herausgestellt und gewürdigt zu werden; die anderen gilt es schonungslos beim Namen zu nennen: hier die Positionen, denen wir nicht nur unsere Zustimmung nicht versagen können, die wir vielmehr ganz entschieden für unabdingbar halten müssen, und dort diejenigen, die unsere gut begründbare Kritik auf sich ziehen und es sich gefallen lassen müssen, von uns verworfen zu werden. Gerade Letztere kommen oft mit einem Anschein unzweifelhafter Autorität daher, als seien sie, weil scheinbar selbstverständlich, aller Kritik enthoben. Was wir Heutigen gleichwohl als unhaltbar ansehen müssen, kann sich, so sicher es auch durch Tradition etabliert und geschützt sein mag, nicht dagegen wehren, die Einschätzung als falsches Gold hinnehmen zu müssen – wohingegen das, woran wir festhalten sollten, weil es unserem eigenen Zen-Weg neue und unerwartete Wendungen zu geben vermag, zu Recht den Ehrentitel Weiße Jade tragen darf.
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Der greise Zhao-zhou! Der greise Zhao-zhou!
Unruhe in den Chan-Klöstern zu stiften –
noch im hohen Alter hört er nicht damit auf!
Meinen früheren Büchern habe ich in der Regel dieses Cong-rong-lu-Zitat vorangestellt, um den Leser, die Leserin darauf vorzubereiten, dass es mit der Aufmüpfigkeit meiner Gedankengänge unerbittlich weitergehen soll. Doch irgendwann muss mit all diesen Ketzereien einmal Schluss sein, wird der eine oder die andere sich denken. In der Tat, mit den nachfolgenden Aufzeichnungen will ich mich ein letztes Mal auf Zhao-zhou berufen und das, was ich bisher in seinem Namen betrieben habe, endgültig und im eigenen Namen abschließen.
Weiße Jade, soviel vorweg, galt im alten China als höchste Kostbarkeit und war dem Kaiser als dem Sohn des Himmels vorbehalten. Wer von uns aber möchte sich schon mit falschem Gold betrügen lassen?
Das Buch, das Sie hier in Händen halten, fasst – den ›Parerga und Paralipomena‹ Schopenhauers vergleichbar – Themen zusammen, die mich bereits seit 2016, seit dem Erscheinen von ›ZEN – vom Kopf auf die Füße gestellt‹, beschäftigt haben, und verleiht den zugehörigen Gedankengängen neue Aktualität. Wenn das unter dem Titel ›Zen – Weiße Jade, falsches Gold‹ geschieht, so soll mit dieser Formulierung angedeutet sein, dass die Geschichte des Chan/Zen bis hinein in die Gegenwart unserer persönlichen Zen-Praxis erhebliche Stärken und nicht minder große Schwächen aufweist, die es herauszustellen und – die einen – zu würdigen bzw. – die anderen – beim Namen zu nennen gilt: einerseits Positionen, denen wir nicht nur unsere Zustimmung nicht versagen können, die wir vielmehr ganz entschieden für unabdingbar halten müssen, und andererseits diejenigen, die unsere gut begründbare Kritik auf sich ziehen und es sich gefallen lassen müssen, von uns verworfen zu werden.
Gerade Letztere kommen oft mit dem auf Tradition beruhenden Anschein von Autorität daher, als seien sie, schon weil scheinbar selbstverständlich, unantastbar. Was wir Heutigen gleichwohl als unhaltbar ansehen müssen, kann sich, so sicher es auch durch Tradition etabliert und geschützt sein mag, nicht dagegen wehren, die Einschätzung als falsches Gold hinnehmen zu müssen – wohingegen das, woran wir festhalten sollten, weil es unserem eigenen Zen-Weg neue und unerwartete Wendungen zu geben vermag, zu Recht den Ehrentitel Weiße Jade tragen darf.
Nehmen wir ihn beim Wort, den längst dahingegangenen Ahnherrn des heute noch lebendigen und weitverzweigten Rinzai-Zen:
›[Ich,] der Mönch vom Berge [hier, habe] keinen einzigen Dharma, [den ich] den Menschen geben [könnte]; es ist nur so, [dass ich] Krankheiten heile [und] Fesseln löse.‹
Doch ohne Zweifel hat der historische Lin-ji Yi-xuan (gest. 866), anders als sein Alter Ego im Lin-ji Lu von 1120 von sich selbst aussagt, sehr wohl einen Dharma, eine Lehre sein Eigen genannt. Denn was sollte beispielshalber die Behauptung von dem einen ›wahren Menschen‹, der da während der Lehrvorträge Lin-jis in Gestalt der versammelten Mönche ›vor mir steht, durch Eure Sinne ein- und ausgeht‹ und genau das versteht, was die Mönche eben nicht verstehen – was sollte diese Behauptung anderes sein als ein vermutlich sogar wesentlicher Bestandteil des Dharma, den Lin-ji seinen Mönchen verkündet hat?
Den historischen Lin-ji stellt das Lin-ji Lu eindeutig als Schüler und Dharma-Nachfolger Huang-bos dar; obendrein hat seine Lebenszeit die seines Lehrers nur um 16 Jahre überschritten. Ist es da denkbar, dass sich von den Lehren Huang-bos in den Äußerungen Lin-jis, soweit sie von seinen unmittelbaren Schülern schriftlich festgehalten worden sind, keine Spuren erhalten haben oder dass sich gar Lin-ji so weit von Huang-bo entfernt, sich so radikal von ihm abgewandt hat, dass der Dharma seines Lehrers in seinen Augen keinerlei Gnade mehr gefunden hat? Beide Fragen – zweifellos rein rhetorischer Natur – lassen sich mit einem eindeutigen Nein beantworten.
Andererseits ist das Lin-ji Lu, so wie wir es heute in seiner Endfassung lesen, erst 250 Jahre nach dem Tode dessen entstanden, dessen Lehrreden und Aussprüche da angeblich versammelt sind. Sollten diese 250 Jahre ihrerseits spurlos am Inhalt des Lin-ji Lu vorübergegangen sein? Ist das Lin-ji Lu tatsächlich das, als was es sich ausgibt: ein Gebilde aus einem Guss, das die Lehre seines Tang-zeitlichen ›Helden‹ historisch getreu wiedergibt? Oder haben sich in einen ursprünglich Tang-zeitlichen Text Elemente des Song-zeitlichen Chan eingeschlichen oder ihn gar in etwas anderes verwandelt, als er ursprünglich gewesen ist? Gibt es also Brüche inhaltlicher Art innerhalb des Lin-ji Lu? Oder sind sogar Tang-zeitliches und Song-zeitliches Chan in ihm scheinbar unauflöslich ineinander verschlungen? Um das im Einzelnen zu überprüfen, soll der Text der Endfassung von 1120 zum einen auf Huang-bo-Reminiszenzen und zum anderen, ja vor allem auf Anzeichen eines Song-zeitlich gewandelten Lin-ji hin untersucht werden.
