Zur Verfassung Europas - Jürgen Habermas - E-Book

Zur Verfassung Europas E-Book

Jürgen Habermas

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Beschreibung

Die anhaltende Euro-Krise sowie die halbherzigen, oft populistischen Reaktionen der Politik lassen ein Scheitern des europäischen Projekts derzeit als reale Möglichkeit erscheinen. In seinem Essay verteidigt Jürgen Habermas Europa gegen die sich ausbreitende Skepsis, der er ein neues überzeugendes Narrativ für die Geschichte und vor allem die Zukunft der Europäischen Union entgegensetzt. Denkblockaden in Bezug auf die Transnationalisierung der Demokratie räumt er aus dem Weg, indem er den Einigungsprozess in den langfristigen Zusammenhang der Verrechtlichung und Zivilisierung staatlicher Gewalt einordnet. An die Politik richtet Jürgen Habermas schließlich den Appell, das bisher hinter verschlossenen Türen betriebene europäische Projekt endlich auf den hemdsärmeligen Modus eines lärmend argumentierenden Meinungskampfes in der breiten Öffentlichkeit umzupolen. Neben diesem Essay zur Verfassung Europas enthält dieser Band den Aufsatz »Das Konzept der Menschenwürde und die realistische Utopie der Menschenrechte« aus dem Jahr 2010 sowie drei Interventionen, die Jürgen Habermas seit dem Ausbruch der Finanzkrise veröffentlicht hat. »Angesichts eines politisch ungesteuerten Komplexitätswachstums der Weltgesellschaft, das den Handlungsspielraum der Nationalstaaten systemisch immer weiter einschränkt, ergibt sich die Forderung, die politischen Handlungsfähigkeiten über nationale Grenzen hinaus zu erweitern, aus dem normativen Sinn der Demokratie selbst.« Jürgen Habermas

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Seitenzahl: 164

Veröffentlichungsjahr: 2011

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Jürgen Habermas

Zur Verfassung Europas

Ein Essay

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2011

© Suhrkamp Verlag Berlin 2011

Originalausgabe

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,

des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung

durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form

(durch Photographie, Mikrofilm oder andere Verfahren)

ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert

oder unter Verwendung elektronischer Systeme

verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Satz: Hümmer GmbH, Waldbüttelbrunn

Umschlag gestaltet nach einem Konzept

von Willy Fleckhaus: Rolf Staudt

eISBN 978-3-518-77000-9

www.suhrkamp-verlag.de

Inhalt

Vorwort

Das Konzept der Menschenwürde und die realistische Utopie der Menschenrechte

Die Krise der Europäischen Union im Lichte einer Konstitutionalisierung des Völkerrechts – Ein Essay zur Verfassung Europas

I. Warum Europa heute erst recht ein Verfassungs projekt ist

II. Die Europäische Union vor der Entscheidung zwischen transnationaler Demokratie und postdemokratischem Exekutivföderalismus

III. Von der internationalen zur kosmopolitischen Gemeinschaft

Anhang: Das Europa der Bundesrepublik

I. Nach dem Bankrott. Ein Interview

II. Am Euro entscheidet sich das Schicksal der Europäischen Union

III. Ein Pakt für oder gegen Europa?

Nachweise

Vorwort

Seit 2008 beobachten wir die mühsamen Lernprozesse der deutschen Bundesregierung, die sich widerwillig und in kleinen Schritten auf Europa zu bewegt. Schließlich – nach zweieinhalb Jahren des anfänglichen Beharrens auf nationalen Alleingängen, dem Feilschen um Rettungsschirme, zweideutigen Signalen und hinausgezögerten Zugeständnissen – scheint sich die Einsicht durchzusetzen, dass der ordoliberale Traum von den freiwillig vereinbarten Stabilitätskriterien, denen die nationalen Haushalte der Mitgliedsländer folgen sollen, gescheitert ist. Der Traum von den »Mechanismen«, die eine gemeinsame politische Willensbildung überflüssig machen und die Demokratie im Zaum halten sollten, ist nicht nur an unterschiedlichen Wirtschaftskulturen, sondern vor allem an den schnell wechselnden Konstellationen unberechenbarer Umwelten zerschellt. Heute sprechen alle vom »Konstruktionsfehler« einer Währungsunion, der die erforderlichen politischen Steuerungskompetenzen fehlen. Inzwischen wächst die Einsicht, dass die Europäischen Verträge geändert werden müssen; aber die klare Perspektive fehlt.

