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"Die Achtziger waren das beste Jahrzehnt der Welt – so als leidlich akneversehrter Gitarrist einer völlig unbekannten Metaltruppe aus der niedersächsischen Tiefebene." Wo auch immer die Gitarren tief hängen, Hörner zum Himmel zeigen und Köpfe im Takt nicken, ist Frank Schäfer nicht weit. "Krachgeschichten" versammelt komische Anekdoten, böse Polemiken und dicke Hasslatten, aber auch zu Herzen gehende Ehrenrettungen und seelenvolle Reminiszenzen an die wilden Anfangstage des Hard Rocks und des Heavy Metals – und gibt damit einen umfassenden Einblick in eine schwarz gewandete, wild grimassierende, ziemlich splissgeschädigte Szene.
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Zweitausendeins
Erste Auflage 2021.Copyright © 2021 by Frank Schäfer.Alle Rechte für die deutsche AusgabeCopyright © 2021 by Zweitausendeins GmbH & Co. KG, Karl-Tauchnitz-Str. 6, 04107 Leipzig.www.zweitausendeins.deUmschlagsillustration von Christiane Nebel.ISBN 978-3-96318-128-3
Nötes of a Dirty Old Fan
Calm down! Fill up! Bang on!
Der Lärm der Arbeiterklasse
Wir spielen Wacken nach
Der Neue
Vergesst Woodstock!
Verzerrte Riffs, in Reihe geschaltet
Ein grandioser Blödsinn
Der Drachenmann
Die Tartarus-Taktik oder Grummeln gegen Covid
Luzifers Hammer
Zwei Minuten bis Mitternacht
Vater und Sohn
Wie bei uns damals
Das Überlebensgroße
Zu klein
Jetzt wird ausgetrunken
Geht doch
Die hellste Laterne
Dritter Frühling
Die besten zweieinhalb Minuten der Achtzigerjahre
Nacktlaufen im Kleinwalsertal
In den Freistunden
Ein Abtrünniger
Natural Born Punk
Die Ochsentour
Nicht schön, aber selten
Norbert
Lob der Bushaltestelle
SLAAAAYYYYER
Weiße Strähnen
Nö Sleep till Nörgelbuff
Schnarchologe mit Traumtourette
Die Rückkehr des Katastrophismus
Drei Atü
In guter Gesellschaft
Schmutziges Spiel
Den Bach runter
Aus allen Löchern
Die Schlange beißt sich in den Schwanz
Extra Käse
Am Riemen reißen
Die Welt braucht Iron Maiden
Denkt an den Joker
Das Konzept der Familie
Härter als Motörhead
Alle hassen Wacken
Kategorischer Imperativ
Das beste Jahrzehnt
Ausgerechnet die Ohren
Eins für Malcolm Young
Ohne Kanonendonner
Wo die wilden Kerle wohnen
Vertrauensbildende Maßnahmen
Frénésie und Kettenfett
Krosse Kerle
Die ewige Faszination verzerrter Riffs. Ich war selber Gitarrist in einer Metal-Band und immer angetan von der Massivität, dem physischen Druck, der entsteht, wenn (mindestens) zwei Menschen synchron einen Riff schrubben. Über voll aufgedrehte Marshalls, versteht sich. Das löst bis heute Euphorie in mir aus.
Ich könnte jetzt küchenpsychologisch werden und vermuten, dass ich als Modernisierungsangekränkelter aus der unübersichtlichen Realität in etwas flüchte, das feste Strukturen hat, die noch dazu von den Musikern absolut beherrscht werden. Technisches Können gehört ja unbedingt zum Metal. Die Musik etabliert also ein Stück Ordnung in der Unordnung, verschafft mir ein Gefühl von Kontrolle. Metal rules! Man kann sich das so hinrationalisieren und ist doch kein Stück näher dran an diesem wohligen Gefühl zwischen den beiden Schulterblättern, das sich bei mir vor allem dann einstellt, wenn die Band auf den Punkt kommt und der Riff rund läuft.