II.
Machen wir uns von vornherein klar, dass wir mit dem Lin-ji Lu ein Produkt der Song-Zeit vor uns haben, genauer gesagt, der Zeit der Nördlichen Song-Dynastie (960 – 1126) – eine Monographie, die gleichwohl vorgibt, die Lehren und Aussprüche eines Chan-Meisters der Tang-Zeit (618 -906) authentisch wiederzugeben. (In der Tat muss es eine solche tatsächlich authentische Wiedergabe einmal gegeben haben, und zwar zusammengestellt von Lin-jis unmittelbarem Nachfolger San-sheng Hui-ran, der damit sozusagen eine Urfassung des Lin-ji Lu geschaffen hat, die jedoch komplett verloren gegangen ist.) Das Lin-ji Lu von 1120 hingegen, das mit seinem uns erhaltenen Vorläufer, der Lin-ji-Darstellung des gleichfalls Song-zeitlichen Tian-sheng Guang-deng-lu von 1029, inhaltlich identisch ist, spiegelt die besondere Bedeutung wieder, die das ›Haus Lin-ji‹ im China des 12. Jahrhunderts mittlerweile bis hinauf zum Kaiserhof erlangt hat: Ist schon das Tian-sheng Guang-deng-lu von einem Mitglied des Kaiserhauses persönlich zusammengestellt und von einem Kaiser höchstselbst mit einem Vorwort versehen worden, so zeigt das Lin-ji Lu mit seiner Umstellung des Xing-lu-Teiles, der ›Lehr- und Wanderjahre‹ eines Chan-Meisters (üblicherweise zwecks Herleitung von Legitimation durch Einfügung in eine anerkannte Traditionslinie wie ›Ma-zu – Baizhang – Huang-bo – Lin-ji‹ an den Anfang einer Meister-Monographie gerückt), umgekehrt an den Schluss des Lin-ji Lu, dass die Autorität eines Lin-ji im Jahr 1120 derart unangefochten war, dass eine Legitimation durch Anschluss an bedeutende Vorgänger nicht mehr erforderlich war. (Ich folge mit diesen Aussagen der Darstellung Albert Welters in seinem 2008 erschienenen Buch The Linji Lu and the Creation of Chan Orthodoxy. The Development of Chan's Records of Sayings Literature – einer Darstellung, auf die ich auch im Folgenden immer wieder zurückgreifen werde. Bei meinen Zitaten aus dem Lin-ji Lu beziehe ich mich hingegen auf The Record of Linji, translation and commentary by Ruth Fuller Sasaki, edited by Thomas Yuho Kirchner aus dem Jahr 2009.)
Beginnen wir also mit Lin-jis ›wahrem Menschen ohne Status‹ (wú-wèi zhēn rén), von dem es gleich zu Beginn des Lin-ji Lu heißt (Lehrreden III, S. 129): ›In dem roten Klumpen Eures Fleisches steckt ein (und nur ein) wahrer Mensch ohne Status, der durch die Tore Euer aller Gesichter ein- und ausgeht! Ist es zu weit hergeholt, in diesem einen wahren Menschen den einen Geist zu vermuten, der laut Huang-bo das wahre oder ›Buddha-Wesen‹ aller Dinge, namentlich der geistbegabten, darstellt? Dieser eine Geist am Grund der Welt ist zugleich der individuelle Geist eines jeden von uns, anders gesagt, dasjenige, was jede einzelne Geistesregung in jedem einzelnen Menschen überhaupt erst ermöglicht. Um zu diesem einen Geist, der letztlich Nicht-Geist ist, in uns selbst vorzudringen, müssen wir laut Huang-bo lediglich aufhören zu denken und damit auch selbst zu Nicht-Geist werden. Huang-bo nennt das den ›einen Sprung in das Land des Tathâgata‹.
Und in der Tat findet sich in den Vorläufern des Lin-ji Lu, im Zong-jing-lu von 961 sowie im Jing-de Chuan-deng-lu von 1004, folgender Eintrag (ich zitiere Welters Übersetzung, S. 133f.): »Therefore, I, a mountain monk, tell you clearly: within the body-field of the five skandhas there is a true man with no-rank, always present, not even a hair's breadth away. Why don't you recognize him? This thing called mind has no form; it pervades the ten directions. In the eye we call it sight; in the ear we call it hearing; in the hand it grasps; in the feet it rushes along. If mind does not exist, wherever you are, you are liberated.« Wichtig ist besonders der letzte Satz, der auf Chinesisch lautet: xīn ruò bū zài suí-chù jiĕ-tuò, und mit seinem xīn ruò bū zài besagt: ›Wenn es kein Denken [mehr] gibt, [bist du], wo auch immer [du dich befindest], befreit!‹ Das entspricht genau der Parole Huang-bos, dass wir allein dadurch, dass wir nicht mehr denken, zu Nicht-Geist, zu dem einen Nicht-Geist am Grund der Welt werden und dort einen ›geheimnisvollen Frieden‹ sowie das ›Glück und Wohlergehen‹ der Befreiung erfahren. Einen deutlicheren Beleg dafür, dass der historische Lin-ji in die Fußstapfen seines Lehrers Huang-bo getreten ist und mit seinem ›wahren Menschen ohne Status‹, der obendrein ›alle zehn Richtungen‹, also das gesamte Universum ›durchdringt‹, lediglich dessen Lehre vom einen Geist metaphorisch umschrieben hat, kann es nicht geben! – Diese offenkundige Anlehnung an Huang-bo findet im Lin-ji Lu ihre eindeutige Bestätigung; dort heißt es nämlich (Lehrreden III, S. 165): ›[Die Ihr] dem Fließen des DAO [folgt], das Ding [mit dem Namen] Geist ist ohne Form und durchdringt die Zehn Richtungen [des Universums]. In den Augen heißt [sein Wirken] Sehen, in den Ohren Hören, in der Nase Riechen, beim Mund Sprechen, bei den Händen Ergreifen und bei den Füßen Laufen. … [wenn] es dann den einen Geist nicht [mehr] gibt, [bist du], wo auch immer [du dich befindest], befreit!‹ Dass dabei nicht das Denken, sondern der eine Geist negiert wird, entspricht gleichfalls der Lehre Huang-bos, insofern ja die verheißene Befreiung erst durch Ankunft im Nicht-Geist eintritt.
