Henry David Thoreau - Frank Schäfer - E-Book

Henry David Thoreau E-Book

Frank Schäfer

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Beschreibung

Am 12. Juli 2017 jährt sich der 200. Geburtstag von Henry David Thoreau (18171862), dem Aussteiger, Naturfreund, störrischen und faszinierenden Freigeist und Rebellen – der zum amerikanischen Nationalheiligen wurde. Aus diesem Anlass erscheint jetzt die erste umfassende deutsche Biographie.

Wer war dieser Mensch, der, aufgewachsen als Sohn eines Bleistiftfabrikanten, in Harvard alte Sprachen studierte und die antiken Klassiker im Original las? Seine Karriere als Lehrer aufs Spiel setzte, weil er sich weigerte, seine Schüler mit dem Rohrstock zu malträtieren. Der sich, ein 28-jähriger menschenscheuer Junggeselle, zwei Jahre, zwei Monate und zwei Tage in eine selbstgebaute Blockhütte am Waldensee zurückzog, um außerhalb aller gesellschaftlicher Konventionen zu leben, und darüber ein Buch schrieb, das bis heute Pflichtlektüre für jeden Amerikaner geblieben ist: Walden. Der lieber ins Gefängnis ging, als die USA mit Steuergeldern für ihre Sklavenpolitik und den expandierenden Mexiko-Krieg zu unterstützen, und darüber sein Traktat »Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat« verfasste, das zum Kanon politischer Protestliteratur gehört, das Mahatma Gandhi als Lehrbuch an seine Schüler verteilte, das Martin Luther King und die amerikanische Bürgerrechtsbewegung im Marschgepäck trugen und das die Occupy-Bewegung heute für sich entdeckt hat.
Frank Schäfers wissenschaftlich fundierte, spannend erzählte Biographie des einflussreichen Denkers, Politikers und Schriftstellers beantwortet diese Fragen. Er zeichnet das Porträt eines Mannes, dessen »Experimente« und Bücher die Welt verändert haben und heute aktueller denn je sind.

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Wer war dieser Mensch, der, aufgewachsen als Sohn eines Bleistiftfabrikanten, in Harvard alte Sprachen studierte und die antiken Klassiker im Original las? Seine Karriere als Lehrer aufs Spiel setzte, weil er sich weigerte, seine Schüler mit dem Rohrstock zu malträtieren. Der sich, ein 28-jähriger menschenscheuer Junggeselle, zwei Jahre, zwei Monate und zwei Tage in eine selbstgebaute Blockhütte am Waldensee zurückzog, um außerhalb aller gesellschaftlichen Konventionen zu leben, und darüber ein Buch schrieb, das bis heute Pflichtlektüre für jeden Amerikaner geblieben ist: Walden. Der lieber ins Gefängnis ging, als die USA mit Steuergeldern für ihre Sklavenpolitik und den expandierenden Mexiko-Krieg zu unterstützen, und darüber sein Traktat »Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat« verfasste, das zum Kanon politischer Protestliteratur gehört, das Mahatma Gandhi als Lehrbuch an seine Schüler verteilte, das Martin Luther King und die amerikanische Bürgerrechtsbewegung im Marschgepäck trugen und das die Occupy-Bewegung heute für sich entdeckt hat.

Frank Schäfers wissenschaftlich fundierte, spannend erzählte Biographie des einflussreichen Denkers, Politikers und Schriftstellers beantwortet diese Fragen. Er zeichnet das Porträt eines Mannes, dessen »Experimente« und Bücher die Welt verändert haben und heute aktueller denn je sind.

HENRY DAVID THOREAU, geboren 1817 in Concord, Massachusetts, studierte von 1833 bis 1837 an der Harvard University. Er arbeitete einige Jahre als Lehrer, am 4. Juli 1845, dem Unabhängigkeitstag, bezog der mit Ralph Waldo Emerson befreundete Thoreau auf dessen Waldstück eine Blockhütte, wo er Walden oder Leben in den Wäldern schrieb. Bis zu seinem Tod engagierte er sich gegen die Sklaverei. Thoreau starb 1862 in Concord an Tuberkulose.

Frank Schäfer, geboren 1966, lebt als Schriftsteller, Musik- und Literaturkritiker in Braunschweig. Er schreibt für taz, Neue Zürcher Zeitung, Rolling Stone u. a. Neben Romanen und Erzählungen erschienen diverse Essaysammlungen und Sachbücher.

Frank Schäfer

HENRY DAVIDTHOREAU

WALDGÄNGER und REBELL

Eine BiographieMit zahlreichen Abbildungen

Suhrkamp

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2017

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflageder Ausgabe des suhrkamp taschenbuchs 4769

Originalausgabe

© Suhrkamp Verlag Berlin 2017

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,

des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch

Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form

(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)

ohne schriftliche Genehmigung des Verlages

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Umschlagillustration: Ben Wisemann / Penguin Random House unter Verwendung zweier Bildmotive von Getty Images

Umschlaggestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg

eISBN 978-3-518-75216-6

www.suhrkamp.de

Inhalt

Der furchtbare Thoreau

An der Brücke

Die Butter-Rebellion

Der amerikanische Gelehrte

Mein Leben war Ekstase

Gerade so

Verwandte Geister

Der Gelehrte braucht harte Arbeit

Die wirkliche Bedeutung

Die Milch in der Kanne

Du musst nicht gehen

Was tun Sie gerade?

Nicht nur versammelt, verbündet

Fruchtbarer Müßiggang

Nichts zwischen mir und dem Himmel als sie

Durch die Entfernung besser bekannt

Sympathie

Thymian und Majoran

Schneeige, fischige Gedanken

Ein Seidenwimpel im Wind

Grabmäler von Moos bedeckt

Vier Freunde

Menschenherden

Das wiedergewonnene (wiederzugewinnende) Paradies

Das fernere Indien

Bau dir eine Hütte

Das Ferment des Humors

Wesen einer höheren Seinsordnung

Koste es, was es wolle

Dieser Boden ist nicht für dich

Sprechen Sie zu mir in dieser Stunde

Niemand wird klüger dadurch

Gewichtiger als der Ruhm

Harte Gleichgültigkeit

Toten-Lichter

Ein Tagebuch der Winde

Eine Erkältung

Gänse stopfen

Das Evangelium des Augenblicks

Einzelheiten, nicht das Ganze

Fremde Gegenden

Wie eine Wunde

Eine Elchjagd

Eine Million Sklaven in Massachusetts

Die höchste aller Künste

Jene stillen und grüblerischen Gedanken

Die Wege, auf denen du Geld machst

Eleven

Kräfte sammeln

Der größte Demokrat, den die Welt gesehen hat

Vom Indianer lernen

Die sicheren Banken

Patriotische Farben

Ein Mann mit Ideen und Grundsätzen

Lasst die Toten die Toten begraben

Lebendiger, als er jemals war

Letzte Projekte

Niemals genesen

In Heiterkeit und Ruhe

Die Möglichkeiten ausgeschöpft

Quellen und Literatur

Namenregister

HENRY DAVIDTHOREAU

WALDGÄNGER und REBELL

DER FURCHTBARETHOREAU

Personen

HENRYDAVIDTHOREAU Waldgänger, Naturdichter, Prophet und Rebell.