Die Plattensammlung meines großen Bruders war der Ausgangspunkt. Ein Eldorado. Er hatte alles: Kiss, Black Sabbath, Led Zeppelin, Sweet, Nazareth und vor allem Thin Lizzys »Live and Dangerous«. Aber bald gab es auch andere Bands, meine eigenen Entdeckungen, und die waren lauter, wilder, härter, jünger – Motörhead, Accept, Iron Maiden, Saxon. Ich konnte also gegen ihn anstinken – tat das dann auch.
Es gibt das Klischee vom »Kulirocker« (Frank Bröker), dem gescheiterten Musiker, der die großen Schlachten nicht mehr auf der Bühne austrägt, sondern am Schreibtisch. Eine tragische Gestalt.
Nun, ich will es mal mit Neal Pollack formulieren, der in seinem wunderbaren Buch »Never Mind The Pollacks« die stahlharte Wahrheit auszusprechen wagt: »Ganz oben in der Rangliste der Künste steht die Rockkritik. Im Idealfall übertrifft die Kritik die Musik, denn im Idealfall handelt es sich um Musik, verbunden mit Literatur.«
Der große Musikschreiber Lester Bangs hat dieses Konzept vorbildlich in die Tat umgesetzt. Bei einem Konzert der J. Geils Band stellte man ihm einen Tisch mit seiner Smith-Corona-Schreibmaschine auf die Bühne. Gestärkt von ein paar Fläschchen Romilar-Hustensaft, tippte er im Takt die Kritik zum Konzert noch während des Vollzugs. Natürlich wurde die Schreibmaschine mit einem Mikro abgenommen.
»Auf dem Höhepunkt des Stücks zog ich sogar ein Townshend/Alice-Cooper-mäßiges Destructotheater ab«, schrieb er später, »ich stand auf und stieß die Schreibmaschine mitsamt der Bank um. Dann sprang ich so lange darauf herum, bis sie in Stücke krachte, zumindest in zwei. Das fühlte sich gut an, irgendwie befreiend.«
Fantastische Idee – ich würde den Teufel tun, ihm das nachmachen zu wollen.
Auch auf Hustensaft nicht. Sagt Feigling!
Ein anderer großer Musikkritiker, Greil Marcus, hat über Lester Bangs geschrieben, es sei ja wohl erstaunlich, dass der beste Schriftsteller Amerikas bloß Plattenkritiken geschrieben habe. Genau, auch Texte über Musik können Literatur sein. Das hat mir immer eingeleuchtet. Und das muss zumindest als Prätention bei jedem ernst zu nehmenden Musikkritiker eine Rolle spielen. Das ist die einzige Möglichkeit, wie man Musikkritik heute überhaupt noch ernsthaft betreiben kann. Sie verliert seit Jahrzehnten an Einfluss, zumindest als Geschmacksbildungsinstanz und als merkantiler Reaktionsbeschleuniger. Die Plattenfirmen brauchen den Kritiker nicht mehr, jedenfalls nicht mehr so wie früher. Na und? Deshalb soll man es nicht mehr machen? Im Gegenteil, wer es ernst meint, fängt jetzt erst richtig an.
Man muss sich den Spaß halt leisten können … Bei mäzenatischem Interesse scheuen Sie sich bitte nicht, mit mir Kontakt aufzunehmen.
Wo wir gerade bei den Defiziten sind. Mir fehlt vieles. Aber was mir prinzipiell abgeht, ist missionarischer Eifer. Wenn jemand mit meinen Urteilen nicht übereinstimmt, können wir gerne trotzdem Freunde bleiben. »Die Welt ist groß genug«, schrieb H. G. Wells, »dass wir beide darin Unrecht haben können.« Es würde mich sogar weitaus mehr freuen, wenn der Leser Texte goutierte, deren Wertungen er nicht teilt. Nur so kann ich sicher sein, dass er nicht bloß von der Bestätigung des eigenen Geschmacks gebauchpinselt ist.
