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Für acht Wochen wird die Frühchenstation zum zwangsweisen Zuhause für Heike und Frank. Sie gehen ein und aus, erleben Momente der Angst, der Hoffnung, des Schmerzes und des Trostes. Sie entwickeln einen eigenen Aberglauben, einen Schutzzauber, der vielleicht verhindert, wovor sie sich am meisten fürchten. Denn Gewissheiten gibt es hier nicht, außer einer unbedingten, tiefen Liebe zu ihrem Sohn. Dieses Memoir in der Tradition von Uwe Timm, Maggie Nelson und vor allem von Annie Ernaux kehrt behutsam die Spreu der Erinnerung zusammen. In einer Weltsekunde, in der jederzeit das Schlimmste passieren kann, erscheint alles wesentlich. Ein Mut machender Roman über das Leben, der wie unter einem Vergrößerungsglas zeigt, wie dieses Leben in einer Extremsituation auf seinen Kern zusammenschrumpft: Liebe, Familie, Elternschaft. Gleichzeitig wirft er durch seine spritzige, ironisch-tiefsinnige Sprache einen sehr klaren, erfrischenden Blick auf das, was sich im Leben ändert, wenn aus einem Paar über Nacht Eltern werden. Und zwar, und das ist selten, aus Vatersicht.
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Seitenzahl: 84
Frank Schäfer, geboren 1966, lebt als Schriftsteller, Musik- und Literaturkritiker in Braunschweig. Er schreibt für taz, Neue Zürcher Zeitung, Rolling Stone u.a. Neben Romanen und Erzählungen erschienen diverse Essaysammlungen und Sachbücher, etwa Hühnergötter. Roman (Limbus), Henry David Thoreau – Waldgänger und Rebell. Eine Biographie (Suhrkamp) und Das wilde Lesen. Deutsche Literaturgeschichte(n) (Verlag Andreas Reiffer).
ROMAN
KRÖNEREDITIONKLÖPFER
Neunundzwanzig plus zwei.
Neunundzwanzig Wochen und zwei Tage.
Jeder Tag zählt.
Zahlen spielen eine wichtige Rolle.
»Die Kinder, die in der dreißigsten Woche geboren werden, kommen mittlerweile sicher durch«, sagt die Intensivschwester arglos.
Wie sich die Eltern fühlen, deren Kind diese Hürde nicht geschafft hat, darüber macht sie sich keine Gedanken. Wenn sie sich das alles zu Herzen nehmen würde, könnte sie keine Nacht mehr ruhig schlafen.
Wie wir jetzt.
Wer zu früh kommt, den bestraft das Leben.
Als kleiner Junge durfte ich für meinen Vater ein Lottofeld ausfüllen. Ich kreuzte 1, 2, 3, 4, 5, 6 und die Zusatzzahl 7 an.
Mein Vater schüttelte lächelnd den Kopf.
»Was machst du denn da? Ist doch klar, dass die Zahlen nicht drankommen.«
ESWIRD EIN HEISSER NIEDERSÄCHSISCHER SOMMER,der Sommer des Jahres 2003. Schon das Oster-Kaffeetrinken mit der Familie kann man nach draußen verlegen. In den Krankenhauspark.
Ich besuche Heike sowieso jeden Tag zweimal, morgens und abends. Die Nähe der Klinik zu unserer Wohnung erweist sich als großer Vorteil.
Am Sonntag kommt die Familie dazu, bringt selbstgebackenen Erdbeerkuchen und kannenweise Kaffee mit.
»Draußen nur Kännchen.«
Alle lachen, weil sie die Sorge um den kleinen Jungen wenigstens für eine Stunde lossein wollen.
Krankenbericht: »Da sich der Allgemeinzustand der Mutter nicht stabilisiert und die fetale Tachykardie persistiert, wird der Entschluss zur Schwangerschaftsbeendigung mittels primärer Sectio caesarea gefasst.«
Operationsbericht: »Lagerung der Patientin. Desinfektion der Bauchdecke. Pfannenstielschnitt … Digitale Erweiterung der Uterotomiewunde und Entwicklung des kindlichen Köpfchens unter Führung der Hand. Dies gelingt ebenso problemlos wie die Entwicklung des nachfolgenden Rumpfes. Abnabelung. Das Kind ist lebensfrisch und schreit kräftig durch. Übergabe an die Hebamme … Ende des operativen Eingriffs. Instrumente nach Angabe der OP-Schwester vollständig.«
WIR WOLLEN WISSEN, »was es wird«!
Da Heikes Frauenarzt schon der Frauenarzt ihrer Mutter und folglich ein lieber, aber altmodischer Knochen ist, tut er stets so, als könne er nichts sehen.
Später erzählt mir ein befreundeter Arzt, wenn man nichts sehe, sehe man auch etwas.
Irgendwann verrät sich der alte Doc.