RALPHWALDOEMERSON der »Schiller Amerikas«, Thoreaus Mentor und Freund.

ELLERYCHANNING Dichter und loser Geselle, Thoreaus Freund.

NATHANIELHAWTHORNE Bestsellerautor und schwarzer Romantiker, Thoreaus Freund.

LOUISAMAYALCOTT Feministin und erfolgreiche (Jugend-)Schriftstellerin, Freundin von Thoreau.

ROBERTLOUISSTEVENSON Bestsellerautor und Thoreaus späterer Kritiker.

RICHARDFULLER Thoreaus Nachhilfeschüler und Reisegefährte.

ELIZABETHHOARThoreaus Schulfreundin, Emersons enge Vertraute.

HENRYDAVIDTHOREAU Es dürfte angemessen sein, wenn ich zunächst einen Eindruck von meiner Gestalt und meiner Art gebe. Ich bin etwa 1,69 Meter groß – von einem hellen Teint, eher schlank gebaut, und erreiche gerade [1841] das römische Mannesalter. Bin einer, der öfter nach Westen als nach Osten blickt – der beim Verlassen des Hauses mehr Gemütsbewegung zeigt als beim Hineingehen – der den Winter genauso wie den Sommer liebt – Wald genauso wie Feld – Dunkelheit wie Licht. Bin eher einsam als gesellig – weder unstet noch untätig – aber von jeder Jahreszeit beschwingt, bei Tag oder Nacht, nicht durch das Ziehen eines Glockenseils, sondern von einem anmutigen Säuseln oben in der Kiefer in den Wäldern von Concord.

RALPHWALDOEMERSON Thoreau war mit einem sehr anpassungsfähigen und robusten Körper gesegnet. Er war von kleiner Statur …

ELLERYCHANNING Er war von durchschnittlicher Größe …

RALPHWALDOEMERSON … kräftig …

ELLERYCHANNING … mager geschnitten, mit Gliedern, die länger als gewöhnlich waren oder die er einsetzte, als wären sie länger.

RALPHWALDOEMERSON … mit heller Gesichtsfarbe, mit starken, ernsten blauen Augen und einem prägenden Merkmal – er trug in späteren Jahren einen würdigen Bart.

ELLERYCHANNING Wenn man sein Gesicht einmal gesehen hatte, konnte man es nicht vergessen.

NATHANIELHAWTHORNE Er ist hässlich wie die Sünde, hat eine lange Nase, einen schiefen Mund und besitzt ungehobelte und ein wenig ländliche, aber dennoch höfliche Manieren, die sehr gut zu solch einem Erscheinungsbild passen.

ELLERYCHANNING Die Züge waren sehr ausgeprägt: die Nase wie ein Adlerschnabel oder sehr römisch wie bei einem der Bildnisse Caesars …; starke, überhängende Brauen über sehr tiefliegenden Augen, die je nach Beleuchtung blau oder grau erschienen – Augen, in denen sich alle Arten des Empfindens ausdrückten, aber keine Schwäche oder Kurzsichtigkeit.

NATHANIELHAWTHORNE Allerdings ist seine Hässlichkeit von der ehrlichen und liebenswürdigen Sorte und steht ihm viel besser als Schönheit.

LOUISAMAYALCOTT Neben den Makeln sah das Kennerauge die prächtigen Züge, die als Schablone für den perfekten Mann dienen konnten.

ELLERYCHANNING Die Stirn nicht übermäßig breit oder hoch, voll geballter, zweckbewusster Energie; der Mund mit vorspringenden Lippen, die im Schweigen bedeutungs- und gedankenvoll aufgeworfen waren und von denen, wenn sie sich öffneten, die mannigfaltigsten, ungewöhnlichsten und belehrendsten Sprüche strömten. Sein Haar war dunkelbraun, übermäßig voll, fein und weich.

ROBERTLOUISSTEVENSON Thoreaus schmales, eindringliches Gesicht mit der großen Nase deutet selbst in einem schlechten Holzschnitt noch auf seine geistigen und charakterlichen Grenzen hin.

NATHANIELHAWTHORNE Er ist ein einzigartiger Charakter …

Thoreau 1854

(Samuel Worcester Rowse)

RICHARDFULLER Mit Thoreau war ich in bester Gesellschaft. Er war ein College-Absolvent von großer Bildung …

NATHANIELHAWTHORNE … der immer noch viel wilde, ursprüngliche Natur in sich trägt, und soweit er kultiviert ist, ist er es auf seine ganz eigene Art und Weise.

RALPHWALDOEMERSON So konnte er das Geräusch seiner Schritte, das Knirschen der Kiesel unter seinen Schuhen nicht ertragen und lief deshalb, wenn möglich, nie auf der Straße, sondern im Gras und abseits der Straßen über Hügel und durch Wälder. Seine Sinne waren scharf und er bemerkte, dass jedes Wohnhaus nachts einen schlechten Geruch verströmte, wie ein Schlachthof.

ROBERTLOUISSTEVENSON Sein schier beißend scharfer Verstand, seine schier animalische Geschicklichkeit wurde nicht von der umfassenden Lebendigkeit unserer sonstigen Helden begleitet. Er war nicht ungezwungen, nicht großzügig, nicht weltgewandt, nicht einmal freundlich; seine Freude lächelte kaum, oder das Lächeln war nicht breit genug, um zu überzeugen.

RICHARDFULLER Er war durch und durch uneigennützig, wirklich kultiviert, aufrichtig und von wahrem Geist. Ich fand nicht nur Gefallen an seinem detaillierten und kritischen Wissen über die Angelegenheiten der Natur, sondern auch an seiner Einschätzung ihrer flüchtigen Gnaden, diese Haltung ergänzte meine Bildung.

NATHANIELHAWTHORNE Ich glaube, er hat in Cambridge studiert und früher in dieser Stadt unterrichtet, doch seit zwei oder drei Jahren hat er alle gewöhnlichen Mittel, seinen Lebensunterhalt zu verdienen, zurückgewiesen und scheint dazu geneigt, eine Art Indianerleben unter zivilisierten Menschen zu führen – unter Indianerleben verstehe ich das Vermeiden jeglicher systematischen Anstrengung, ein Auskommen zu finden.