Zurück zum Abschnitt Lehrreden III, S. 129. Was sich an das einleitende Zitat anschließt, ist das genaue Gegenteil zu solcher Anlehnung an Huang-bo und damit Song-zeitlicher Zusatz: Wie üblich nach Lehrreden eines Meisters tritt einer der anwesenden Mönche vor und stellt dem Meister eine Frage: Rú-hé shì wú-wèi zhēn rén, ›Was hat es auf sich mit dem wahren Menschen ohne Status?‹, woraufhin der Lin-ji des Lin-ji Lu entgegnet: Wú-wèi zhēn rén shì shén-me gān shĭ-jué, ›Der wahre Mensch ohne Status – was für ein eingetrockneter Kotspatel!‹ Das ist – man kann es drehen, wie man will – mehr als nur eine Zurückweisung des Mönchs, ähnlich einem plötzlichen Schlag, wie er in der Hong-zhou-Schule seit Ma-zu üblich gewesen sein soll; das ist eine eklatante Abwertung, wenn nicht gar ein Widerruf des ›wahren Menschen ohne Status‹! Noch im Zu-tang-ji von 952, einem weiteren Vorläufer des Lin-ji Lu, hat es noch geheißen (abermals zitiert nach Welter, S. 134): Wú-wèi zhēn rén shì shén-me bū jìng zhi wù, ›Der wahre Mensch ohne Status – was für ein unreines Ding (unreines Etwas) ist das!‹ Das ist jedoch weder eine Ohrfeige für den Mönch noch eine Abwertung des zhēn rén: Wenn dieser ›wahre Mensch‹ am Grund der Welt als einer ›ohne Status‹ definiert wird, dann besagt das lediglich, dass er – metaphorisch gesprochen – unterhalb aller gesellschaftlichen Schichtung angesiedelt ist, ähnlich den Unberührbaren im indischen Kastensystem oder den Burakumin im feudalen Japan. Den ›wahren Menschen‹ so verstanden, ist seine Kennzeichnung als ein ›unreines Etwas‹ nur eine Umschreibung dessen, dass er ganz unten steht, gleichsam unter allem, und dementsprechend, wie die Unberührbaren Indiens, in Schmutz und Elend lebt und, wie im feudalen Japan die Burakumin, für alle schmutzigen Arbeiten zuständig ist. Auf den ›wahren Menschen‹ übertragen, entsprechen sein Unten-Sein und seine Unreinheit uralten daoistischen Vorstellungen von Überlegenheit und Einfluss, etwa dem Axiom, dass ›das Tal nur deshalb der König aller Flüsse sein kann, weil es ganz unten ist‹ oder dass ›der Weise nur dadurch das Volk auf den rechten Weg führen kann, dass er allen Schmutz auf sich nimmt‹!
Mit der Kennzeichnung shén-me bū jìng zhi wù, ›was für ein unreines Etwas‹, weist der Lin-ji des Zu-tang-ji also bloß auf einen zusätzlichen Aspekt seines ›wahren Menschen‹ am Grund der Welt hin, wertet diesen jedoch in keiner Weise ab oder verwirft ihn gar. Ganz anders steht es mit der Formel gān shĭ-jué des Lin-ji Lu von 1120 oder auch schon des Guang-deng-lu von 1029: ›Ein eingetrockneter Kotspatel‹ – das ist eine eindeutige Abwertung, etwa in der Art: ›Der wahre Mensch ohne Status – das ist nur ein Stück ekelerregenden Schmutzes! Besser, du lässt die Hände davon!‹ Und wenn gar als: ›Am besten, du wendest dich für immer von ihm ab!‹ formuliert, läuft es darauf hinaus, den ›wahren Menschen‹ sogar ganz zu verwerfen! Damit widerriefe der Lin-ji des Lin-ji Lu in Übereinstimmung mit späteren Selbstaussagen eben das, was für den historischen Lin-ji das Wichtigste gewesen sein muss: seine metaphysische Grundannahme eines verlässlichen und uns allem Übel enthebenden wahren Wesens aller Dinge, einschließlich unserer selbst.
III.
Gleich zu Beginn des Lin-ji Lu ist davon die Rede (Lehrreden I, S. 117), dass der Gouverneur Rat Wang, ranghöchster kaiserlicher Verwaltungsbeamter der betreffenden Provinz und zugleich auch für das Kloster Lin-jis zuständig, diesen inständig darum gebeten habe, ihm selbst und seinem gesamten Beamtenstab die Grundzüge der Buddha-Lehre darzulegen, und dass Lin-ji vor den versammelten Gästen auch eingewilligt habe, eben das zu tun. Doch dann folgt unmittelbar eine Aufforderung Lin-jis an seine Mönche, sich einem Dharma-Gefecht mit ihm selbst zu stellen. Und in der Tat meldet sich ein Mönch zu Wort und stellt genau die dem Wunsch des Rates Wang entsprechende Frage nach der hauptsächlichen Bedeutung der Buddha-Lehre, worauf Lin-ji ihn mit einem Schrei abfertigt: Soll dieser Schrei etwa die Buddha-Lehre sein, die Lin-ji dem Gouverneur versprochen hat? Wohl kaum. Es folgen weitere kurze oder auch längere Dharma-Gefechte, bis Lin-ji schließlich – S. 126 – erklärt, dass er mit all diesen Wortwechseln lediglich ›Schlingpflanzen‹ ausgebreitet habe und deshalb befürchten müsse, mit weiteren Aktionen der gleichen Art lediglich den Gouverneur und seinen Beamtenstab in ihrem berechtigten Wissensdurst zu behindern. Wie wahr! Was das Lin-ji Lu da bisher vorgeführt hat, ist alles andere als eine Lehrrede, die dem Ansinnen des Gouverneurs auch nur entfernt entsprochen hätte. Dasselbe Spiel wiederholt sich im nachfolgenden Abschnitt Lehrreden II, S. 128: Auch hier wird betont, dass derselbe Gouverneur Lin-ji abermals um einen Dharma-Vortrag gebeten habe; und wieder folgt, statt der erbetenen Belehrung, ausschließlich ein Dharma-Gefecht, sogar eines mit Handgreiflichkeiten. Der Hinweis darauf, dass sich der Gouverneur dabei betrogen fühlen muss, fehlt hier allerdings.