Dieses Buch versammelt Texte, deren frühe Fassungen teilweise bereits in Zeitungen und Zeitschriften erschienen sind, im »Rock Hard« und im »Rolling Stone«, in der »Neuen Zürcher Zeitung«, im »Neuen Deutschland« und bei »Zeit Online«, vor allem aber in der »jungen Welt« und auf der »Wahrheit«-Seite der »taz«. Es tragen also einige Menschen durchaus eine gewisse Mitschuld an ihrem Entstehen.
Beschwerden bitte an Birgit Fuß, Maik Brüggemeyer, Arne Willander, Max Gösche, Sebastian Zabel, Michael Saager, Alexander Reich, Christof Meueler, Peter Merg, Rabea Weihser, Jirka Grahl, Ueli Bernays, Michael Ringel, René Hamann, Christian Bartel, Boris Kaiser, Ronny Bittner und Holger Stratmann.
Liebeserklärungen und Dankadressen bitte an mich (nur ernst gemeinte Zuschriften).
Es herrscht eine solide ausgelassene, beim Landeanflug schon nicht mehr ganz unverprollte Stimmung im Malle-Bomber. Der größte Kegeltrupp der Welt hat wieder mal seine Vereinstracht übergeworfen, Hauptsache schwarz, um sich für einen Tausender aufwärts – und es geht durchaus noch steil aufwärts, wenn man möchte – bei ordentlicher Beschallung die Lampe anzuknipsen. Das spanisch-deutsche Trinker-Elysium ist nur die erste Station. Im Hafen wartet schon die TUI-Kampfschluckerfregatte der Luxusklasse mit dem leicht vergeigten Namen Mein Schiff 2. Aber was sind schon Namen, wenn die Bewaffnung stimmt. Neben dem darüber hinaus üblichen Schweinkram gehen 27.000 Liter Fassbier und 45.000 Dosen Beck’s mit an Bord auf die bereits fünfte Full Metal Cruise. Das sind die Basics. Zahlen, die für Beruhigung sorgen unter den Anwesenden. Man ist fürs Erste versorgt.
Der Metalhead an und für sich hat ja schnell mal Langeweile und versucht sich entsprechend zu wappnen. So sieht man ihn in der erstbesten Flughafentränke erst mal ein paar Dosen nachfassen. »Für die Schlange vorm Check-in-Schalter«, erzählt mir ein alter Full-Metal-Cruisader mit ernstem Blick. Er hat in der Vergangenheit schon Stunden vorm Schiff gestanden, trocken, gestrandet, von allem Lebensmut verlassen, dabei war die Rettung doch so nah. In diesem Jahr aber geht alles ganz schnell. Zu schnell. Folglich müssen die fünf Halben großzügig an die Mitreisenden verteilt und in Gargantuaschlucken verkostet werden, weil nichts Flüssiges mit an Bord darf. Wir quälen uns etwas, aber es hat nie jemand gesagt, dass es leicht werden würde. Es kommen fünf Tage voll harter Arbeit auf mich zu, das weiß ich jetzt.
Zunächst mal auspacken und den Cruise Bag inspizieren. GeloRevoice-Halstabletten, Ohrstöpsel, Präservativ und Kotztüte (»Calm down! Fill up! Bang on!«), einmal mehr die Basics. Währenddessen wird über die Bordsprechanlage nach einem »schwarzen Samsonite« gefahndet. Man möge doch bitte noch einmal genauer nachschauen, ob man nicht einen gewissen Kofferüberschuss in der Kabine zu verzeichnen habe. Wer ihn zurückgibt, bleibt straffrei, soll das wohl unterm Strich heißen.