RALPHWALDOEMERSON Er verfolgte ein umfassenderes Ziel: Die Kunst, gut zu leben. Wenn er die Meinung anderer gering schätzte und sich über sie hinwegsetzte, dann nur deshalb, weil er seine Handlungen mit seinem Glauben in Einklang bringen wollte. Er war nie faul oder undiszipliniert, und wenn er Geld brauchte, dann entschied er sich dafür, es mit körperlicher Arbeit, die er gern machte, zu verdienen. Dann baute er ein Boot oder einen Zaun, pflanzte oder veredelte Bäume, vermaß Land oder verschaffte sich eine andere kurzfristige Tätigkeit, die er dauerhaften Beschäftigungen vorzog.

ELLERYCHANNING Er war immer zur Stelle, geschickt mit Auge und Hand, um die besten Melonen im Garten zu ziehen, den Obstgarten mit den erlesensten Bäumen zu bepflanzen oder aus dem Stegreif den Mechaniker zu spielen.

RALPHWALDOEMERSON Er konnte eine Strecke von 80 Metern genauer abschreiten, als ein anderer sie mit einem Maßband messen konnte. Er sagte, er finde seinen Weg nachts im Wald mit den Füßen besser als mit den Augen. Die Maße eines Baums bestimmte er allein mit dem Auge und das Gewicht eines Kalbs oder eines Schweins schätzte er so gut wie ein Viehhändler. Aus einer Schachtel mit losen Bleistiften entnahm er mit einem Handgriff ein Dutzend oder mehr. Er war ein guter Schwimmer, Läufer, Eisläufer und Ruderer und konnte wahrscheinlich an einem Tag weiter wandern als die meisten seiner Landsleute.

ELLERYCHANNING Er hatte die Hauslämmer gern und die Blumen seiner Schwester. Kätzchen waren seine Lieblinge; er konnte eine halbe Stunde lang mit ihnen spielen. Keine Laune oder Kälte, keine Inanspruchnahme seiner Zeit durch öffentliche oder private Obliegenheiten beraubte die Angehörigen seiner Güte und Zuneigung. Er tat die nächstliegenden Pflichten und stellte die Menschen seines engeren Kreises zufrieden.

RALPHWALDOEMERSON Seine robuste Wesensart und Anspruchslosigkeit, sein Geschick im Umgang mit Holz und seine hervorragenden mathematischen Fähigkeiten hätten es ihm ermöglicht, in jedem Teil der Welt zu leben. Er brauchte weniger als andere, um seine Bedürfnisse zu stillen. Auf diese Weise sicherte er sich auch viel freie Zeit.

NATHANIELHAWTHORNE Mr. Thoreau ist ein leidenschaftlicher und feinfühliger Beobachter der Natur – einen so ernsthaften Beobachter trifft man, wie ich befürchte, ebenso selten wie einen originellen Poeten –, die Natur scheint ihn aus Dankbarkeit für seine Liebe als ihr bevorzugtes Kind adoptiert zu haben und zeigt ihm Geheimnisse, die nur wenigen anderen offenbart werden.

RALPHWALDOEMERSON Unter seinem Arm trug er ein altes Notenbuch, mit dem er Pflanzen presste. In seinen Taschen befanden sich ein Tagebuch samt Stift, ein Fernglas zur Beobachtung von Vögeln, ein Mikroskop, ein Taschenmesser sowie ein Stück starker Bindfaden. Thoreau trug einen Strohhut, festes Schuhwerk und robuste graue Hosen, um sich vor Gestrüpp und Dornen zu schützen, aber auch, um auf Bäume zu den Nestern von Eichhörnchen oder Falken klettern zu können. Ich erinnere mich an einen Tag, da watete er in einem Teich, um Wasserpflanzen zu untersuchen; seine kräftigen Beine waren kein unwesentlicher Teil seiner Ausrüstung.

NATHANIELHAWTHORNE Er ist vertraut mit Säugetier, Fisch, Vogel und Reptil und kann seltsame Geschichten von seinen Abenteuern und freundschaftlichen Begegnungen mit diesen untergeordneten Brüdern der Sterblichkeit erzählen. Gleichermaßen sind Pflanze und Blume, wo immer sie sprießen, ob im Garten oder in der Wildnis, seine engen Freunde. Auch pflegt er gute Beziehungen zu den Wolken und kann die Vorzeichen eines Sturms erkennen.

RALPHWALDOEMERSON Schlangen wanden sich um seine Beine. Fische schwammen ihm in die Hand und er hob sie aus dem Wasser. Murmeltiere zog er am Schwanz aus ihrem Bau und Füchse verbarg er vor den Jägern. Unser Naturalist war von vollkommener Großherzigkeit.

NATHANIELHAWTHORNE Es ist typisch für ihn, dass er großen Respekt vor dem Vermächtnis der Indianerstämme hat, deren wildes Leben ihm so gut gefallen hätte …

RICHARDFULLER Er wusste aber auch einiges über die Inder zu sagen.

Thoreau 1856

(Benjamin D. Maxham)

NATHANIELHAWTHORNE … und merkwürdigerweise geht er selten über ein gepflügtes Feld, ohne eine Pfeil- oder Speerspitze oder ein anderes Relikt des roten Mannes aufzulesen. Als ob ihre Geister ihn als Erben ihres schlichten Reichtums auserkoren hätten.

Thoreau 1861

(Edward S. Dunshee)

RALPHWALDOEMERSON Es gab keinen wahrhaftigeren Amerikaner als Thoreau. Seine Vorliebe für sein Land und für seine eigene Position war echt, und seine Abneigung gegenüber englischen und europäischen Sitten und Moden grenzte an Verachtung. Neuigkeiten und Bonmots aus Londoner Kreisen vernahm er unwillig, und obwohl er sich bemühte, freundlich zu sein, ermüdeten ihn diese Anekdoten.

ELLERYCHANNING Die geballte Hand zeigte ein Vorhaben an. Beim Gehen nahm er eine Abkürzung, wenn er konnte, und wenn er im Schatten oder an der Mauer saß, so schien er nur umso klarer nach dem nächsten Stück Tätigkeit auszublicken. Sogar im Boot hatte er ein achtsames Aussehen, seine Augen wanderten schnell hin und her – vielleicht gab es dort Enten, eine Schildkröte, einen Fischotter oder einen Sperling zu sehen.

RALPHWALDOEMERSON Er konnte unbeweglich dasitzen und zum Fels werden, auf dem er saß, bis der Vogel, die Echse, der Fisch, eben das Tier, das vor ihm geflohen war, zurückkam und seinen gewohnten Verhaltensweisen nachging, nein, womöglich noch neugierig zu ihm kam und ihn beobachtete.