Und doch muss der historische Lin-ji Lehrreden herkömmlicher Art gehalten haben, erst recht, wenn er wie im Falle des Gouverneurs Rat Wang von einflussreichen Amtsträgern eigens darum gebeten worden ist. Das belegt die Fortsetzung des bereits zitierten wú-wèi zhēn rén-Passus aus dem Zong-jing-lu (Welter, S. 133f.), die im Übrigen im Lin-ji Lu im Anschluss an das dortige wú-wèi zhēn rén-Pendant (Lehrreden X, S. 166) nahezu wortgleich wiederkehrt. Und zwar fordert dort Lin-ji seine Mönche dazu auf, sowohl dem ›Belohnungs‹-Buddha (bào-fó) als auch dem ›Verwandlungs‹-Buddha (huà-fó) den Kopf abzuschlagen, mit anderen Worten, sich sowohl den Sambhogakâya als auch den Nirmânakâya aus dem Sinn zu schlagen – was nur noch den Dharmakâya übrig lässt, der uns schon von Huang-bo als identisch mit wahren Buddha, dem einen Geist und Nicht-Geist am Grund der Welt, anempfohlen worden ist, wohingegen auch Huang-bo bereits erklärt hat, dass Sambhogakâya (bào-shēn) und Nirmânakâya (huà-shēn) nicht der wahre Buddha sind. Es folgt sowohl im Zong-jing-lu als auch im Lin-ji Lu eine sukzessive Abwertung aller anderen Verfahren, sich dem wahren Buddha zu nähern und in ihn einzutreten: ›Selbst Bodhi und Nirvâna sind nur Pflöcke, um Esel und Pferde daran festzubinden!‹ Auch diese Abwertung geschieht ganz im Sinne Huang-bos, der neben dem ›einen Sprung in das Land des Tathâgata‹ jedes andere Bemühen als unzureichend und untauglich verworfen hat.
Dass jedoch gleich zu Beginn des Lin-ji Lu dort, wo zweimal hintereinander eine Lehrrede eingefordert wird, stattdessen nur Frage-und-Antwort-Episoden und Dharma-Gefechte dargeboten werden, zeigt, wie weit sich das Song-zeitliche Chan vom eher traditionsverhafteten Chan der Tang-Zeit entfernt hat: Diese Wortwechsel verkörpern genau das, womit der oder die Verfasser des Lin-ji Lu den Vorlieben ihrer potentiellen Adressaten, der am Chan interessierten Mitglieder der Bildungs- und Beamtenelite, am ehesten entsprechen zu können geglaubt haben!
Und noch etwas fällt in diesem Zusammenhang auf: dass im frühen Zong-jing-lu der Hinweis auf den wú-wèi zhēn rén, den ›wahren Menschen ohne Status‹, seine Gleichsetzung mit dem Geist am Grund der Welt und die Lehrrede über die Unzulänglichkeit traditioneller Übungswege und -ziele ein Ganzes bilden, wohingegen im Lin-ji Lu (Lehrreden III, S. 129) die erste Erwähnung des ›wahren Menschen‹ von der des einen Geistes und der anschließenden Lehrrede getrennt wird. Das bedeutet zweierlei: Der wú-wèi zhēn rén wird in der Einprägsamkeit und Eigenständigkeit seiner formelhaften Bezeichnung betont und als originäre Erfindung Lin-jis hervorgehoben, wohingegen die Verknüpfung des einen Geistes und der Warnung vor Irrwegen bei der Annäherung an diesen Geist (Lehrreden X, S. 165f.) einerseits die Nähe des historischen Lin-ji zu Huang-bo durchscheinen lässt und zugleich andererseits die Abhängigkeit auch noch des Song-zeitlich überformten Lin-ji von der Lehre Huang-bos herunterspielt: Der Song-zeitliche Lin-ji – das ist zum einen der Lin-ji des verbalen oder auch tätlichen ›Elektroschocks‹ und zum anderen der Lin-ji eben des wú-wèi zhēn rén, eines ›wahren Menschen ohne Status‹, der zu einem ›eingetrockneten Kotspatel‹ degradiert ist.
Und das, obwohl dieser ›wahre Mensch ohne Status‹ in den Lehrreden des Lin-ji Lu kein zweites Mal auftritt. Stattdessen ist, abschwächend formuliert, immer wieder mal von dem ›einen Menschen‹ die Rede, der ›gerade jetzt vor meinen Augen meinem Dharma zuhört‹, der, ›wo auch immer er sich befindet, durch nichts behindert wird, die Zehn Richtungen durchdringt und in allen Drei Welten frei ist‹. Das alles klingt nach dem einen Geist Huang-bos, dem Geist am Grund der Welt. Und so überrascht es nicht, von einem Menschen, der mit diesem einen Geist eins geworden ist, zu lesen, dass er, ›wenn er in Feuer eintritt, keine Verbrennungen davonträgt‹; dass er, wenn er ›ins Wasser gerät, nicht ertrinkt‹, und dass er, in die Drei Höllen der Erde hineingeraten, dort ›einherschlendert wie in einem Aussichtspark‹. Auch darin folgt Lin-ji seinem Lehrer Huang-bo, der einem solchen Menschen ein ungehindertes Umherschweifen ›in die Kreuz und in die Quer‹ auf dem ›Schauplatz des DAO‹ verheißen hatte.
Die Anlehnung an Huang-bo tritt jedoch nirgends so deutlich zutage wie dort, wo Linji explizit Huang-bos Terminus ›Geist‹ aufnimmt und diesen Geist mit dem Dharma gleichsetzt: ›Was ist der Dharma? Der Dharma ist der Dharma, der Geist ist. Dieser Geist ist ohne Form und durchdringt die Zehn Richtungen [des Universums]‹ (Lehrreden XI, S. 180) oder ›Welchen Dharma lege ich dar? [Ich] lege den Dharma des Geistes als Grund [der Welt] dar‹ (ebd. S. 181) oder ›Euer Geist und der [eine] Geist sind nicht verschieden‹ (Lehrreden XVII, S. 220) sowie ›Außerhalb des Geistes gibt es keinen Dharma‹ (ebd. S. 210) – ein Axiom, das Huang-bos Grundsatz entspricht, dass es über den einen Geist hinaus keinen anderen Dharma gibt.
So verrät noch das Song-zeitliche Lin-ji Lu, dass wir in Lin-ji einen Chan-Meister der Tang-Zeit vor uns haben, der jedoch nur die eine Seite jenes Lin-ji darstellt, der den ikonoklastischen Tendenzen der Song-Zeit nahesteht.
IV.