»Eltern sollten sich auf ihr Kind freuen und hoffen, dass es gesund zur Welt kommt«, dekretiert er, »ob Junge oder Mädchen ist sekundär.«
Heike bleibt seine Patientin. Allerdings suchen wir daraufhin einen Kollegen von ihm auf, der unserer Neugier mit Ultraschallaufnahmen in 3-D entgegenkommt.
»Große Füße hat ihr Sohn«, meint das Schlitzohr. Und streicht die leichtverdienten 100 Euro ein. Bar auf die Kralle.
BEINAHE WÄRE ICH GAR NICHT ERST auf die Welt gekommen. Meine Eltern wollten nur zwei Kinder, meinen Bruder und das andere Kind, dessen Herz noch im Mutterleib zu schlagen aufhörte.
Erst ein paar Jahre später wurde ich geboren, als Ersatzmann.
Wenn man nicht hier wäre, wo wäre man dann?
HEIKE IST IN MAILAND auf einer Ledermesse.
Sie kümmert sich in ihrem Unternehmen um – »Lack & Leder«. Für eine ganze Woche besitzt sie sogar Visitenkarten mit diesem Aufdruck. Darüber mokieren sich sofort alle, ich am allermeisten, und so werden die Pappen bald wieder weggeworfen. »Color & Trim« steht von nun an unter ihrem Namen. Jetzt lacht keiner mehr.
Sie wankt zwei Tage lang durch sauerstoffknappe Mailänder Hallen, ruft mich schon am Mittag des ersten an und beklagt sich ausgiebig über die Strapazen.
»Du bist in der 28ten Woche«, rutscht es mir heraus, weil ich ihr eigentlich sagen will, dass sie dort nichts zu suchen hat.
Sie war überhaupt nur gefahren, weil ihr die ältere Arzthelferin mit stoischer Trümmerfrauenmiene versichert hatte, Schwangerschaft sei keine Krankheit.
Sie kommt nach Hause, und nach einem Erschöpfungsschläfchen von drei Stunden haben wir behäbigen, dickbäuchigen Schwangerschaftssex, der mir immer ein wenig peinlich ist, weil sie so anders aussieht und sich anfühlt. Aber ihre großen, dunklen Brüste machen mich auch irgendwie an. Außerdem ahne ich, dass es für eine Weile der letzte sein wird.
Am Wochenende klagt sie über leichte Schmerzen im Unterleib. Sie hat ein schlechtes Gewissen, und ich kann wenigstens dieses eine Mal meinen Mund halten.
HEIKE DARF IHR BETT BIS ZUR GEBURT nur noch für die notwendigsten Verrichtungen verlassen. Zwölf Wochen lang die Horizontale.
Als der Gynäkologe sie mit dem Befund konfrontiert, kommen ihr die Tränen. Es sei noch so viel zu erledigen, auf ihrem Schreibtisch stapele sich die Arbeit, außerdem habe der Geburtsvorbereitungskurs gerade erst begonnen.
»Ich weiß doch gar nichts.«
Der Arzt lächelt verständnisvoll und versucht professionelle Fürsorglichkeit auszustrahlen, aber man merkt ihm an, dass er solche Bedenken schon einmal zu oft gehört hat, um sie wirklich ernstnehmen zu können. Er streichelt ihr die Schulter, aber so schnell lässt sie sich nicht trösten.
Er sieht mich an, und wir müssen beide grinsen. Keine Ahnung, was daran so witzig ist.
EIN FREUND BEGANN SCHON während des Hauptstudiums, mit Anfang 20, kleinen Kindern versonnen hinterherzulächeln oder, wenn sich die Gelegenheit bot, in die Hocke zu gehen, um mit ihnen Kontakt aufzunehmen. Anderthalb Jahre später war er Vater. Wir alle schauten uns überrascht an. Jetzt ging der Spaß doch erst richtig los für uns.
Er habe eine Sehnsucht verspürt, den Wunsch nach einem Kind. Jedenfalls sagte er das später. Ich bezweifle das vielleicht auch deshalb, weil mir diese Sehnsucht fremd war. Ich hatte gute Freunde, eine Freundin und überdies war ich mir selbst genug.
Ich hätte es gern gehabt, ein Zeichen, das mir unmissverständlich zu verstehen gibt, jetzt ist es soweit, jetzt willst du Vater werden. Aber da war nichts. Nicht, weil ich nicht in mich hineingehorcht hätte. Das tat ich durchaus. Aber da drinnen blieb alles ruhig. Da erklang nichts, da herrschte totale Stille.
Mir fehlte auch nichts. Ich brauchte kein Kind zur Vervollständigung meiner Existenz. Aber ich wusste, dass meine Freundin irgendwann ein Kind wollte, vielleicht sogar brauchte.
Im weiteren Bekanntenkreis hatte sich ein Paar getrennt, weil der Mann unfruchtbar war und die Frau sehr gläubige Katholikin. Sie wollte Kinder, auf ganz alttestamentarische Weise.