ELLERYCHANNING Seine ganze Gestalt hatte einen tätigen Ernst, als hätte er keinen Augenblick zu vergeuden.

RALPHWALDOEMERSON Seine Sinne waren scharf, sein Körperbau drahtig und zäh, seine Hände kräftig und geschickt im Umgang mit Werkzeugen. Sein Körper und sein Geist befanden sich auf wunderbare Weise im Einklang.

ROBERTLOUISSTEVENSON Es gab nicht viel, was er nicht konnte. Er baute ein Haus, ein Boot, produzierte Bleistifte und machte Bücher. Er war Vermesser, Gelehrter, Naturgeschichtler. Er konnte laufen, wandern, klettern, Schlittschuh fahren, schwimmen, Boote lenken. Der geringste Anlass genügte ihm, seine Körpertüchtigkeit hervorzukehren; und ein Fabrikant, der bloß sein geschicktes Hantieren an einem Waggonfenster sah, offerierte ihm sofort eine Stellung.

NATHANIELHAWTHORNE Darüber hinaus hat er mehr als nur einen Anstrich literarischer Bildung – einen tiefen und echten Sinn für Poesie, besonders für die klassischen Dichter, auch wenn er wie alle anderen Transzendentalisten, soweit ich mit ihnen bekannt bin, anspruchsvoller ist, als wünschenswert wäre.

RALPH WALDO EMERSON Das Verhältnis seines Körpers zu seinem Geist war noch feiner, als ich angedeutet habe. Er sagte, er begehre jeden Schritt, den seine Beine machten. Der Länge seiner Wanderungen entsprach die Länge seiner Schriften. Hielt er sich nur im Haus auf, schrieb er nicht.

RICHARDFULLER Thoreau war reich an Widersprüchen. Das brachte mich dazu, die Grundlagen seiner Ansichten genauer anzuschauen, anstatt sie ändern zu wollen. Es entsprach seinem Temperament, die Fahne in die entgegengesetzte Richtung zu schwenken, wenn die Welt seiner Meinung zu sein drohte.

RALPHWALDOEMERSON Nein zu sagen, kostete ihn nichts; es war für ihn leichter, als ja zu sagen. Er war so unzufrieden mit den Beschränkungen unserer alltäglichen Gedanken, dass es sein erster Instinkt war zu widersprechen, wenn er eine Behauptung hörte.

ROBERTLOUISSTEVENSON Es ist nützlich, nein sagen zu können, doch das Wesen der Liebenswürdigkeit besteht sicherlich darin, ja zu sagen, wann immer es möglich ist. Einem Menschen, der sich nicht selbst verabscheut, wenn er genötigt ist, nein zu sagen, fehlt etwas. Und diesem geborenen Dissidenten fehlte viel.

RALPHWALDOEMERSON Natürlich wirkte sich diese Gewohnheit hinderlich auf seine sozialen Beziehungen aus, und obwohl sein Gegenüber ihm am Ende weder bösen Willen noch Unaufrichtigkeit unterstellte, verdarb es doch das Gespräch. Daher stand auch niemand in ganz enger Beziehung zu ihm, obwohl er rein und harmlos war.

ELIZABETH HOAR: Ich liebe Henry, aber ich mag ihn nicht: Seinen Arm zu ergreifen, erscheint mir so, als ergreife man den Arm einer Ulme.

RALPHWALDOEMERSON Sein Wesen hatte etwas Militärisches, das sich nicht unterdrücken ließ. Stets war er männlich und zupackend, selten sanft; es schien, als spürte er sich nicht – außer im Zustand der Rebellion.

ELLERYCHANNING Er war ein einfacher Mann in seinem Benehmen und seiner Kleidung, einer, der nicht misszuverstehen war. Diese Art von Schlichtheit ist nicht ohne Anmut. In seiner Einfachheit ging er manchmal bis zum Äußersten.

RALPHWALDOEMERSON Er hinterfragte jede Gewohnheit und strebte danach, seine Handlungen auf eine ideale Grundlage zu stellen. Er war ein Rebell in extremis, und wenige Leben sind so entsagungsreich, wie es seines war. Er wurde in keinem Beruf erzogen, er heiratete nie, er lebte allein, er ging nie in die Kirche, er wählte nie, er weigerte sich, dem Staat Steuern zu zahlen, er aß kein Fleisch, er trank keinen Wein, er rauchte keinen Tabak, und obwohl er Naturforscher war, benutzte er weder Fallen noch ein Gewehr.

ROBERTLOUISSTEVENSON So viele negative Vorzüge geraten leicht in den Ruch von Dünkel.

RALPHWALDOEMERSON Er zog es vor, so wie es ihm vernünftig schien, ein Junggeselle des Denkens und der Natur zu sein.

ROBERTLOUISSTEVENSON Mit einem Wort: Thoreau kniff. Er wollte nicht, dass ihm unter seinen Mitmenschen die Tugend abhandenkam, und verdrückte sich in eine Ecke, um sie für sich zu horten. Um ein paar tugendhafter Schwelgereien willen gab er alles auf.

BRONSONALCOTT Er schien keinen Anfechtungen ausgesetzt zu sein. All die starken Bedürfnisse, mit denen andere Menschennaturen kämpfen, kannte Thoreau nicht.

ROBERTLOUISSTEVENSON Doch der Mensch kann beim Streben nach Güte auch kalt-grausam und beim Streben nach Gesundheit sogar krankhaft sein. Ich finde jetzt nicht die Stelle, wo er seine Kaffee- und Teeabstinenz erläutert, aber ich glaube, den Inhalt hinzubekommen. Dies ist er: Er hielt es für unökonomisch und eines wahren Empiristen für unwürdig, das natürliche morgendliche Entzücken durch derart schmutzige Genüsse zu verderben; man lasse ihn nur den Sonnenaufgang sehen, und schon sei er auf die Mühen des Tages hinlänglich eingestimmt. Das mag ein guter Grund sein, sich des Tees zu enthalten; aber wenn wir feststellen, dass derselbe Mensch, aus denselben oder ähnlichen Gründen, sich beinahe all der Dinge enthält, von denen seine Nachbarn unschuldig und vergnügt Gebrauch machen, und dazu auch der Schwierigkeiten und Prüfungen der menschlichen Gesellschaft, erkennen wir jene hypochondrische Gesundheit, die heikler als Krankheit ist.

RALPHWALDOEMERSON Natürlich nahmen seine Tugenden manchmal extreme Züge an.

ROBERTLOUISSTEVENSON Shakespeare, dürfen wir uns vorstellen, konnte seinen Tag mit einem Krug Bier beginnen und doch den Sonnenaufgang wie Thoreau genießen und diesen Genuss in weitaus besseren Versen feiern.