Da ist der historische Lin-ji eben noch nicht müde geworden, uns zu versichern, dass unser individueller Geist und der Ursprungs-Buddha nicht voneinander verschieden sind (yŭ zŭ-fó bū bié); da hat er mit Enthusiasmus davon gesprochen, dass wir in der Welt endlos unterwegs sein können, ohne dabei unsere Heimat, den Ursprungs-Buddha als Grund der Welt, zu verlassen (lún-jiè zài tŭ zhōng, bū lí jiā-shè) – und schon tritt uns unvermittelt ein anderer Lin-ji entgegen:
Einer, der erklärt: ›Was mich betrifft, so habe ich keinen Dharma, keine Lehre, die ich anderen Menschen weitergeben könnte‹ (shān sēng wú yī fă yŭ rén: Lehrreden XVIII, S. 237), und das, obwohl im selben Lin-ji Lu zuvor noch wiederholt von dem einen Geist als alleinigem Dharma die Rede gewesen ist. Und weiter: ›Es ist nur so, dass ich ausschließlich Krankheiten heile und Fesseln löse‹ (qí shì zhì bìng jiĕ fú: ebd.) – also auch die Fesseln, mit denen wir uns selbst an einen Buddha oder Geist als Grund der Welt und unser wahres Wesen binden!
Ein
Lin-ji
, der dazu auffordert,
›jedesmal, wenn ihr, sei's im Inneren, sei's im Äußeren, einem/ dem Buddha begegnet, den Buddha zu töten; wenn ihr einem Patriarchen oder Lohan/Arhat begegnet, den Patriarchen oder Lohan/Arhat zu töten‹
(
xiàng lĭ xiàng wài, féng-zhù biàn shā, féng fó shā fó, féng zŭ shā zŭ, féng luó-hàn shā luó-hàn
: ebd., S. 236); ein Lin-ji, der auch jeden anderen in diese Blutorgie einbezieht, der – zumindest nach den Grundzügen konfuzianischer Ethik – Anspruch darauf erheben kann, als Autorität Gehorsam zu verlangen: Vater, Mutter, nahe Verwandte:
›Erst dann habt ihr Befreiung erlangt‹
(
shĭ dé jiĕ-tuò
: ebd.).
Der uns belehrt:
›Macht nicht Buddha zu etwas Letztem und Höchstem; wie ich es sehe, ist er nur wie eine (stinkende) Kotgrube; Bodhisattva und Lohan/Arhat – sie sind gänzlich nur hölzerne Halskragen mit Schloss, Dinge um Menschen zu fesseln‹
(
mò jiāng fó wéi jiù-jìng; wŏ jiàn yóu-rú sì-kōng; pú-sā luó-hàn, jìn shì jiā-suŏ, fú rén dī wù
: ebd., S. 279)
Oder der verfügt:
›Innerhalb der Welt und außerhalb der Welt gibt es keinen Buddha, keinen Dharma; … gesetzt den Fall, es gäbe derlei, wären das alles nur Namen, Worte und schöne Redewendungen, um kleine Kinder zu verführen‹
(
shì yŭ chū shì wú fó wú fă; … shè yŏu zhe, jiē shì míng yán zhāng jù, jiē-yĭn xiăo ér
: ebd., XXI, S. 273).
Dieser andere Lin-ji, das ist auch der Lin-ji, der von sich selbst sagt: ›Nach außen hin anerkenne ich kein ›gewöhnlich‹ und kein ›heilig‹, und nach innen wohne ich nicht in einem Ursprung (einem Grund der Welt)‹ (wài bū qŭ fán shèng, nèi bū zhù gēn-bĕn: ebd., S. 184) – eine Aussage, die in augenfälligem Widerspruch steht zu der oben zitierten emphatischen Feststellung, dass es möglich sei – und wer, wenn nicht Lin-ji selbst, sollte das aus Erfahrung sagen können – ›endlos unterwegs zu sein, ohne dabei unser Heim / unsere Heimat verlassen zu haben!‹
Das ist gleichfalls auch der Lin-ji, der seine Schüler ermahnt, dass es zur Befolgung des Buddha-Dharma keiner besonderen Anstrengung bedarf: ›Seid einfach nur gewöhnlich und ohne Angelegenheit (qí shì píng-cháng wú-shì), indem ihr scheißt, pisst, eure Kleidung anlegt, euren gekochten Reis esst und, wenn euch Müdigkeit überkommt, euch schlafen legt‹ (ebd., S. 185) – wobei das píng-cháng genau das ›gewöhnlich‹ bedeutet, das jedem Zen-Praktizierenden aus dem bekannten Zwiegespräch zwischen Zhao-zhou und Nan-quan geläufig ist: ›Was ist mit dem DAO?‹ – ›DAO ist gewöhnlicher Geist!‹ und wobei dieser Geist eben deshalb ›gewöhnlich‹ ist , weil er – wú-shì – keine Angelegenheiten hat, also nichts erst noch leisten muss.
Dieser andere Linji, der mit seiner ›Buddha-Schlächterei‹ jegliche Metaphysik verwirft, er verweist seine Mönche und damit auch uns auf das rein Innerweltliche: ›Ihr habt doch einen Vater und eine Mutter, wonach sucht ihr dann also noch?‹ – zu Deutsch: »Euch fehlt doch nichts; was ihr zum Leben und Überleben braucht, das habt ihr von euren Eltern mitbekommen! Und folglich gibt es nichts, keinen Buddha, keinen Dharma, keine Befreiung, was ihr noch nötig hättet!« Anders gesagt: »Für euer Leben hier in der Welt – und auf nichts anderes müsst ihr euer Streben richten – seid ihr von Natur aus hinreichend ausgestattet!« (ebd., S. 173). Oder, wie der angebliche Lin-ji des Lin-ji Lu selbst sagt: ›Wer ohne Angelegenheiten ist, der ist der Edle‹ (wú-shì shì guì rén) – also nicht derjenige, der das Außerordentliche will, etwa über die Welt hinaus – ›[daher kommt es für euch darauf an,] nur nichts bewerkstelligen zu wollen (dàn mò zào-zuò) – seid vielmehr nur gewöhnlich‹ (qí shì píng-cháng: alle Zitate ebd., S. 178).
Versuchen wir ein Resümee:
Der Lin-ji der drastischen Formulierungen – ›eingetrockneter Kotspatel‹, stinkende ›Kotgrube‹, ›scheißen‹, ›pissen‹ – das ist, wie Welter am Beispiel des ›wahren Menschen ohne Status‹ nachgewiesen hat, eine spätere, eine Song-zeitliche Zutat.