Der Ton an Bord ist die ganze Zeit über so euphemistisch und herzlich. Das Servicepersonal – 43 Nationen, fünf Religionen, das Bild bestimmen jedoch vor allem Filipinos und Indonesier – inszeniert diese große Kumpanei ziemlich gekonnt. Etwaige Differenzen werden mit Blick auf den Gehaltscheck locker weggelächelt. Wir befinden uns auf einer Multi-Kulti-Lächel-Oase, und was auch immer man dagegen einwenden wollte, es hebt trotzdem die Laune. Es gibt keinen Gast an Bord, der sich dem wirklich entziehen könnte. Die meisten Mitreisenden sind denn auch Wiederholungstäter, wie die vielen Erinnerungs-Shirts an vergangene Kreuzfahrten beweisen.
»Betreutes Festival« hat Holger Hübner, Ideengeber und Mitveranstalter der Cruise, den Spaß mal genannt. Entsprechend hoch ist die Alte-Säcke-Dichte. Das Durchschnittsalter liege bei 41, pfeifen die Möwen von der Reling. »Kommt mir ehrlich gesagt höher vor«, grinst die PR-Managerin mich unverschämt an, wohlwissend, dass meine Alterskohorte den Schnitt ziemlich versaut.
Jetzt kommt erst mal die leidige Pflicht. Keiner zweifelt an der Notwendigkeit der Seenotrettungsübung, sie ist obligatorisch – und geht völlig in die Hose. Trotz vieler Schweigefüchse und großem Gezische allenthalben ist der Metal-Mob nicht mehr zu bändigen. Auch das Niveau hat etwas gelitten unter dem ersten Run auf die Flüssigvorräte. Die bedauernswerte Vorturnerin ist überfordert. Spätestens als ihr beim Ausprobieren der Trillerpfeife an der Schwimmweste eine eigens dafür mitgebrachte Clowns-Hupe antwortet, ist allen klar: Wenn hier etwas passieren sollte, die Metalheads werden mit Mann und Maus absaufen – und zwar ganz unmetaphorisch. Egal.
Zwei Tage später jedoch, als vor Gibraltar Fünfmeterbrecher die Gläser vom Tisch rutschen lassen und mancher seine Tüte füllt, setzt bei dem einen oder anderen ein Umdenken ein. Schließlich meldet sich Käpt’n Omar sogar persönlich zu Wort und erklärt die Reise für beendet. Ist es so ernst? Wir sitzen gerade im Surf & Turf und wollen ein Steak bestellen. Man sieht Überraschung in den Augen der Verantwortlichen, eine PR-Dame hält sich schützend die Speisekarte vor die Brust, eine andere rät, ausnahmsweise mal auf Low-Carb zu pfeifen und tüchtig Brot zu essen, das helfe gegen Poseidons Rache.
Es entpuppt sich dann aber alles sehr schnell als kleiner Versprecher des charmant radebrechenden Schiffsführers. Die Reise geht weiter, allerdings nicht nach Gibraltar, der Wellengang ist zu schwer, um hier gefahrlos in den Hafen einzulaufen. Wir drehen bei und nehmen Kurs auf Málaga. In der Küche fallen noch ein paar Teller aus dem Schrank, aber dann kommen auch schon die Steaks – und frische Brotkörbe.
Musikalisch beginnt jede Cruise mit einer kitschigen Auslaufhymne, die den Fans allemal eine Entenpelle zaubert. »We’re living in our world of plenty / And sail the seven seas / We came together here / To celebrate the steel …« Danach tun sich für ein Halbstündchen die Höllenpforten auf und ein Mann verrichtet sein akustisches Zerstörungswerk, dem selbst mancher hartgesottene, stumpfgesoffene Eisenschädel nicht gewachsen ist. Mambo Kurt mit seiner Bontempi-Truhe orgelt sich durch dumpfes Stimmungsliedgut und kommt sich dabei so cool und campy vor, dass selbst friedfertige Menschen nach etwas Großem, Schwerem Ausschau halten. Natürlich soll das ironisch sein, aber auch ironischer Scheißdreck ist immer noch Scheißdreck, zumal wenn er so dermaßen offensichtlich ironisch daherkommt. Leider hat sich der Mann mittlerweile zu einer Art Horror-Maskottchen der Cruise hinaufgejölt, ich plädiere daher für ein hübsches Paar Mafia-Stiefel, wenn er sich wieder mal an Bord schleicht.