Nach den jüngst kursierenden Plänen soll sich das gemeinsame Regieren der siebzehn Euro-Staaten im Kreise der Regierungschefs, also einem »Kern« des Europäischen Rates abspielen. Da dieses Leitungsorgan keine rechtlich verbindlichen Beschlüsse fassen kann, konzentriert sich das Nachdenken auf die Art der Sanktionen, die gegenüber »ungehorsamen« Regierungen verhängt werden sollen. Aber wer soll hier eigentlich wem Folgsamkeit gegenüber Beschlüssen welchen Inhalts auferlegen? Nachdem die starren Stabilitätskriterien zu dem beschwörenden »Pakt für Europa« erweitert und flexibilisiert worden sind, sollen sich die Beschlüsse des Europäischen Rates auf das breite Spektrum all jener Politiken erstrecken, die auf die globale Wettbewerbsfähigkeit der auseinandergedrifteten nationalen Ökonomien Einfluss haben können. Die europäischen Vereinbarungen würden also in Kernbereiche der nationalen Parlamente eingreifen – von der Finanz- und Wirtschaftspolitik über die Sozialpolitik bis zur Bildungs- und Arbeitsmarktpolitik. Man stellt sich das Procedere offenbar so vor, dass die Regierungschefs für die politische Durchsetzung aller Ziele, auf die sie sich mit ihren Kollegen in Brüssel verständigt haben, in ihren jeweils eigenen nationalen Parlamenten unter Strafandrohung Mehrheiten organisieren. Diese Art von Exekutivföderalismus eines sich selbst ermächtigenden Europäischen Rates der siebzehn wäre das Muster einer postdemokratischen Herrschaftsausübung.

Wie zu erwarten, regt sich gegen diese intergouvernementale Aushöhlung der Demokratie Widerstand von zwei Seiten. Die Verteidiger des Nationalstaates sehen sich in ihren schlimmsten Befürchtungen bestätigt und verschanzen sich nun erst recht hinter den Fassaden einer wenn auch längst durchlöcherten staatlichen Souveränität. Allerdings haben sie in der gegenwärtigen Krise die Rückendeckung einer Wirtschaftslobby verloren, die bisher daran interessiert gewesen ist, die Gemeinschaftswährung ebenso wie den gemeinsamen Markt von politischen Interventionen nach Möglichkeit frei zu halten. Auf der anderen Seite melden sich wieder die lange Zeit verstummten Fürsprecher der »Vereinigten Staaten von Europa«, die freilich mit dieser emphatischen Vorstellung der eigenen Absicht, die Integration zunächst in Kerneuropa voranzutreiben, einen Bärendienst erweisen. Denn auf diese Weise verfängt sich die berechtigte Opposition gegen den abschüssigen Weg in einen bürokratischen Exekutivföderalismus in der aussichtslosen Alternative zwischen Nationalstaat und europäischem Bundesstaat. Nicht besser ist ein vager Föderalismus, der diese falsche Alternative auf unbestimmte Weise negiert.

Mit meinem Versuch über die »Verfassung« – also den aktuellen Zustand und die politische Verfassung – Europas will ich einerseits zeigen, dass die Europäische Union des Lissaboner Vertrags nicht so weit von der Gestalt einer transnationalen Demokratie entfernt ist, wie viele ihrer Kritiker meinen. Andererseits möchte ich erklären, warum der Konstruktionsfehler der Währungsunion nicht ohne Vertragsänderung behoben werden kann. Die nun geplante Koordinierung der Entscheidungen der EWU-Staaten auf wichtigen Politikfeldern bedarf einer erweiterten Legitimationsgrundlage. Für eine solche transnationale Demokratie ist allerdings die bundesstaatliche Verfassung das falsche Modell. Sobald wir die Europäische Union so betrachten, als sei sie aus guten Gründen von zwei gleichberechtigten verfassungsgebenden Subjekten geschaffen worden, nämlich gleichursprünglich von den Bürgern (!) und den Staatsvölkern (!) Europas, erkennen wir die Architektonik des überstaatlichen und gleichwohl demokratischen Gemeinwesens. Wir brauchen also aus der beispiellosen europäischen Rechtsentwicklung des vergangenen halben Jahrhunderts nur die richtigen Konsequenzen zu ziehen.

Noch scheuen die politischen Eliten vor der hohen Hürde einer Vertragsänderung zurück. Dieses Zögern erklärt sich wohl nicht allein aus opportunistischem Machterhaltungsinteresse und mangelnder Führungsstärke. Die ökonomisch erzeugten Befürchtungen machen die Probleme Europas im Bewusstsein der Bevölkerungen stärker präsent und verleihen ihnen eine größere existentielle Bedeutung denn je. Diesen ungewöhnlichen Thematisierungsschub müssten die politischen Eliten als Chance begreifen und auch darin das Außerordentliche der gegenwärtigen Lage erkennen. Aber auch die Politiker sind längst eine Funktionselite geworden: Sie sind nicht mehr vorbereitet auf eine entgrenzte Situation, die sich dem üblichen demoskopisch-administrativen Zugriff entzieht und einen anderen, einen mentalitätsgestaltenden Politikmodus erfordert.

Ich möchte mit meinen Mitteln den Versuch machen, Denkblockaden aus dem Weg zu räumen, die gegenüber einer Transnationalisierung der Demokratie immer noch bestehen. Dabei ordne ich die europäische Einigung in den langfristigen Zusammenhang einer demokratischen Verrechtlichung und Zivilisierung staatlicher Gewalt ein. Aus dieser Perspektive soll deutlich werden, dass die Befriedung kriegerischer Nationen, also das Ziel, das nach dem Zweiten Weltkrieg nicht nur die Gründung der Vereinten Nationen, sondern auch die europäische Einigung motiviert hat, die Ausgangsbasis für ein weiter ausgreifendes Ziel geschaffen hat, und zwar für den Aufbau politischer Handlungsfähigkeiten jenseits der Nationalstaaten. Die Konstitutionalisierung des Völkerrechts ist längst nicht mehr nur auf jene Pazifizierung gerichtet, die auch am Anfang der Entwicklung zur Europäischen Union stand. Das Zerplatzen neoliberaler Illusionen hat die Einsicht gefördert, dass die Finanzmärkte, ja überhaupt die durch nationale Grenzen hindurchgreifenden Funktionssysteme der Weltgesellschaft Problemlagen schaffen, welche einzelne Staaten – oder Koalitionen von Staaten – nicht mehr beherrschen können. Von diesem Regelungsbedarf wird gewissermaßen die Politik als solche, die Politik im Singular, herausgefordert: Die internationale Gemeinschaft der Staaten muss sich zu einer kosmopolitischen der Staaten und der Weltbürger fortentwickeln.

Dem Essay zur Verfassung Europas stelle ich eine (in einer Fachzeitschrift bereits publizierte) Abhandlung voran, die den Zusammenhang des systematischen Begriffs der Menschenrechte mit dem genealogischen Begriff der Menschenwürde untersucht. »Genealogisch« soll heißen, dass die Erfahrungen verletzter menschlicher Würde eine kämpferische Dynamik der Empörung fördern, die der Hoffnung auf eine noch so unwahrscheinliche weltweite Institutionalisierung der Menschenrechte immer wieder Auftrieb gibt. Der Ausblick auf eine politisch verfasste Weltgesellschaft verliert etwas vom Anschein des Utopischen, wenn wir uns daran erinnern, dass die Rhetorik und die Politik der Menschenrechte seit wenigen Jahrzehnten tatsächlich eine globale Wirksamkeit entfaltet haben. Schon seit den Tagen der Französischen Revolution verrät sich in der spannungsreichen Differenz von Bürger- und Menschenrechten implizit der Anspruch auf eine globale Durchsetzung der gleichen Rechte für jeden. Dieser kosmopolitische Anspruch bedeutet, dass sich die Rolle der Menschenrechte nicht in der moralischen Kritik an den ungerechten Verhältnissen einer hoch stratifizierten Weltgesellschaft erschöpfen darf. Die Menschenrechte sind auf die institutionelle Verkörperung in einer politisch verfassten Weltgesellschaft angewiesen.

Die drei im Anhang dokumentierten Interventionen können als Kommentare zu jenem ethnozentrischen Bild von Europa gelesen werden, das sich in der selbstzentrierten Wahrnehmung des wiedervereinigten Deutschlands spiegelt.

Starnberg, Anfang September 2011

Jürgen Habermas

Das Konzept der Menschenwürde und die realistische Utopie der Menschenrechte

Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, die die Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948 verabschiedet haben, beginnt in Artikel 1 mit dem Satz: »Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.«[1] Auch die Präambel nennt Menschenwürde und Menschenrechte im selben Atemzug. Sie bekräftigt den »Glauben an die grundlegenden Menschenrechte, an die Würde und den Wert der menschlichen Person«.[2] Das vor sechzig Jahren verabschiedete Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland beginnt mit einem Abschnitt über die Grundrechte, und dieser fängt in Artikel 1 wiederum mit dem Satz an: »Die Würde des Menschen ist unantastbar.« Vorangegangen waren ähnliche Formulierungen in drei von fünf der zwischen 1946 und 1949 verabschiedeten deutschen Länderverfassungen. Auch im internationalen Menschenrechtsdiskurs und in der Rechtsprechung spielt die Menschenwürde heute eine prominente Rolle.[3]

Die Unantastbarkeit der Menschenwürde hat die deutsche Öffentlichkeit im Jahr 2006 beschäftigt, als das Bundesverfassungsgericht das vom Bundestag verabschiedete »Luftsicherheitsgesetz« als verfassungswidrig zurückwies. Das Parlament hatte damals das Szenario von »9/11«, also den terroristischen Angriff auf die Zwillingstürme des World Trade Center, vor Augen; es wollte die Streitkräfte ermächtigen, in einer solchen Situation die in Bomben verwandelten Passagierflugzeuge abzuschießen, um eine unbestimmt große Anzahl gefährdeter Personen am Boden zu schützen. Nach Auffassung des Gerichts wäre die Tötung der Passagiere durch staatliche Organe jedoch verfassungswidrig. Die Pflicht des Staates (nach Art. 2 Abs. 2 GG),[4] das Leben der potenziellen Opfer eines Terroranschlages zu schützen, muss hinter die Pflicht zur Achtung der Menschenwürde der Passagiere zurücktreten: »[I]ndem über ihr Leben von Staats wegen einseitig verfügt wird, wird den […] Flugzeuginsassen der Wert abgesprochen, der dem Menschen um seiner selbst willen zukommt«.[5] In diesen Worten des Gerichts ist das Echo von Kants kategorischem Imperativ unüberhörbar. Die Achtung vor der Menschenwürde jeder Person verbietet es dem Staat, über irgendein Individuum bloß als Mittel für einen anderen Zweck zu verfügen, sei es auch um der Rettung des Lebens vieler anderer Personen willen.

Interessant ist nun der Umstand, dass der philosophische Begriff der Menschenwürde, der schon in der Antike aufgetreten ist und bei Kant seine heute gültige Fassung erlangt hat, erst seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges Eingang in Texte des Völkerrechts und in die seitdem in Kraft getretenen nationalen Verfassungen gefunden hat. Seit verhältnismäßig kurzer Zeit spielt er auch in der internationalen Rechtsprechung eine zentrale Rolle. Hingegen taucht das Konzept der Menschenwürde als Rechtsbegriff weder in den klassischen Menschenrechtserklärungen des 18. Jahrhunderts noch in den Kodifikationen des 19. Jahrhunderts auf.[6] Warum ist im Recht von »Menschenrechten« so viel früher als von »Menschenwürde« die Rede? Gewiss, die Gründungsurkunden der Vereinten Nationen, die den Zusammenhang der Menschenrechte mit der Menschenwürde ausdrücklich herstellen, waren offensichtlich eine Antwort auf die unter dem Nazi-Regime begangenen Massenverbrechen und die Massaker des Zweiten Weltkrieges. Erklärt sich daraus der prominente Stellenwert, den die Menschenwürde auch in den Nachkriegsverfassungen Deutschlands, Italiens und Japans, also der Nachfolgeregimes der Urheber dieser moralischen Katastrophe des 20. Jahrhunderts, und ihrer Verbündeten einnehmen? Wird die Idee der Menschenrechte erst im historischen Zusammenhang des Holocaust mit dem Begriff der Menschenwürde gewissermaßen nachträglich moralisch aufgeladen – und möglicherweise überfrachtet?

Die späte Karriere des Menschenwürdebegriffs in verfassungs- und völkerrechtlichen Diskussionen legt diesen Gedanken nahe. Es gibt nur eine Ausnahme aus der Mitte des 19. Jahrhunderts. In den Verhandlungen über die Abschaffung der Todesstrafe und körperlichen Züchtigung in Paragraph 139 der Paulskirchenverfassung vom März 1849 heißt es: »Ein freies Volk hat selbst bei dem Verbrecher die Menschenwürde zu achten.«[7] Diese aus der ersten bürgerlichen Revolution in Deutschland hervorgegangene Verfassung ist allerdings nicht in Kraft getreten. So oder so bleibt die zeitliche Asymmetrie zwischen der ins 17. Jahrhundert zurückreichenden Geschichte der Menschenrechte und dem rezenten Auftreten des Menschenwürdebegriffs in nationalen und völkerrechtlichen Kodifikationen sowie der Rechtsprechung des letzten halben Jahrhunderts ein bemerkenswertes Faktum.

Im Gegensatz zur Annahme einer erst im Rückblick erfolgten moralischen Aufladung des Begriffs der Menschenrechte durch den der Menschenwürde möchte ich die These vertreten, dass von Anfang an, wenn auch zunächst nur implizit, ein enger begrifflicher Zusammenhang zwischen beiden Konzepten bestanden hat. Menschenrechte sind immer erst aus dem Widerstand gegen Willkür, Unterdrückung und Erniedrigung hervorgegangen. Heute kann niemand einen dieser ehrwürdigen Artikel in den Mund nehmen – beispielsweise den Satz »Niemand darf der Folter oder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden« (Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, Art. 5)[8] –, ohne das Echo zu hören, das darin nachhallt: der Aufschrei unzähliger gepeinigter und hingemordeter menschlicher Kreaturen. Die Berufung auf Menschenrechte zehrt von der Empörung der Beleidigten über die Verletzung ihrer menschlichen Würde. Wenn das am Anfang steht, muss sich dieser begriffliche Zusammenhang auch an der Rechtsentwicklung selbst zeigen lassen. Zunächst müssen wir also die Frage beantworten, ob »Menschenwürde« der Ausdruck für einen normativ gehaltvollen Grundbegriff ist, aus dem sich die Menschenrechte durch die Spezifizierung von Verletzungstatbeständen herleiten lassen, oder doch nur ein nichtssagender Ausdruck für einen Katalog einzelner, aufgelesener und unzusammenhängender Menschenrechte.

Ich werde einige rechtstheoretische Gründe nennen, die dafür sprechen, dass »Menschenwürde« kein nachträglich klassifizierender Ausdruck, gewissermaßen eine Attrappe ist, hinter der sich eine Vielfalt verschiedener Phänomene verbirgt, sondern die moralische »Quelle«,[9] aus der sich die Gehalte aller Grundrechte speisen (1). Sodann möchte ich unter systematischen und begriffsgeschichtlichen Gesichtspunkten die katalysatorische Rolle untersuchen, die der Begriff der Würde bei der Komposition der Menschenrechte aus Vernunftmoral und Rechtsform spielt (2). Schließlich erklärt der Ursprung der Menschenrechte aus der moralischen Quelle der menschlichen Würde die politische Sprengkraft einer konkreten Utopie, die ich sowohl gegen die pauschale Verwerfung der Menschenrechte (Carl Schmitt) als auch gegen neuere Versuche der Entschärfung ihres radikalen Gehaltes verteidigen möchte (3).

(1) Grundrechte bedürfen aufgrund ihrer abstrakten Allgemeinheit im Einzelfall der Konkretisierung. Dabei gelangen Gesetzgeber und Richter in unterschiedlichen kulturellen Kontexten oft zu verschiedenen Ergebnissen; ein gutes Beispiel dafür ist heute etwa die Regelung ethisch umstrittener Tatbestände wie der Euthanasie, der Abtreibung oder der eugenischen Manipulation des Erbgutes. Ebenso wenig kontrovers ist, dass sich allgemeine Rechtsbegriffe aufgrund dieser Interpretationsbedürftigkeit für Verhandlungskompromisse eignen. So hat die Berufung auf das Konzept der Menschenwürde etwa bei der Gründung der Vereinten Nationen, überhaupt beim Aushandeln von Menschenrechtspakten und völkerrechtlichen Konventionen, die Herstellung eines überlappenden Konsenses zwischen Parteien verschiedener kultureller Herkunft zweifellos erleichtert: »Jeder konnte der Position zustimmen, dass die Menschenwürde von zentraler Bedeutung sei, nicht jedoch, warum und in welcher Form.«[10]

Aber deshalb muss sich der juristische Sinn der Menschenwürde noch nicht in der Funktion einer Nebelwand erschöpfen, hinter der tiefer reichende Differenzen einstweilen verschwinden können. Die Kompromissfunktion, welche die »Menschenwürde« im Zuge der Ausdifferenzierung und Ausbreitung der Menschenrechte gelegentlich auch bei der Neutralisierung unüberbrückbarer Differenzen erfüllt hat, kann deren spätes Auftreten als Rechtskonzept nicht erklären. Ich möchte zeigen, dass veränderte historische Umstände nur etwas thematisiert und zu Bewusstsein gebracht haben, was den Menschenrechten implizit von Anbeginn eingeschrieben war – nämlich jene normative Substanz der gleichen Menschenwürde eines jeden, welche die Menschenrechte gewissermaßen ausbuchstabieren. So rekurrieren Richter beispielsweise dann auf den Schutz der Menschenwürde, wenn sie angesichts unvorhergesehener Risiken, die durch neue invasive Technologien verursacht werden, ein Recht auf informationelle Selbstbestimmung einführen. In ähnlicher Weise ist das Bundesverfassungsgericht in seiner bahnbrechenden Entscheidung vom 9. Februar 2010 zur Bemessung von Leistungsansprüchen aus Paragraph 20 Abs. 2 SGB II (dem Arbeitslosengeld II) verfahren.[11] Es hat aus diesem Anlass aus Art. 1 Grundgesetz ein Grundrecht auf ein Existenzminimum »abgeleitet«, welches den Begünstigten (und deren Kindern) eine angemessene »Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben« ermöglicht.[12]

Die Erfahrung verletzter Menschenwürde hat eine Entdeckungsfunktion – etwa angesichts unerträglicher sozialer Lebensverhältnisse und der Marginalisierung verarmter sozialer Klassen; angesichts der Ungleichbehandlung von Frauen und Männern am Arbeitsplatz, der Diskriminierung von Fremden, von kulturellen, sprachlichen, religiösen und rassischen Minderheiten; auch angesichts der Qual junger Frauen aus Immigrantenfamilien, die sich von der Gewalt eines traditionellen Ehrenkodexes befreien müssen; oder angesichts der brutalen Abschiebung illegaler Einwanderer und Asylbewerber. Im Lichte historischer Herausforderungen werden jeweils andere Bedeutungsaspekte der Menschenwürde aktualisiert; diese aus verschiedenen Anlässen spezifizierten Züge der Menschenwürde können dann ebenso zu einer weiter gehenden Ausschöpfung des normativen Gehalts verbürgter Grundrechte wie zur Entdeckung und Konstruktion neuer Grundrechte führen.[13] Dabei dringt die im Hintergrund stehende Intuition zunächst ins Bewusstsein der Betroffenen und dann in die Rechtstexte ein, um dort begrifflich artikuliert zu werden.

Die Weimarer Reichsverfassung von 1919, die soziale Grundrechte einführte, liefert für diese schrittweise Entfaltung ein Beispiel. In Artikel 151 ist von der »Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins für alle« die Rede. Hier versteckt sich der Begriff der Menschenwürde noch hinter der prädikativen Verwendung eines umgangssprachlich gebrauchten Wortes; 1944 jedoch bedient sich die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) in ähnlichem Zusammenhang schon der unverkürzten Menschenwürderhetorik.[14] Und wenige Jahre später fordert die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte in Artikel 22 bereits die Gewährung wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Rechte, damit jeder unter Bedingungen leben könne, die »für seine Würde und die freie Entwicklung seiner Persönlichkeit unentbehrlich« sind.[15] Seitdem sprechen wir von verschiedenen »Generationen« von Menschenrechten. Aus der heuristischen Funktion der Menschenwürde erschließt sich auch der logische Zusammenhang der vier bekannten Kategorien von Rechten: Grundrechte können das moralische Versprechen, die Menschenwürde eines jeden zu achten, nur dann politisch einlösen, wenn sie in allen ihren Kategorien gleichmäßig zusammenwirken.[16]

Die liberalen Freiheitsrechte, die sich um die Unversehrtheit und Freizügigkeit der Person, um den freien Marktverkehr und die ungehinderte Religionsausübung kristallisieren und der Abwehr staatlicher Eingriffe in die Privatsphäre dienen, bilden zusammen mit den demokratischen Teilnahmerechten das Paket der sogenannten klassischen Grundrechte. Tatsächlich können aber die Bürger von diesen Rechten erst dann einen chancengleichen Gebrauch machen, wenn gleichzeitig gesichert ist, dass sie in ihrer privaten und wirtschaftlichen Existenz hinreichend unabhängig sind und ihre persönliche Identität in der jeweils gewünschten kulturellen Umgebung sowohl ausbilden wie stabilisieren können. Die Erfahrungen von Exklusion, Elend und Diskriminierung lehren, dass die klassischen Grundrechte erst dann »den gleichen Wert« (Rawls) für alle Bürger erhalten, wenn soziale und kulturelle Rechte hinzutreten. Die Ansprüche auf eine angemessene Teilhabe an Wohlstand und Kultur ziehen der Abwälzung systemisch erzeugter Kosten und Risiken auf Einzelschicksale enge Grenzen. Sie richten sich gegen die Ausspreizung großer sozialer Unterschiede und gegen den Ausschluss ganzer Gruppen aus dem Gesamtkreislauf von Kultur und Gesellschaft. Eine Politik, wie sie in den letzten Jahrzehnten nicht nur in den USA und in Großbritannien, sondern auch auf dem europäischen Kontinent, ja in der ganzen Welt vorgeherrscht hat, eine Politik also, die vorgibt, den Bürgern ein selbstbestimmtes Leben primär über die Gewährleistung von Wirtschaftsfreiheiten garantieren zu können, zerstört das Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Kategorien von Grundrechten. Die Menschenwürde, die überall und für jedermann ein und dieselbe ist, begründet die Unteilbarkeit der Grundrechte.

Aus dieser Entwicklung erklärt sich auch die Prominenz, die der Begriff in der Rechtsprechung erlangt hat. Je stärker die Grundrechte das ganze Rechtssystem durchdringen, umso häufiger greifen sie über die vertikale Beziehung des einzelnen Bürgers zum Staat hinaus und in die horizontalen Beziehungen zwischen den einzelnen Bürgern ein. Dabei häufen sich Kollisionen, die eine Abwägung zwischen konkurrierenden Grundrechtsansprüchen erforderlich machen.[17] In solchen hard caseswird eine begründete Entscheidung oft erst durch den Rekurs auf eine Verletzung der absolut geltenden, also Vorrang beanspruchenden Menschenwürde möglich. Dieser Begriff spielt mithin im Gerichtsdiskurs keineswegs die Rolle eines vagen Platzhalters für eine fehlende integrierte Konzeption von Menschenrechten. Die »Menschenwürde« ist ein Seismograph, der anzeigt, was für eine demokratische Rechtsordnung konstitutiv ist – nämlich genau die Rechte, die sich die Bürger eines politischen Gemeinwesens geben müssen, damit sie sich gegenseitig als Mitglieder einer freiwilligen Assoziation von Freien und Gleichen achten können. Die Gewährleistung dieser Menschenrechte erzeugt erst den Status von Bürgern, die als Subjekte gleicher Rechte einen Anspruch darauf haben, in ihrer menschlichen Würde respektiert zu werden.

Wir erkennen nach zweihundert Jahren moderner Verfassungsgeschichte besser, was diese Entwicklung von Anbeginn