RALPHWALDOEMERSON Da er vollkommen integer war, forderte er Integrität auch von anderen. Verbrechen verabscheute er, sie waren für ihn mit keinem irdischen Nutzen zu rechtfertigen. Gaunereien entlarvte er sowohl bei Würdenträgern und Reichen als auch bei Armen unerbittlich und mit demselben Ekel. Diese gefährliche Offenheit im Umgang mit anderen brachte ihm unter seinen Bewunderern den Namen »der furchtbare Thoreau« ein. Es war, als redete er, wenn er schwieg, und als sei er auch abwesend noch anwesend. Ich denke, die Strenge seiner Ideale führte dazu, dass er nicht genügend gesunde menschliche Gesellschaft hatte.

ROBERTLOUISSTEVENSON Ob man ihn Halbgott oder Halbmensch nennt, er war gewiss keiner von uns, denn er hatte nicht das geringste Gefühl für unsere Schwächen.

RALPHWALDOEMERSON Es war leicht zu sehen, dass seiner unerbittlichen Forderung nach Wahrheit asketische Tendenzen zugrunde lagen, die ihn, diesen freiwilligen Einsiedler, noch einsamer machten, als es ihm selbst lieb war.

NATHANIELHAWTHORNE Alles in allem halte ich ihn für einen Mann, dessen Bekanntschaft gewinnbringend und bekömmlich ist.

AN DER BRÜCKE

Henry David Thoreau wird am 12. Juli 1817 in Concord, Massachusetts, geboren. Die Gemeinde ist klein, ländlich, 1850 ergibt eine Volkszählung 2249 Einwohner. Aber sie liegt idyllisch an dem Zusammenfluss des Sudbury und des Assabet, die in den Concord River aufgehen. Inmitten einer abwechlungsreichen Hügellandschaft mit Wiesen, Äckern, Wäldern und kleinen Seen. An den Ufern und Wegrändern wachsen wilder Wein, wilde Äpfel und vor allem Heidelbeeren. Es überwiegen kleine Familienfarmen, auf denen Roggen, Mais, Kartoffeln und Bohnen angebaut werden. Von der großen Knochenmühle des 19. Jahrhunderts, der Industrialisierung, ist noch nichts zu sehen. Die Textilfabriken, für die Massachusetts später berühmt und berüchtigt wird, sind weit entfernt. Immerhin, die Besiedelung nach Westen macht Fortschritte, und bald schrumpfen die Entfernungen infolge des Eisenbahnausbaus.

»Ich habe niemals mit dem Staunen aufgehört, dass ich am schätzenswertesten Ort der ganzen Welt geboren wurde, und noch dazu im idealen Augenblick«, wird Thoreau später, am 5. Dezember 1856, im Tagebuch vermerken. Concord besitzt aber auch etwas, das nur wenige Orte Neuenglands in diesen Jahren beanspruchen dürfen – Geschichte. Die Pilgerväter gründeten 1635 hier ihre erste Siedlung im Inneren des Landes. Concord symbolisiert die religiöse, politische Tradition der jungen USA, den Aufbruchsgeist und die tätige Energie des Puritanismus, aber auch seine asketische Strenge und seinen Dogmatismus.

Fast anderthalb Jahrhunderte später geht die Stadt noch einmal in die patriotischen Annalen ein. Die legendären Minutemen, räudige amerikanische Farmermilizen, bereiten am 19. April 1775 an der North Bridge einem gut ausgebildeten britischen Strafbataillon eine vernichtende Niederlage. Mit diesem Scharmützel beginnt der Unabhängigkeitskrieg. Und jetzt wird die Stadt endgültig zum Nationalheiligtum erhoben.

By the rude bridge that arched the flood,Their flag to April’s breeze unfurled,Here once the embattled farmers stoodAnd fired the shot heard ’round the world.

So bedichtet Ralph Waldo Emerson 1837 in seiner »Concord Hymn« die mittlerweile mythische Szenerie. Der Stammvater der »American Renaissance«, der Prophet einer eigenen amerikanischen Nationalkultur, lässt sich nicht grundlos zwei Jahre zuvor hier nieder und zieht weitere Intellektuelle und Künstler in dieses Weimar der Neuen Welt. Die »Concord group« soll das philosophisch und ästhetisch fortsetzen, was die Heroen hier begonnen haben – die Befreiung von der europäischen Tradition. Und er findet in Thoreau alsbald einen gelehrigen Schüler.

DIE BUTTER-REBELLION

Thoreaus Vorfahren väterlicherseits sind Hugenotten. Die Thiereaux müssen 1685, als Ludwig XIV. den Katholizismus zur einzig seligmachenden Religion Frankreichs erklärt, aus Tours auf die englische Kanalinsel Jersey flüchten. Großvater Jean emigriert kurz vor Ausbruch der Französischen Revolution in die Neue Welt, lässt sich in Boston als Kaufmann nieder und kommt bald zu einigem Wohlstand.

Thoreaus Vater John hat weniger Glück, er gehört zu den vielen Bankrotteuren Neuenglands. Mehrfach scheitern seine Versuche, als Ladenbesitzer die Subsistenz seiner kleinen Familie zu erwirtschaften. Kurz nach der Geburt des dritten Kindes David Henry – später wird er als Ausweis seiner Individualität die Reihenfolge vertauschen – zieht die Familie ins nahe Chelmsford um. Bald darauf geht es nach Boston. 1823 kehren sie schließlich nach Concord zurück, um sich hier endgültig niederzulassen. Mittlerweile betreibt John eine kleine Bleistiftmanufaktur – und die wirft regelmäßige, wenn auch eher schmale Einkünfte ab. Um über die Runden zu kommen, muss Thoreaus Mutter Cynthia Pensionsgäste im Haus beherbergen.

In Cynthias Ahnenreihe vermischen sich schottische Presbyterianer und englische Quäker. Ihr Vater Asa Dunbar, ein Harvard-Absolvent, gibt seine politische Karriere im Ministerium dran, um sich in der Juristerei und schließlich bis zu seinem frühen Tod als Verwaltungsbeamter in dem kleinen Kaff Keene, New Hampshire, zu verdingen. In seiner Studienzeit macht er sich bei der Universitätsleitung als Rädelsführer der »Harvard College Butter Rebellion« unbeliebt, in der sich die Studenten 1766 lautstark über die schlechte Verpflegung beschweren.

Man muss bei genealogischen Kausalzusammenhängen vorsichtig sein – sie beweisen ja vor allem die Verknüpfungslust des Interpreten –, aber es ist doch zumindest bemerkenswert, dass einige der charakteristischen Merkmale Thoreaus – seine tiefe Religiosität und sein Synkretismus, sein Renegatentum, sein beschränkter beruflicher Ehrgeiz, sein fehlendes monetäres Interesse, ja, seine Antipathie gegenüber dem Yankee-Materialismus – auf die eine oder andere Weise in seiner Ahnenreihe bereits präfiguriert zu sein scheinen.