Und diesen
Song
-zeitlichen
Lin-ji
, den ›Buddha-Killer‹, und nur ihn, können wir Mythen-Skeptiker uns zum Vorbild nehmen, weil er es uns erlaubt, aus dem Gefängnis überkommener mythisch-metaphysischer Weltdeutungen auszubrechen und uns neueren wissenschaftlichen Einsichten zu öffnen, so als wären sie ein freies Gefilde, in das wir mit dem ›anderen‹
Lin-ji
hinaustreten.
Insgesamt jedoch bleibt das
Lin-ji Lu
von 1120 mit seiner nahezu unentwirrbaren Verflechtung von
Tang
-zeitlicher Metaphysik nach Art
Huang-bos
und
Song
-zeitlicher Bilderstürmerei weit hinter der eindeutigen Radikalität des
Wu-men-guan
von 1229 zurück. Es ebnet grundlegende Unterschiede ein und gibt vor, am Leben erhalten zu können, was mit der Vollendung des chinesischen Chan seither dem Tod überantwortet ist. Ein eindeutiges Bekenntnis zu der endgültigen Befreiung hingegen, die der ›andere‹
Lin-ji
uns verheißt, nämlich der Befreiung von einem ›Buddha-Wesen‹ als Grund und Ursprung der Welt, das angeblich unser aller ›wahres Wesen‹ darstellt, die leistet das
Lin-ji Lu
nicht.
Andersherum:
Wenn wir uns stattdessen geradewegs und ausschließlich an diesen ›anderen‹ Lin-ji halten, dann ergibt sich ein abweichendes, höchst erstaunliches Fazit. Da haben also die Song-zeitlichen Kompilatoren des Lin-ji Lu ihrer ›Idealfigur‹ zur Kennzeichnung eines ›Buddha-Wesens‹ Formulierungen wie ›stinkende Kotgrube‹, ›eingetrockneter Kotspatel‹ oder ›hölzerner Halskragen‹ in den Mund gelegt: Eine ›stinkende Kotgrube‹ ist etwas, vor dem man Reißaus nimmt oder das man zuschütten muss; ein ›eingetrockneter Kotspatel‹ kommt zunächst in einen Sammelbottich, um dann zusammen mit den anderen entsorgt zu werden, und ein ›hölzerner Halskragen‹ ist etwas, das man unbedingt und schleunigst loswerden möchte. Derlei Aussagen sind, für sich genommen, unbestreitbar radikaler Ikonoklasmus, nebenbei gesagt, ein Ikonoklasmus, der hinter der Radikalität des Wu-men-guan keineswegs zurückbleibt, ja, in der Drastik der Wortwahl Wu-mens Insistieren auf seinem ›Da ist nichts!‹ sogar in den dunkelsten Schatten stellt. Für uns Heutige aber bedeutet der radikale Ikonoklasmus des ›anderen‹ Lin-ji so etwas wie eine historische Rechtfertigung der in unseren Augen längst überfälligen Abschaffung einer metaphysischen Entität genannt ›Buddha-Wesen‹ oder ›Buddha-Natur‹ ( fó-xìng). Mit dem ›anderen‹ Lin-ji können wir nämlich sagen, dass unsere hartnäckige Ermahnung, einer im japanischen Zen immer noch als gültig behaupteten ›Buddha-Natur‹ ein für alle Mal den Glauben aufzukündigen, nichts anderes besagt als ›Krankheiten zu heilen und Fesseln zu lösen.‹
Dann aber kommt, in eben der Zeit, da Wu-men an seiner Sammlung von 48 Kôan arbeitet, der ›tumbe‹ Mönch Dôgen aus dem für die Chinesen rückständigen ›Land der aufgehenden Sonne‹ ins Song-zeitliche ›Reich der Mitte‹ und – ist schockiert! Er trifft in diversen Klöstern auf Mönche, die ganz im Sinne des ›anderen‹ Lin-ji ›einfach nur gewöhnlich und ohne Angelegenheit‹ sind und die nichts anderes tun als ›zu scheißen, zu pissen, ihre Kleidung anzulegen, ihren gekochten Reis zu essen und, wenn sie Müdigkeit überkommt, sich schlafen zu legen‹. Dôgen, dem der soteriologische Hintergrund dieser Art von Mönchsleben unbekannt ist, kann darin nur den völligen Verfall der ›heiligen‹ Buddha-Lehre erkennen und sich entsetzt abwenden. Nicht so wir Heutigen. Denn für uns, die wir das ›Scheißen, Pissen, Reis-Essen, Sich-schlafen-Legen‹ für rhetorische Übertreibungen halten, hat das ›seid einfach nur gewöhnlich und ohne Angelegenheit‹ (das daoistische píng-cháng wú-shì) des ›anderen‹ Lin-ji eine durchaus spirituelle Bedeutung. Es stellt die verkappte Herausforderung dar, uns auf unsere irdisch-vergängliche Existenz zu beschränken, ohne dabei nach einem Ewigen zu schielen, und – durch die Zen-Übung – einen Zustand zu erreichen, der uns den realen Beeinträchtigungen wie Verlust, Krankheit, physischem Verfall mit Gleichmut entgegentreten lässt, der unweigerlich bevorstehenden Auslöschung im physischen Tod ihren Schrecken nimmt und über all das hinweg uns befähigt, in dieser unserer allzeit gefährdeten Existenz nachhaltiges Glück zu empfinden. Kurz, der ›andere‹ Lin-ji könnte uns, wenn wir sonst keinen hätten, hinreichender Anlass sein, mit dem japanischen Zen unter Rückgriff auf das chinesische Chan so zu verfahren, dass aus einer Religion als sehnsüchtiger Hingabe an ein Höheres und vermeintlich Sinnstiftendes (aber was für ein Sinn könnte darin liegen, in einer abstrakten ›Buddha-Natur‹ aufzugehen?) eine spirituell fundierte Vertiefung in unsere – je eigene – vergängliche und gleichwohl erfüllende Existenz wird. Zu solcher Erfüllung bedarf es nämlich einer geglaubten ›Buddha-Natur‹ durchaus nicht; denn was das spirituelle Verschwinden in ihr eben als Verschwinden leistet, das leistet genauso das Eintauchen in Wu-mens ›Da ist nichts!‹, anders gesagt, das Kôan MU.