»Was ist das für eine Beziehung?«, hatte ich gelästert. »Wenn man sich wirklich liebt, findet sich eine Lösung.«
Heike war sich da nicht so sicher.
»Welche Lösung denn?«
»Na, zum Beispiel keine Kinder zu haben.«
Sie schüttelte den Kopf.
»Ich glaube, daran scheitern viel mehr, als man denkt.«
Ich war gewarnt.
IM SOMMER2002REISTEN WIR mit dem Auto in die Toskana.
Es war so unsäglich heiß dort, dass tagsüber jeder Gedanke verdunstete. Wir fuhren nach Siena, Pisa, Florenz und brauchten Tage, um uns von diesen Sightseeing-Strapazen zu erholen. Wir hielten uns also oft genug in dem ländlichen Ferienhaus-Komplex auf und kamen mit den anderen Gästen in Kontakt.
Im Nebenhaus wohnte eine Familie mit drei Kindern. Das kleinste, der dreieinhalbjährige Max, hatte sich in Heike verliebt. Ständig büxte er aus und kam zu uns herüber. Wenn wir in der kühlen Küche saßen und uns einen Kaffee kochten, setzte er sich einfach dazu. Er kannte keine Scheu, nahm sich ein Stückchen Kuchen oder griff in die Tüte Haribo und berichtete von seinem kleinen Leben.
Nicht alles verstand man gleich, er verhaspelte sich, weil er zwei, drei Geschichten auf einmal erzählen wollte, er war eben erst dreieinhalb, aber die Ernsthaftigkeit dieses blonden Lockenkopfs, seine Gewitztheit und die Unverstelltheit, mit der er unsere Nähe suchte und uns seiner Sympathie versicherte, ließen einem das Herz aufgehen.
Wollte er mir was zeigen, nahm er ganz selbstverständlich meine Hand und zog mich zu dem Busch, in dem gestern eine Eidechse verschwunden war. Schon am dritten Tag krabbelte er unter dem Tisch hindurch, Heike auf den Schoß und quackelte von seinem Lieblingsfußballer Ballack. Nachdem sein Vater ihn wieder einmal bei uns aufgegabelt und zum Abendessen mitgenommen hatte, Entschuldigungen ersparte er sich längst, er kannte den Charme seines Sohnes, sah sie mich lächelnd an.
»So einen will ich auch.«
Gleich nach dem Urlaub setzt Heike die Pille ab.
Ein paar Wochen später wacht sie auf mit stechenden Schmerzen im Unterbauch. Es hatte sich angekündigt. Nach einigen Feiern mit zu viel Alkohol und gutem Essen klagte sie über Magenschmerzen. Wir tippten beide auf Gastritis oder jedenfalls eine Reizung der Magenschleimhaut und Heike trank viel Kamillentee. Aber es wurde nicht besser, und jetzt dieser Schmerzdurchbruch mitten in der Nacht. Sie wälzt sich zwei Stunden lang, schließlich fahre ich sie ins Krankenhaus. Eine junge Ärztin untersucht sie, spritzt ihr ein Schmerzmittel und ordnet für den nächsten Morgen eine Magenspiegelung an. Als ich sie früh um acht in ihrem Krankenzimmer besuche, hat sie die Gastroskopie bereits hinter sich und wacht gerade auf.
»Ach, du bist schon da … Ich werde gleich abgeholt«, flüstert sie, »zur Magenspiegelung.«
Ich muss lachen. »Du bist schon fertig.«
»Ach so, ein Glück …«
Sie wird langsam artikulationssicherer und lächelt schon wieder.
»Die Schmerzen sind auch weg, vielleicht haben sie mir schon ein Medikament gegeben.«
»Das freut mich.«
Aber dann flitzt die junge Ärztin ins Zimmer mit einem Grinsen, das uns jede Sorge nimmt.
»Alles in Ordnung … Sie sind bloß schwanger.«
Jahre später erzähle ich meinem kleinen Sohn vom Urlaub in der Toskana, von der unsäglichen Hitze, von den deutschen Radlern, die mit hochrotem Kopf die Hügel hinaufstrampelten, von dem Swimmingpool am Rande des Landhauses, der einen überwältigenden Blick über das weite Tal bot, und vom kleinen Max.
»Wo war ich da eigentlich?«, fragt Oscar.
Ich streichele ihm über den Kopf.
»Da warst du noch nicht geboren.« Mein Sohn überlegt einen Moment.
»Da war ich noch ein Gedanke.«
MONTAG, 14. APRIL
Heike heute früh beim Gynäkologen, der erkennt eine leichte Öffnung des Gebärmuttermunds (auch so ein Wort, das ich hoffentlich nie wieder schreiben und noch viel weniger sagen muss) und weist sie ins Krankenhaus ein. Dort stellt man eine leichte Wehentätigkeit fest und behält sie da. Nicht schlimm, wiegeln alle ab, trotzdem machen wir uns Sorgen … Dem Kleinen scheint es aber weiterhin gut zu gehen.