Danach ballern Dog Eat Dog los und haben mit ihrer spröden Legierung aus Hardcore, Metal und Hip-Hop erfreulich leichtes Spiel. Klar, alles ist besser als Kurt, aber es zeigt doch auch, dass solche Crossover-Elaborate nicht mehr für Verstörung sorgen, sondern mittlerweile selbst historisiert und kanonisiert sind und sogar von der True-Metal-Gemeinde gut gefunden werden können. John Connor feuert seine Rhymes ab und die Band klingt so roh und unbehauen, als hätte sie noch keine 25 Jahre auf dem Buckel. Die Party beginnt endlich. Aber nach einer Weile wird Connor doch sehr ernst und weist darauf hin, dass der glückliche Verlauf dieser Reise von einer Sache abhänge – dem schwarzen Samsonite seines Bassisten. Und das hilft endlich, der Koffer findet sich wieder an. Es muss keiner gekielholt werden.
Später spielen Powerwolf im Theater, vorn im Schiffsbug. Sofort fallen einem die fehlenden Skandinavier auf, die auf der ersten Cruise noch angesichts der auf einem Eisbett appetitlich angerichteten Dosen vor paradiesischem Wohlbehagen und Seinsglück laut aufjubelten. Die Euphorie hält sich mittlerweile in Grenzen. Ein schon leicht angestrunkelter Powerwolf-Fan nimmt sich ein Beck’s und wiegt sinnierend den Kopf. »Ach so? Und ich dachte, es gibt Bier!«
Powerwolf gehören unbedingt ins Theater, sie tragen Spätmittelalter und Postapokalypse vermengende Steampunk-Kostüme, sind zombiesk geschminkt und geben auch sonst viel auf Laienschauspiel, das ihren melodisch etwas infantilen, sakral aufgemandelten Sound-Mummenschanz visualisieren soll. Eine junge Frau erwartet in Yoga-Stellung (Morgengruß!) den Beginn des Konzert. Ein anderer exaltiert sich in der dritten Reihe direkt vor der Bühne, seine Kutte appelliert in großen Lettern – »Fuck Posers«. Wenn hier einer posiert, dann ist es die Band, die er gerade mit vollem Körpereinsatz feiert. »Seid ihr wild?«, fragt der immer schön das R rollende Sänger Attila Dorn. Jawohl, das sind sie.
Noch wilder allerdings bei John Diva & The Rockets of Love, einer Hair-Metal-Covertruppe, die auch gerade alle Stadtteilfeste der Republik unsicher macht und von der kleinen Clubbühne ihr Publikum in fast schon ekstatische Verzückung versetzt. Ein Fiftysomething mit Stones-Zunge auf dem Bierbauch setzt sich frontal seiner Mamutschka auf den Schoß und übt schon mal für später, wenn das Licht aus ist. Ihr duldsames Lächeln ist schön anzusehen.
Eine kleine Gruppe halb so alter Hipster, die sich offenbar verbucht hat – die World Club Cruise beginnt erst nächste Woche –, schaut sich das alles mit staunenden Augen an und macht dann auch mit. Die Rockets of Love sind tatsächlich überzeugend, egal wie sehr der Gitarrist mit dem »Jump«-Solo kämpfen muss. Sie mögen diesen grandiosen Quatsch, weil sie genauso alt sind wie ihr Publikum und die gleichen nostalgischen Anwandlungen haben. Hier spielen alte Fans für alte Fans. Wer sich darüber lustig machen will, soll das tun. Am nächsten Tag höre ich, dass sich einer beim Bordmediziner (»Doc Holliday«) hat krankschreiben lassen – Hexenschuss.