Welche Unverfrorenheit, eine solche Frage überhaupt zu äußern! Dôgen, einer der Giganten des japanischen Zen, der mit seinem Shôbôgenzô ein über die Jahrhunderte ausstrahlendes spirituelles Werk geschaffen hat! Doch gemach! Ob Lehrmeinungen und Maximen einen Fortschritt oder Rückschritt darstellen, hängt allein von der Bezugsgröße ab: wem gegenüber fort- oder rückschrittlich? Und in diesem Fall sei von vornherein klargestellt, dass die nachfolgenden Überlegungen ihre Bezugsgröße im chinesischen Chan der Song-Zeit haben.
Aber kann es denn einen nachvollziehbaren Anlass geben, Dôgen ausgerechnet am Songzeitlichen Chan zu messen? Nun, Dôgen hat bekanntlich in den Jahren 1223 bis 1227 einen mehrjährigen China-Aufenthalt absolviert, bei dem er sich insbesondere einem Meister der Cao-Dong-Schule angeschlossen hat. Dieser Aufenthalt fällt in die Blütezeit des Songzeitlichen Chan – sind doch in genau diesen Jahren zwei der drei bedeutendsten Gong-an-oder Kôan-Sammlungen entstanden, nämlich das Cong-rong-lu, die ›Aufzeichnungen aus der Klause der Gelassenheit‹, im Jahr 1224 aus eben der Cao-Dong-Schule hervorgegangen, und wenige Jahre später das Wu-men-guan, die ››Da ist nichts‹-Sperre vor dem Tor des Chan‹, von einem späten Angehörigen des ›Hauses Lin-ji‹ verfasst und 1229 mit einem Vorwort versehen dem Kaiser Li-zong zugesandt.
Und nicht nur das: Dôgen hat von seinem China-Aufenthalt obendrein eine komplette Abschrift der ältesten der drei Kôan-Sammlungen, des Bi-yan-lu von 1128, die sog. Abschrift der einen Nacht, mit nachhause gebracht und zusätzlich auch noch eine von ihm selbst zusammengestellte Sammlung von 300 Kôan, das Shôbôgenzô Sambyakuzoku. Schon das erweckt den Anschein, als sei Dôgen bei seiner Rückkehr nach Japan ganz vom Geist des Song-zeitlichen Chan durchtränkt gewesen. Oder täuscht dieser Eindruck? Wie also steht Dôgen da im Vergleich zu den Song-zeitlichen Tendenzen des chinesischen Chan?
Soviel fällt sofort ins Auge: Von dem umstürzlerischen Impetus der drei genannten Kôan-Sammlungen ist bei Dôgen nichts zu spüren. Ganz im Gegenteil: Dôgens Darlegungen sind durch und durch konservativ und verraten außerdem ein erhebliches Maß an einem magischen Denken, das zu dem aufklärerischen Gestus des Song-zeitlichen Chan, vorsichtig ausgedrückt, nicht so recht passen will!
Gehen wir in die Einzelheiten. Da wird der Mythos von den sechs Vorläufern des historischen Buddha, die in je einem der längst vergangenen Kalpas denselben Dharma verkündet haben, den Buddha Shâkyamuni im gegenwärtigen Weltalter gelehrt hat, als unumstößliche Wahrheit ausgegeben und obendrein immer wieder dazu benutzt, den unbedingten Wahrheitsanspruch des gegenwärtigen Buddha-Dharma, genauer gesagt, des von Dôgen propagierten, zu untermauern. Zusätzlich greift Dôgen nicht minder häufig auf die Lehre von einer authentischen Übertragung des Dharma zurück, bei der nicht die geringste Abweichung inhaltlicher und spiritueller Art eintritt und der Empfänger zu einem absolut identischen Buddha wird, wie es sein Vorgänger ist bzw. gewesen ist. Diese dogmatische Überhöhung der Dharma-Übertragung dient dem Nachweis, dass auch heute noch (und ebenso in Zukunft) die Lehrauffassung eines Meisters, der den Dharma von einem seinerseits als Buddha ausgewiesenen Lehrer erhalten hat, mit dem Dharma Buddha Shâkyamunis und aller ihm vorausgegangenen sechs Buddhas bis in die letzten Feinheiten identisch ist! Mit einem solchen Anspruch vertritt Dôgen einen radikalen Konservativismus, der ihn freilich nicht davon abhält, wissentlich oder unwissentlich allerlei Umdeutungen tradierter Lehrinhalte einzuführen. Das gilt allerdings nicht für Dôgens Vorliebe, sich immer wieder mit ausführlichen Zitaten auf altehrwürdige und ihm als uneingeschränkt autoritativ geltende Sûtren zu berufen.
Konservativ ist auch Dôgens Einstellung gegenüber der Geschichte des chinesischen Chan. Bodhidharma hat für ihn den Rang einer unumstrittenen Leitfigur, die mit ihrer Versenkungspraxis die authentische Lehre Buddha Shâkyamunis wieder zum Leben erweckt hat, und das ausgerechnet im weit abgelegenen China – die übrigen 27 indischen Patriarchen vor Bodhidharma haben sich in Dôgens Augen, mit Ausnahme Nâgârjunas und seines Schülers Kanadeva, der Entfremdung von der ursprünglichen Buddha-Lehre schuldig gemacht! (Dass Dôgen damit seiner eigenen Lehre von der identischen Übertragung widerspricht, sei hier nur am Rande erwähnt.)
Mit seiner Berufung auf die ›leuchtende Perle‹, die das ganze Universum erfüllt, stellt sich Dôgen unmissverständlich auf die Seite des Tang-zeitlichen Chan – Xuan-sha Shi-bei, der Urheber der axiomatischen Aussage ›Das ganze Universum ist eine leuchtende Perle‹, ist mit seinen Lebensdaten 835 – 908 ein jüngerer Zeitgenosse Huang-bos in den letzten Jahrzehnten der Tang-Dynastie, gleichwohl noch ganz vom Geist des Tang-zeitlichen Chan durchdrungen: Die für diese Phase des Chan typische Metaphysik einer höheren und wahren Wirklichkeit, hier gekleidet in die Metapher einer ›leuchtenden Perle‹, findet Dôgens ungeschmälerte Zustimmung: ›Das ganze Universum ist der wahre Körper der Wirklichkeit!‹ (Nishijima I, S. 64).