DER AMERIKANISCHE GELEHRTE

Thoreaus Mutter Cynthia wird von den Zeitgenossen als eine energische, zupackende, überaus kommunikative Frau beschrieben. Um erfolgreich eine Pension führen zu können, musste sie das wohl auch sein. Vater John ist der Schweigsame. Ein freundlicher Mann mit guten Manieren. Die beiden kommen gut miteinander aus. Henry ist das dritte von vier Kindern. Seiner fünf Jahre älteren Schwester Helen scheint er nicht sehr nahegestanden zu haben. Sie wird Lehrerin und unterstützt ihn finanziell während seines Studiums. Als Helen 1849 an Tuberkulose stirbt, ist ihm das keine einzige Zeile im Tagebuch wert.

John junior ist zwei Jahre älter als er. Er wird sein Spielkamerad, Vertrauter, bester Freund und nicht zuletzt Vorbild. Die beiden könnten unterschiedlicher nicht sein. Henry ist ein schüchterner, kopfhängerischer Träumer. John dagegen strotzt vor Selbstbewusstsein. Er ist umgänglich, bei allen beliebt, noch dazu sieht er gut aus. Ihm trauen die Eltern eine Karriere zu.

Henrys zweite Schwester Sophia ist zwei Jahre jünger als er. Sie verehrt ihren größeren Bruder und kümmert sich später, als er im Sterben liegt, liebevoll um ihn – und um sein Werk. Sie hilft ihm bei der Überarbeitung seiner letzten Essays »Autumnal Tints«, »Wild Apples«, vor allem aber »Walking« und »Life Without Principle«, der beiden großen Bekenntnisschriften, die Thoreaus Philosophie noch einmal auf den Punkt bringen. Nach seinem Tod betreut Sophia die Publikationen aus dem Nachlass und hat damit einen nicht ganz unwesentlichen Anteil an seinem Nachruhm.

Die Mutter gibt den Ton an im Hause Thoreau. Sie ist bildungsbeflissen und sorgt trotz der schwierigen finanziellen Situation dafür, dass wenigstens ihre beiden Söhne – Frauenemanzipation gibt es noch nicht einmal als Begriff – die Concord Academy besuchen können. Eine der besseren Schulen am Platz, die sich als Sprungbrett für das knapp 25 Kilometer entfernte Harvard College versteht. Cynthia legt jedoch Wert darauf, dass keine Stubenhocker aus ihnen werden, sondern Lebenspraktiker. Sie hält sich gern in der Natur auf, animiert die Familie immer wieder zu Ausflügen in die nähere Umgebung nach Egg Rock, zum Waldensee oder zum Fair Haven Hill, wo sie am Lagerfeuer ihre Bohnen kochen oder Fische grillen – wie in einem der gerade erschienenen »Lederstrumpf«-Romane. Cynthia kennt die lokale Flora und Fauna und weiß ihren Enthusiasmus und ihr Wissen offenbar gut zu vermitteln. Wenn Emerson in Thoreau sein Idealbild des amerikanischen Gelehrten verwirklicht sieht – das er in seinem Vortrag »The American Scholar« skizziert hat –, nämlich als eine Synthese aus solider klassischer Bildung und praktischem Verstand, dann ist das wohl vor allem Cynthia zu verdanken. Und vielleicht auch noch James Fennimore Cooper.

John Thoreau sen.,

der Vater

Cynthia Dunbar Thoreau,

die Mutter

John Thoreau jun.,

der Bruder

Sophia Thoreau,

die jüngere Schwester

Helen Thoreau,

die ältere Schwester

MEIN LEBEN WAR EKSTASE

Und noch in einer anderen Sache unterscheiden sich Henrys Kindheit und Jugend von einer in Neuengland typischen. Man ringt im Hause Thoreau um den rechten Glauben. Die einzelnen Familienmitglieder wechseln kreuz und quer die Konfessionen, besuchen Gottesdienste der Trinitarier, der Unitarier – und wieder retour. Thoreau tritt schließlich ganz aus dem Verein aus, als er, gerade volljährig geworden, aufgefordert wird, Kirchensteuern zu zahlen. Bald gehört er ohnehin zu den Apostaten. Die Transzendentalisten um Emerson besuchen keine Messen mehr, sondern gehen hinaus in die Natur und finden den lieben Gott unter jedem Stein.

Toleranz ist bei den Thoreaus also die unbedingte Voraussetzung eines harmonischen Miteinanders. Es scheint vieles erlaubt gewesen zu sein, solange man nur glaubte. Und der Glaube bereichert und erhebt schon das Leben des Kindes, wenn man der Erinnerung eines nostalgisch gestimmten Vierunddreißgjährigen glauben darf. »Mein Leben war Ekstase«, notiert er sich unterm 16. Juli 1851 ins Journal. »Ich kann mich erinnern, dass ich in der Jugend, als ich noch keinen meiner Sinne eingebüßt hatte, ganz lebendig war und meinen Leib mit einem unaussprechlichen Vergnügen bewohnte; seine Ermüdung sowohl wie seine Erfrischung war mir süß. Diese Erde war das herrlichste Musikinstrument, und ich war ganz Ohr für seine Weisen. Dass wir solche süßen Eindrücke empfingen, dass die kühlen Lüfte solche Entzückungen erzeugten! Ich kann mich erinnern, wie erstaunt ich war. Ich sagte zu mir selbst, ich sagte zu anderen: ›Es kommt in mein Gemüt solch ein unbeschreibliches, unendliches, alles einsaugendes, göttliches, himmlisches Vergnügen, ein Gefühl von Erhebung und Weitwerden, und ich habe nichts damit zu schaffen. Ich werde gewahr, dass höhere Mächte mit mir schalten. Dies ist ein Vergnügen, eine Freude, ein Dasein, das ich mir nicht selbst verschafft habe.‹ Mein Schöpfer war daran, mich vollkommener zu machen. Als ich dieses sein Eingreifen entdeckte, war ich tief bewegt. Jahrelang marschierte ich wie nach einer Musik, im Vergleich zu welcher die Militärmusik in den Straßen Lärm und Missklang ist. Ich war täglich wie berauscht …«

GERADE SO

Bald nach dem Eintritt in die Concord Academy schreibt Thoreau einen Aufsatz über »Die vier Jahreszeiten«, es ist der älteste erhaltene Text aus seiner Feder, ein unbedeutender Schüleraufsatz, der brav beschreibt, was die einzelnen Jahreszeiten optisch zu bieten haben, aber immerhin sein frühes Interesse für die Sensationen der Natur belegt. Thoreau ist ein guter, aber kein glänzender Schüler. Immerhin tritt er in der Academy endlich einmal aus dem Schatten seines großen Bruders heraus. Die Eltern schicken ihn und nicht John nach Harvard. Für beide reicht das Geld nicht. Ihr Lehrer Phineas Allen sieht in ihm den vielversprechenderen Akademiker. Und er soll recht behalten.

Schon in seiner Schulzeit hat sich Thoreau für Bücher interessiert. Als er im August 1833, mit 16 Jahren, sein Studium aufnimmt und die umfangreiche, etwa 50 000 Bände umfassende Harvard-Bibliothek kennenlernt, wird er zum Bibliophagen. Er liest sich durch die englische Literaturgeschichte, von den Elisabethanern bis zur Gegenwart. Shakespeare, Milton, Chaucer, Goldsmith, Southey, Johnson, Gray. Aber auch Homer, die griechischen Dichter und nicht zuletzt Reisebücher aus dem alten, unheimlichen Amerika.

Dabei ist sein Start in Harvard alles andere als glücklich. Beim Aufnahmetest fällt er beinahe durch. »Du hast es gerade so geschafft«, gibt ihm der College-Präsident Josiah Quincy mit auf den Weg. Und das bedeutet viel Arbeit. Fast alle Studenten stehen in einem der Hauptfächer Latein, Griechisch oder Mathematik »auf Probe«, das heißt, sie müssen Zusatzkurse belegen, um ihre Kenntnisse auf Harvard-Niveau zu heben. Thoreau muss sich gleich in allen drei Fächern verbessern. Aber er kämpft sich durch. Bereits im Frühjahr hat er sich im etwas undurchsichtigen College-Bewertungssystem einen achtbaren Schnitt erarbeitet und wird dafür mit einem 25-Dollar-Stipendium belohnt. Eine längere Krankheit im Frühjahr 1836 – vielleicht ein erster Ausbruch der Tuberkulose, die ihn später dahinraffen wird – verschlechtert danach wieder seine Gesamtnote, aber während seines vierjährigen Aufenthalts in Harvard liegen seine Leistungen in Altphilologie, Französisch, Italienisch und Deutsch, in Mathematik, Geologie, Zoologie, Botanik und Philosophie meistens über dem Durchschnitt. Und so bekommt er weitere Stipendiengelder. Thoreau studiert, wie ein Selbstdenker studieren sollte. Er macht das, was nötig ist, und widmet sich in der übrigen Zeit seinen eigenen Studieninteressen. Ein wenig umgibt ihn die Aura eines Strebers, weil man ihn ständig im Lesesaal antrifft. Und weil er sich meistens raushält. Der großen College-Rebellion 1834 bleibt er fern. Bei den üblichen studentischen Saufgelagen und männerbündischen Rüpeleien macht er nicht mit. Er raucht nicht einmal. Ein idealistischer Asket. Die Verse des Elisabethaners Samuel Daniel werden zu seinem Wahlspruch: »Unless above himself he can / Erect himself, how poor a thing is man.« (»Wer sich nicht selbst überragen kann, / welch armes Ding ist dieser Mann.«)

Auf den einen oder anderen muss er arrogant gewirkt haben. »Er achtete nicht auf Menschen, seine Klassenkameraden schienen ihm sehr entfernt. Er hing ständig seinen Träumen nach«, erinnert sich später sein Kommilitone John Weiss. Er habe gewirkt wie ein ägyptischer Götze, gefangen in einer Art mystischem Egoismus, dazu sein feuchter, indifferenter Händedruck. Kaum einer habe sich mit ihm abgeben wollen. Das passt ein bisschen zu gut zum Vorurteil des ungeselligen, quadratschädeligen Eremiten, um es ganz ernst nehmen zu müssen. Vielleicht stellt sich hier das spätere öffentliche Bild von Thoreau vor die Erinnerung.

Er ist unangepasst und gefällt sich wohl auch in der Rolle des Solitärs, aber er wird keineswegs komplett ignoriert von seinen Mitstudenten, wie Weiss glauben machen will. Er schließt Freundschaften auf dem Campus, pflegt nicht nur Umgang mit seinen alten Bekannten von der Concord Academy, Charles Stearns Wheeler und seinem Stubengenossen Henry Vose. Seine Studienkollegen schätzen ihn und schreiben ihm warmherzige, witzige Briefe, wenn er in Concord krank darniederliegt, um ihn mit dem wichtigsten Universitätsklatsch zu versorgen.

VERWANDTE GEISTER

Im Winter 1835/36 macht Thoreau von einer erst kurz zuvor verabschiedeten College-Regelung Gebrauch, die den Studenten erlaubt, ihr Studium einige Monate zu unterbrechen, um selber zu unterrichten. Eine solche Auszeit bietet Vorteile. Studenten, für die kein Aufbaustudium zum Juristen, Mediziner oder Geistlichen in Frage kommt und die sich somit künftig als Lehrer verdingen müssen, können Unterrichtspraxis sammeln. Und außerdem etwas dazuverdienen. Die Studiengebühren sind nicht unerheblich.

Angesichts der prekären finanziellen Situation der Thoreaus nimmt Henry die erstbeste Gelegenheit wahr. Er stellt sich bei Orestes A. Brownson in Canton, Massachusetts, vor. Die beiden diskutieren bis in die Nacht über Gott und die Welt, mehr über Ersteren, und danach darf Thoreau bei ihm anfangen. Brownson ist ein ziemlich selbstverliebter, aber auch blitzgescheiter, unkonventioneller Kopf. Ein großer Eklektiker, der sich aus den unterschiedlichsten Konfessionen seine eigene Gottesvorstellung zusammenflickt und der gerade an seinem Buch »New Views of Christian Society and the Church« schreibt, einem der Grundlagenwerke des Transzendentalismus. Thoreau kommt hier erstmals mit dieser neuen Glaubensrichtung in Kontakt, die als spirituelle Kraftquelle sein ganzes weiteres Leben und Werk antreiben wird. Und das gleich in Gestalt eines ihrer luzidesten Apostel.

Er muss bei Brownson 70 Kinder gleichzeitig unterrichten. Viel dabei gelernt haben können sie nicht. Der Mentor jedoch scheint mit der Leistung seines Praktikanten zufrieden gewesen zu sein und stellt ihm später, als sich Thoreau um eine Anstellung bewerben will, gern eine Empfehlung aus. Vielleicht gilt die aber auch mehr dem verwandten Geist. Die beiden haben eine für beide Seiten inspirierende Zeit miteinander, lesen zusammen Goethe oder lösen die großen religiösen Fragen, die im Neuengland jener Jahre anstehen. Für Thoreau sind die Wochen eine Offenbarung – »eine Epoche in meinem Leben«, wie er im Brief vom 30. Dezember 1837 an Brownson schwärmt, »der Morgen von einem neuen Lebenstag«. Und in Erinnerung an die gemeinsame »Torquato Tasso«-Lektüre schreibt er »Lebenstag« auf Deutsch. »Es erhebt / Die Sonne sich des neuen Lebenstages, / Der mit den vorigen sich nicht vergleicht«, heißt es bei Goethe.

DER GELEHRTE BRAUCHT HARTE ARBEIT

Thoreau füllt schon während seines Studiums Notizbücher mit Lektürefrüchten. Kollektaneen. Eine traditionelle Praxis, auf die ihn sein Professor für Rhetorik und Redekunst Edward Tyrrell Channing, der Onkel seines späteren Freundes und Biographen Ellery Channing, gebracht haben dürfte. Der wackere Aufklärer versucht seinen Schülern einen klar strukturierten, vernünftig argumentierenden, heruntergekühlten Stil einzuimpfen. Aber Thoreau hat mittlerweile die englischen Romantiker gelesen, Coleridge, Wordsworth, Carlyle etc., und ist hingerissen von ihrem intuitiven Schwung, Gefühlsüberschwang und nicht zuletzt ihrem reichen, exaltierten Ausdruck. Er gibt durchaus zu, viel gelernt zu haben von Channing, bezeichnet die Kurse bei ihm sogar als einzige segensreiche Erfahrung in Harvard, aber seine rhetorischen Ideale teilt er damit noch lange nicht.

In den frühen Tagebüchern und Essays bemerkt man noch einige Manieriertheiten und sprachliche Kraftmeiereien, die vor allem auf sein Prosavorbild Carlyle hinweisen. Aber er lernt schließlich auch die simple Natürlichkeit eines Emerson zu schätzen. Und die handgreifliche, noch ganz unverbildete, kunstlose Sprache in den Schriften der puritanischen Einwanderer, wie in John Josselyns »New England’s Rarities Discovered«. Aus diesen beiden gegensätzlichen Einflüssen mendelt sich schließlich Thoreaus Stilideal heraus. »Wir sollten uns nicht um eine kühle Analyse unserer Gedanken bemühen, sondern sollten, indem wir die Feder gerade und parallel zum Strom halten, von jenen eine genaue Abschrift schaffen. Der Impuls ist letztlich der beste Linguist«, schreibt er am 7. März 1838. »Je näher wir einer vollständigen, aber einfachen Abschrift unserer Gedanken kommen«, desto passabler werde das fertige Werk sein.

Ein paar Jahre später kommt er noch einmal auf diesen Gedanken zurück. Und jetzt ergänzt er ihn um den Aspekt der Körperlichkeit. »Ich finde für die Hände unablässig Betätigung, was auch die Aufmerksamkeit in Anspruch nimmt und die beste Methode ist, Geschwätz aus seinem Stil zu entfernen. Wer in den kurzen Wintertagen vor Einbruch der Nacht Holz fällen und zu Klaftern aufschichten muss, wird bei seiner Arbeit nicht tanzen; sondern jeder Hieb wird genau bemessen sein und nüchtern durch den Wald schallen. Und genauso werden seine Zeilen ertönen und sich dem Ohr mitteilen, wenn er abends die Rechnungen des Tages begleicht. Ich bin oft über die Kraft und Genauigkeit des Stils erstaunt gewesen, die eifrig arbeitende Menschen, obgleich im Schreiben unerfahren, mit Leichtigkeit erreichen, wenn ihnen die Anstrengung abverlangt wird. Es scheint, als sei ihre Aufrichtigkeit und Einfachheit das Wichtigste, was in Schulen gelehrt werden sollte«, heißt es unter dem 5. Januar 1842. »Wer ist nicht der schwachen und plätschernden Satzperioden der Politiker und Gelehrten müde und greift nicht gar zum Bauernkalender, um den einfachen Bericht über die monatliche Arbeit zu lesen und seinen eigenen Ton wieder zu stärken? Ich möchte einen Satz deutlich bis zum Ende gehen sehen, so tief und fruchtbar wie eine gut gezogene Furche, die zeigt, dass der Pflug bis zum Baum herabgedrückt war. Wenn unsere Gelehrten ihr Leben ernsthafter führen würden, wären wir nicht Zeugen jener lahmen Schlüsse, die sie aus ihren schlecht ausgesäten Darlegungen ziehen.«

Und seine Schlussfolgerung ist dann so einleuchtend, dass nicht einmal sein alter Lehrer Channing Einwände gehabt haben dürfte. »Der Gelehrte braucht harte Arbeit als Antrieb für seine Feder. Er wird lernen, sie so fest anzupacken und so anmutig und wirksam zu schwingen wie eine Axt oder ein Schwert. Wenn ich die bemühten Satzperioden eines Edelgelehrten betrachte, der vielleicht in Fuß und Zoll an das Niveau von seinesgleichen heranreicht und es keineswegs an Körperumfang mangeln lässt, bin ich erstaunt über das gewaltige Opfer von Muskeln und Sehnen, das da erbracht wird.« Nein, das könne nicht »eines kräftigen Mannes Arbeit sein, der Mark in seinem Rückgrat hat und eine Achillessehne an seiner Ferse«.

Schriftsteller wissen selbst oft am wenigsten, was sie da machen. Und glücklicherweise geht auch Thoreaus Werk nicht auf in solcherart Holzhackerprosa. Gerade wenn es darum ging, seine Epiphanien und Gefühlsexaltationen im Austausch mit der Natur ins Wort zu erlösen, konnte er mit bloßer Aufrichtigkeit – und ehrlicher körperlicher Arbeit – allein wohl kaum etwas beschicken. Da bedurfte es literarischer Bildung und stilistischer Raffinesse. Und die hatte sich Thoreau in Harvard erlesen. »Als Bilderstürmer der Literatur dankte er den Universitäten selten für das, was sie für ihn getan hatten, und achtete sie wenig«, schreibt Emerson in seinem glänzenden Thoreau-Porträt. »Doch tatsächlich verdankte er ihnen viel.« Immerhin, die Bibliothek hat er stets als großes Geschenk verstanden und auch nach seinem Studium eifrig genutzt.

DIE WIRKLICHE BEDEUTUNG

Im Frühjahr 1837, also schon ein paar Monate nach Erscheinen, entleiht Thoreau Emersons transzendentalistische Programmschrift »Natur« aus der Harvard-Bibliothek. Die Lektüre wird zu einem Pfingsterlebnis. Er verinnerlicht dieses Glaubensbekenntnis völlig, macht es zu seinem eigenen.