Die musikalische Entrückung, der viele Sprit, das beflügelt natürlich auch das libidinöse Leben auf dem Schiff. Hier herrscht Sodom und Gomorrha. Deshalb gibt Maschine, der Einpeitscher und MC, auch schon früh über Bordfunk die Losung aus: »Was auf der Cruise passiert, bleibt auf der Cruise!« Da die Wände aus Sperrholz sind, weiß jeder, was nebenan getrieben wird. Man sitzt wirklich in einem Boot. Ich kenne sogar den Namen meines Kajütennachbarn. Er heißt »Geeerrt, Geeeert«.
Die obligatorische Frage lautet: Inwiefern unterscheidet sich diese Kreuzfahrt von den anderen. Es ist die Lockerheit, wird mir einhellig von der Crew beschieden. Während für gewöhnlich zehn Minuten nach dem Einchecken des ersten Gastes die Drähte des Beschwerdetelefons zu glühen beginnen, hat der Service-Offizier bei der ersten Full Metal Cruise nach vier Stunden erst einmal eine Telefonüberprüfung veranlasst. Metaller sind habituelle Plebejer, auch wenn sie als Gehirnchirurgen arbeiten, und das äußert sich eben nicht nur in ihrer achselzuckenden Bescheidenheit, sondern auch in ihrer Freundlichkeit gegenüber dem arbeitenden Volk. Sie nehmen die ihnen gewährte Gunst nicht selbstverständlich hin, sie lächeln zurück – und fraternisieren bald, nicht zuletzt mit der Housekeeping-Crew. Dieser Kameradschaftsgeist kulminiert in einer Abschiedsfeier am vorletzten Tag, bei der die Gäste Spalier stehen, auch Bands haben sich hier eingereiht, das Personal abklatschen und zum Dank für die Rundumbetreuung hochleben lassen. Maschine spricht schon mal vorauseilend von einem »sehr emotionalen Moment«, und tatsächlich wird dann die eine oder andere Kullerträne vergossen. Hier klappt wirklich alles wie am Schnürchen.
Headliner der Cruise sind Saxon und In Extremo. Beide füllen das Theater, die Spielstätte mit der größten Bühne, komplett. Aus Sicherheitsgründen müssen sogar ein paar Dutzend Fans draußen bleiben. »Weil der Dampfer sonst Schlagseite bekommt, oder was?!«, schimpft ein Abgewiesener kopfschüttelnd. Aber es gibt immer eine zweite Chance – auf dem Pooldeck.
Saxon spielen als einzige Band an Bord zwei komplett unterschiedliche Sets, keine große Kunst bei der Backlist. Eine Frau nutzt die Gelegenheit und lauert Frontmann Biff nach dem ersten Konzert auf. Sie lässt ihren ganzen Charme spielen, wünscht sich das Cristopher-Cross-Cover »Ride Like The Wind«. Aber Biff ziert sich. Man habe den Song überhaupt nicht im Programm. Sie nimmt ihn sich richtig zur Brust, bis der Alte klein beigibt und liefert – am nächsten Abend. Man kann ihr Jubelgeschrei gut hören. Für solche Momente hat Zeus beziehungsweise Odin beziehungsweise Holger Hübner die Full Metal Cruise erschaffen, und sie sind nicht so selten, wie man meinen könnte.
Biff ist zwar mittlerweile ein bisschen hüftsteif auf der Bühne, aber die Band spielt zwei fulminant gedroschene, haltlose, fast ein bisschen zu undisziplinierte Gigs. Dem Schiffstätowierer Ventor, in Personalunion Drummer bei Kreator, dürfte das gefallen haben. »Saxon sind meine Jugend, da muss ich hin, egal wie oft ich die schon gesehen habe«, erzählt er mir am Nachmittag. Ventor hat gut zu tun, bereits neun Cruise-Embleme gestochen. Nur bei der Beinahe-Havarie kurz vor Gibraltar musste er seine Arbeit kurz unterbrechen. Nach Feierabend darf er dann Fan sein. »Uli Jon Roth hat mich weggeblasen gestern Abend«, schwärmt er.
Tatsächlich ist der virtuose Gitarrenveteran, der in seinem »Tokyo Tapes Revisited«-Programm den Scorpions der Siebziger noch einmal neues Leben einhaucht, so etwas wie der Gewinner der Herzen. Als ich mich mit ihm auf Deck zum Gespräch treffe, kommt ein angerührtes Fangirl, ergreift seine magische Rechte, die mit den sehr langen, spitzen Nägeln, und bedankt sich überschwänglich. Er sei zunächst selber überrascht gewesen von dem Erfolg der Tour und des Albums, erzählt er. Andererseits, außer ihm mache es ja keiner. »Man will die frühen Sachen wieder hören, aber die Scorpions spielen nun mal ihre Hits.« Über seine alte Band verliert er kein böses Wort, im Gegenteil, er würdigt ihr Schaffen und ihre Integrität auf eine so loyale Weise, dass einem ganz warm ums Herz wird. »Wir sind jetzt seit über vierzig Jahren befreundet, das ist doch auch was.«
Alles in allem ist es ein adäquates Billing für die hier anwesende Altrocker- und True-Metaller-Klientel. Leicht daneben liegen Hübner und seine Eleven nur zweimal. Die Black-Metal-Extremisten Belphegor haben es nicht ganz leicht. »Klingt wie ’ne Seelöwenfütterung«, meint eine blonde Grazie neben mir und holt sich lieber einen neuen Rotwein. Und einem Phil Rudd schenkt man höflichen Beifall, weil man weiß, was man ihm zu verdanken hat, aber es ist wirklich reine Höflichkeit. Rudd kann zwar einen Beat halten bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag, aber ein Beat allein ist noch keine Band, und in seiner Position einen Sänger zu engagieren, der voraussichtlich einiges am Tresen taugt, aber keinen einzigen AC/DC-Song wirklich singen kann, erscheint dann doch einigermaßen fahrlässig.
Die fünf Tage sind bald rum. Man isst erlesen und gesund in den diversen Restaurants an Bord, trinkt etwas weniger gesund, bummelt an den beiden Landtagen durch Málagas Altstadt und besucht immer neue Konzerte. Die Schützenfestkapelle Blaas of Glory kann einfach nicht genug bekommen und zieht später für Spontanshows durch die Treppenhäuser. Um weiterhin die alten Motörhead-Traditionals raushauen zu können, hat Lemmys Sidekick Phil Campbell einfach seine Söhne engagiert, The Bastard Sons, die ihn tatsächlich noch einmal aus der Reserve locken. Und Mike Tramp hat seinen einstigen Gard-Haarstudio-Metal in kernigen Roots Rock umgemodelt und offensichtlich hier seine Bestimmung gefunden.
Schließlich ist es Dienstag. Abreisetag. Gleich nach dem Frühstück beginnen die kosmetischen Arbeiten für die World Club Cruise. Drahtiges Jungvolk in brutalstmöglicher Feierlaune flutet die Decks und verdrängt schließlich die etwas zermürbten Altvorderen. Im Shuttlebus zum Flughafen werfen wir noch einen letzten Blick auf unseren Metal-Dampfer der guten Laune und eine vom Alter und den Exaltationen der letzten Tage gezeichnete Stimme durchbricht die kleine Andacht. »Du armes Schiff, jetzt musst du leiden!«
So um 1985 herum schickte ich dem Berliner Label Noise Records das im erweiterten Verwandtenkreis legendäre »Land of Fools«-Demo meiner damaligen Schüler-Metal-Band Adrenalin. Wir hatten dreimal live gespielt, in einer irgendwie wahnhaften, allein unserer hormonellen Ausnahmesituation geschuldeten Hybris ein Studio angemietet, mit viel Hall und Spucke vier Songs eingetrümmert und fühlten uns jetzt folgerichtig qualifiziert für höhere Aufgaben.
Ich wunderte mich deshalb überhaupt nicht, dass der Noise-Chef Karl-Ulrich Walterbach bald darauf eine etwas kurz angebundene, aber freundliche Epistel schickte und um Rückruf bat. Ich ließ ihn ein paar Tage zappeln, klingelte bei ihm durch – und er schiss mich nach allen Regeln der A&R-Managerkunst zusammen. Die Musik sei ja ganz okay, nix Besonderes, aber okay, unser »Spießeroutfit« allerdings sei zum Weglaufen. So werde das nie was mit der Rockstarkarriere. Da hatte sich also dieser vielbeschäftigte Mann extra Zeit für mich genommen, um uns auf die richtige Spur zu bringen. Ich war ihm überaus dankbar … Nein, ich hasste ihn dafür. Wohl auch weil ich ahnte, dass er recht hatte.
Nach Lektüre von David E. Gehlkes Trumm »Systemstörung. Die Geschichte von Noise Records« muss ich wohl dem Himmel danken, dass er uns damals wie eine lästige Fliege vom Tellerrand verscheuchte. Walterbach zog sie alle – mal mehr, mal weniger – über den Tisch: Celtic Frost, Kreator, Rage, Gravedigger, Helloween, all die großen Namen des German Metal.
Es ist immer dasselbe Muster: Eine junge, naive Band liest den Vertrag nicht, weil sie nur davon träumt, ein Album zu veröffentlichen, findet sich nach zermürbenden Touren und Studioaufenthalten schließlich auf dem Cover eines Spartenmagazins wieder und wundert sich, warum sie trotzdem immer noch von Büchsenfraß leben muss, während der Chef gut gelaunt Fuhrpark und Kunstsammlung erweitert.
Wie genau so ein mieser Noise-Vertrag aussah, darüber hätte man gern mehr erfahren, aber offenbar haben alle Beteiligten dieser zu großen Teilen aus Interviews montierten Beinahe-Oral-History Stillschweigen vereinbart – oder Gehlke fehlte der Mut, allzu Konkretes stehenzulassen. Martin Walkyier jedenfalls, Sänger der legendären Pagan-Thrasher Sabbat, bezeichnet ihren Deal als »Kindesmissbrauch«. Nur so einem Loyalisten mit offenbar zenbuddhistischen Neigungen wie Mille von Kreator gelingt es, alle Demütigungen und Tricksereien nachträglich zu entschuldigen. Walterbach hat ihm ein Schicksal als Malocher erspart, einem Altenessener Plebejer genügt das für lebenslange Dankbarkeit.
Aber Gehlke will die Noise-Geschichte natürlich nicht nur als Business-Schmierenstück in diversen Akten erzählen, er ist viel zu sehr Fan, um nicht immer wieder niederzuknien vor Walterbachs Verdiensten für das Genre. Es beginnt mit dem Punk. Als Hausbesetzer, der sogar achtzehn Monate abgesessen hat, weil er am Tag nach Ulrike Meinhofs Ableben mit einer selbstgebauten Bombe erwischt wird, lässt sich Walterbach früh von The Clash, The Damned, Sex Pistols, aber auch schon von den US-Truppen Misfits und Black Flag affizieren. Er organisiert Konzerte und gründet bald darauf das Label Aggressive Rockproduktionen, das nicht zuletzt mit den beiden »Soundtrack zum Untergang«-Samplern das Augenmerk auf die deutsche Szene lenkt – Slime, Daily Terror, Hass und auch schon die Böhsen Onkelz feiern hier ihr Vinyldebüt. Später kommen Lizenzierungen von Hüsker Dü, Black Flag, Anti-Nowhere League et cetera dazu.