In der Standard-Ausgabe von Ôkubo Dôshû, Shôwa 44 (1969), lautet der betreffende Satz: zen shin kore shin jitsu tai nari, ›Der ganze Körper [shin] ist der wahre Körper [tai] der Wirklichkeit‹ (Ôkubo I, S. 61). Mit zumindest der gleichen Berechtigung kann dieser Satz auch als ›Der ganze Körper [shin] ist der Körper [tai] der wahren Wirklichkeit‹ übersetzt werden. Dann aber drängt sich sofort die Frage auf, was denn unter dem ›ganzen Körper [shin]‹, der da der ›Körper (tai) der wahren Wirklichkeit‹ sein soll, zu verstehen sei. Die Antwort kann nur lauten, dass der ›ganze Körper‹ auf die ›leuchtende Perle‹ zielt, was zu der durchaus sinnvollen Aussage führt, dass eben diese ›leuchtende Perle‹ als der ›ganze Körper‹ [hinter den Erscheinungen] der ›Körper der wahren Wirklichkeit‹ ist! Wenn Nishijima gleichwohl übersetzt: »Das ganze Universum ist der wahre Körper der Wirklichkeit!«, so legt das den Eindruck nahe, er wolle damit Dôgens Tendenz unterstreichen, die alte Mahâyâna-These der Einheit von Nirvâna und Samsâra, anders gesagt, von ›Prinzip‹ und ›Phänomenen‹, zu neuem Leben erwecken. Gerade das jedoch hat Xuan-sha mit seiner ›leuchtenden Perle‹ nicht gemeint: Geht es Dôgen um eine Aufwertung der Erscheinungen, so hat Xuan-sha es auf die umgekehrte Aufwertung des ›wahren Wesens‹ hinter den Erscheinungen abgesehen.
Dôgens Hinwendung zum Tang-zeitlichen Chan lässt sich auch mit seiner Übernahme des Axioms jí xīn shì fó, ›Also der Geist ist Buddha‹ belegen: Dieser Grundsatz gilt der Überlieferung nach als Wortschöpfung des Ma-zu Dao-yi und wurde in der Hong-zhou-Schule von einer Generation an die nächste weitergegeben; eine besondere Rolle spielt er bei Huang-bo, der ihn zur Grundlage seiner Lehräußerungen macht – im Song-zeitlichen Wu-men-guan hingegen wird das Bekenntnis zu ›Also der Geist ist Buddha‹ als Irreführung verworfen (Kôan 30). Dôgen jedoch stimmt in Soku shin ze butsu vorbehaltlos zu, wobei er obendrein genau die Schriftzeichen verwendet, die auf Chinesisch eben jí xīn shì fó lauten. Wenn Nishijima freilich formuliert: »Geist hier und jetzt ist Buddha«, so wäre es verfehlt, ihm das als Übersetzungsfehler vorzuhalten; im Gegenteil versucht Nishijima mit einer Umdeutung der chinesischen Schriftzeichen jí xīn gleich ›also der Geist‹ oder auch ›gerade/eben der Geist‹ zu »der Geist hier und jetzt« der besonderen Intention Dôgens gerecht zu werden, der seinerseits aus dem Axiom der Hong-zhou-Schule etwas anderes und Eigenes gemacht hat: ›Wenn alle Buddhas … Buddhas werden, werden sie zweifellos Shâkyamuni Buddha: dies ist nichts anderes als ›Geist hier und jetzt ist Buddha‹!‹ (Nishijima I, S. 78). Dôgen, so muss an dieser Stelle das Fazit lauten, greift hier eindeutig auf eine Formel des Tang-zeitlichen Chan zurück, gibt ihr jedoch eine Deutung, die der ursprünglichen diametral widerspricht.
Hin und wieder zitiert Dôgen, von seinem persönlichen Lehrer aus der Cao-Dong-Schule abgesehen, auch den einen oder anderen Chan-Meister der Song-Zeit beifällig-zustimmend. So im Kapitel Keisei sanshiki einen Vertreter des Hauses Lin-ji aus der Wende von 10. zum 11. Jahrhundert, und zwar Lang-ye Hui-jue. Die Begebenheit, auf die sich Dôgen dabei bezieht, macht das Kôan 100 des Cong-rong-lu aus. Dôgen zitiert, leicht verkürzt: ›Einst fragte ein Gelehrter … Meister Kôshô (gemeint ist eben Lang-ye): ›Wie kommt es, dass aus der ursprünglichen Reinheit plötzlich Berge, Flüsse und die Erde entstehen?‹ Darauf antwortete der Meister: ›Wie kommt es, dass aus der ursprünglichen Reinheit plötzlich Berge, Flüsse und die Erde entstehen?‹‹ Doch Dôgen interpretiert diesen Wortwechsel ganz im Sinne seiner Tang-zeitlichen Metaphysik: ›Hier wird uns gelehrt, dass wir die Berge, Flüsse und die Erde, die die ursprüngliche Reinheit sind, nicht mit [den Begriffen] verwechseln dürfen, die die Berge, Flüsse und die Erde [erklären]‹ – so Nishijima I, S. 111. Dôgen reduziert den Wortwechsel mithin auf die ausdrückliche Anerkenntnis einer wahren Wirklichkeit, hier als ›ursprüngliche Reinheit‹ umschrieben, der er lediglich die Begriffe des menschlichen Denkens als untaugliches Mittel einer Annäherung gegenüberstellt. Im Kôan 100 Cong-rong-lu erhält die Episode eine ganz andere Deutung, nämlich als Ausdruck einer Einstellung, die metaphysische Spekulationen als soteriologische Mittel der ›Befreiung‹ grundsätzlich verwirft und uns stattdessen – ganz im Sinne des Daoismus – auf die Hinwendung zum irdischen Leben als unsere rechtmäßige Bestimmung verweist. Der Einfluss des Daoismus auf das Song-zeitliche Chan tritt gerade in dieser Deutung deutlich zutage (›Sein [unser eigenes] als Nicht-Sein schauen [und zwar durch die Versenkung in MU], / Die Hände um und um wenden [aus dem Nicht-Sein ins Sein zurückkehren und umgekehrt]. / Der Mann auf dem Berg Lang-ye / Bleibt [sogar] hinter Gautama nicht zurück‹ – so der dortige Lobgesang). Dôgen jedoch hat für Chan-Meister, die sich dem Einfluss des Daoismus geöffnet haben, nur Verachtung übrig: ›Viele von ihnen wurden von den Lehren des DAO irregeleitet und schafften den Buddha-Dharma ab‹ – dies ein Satz, der sich, im Wortlaut auf einzelne Herrscher Chinas gemünzt, sinngemäß auch auf die Mehrzahl der Meister der Song-Zeit übertragen lässt.
Apropos Fehlhaltungen im Song-zeitlichen Chan: Im Kapitel Sansui gyô kommt Dôgen auf die Selbstcharakterisierung des Song-zeitlichen Chan zu sprechen: