Zwei Kaiserkronen - Oskar Meding - E-Book
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Oskar Meding

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Beschreibung

In 'Zwei Kaiserkronen' von Oskar Meding wird die Geschichte zweier miteinander verbundener Familien während des Ersten Weltkriegs erzählt. Der Autor verwendet einen präzisen und emotionalen Schreibstil, der es dem Leser ermöglicht, sich in die Wirren des Krieges hineinzuversetzen. Das Buch beleuchtet nicht nur die Auswirkungen des Krieges auf das tägliche Leben der Menschen, sondern wirft auch einen kritischen Blick auf die politischen Entscheidungen und die soziale Dynamik dieser Ära. Medings Werk kann in den Kontext der Trümmerliteratur des frühen 20. Jahrhunderts eingeordnet werden, da es die psychologischen und sozialen Nachwirkungen des Krieges herausarbeitet.

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Oskar Meding

Zwei Kaiserkronen

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Inhaltsverzeichnis

Erstes Kapitel
Zweites Kapitel.
Drittes Kapitel.
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebentes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Fünfzehntes Kapitel
Sechzehntes Kapitel
Siebzehntes Kapitel
Achtzehntes Kapitel
Neunzehntes Kapitel
Zwanzigstes Kapitel
Einundzwanzigstes Kapitel
Zweiundzwanzigstes Kapitel
Dreiundzwanzigstes Kapitel
Vierundzwanzigstes Kapitel
Fünfundzwanzigstes Kapitel
Sechsundzwanzigstes Kapitel
Siebenundzwanzigstes Kapitel
Achtundzwanzigstes Kapitel
Neunundzwanzigstes Kapitel
Dreißigstes Kapitel
Einundreißigstes Kapitel
Zweiunddreißigstes Kapitel
Dreiunddreißigstes Kapitel
Vierunddreißigstes Kapitel
Fünfunddreißigstes Kapitel

Erstes Kapitel

Inhaltsverzeichnis

Ein reges Leben herrschte am 18. Februar 1868 auf den Straßen von Hietzing, dieses kleinen Fleckchens, der die große kaiserliche Residenz Schönbrunn umgibt und sich aus freundlichen und eleganten Sommerwohnungen für das Wiener Publikum zusammensetzt.

Zu anderen Zeiten war um diese Jahreszeit Hietzing verödet und still, denn seine Saison beginnt erst mit dem Mai und Juni, und während der Winterzeit sieht man nur die Eingeborenen über die Straßen gehen und sich abends in kleinem Zirkel im Hinterzimmer von Dommayers Kasino versammeln, um in Gruppen, welche einen würdigen Vorwurf für Hogarths Griffel abgeben würden, die einfachen Tagesereignisse des winterlichen Stillebens zu besprechen bei einem Glase Schwechater Bier oder einem Schoppen Vöslauer.

Anders war es an jenem hellen, schönen Februartage des Jahres 1868.

Auf der großen Hauptstraße von Hietzing, welche in langer Windung durch den ganzen Ort läuft, zogen Männer jeden Alters hin, alle von nordländisch blondem Typus, kräftig gebaut, groß und stark – alle erkennbar als dem Stande der Bauern oder kleinen Bürger angehörig – alle im Sonntagsstaat, – alle mit gelb und weißen Seidenschleifen auf der Brust, – alle den Ausdruck feierlicher Stimmung, tiefer Rührung in den starken Zügen der markigen Gesichter.

Es waren die Hannoveraner, welche aus allen Teilen des Landes herbeigekommen waren, um teils einzeln, teils als Deputationen von Körperschaften und Gemeinden ihre Teilnahme zu beweisen und auszudrücken an dem Feste der silbernen Hochzeit des Königs Georg und der Königin Marie, dieses so seltenen und schönen Familienfestes, das das entthronte Königspaar hier in der Fremde, in der Verbannung beging, – so anders, als sie wohl früher es gedacht hatten in den Tagen des Glückes und des königlichen Glanzes.

In großer Anzahl waren die Hannoveraner nach Wien gekommen, und lebhafter und inniger vielleicht war die Teilnahme an dem häuslichen Fest des entthronten Herrschers, als sie es wohl gewesen wäre, wenn dies Fest in Hannover gefeiert worden wäre im Bestände des alten welfischen Königreiches.

Viele waren gekommen von denen, welche die preußische Herrschaft für eine vorübergehende Okkupation ansahen und, von den Traditionen aus dem Anfange des Jahrhunderts erfüllt, die Wiederherstellung des welfischen Thrones in früherer oder späterer Zeit als einen Glaubensartikel im Herzen trugen. – Andere mochten vielleicht die veränderten Zeitverhältnisse berücksichtigen und an eine Wiederkehr der vergangenen Zustände nicht mit religiöser Zuversicht glauben, – aber darum doch liebten sie die Vergangenheit, welche hinabgesunken war in den Strudel der großen Katastrophe von 1866, und sie waren gekommen, um dieser lieben Vergangenheit in der Person des Königs Georg ein Zeichen treuer Erinnerung zu bringen.

Außer diesen Vertretern der Bewohner des hannoverischen Landes waren nach Hietzing gekommen zahlreiche Mitglieder des Adels, welche dem Hof in Hannover nahe gestanden hatten und es sich zur Ehre anrechneten, an diesem Festtage ihres früheren Königs als die Höflinge des Unglücks zu fungieren. – Viele aber freilich waren auch ausgeblieben aus der Zahl derer, welche einst in dem Galakleide der Hofchargen und Kammerherren sich im Lichtglanz des hannoverischen Hofes gesonnt.

Alle aber, die da waren, waren gekommen aus wirklicher Teilnahme, aus wahrer Anhänglichkeit, – dieser verbannte König hatte keine Gunst und Gnade mehr zu vergeben – er konnte keine Ehren und Stellen verteilen, und alle, welche ihm Liebe und anhängliche Erinnerung bewiesen, hatten bei den im Lande herrschenden Behörden der neuen Regierung keine freundliche Begünstigung zu erwarten. Der unglückliche König hatte so ein Bewußtsein, das kein Fürst auf dem Throne in voller Reinheit jemals haben kann, das Bewußtsein, daß alle, die da kamen, um ihm zu seinem Feste Glück zu wünschen, wirklich aus vollem, warmem Herzen sich ihm nahten und daß kein äußerer Beweggrund ihre Huldigung veranlaßte. Dies Bewußtsein, welches nicht nur den König erfüllte, sondern allen Anwesenden sich mitteilte, gab denn auch dem ganzen Feste, der ganzen Bewegung so zahlreicher Menschen in dem kleinen Orte einen ruhig ernsten, rührend feierlichen, fast andächtigen Charakter, – es waren die Vertreter eines braven und tapferen Volkes, welche hier an dem noch offenen Grabe einer lieben und ruhmreichen Vergangenheit standen; sie schütteten Blumen auf Blumen in dies Grab und konnten sich immer und immer nicht entschließen, es mit der kalten Erde des Vergessens zu bedecken.

Der König Georg hatte sich von der Villa Braunschweig nach dem sogenannten Kaiserstöckl, dem kleinen Palais am Eingang des Parkes von Schönbrunn, begeben, welches die Königin bewohnte.

Hier, in dem Zimmer neben dem großen Empfangsaal, hatte die königliche Familie sich vereinigt, um persönlich die Glückwünsche jedes einzelnen zur Feier der silbernen Hochzeit Gekommenen entgegenzunehmen.

Der Hof des Kaiserstöckls war dicht angefüllt mit Hannoveranern. Die Glückwünschenden stiegen die große Treppe hinauf und traten dann aus dem Vorsaal in das Zimmer der königlichen Familie, um nach der Vorstellung und Gratulation wieder über die Treppe hinab zurückzukehren, da die inneren Räume des Palais nicht ein Zehnteil der aus Hannover Herübergekommenen fassen konnten. Die Räume des Dommayerschen Kasinos waren bis zum Erdrücken voll von Hannoveranern, welche von dem Glückwunsch bei den Herrschaften zurückkamen und jetzt versuchten, ihren handfesten niedersächsischen Appetit mit den Erzeugnissen der Wiener Küche zu befriedigen. An allen Tischen sah man sie sitzen, diese kräftigen, schweren Gestalten, vergeblich bemüht, die Geheimnisse einer Wiener Speisekarte zu entziffern und sich über die Bedeutung der Fisolen, des Risi Bisi und der Nockerlsuppe klar zu werden.

»Das muß ich sagen,« rief ein starker Mann mit kurzem Haar und Bart, im Sonntagsanzuge eines hannoverischen Bürgers, indem er mit einem kleinen Löffel in einem goldbraunen Auflauf herumfuhr, – »das muß ich sagen, hätte ich früher gewußt, wovon die Leute hier in Osterreich eigentlich leben, – ich hätte nicht mitgeschrien im Jahre 66 für die österreichische Allianz – bei solcher Kost ist es ja gar nicht möglich, daß ordentliche Soldaten aus diesem Lande kommen können, die gegen norddeutsche Jungens etwas ausrichten sollen.«

»Ihr habt recht, Meyer V.,« sagte ein anderer Bürger, dessen kleine gedrungene Gestalt und behäbig glänzendes Gesicht den Beweis lieferte, daß die Ernährungstheorie bei ihm sehr ernsthaft und erfolgreich zur praktischen Ausführung gebracht werde, – »da habe ich die berühmten Backhändl« – und mißmutig wendete er einige Stücke dieses weltbekannten österreichischen Nationalgerichts hin und her, – »gebacken ist das Zeug, – aber wo der Hahn sitzen soll, das möcht' ich wissen.«

»Ich begreife nur gar nicht, wie es der König aushält in dem Land – und wie er überhaupt noch hier warten kann,« – sagte ein Dritter, der es vorgezogen hatte, von der Speisekarte ganz zu abstrahieren, und ein norddeutsches Butterbrot, mit kaltem Fleisch belegt, mit einem großen Glase Schwechater Bier hinabspülte, – »ich glaube nicht, daß man ihm hier wieder zu seinem Lande verhelfen wird,– das sieht mir gar nicht danach aus, – habt ihr wohl bemerkt, wie scheel sie uns ansehen, diese Wiener? – so nimmt man nicht alte Bundesgenossen auf, die fest gestanden und geschlagen haben und die nun zu leiden haben dafür, daß sie mit Österreich gegangen sind.«

»Das versteht ihr wieder nicht,« sagte der Musikdirektor Joseph Lohse, ein hagerer kleiner Mann mit nervös beweglichem Gesicht, welcher eine große weißgelbe Schärpe über die Brust geschlungen hatte, – »das versteht ihr nicht, – ihr versteht weder die Speisekarte noch die Politik; – über die Politik kann ich euch nun nicht aufklären, – da müßt ihr eben warten, bis die Ereignisse kommen, die man erwartet und über die man eben nicht mit jedem sprechen kann,« fügte er mit geheimnisvoller Miene, sich in die Brust werfend, hinzu, – »aber kommt einmal her, was die Speisekarte betrifft, da will ich euch helfen und ihr sollt sehen, daß man hier in Wien ganz gut zu essen versteht.«

Er nahm die Karte und ging sie mit den Bürgern durch, indem er ihnen erklärte, was die unverständlichen Namen bedeuteten, und bald hatten die Hungrigen einigermaßen genügende Schüsseln voll »Kälbernem« und »Jungschweinernem« vor sich, welche sie zwar immer noch mürrisch mit einem gewissen Mißtrauen betrachteten, denen sie aber doch endlich volle Gerechtigkeit widerfahren ließen.

»Hier lernt man die treuen Hannoveraner kennen,« sagte Herr Lohse, während seine Mitbürger ihre Leibeskräfte stärkten – »wer hierher kommt, ist wirklich ein guter Patriot, und hier kann man einmal so recht nach Herzenslust alles aussprechen, was man zu Hause in sich verschließen muß.«

Ein großer Mann von etwa fünfundvierzig Jahren, mit bleichem Gesicht, niedriger Stirn, ziemlich langem, dichtem Haar und dünnem blonden Schnurrbart, ging in diesem Augenblick an dem Tisch der Bürger vorbei. Es war des Königs Finanzsekretär Elster, früher Kanzlist bei der hannoverischen Gesandtschaft in Berlin. Bei den laut gesprochenen Worten des Musikdirektors Lohse hielt er an, warf einen Blick aus seinen fast unmerkbar schief blickenden Augen auf die Gruppen umher, grüßte, die Hand auf die Brust legend, mit tiefer Verneigung die Bürger und berührte dann leicht die Schulter des Herrn Lohse.

Dieser erhob sich eilig und trat mit wichtiger Miene einige Schritte seitwärts zu dem Beamten des Königs.

»Mein lieber Lohse,« sagte Herr Elster mit leiser, etwas salbungsvoller Stimme, »ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, daß selbst hier im Kreise der Getreuen unseres geliebten allergnädigsten Herrn sich Kundschafter befinden, welche jedes unvorsichtige Wort auffangen, – die Folgen der hier gemachten Äußerungen können dann später für die Betreffenden sehr unangenehm werden. Ich kann mich nicht näher auslassen, – aber wenn Sie genau beobachten, so werden Sie selbst Gesichter sehen, – die, – Sie werden mich verstehen, Herr Lohse, – Vorsicht!« Er legte den Finger auf den Mund und schritt weiter.

»Ich verstehe,« sagte Herr Lohse, ihm etwas verblüfft nachblickend, indem er wie unwillkürlich ebenfalls einen Augenblick seinen Finger auf den Mund legte, – »ich verstehe« – und mit wichtig geheimnisvollem Ausdruck kehrte er zu dem Tische zurück; er überlegte noch, in welcher Weise er die vertrauliche Warnung, die ihm soeben geworden, seinen Mitbürgern mitteilen solle, um diese zu etwas größerer Vorsicht in den bereits sehr lauten und sehr ungenierten Äußerungen ihres Patriotismus zu bestimmen, – als diese sich erhoben und ehrerbietig einen alten Herrn mit etwas schleppendem Gange begrüßten, der, gestützt auf den Arm eines jungen Offiziers in der Uniform der früheren hannoverischen Cambridgedragoner, an dem Tische vorbeiging.

»Das ist der Oberamtmann von Wendenstein,« sagte der dicke Bürger, – »das ist auch einer von den Festen; er tut nichts, weshalb man ihm beikommen könnte, – aber innerlich ist er gut und, ein tüchtiger Patriot. – Der durfte auch hier nicht fehlen.«

»Und der Offizier ist sein Sohn?« fragte der andere Bürger.

»Jawohl«, rief Herr Lohse, »der Leutnant von Wendenstein, der auf so geheimnisvolle und bis jetzt unerklärte Weise aus dem preußischen Polizeigefängnis entkommen ist.«

»Ja, das war eine sehr merkwürdige Geschichte,« sagte der wohlbeleibte Bürger, mit einer großen Brotrinde den Teller auswischend, – »niemand kann sich denken, wie das hat möglich sein können.«

»Ja,« sagte Herr Lohse, sich aufrichtend mit geheimnisvoller Würde, – »bei so wichtigen Sachen kann eben nicht jeder ins Vertrauen gezogen werden; später vielleicht kommt einmal die Zeit, wo man darüber reden könnte«, fügte er hinzu, indem er den Blick stolz über die erstaunt aufhorchenden Bürger gleiten ließ; – dann aber plötzlich zuckte er zusammen, blickte scheu nach den Gruppen an den nächsten Tischen, und indem er seine Rede schnell abbrach, begrub er sein Gesicht in das große Glas voll Schwechater Bier, das er vor sich stehen hatte.

Der alte Herr von Wendenstein, welcher ein wenig weißer geworden war und den podagrischen Fuß etwas mehr nachschleppte, sonst aber in seinem rot und gesund blühenden Gesicht den Ausdruck rüstiger Frische zeigte, hatte sich an einen kleinen entlegenen Tisch gesetzt und begann mit großem Appetit einem kleinen Frühstück und einer Flasche Tokaier zuzusprechen, welche sein Sohn für ihn herbeigeschafft hatte.

»Laß dich jetzt einmal ordentlich ansehen, Junge,« rief der alte Herr, indem er seinen Blick voll väterlichen Stolzes über die schlanke Gestalt des jungen Offiziers hinstreichen ließ – »wir haben uns lange nicht gesehen, – und kaum konnte ich denken, dich hier zu treffen.«

»Ich habe mich auch ganz schnell entschlossen«, sagte der Leutnant, »als ich hörte, daß du hierher kommen würdest, – eine so gute Gelegenheit, dich zu sehen, lieber Vater, ließ sich nicht wiederfinden, und du kannst dir denken, wie sehr ich mich danach sehnte, dich noch zu umarmen, bevor wir nun definitiv nach Frankreich übergehen.«

Der alte Herr hob langsam sein Glas empor, blickte einen Augenblick in die Reflexe, die das durchscheinende Licht in dem ungarischen Rebensaft bildete, und trank dann mit einem langen Zuge das Glas leer.

»Nach Frankreich?« – sprach er dann, langsam den Kopf schüttelnd, – »nach Frankreich! Das will mir so gar nicht recht gefallen, – muß ich dir sagen, daß die hannoverische Emigration, welche man ja wieder die Legion nennt, nach Frankreich geht. – Die Legionäre der alten Zeit gingen nur nach Frankreich hinein, um den alten Erbfeind Deutschlands niederzuwerfen – und jetzt –«

»Aber lieber Vater,« rief der Leutnant, – »die Verhältnisse sind ja vollständig andere geworden, – Frankreich, das damals die Unabhängigkeit Hannovers zertrümmert hatte und mit dem ganzen legitimen Recht im Kriege stand, – Frankreich ist heute die einzige Macht, welche dem sich ermannenden und für seine Unabhängigkeit und seine Selbstbestimmung in den Kampf tretenden Deutschland zur Seite stehen kann, und nur von Frankreich aus kann eine hannoverische Armee aufbrechen, um die Selbständigkeit des Landes wieder zu erobern.«

»Eine hannoverische Armee,« – sagte der alte Herr seufzend, – »glaubst du denn, daß je eine hannoverische Armee wieder unter den alten Fahnen des Landes erstehen könne? – Ich sehe,« fuhr er fort, mit trübem Blick die Gestalt seines Sohnes umfassend, – »ich sehe, du trägst da die alte Uniform, – nun, das ist recht, am heutigen Tage, – man muß den Herrn im alten Dienstkleide begrüßen, das ja ein hohes Ehrenkleid geblieben ist und bleiben wird, solange noch Herzen vorhanden sind, welche unter dieser Uniform am Tage von Langensalza geschlagen haben; aber ich bin auch überzeugt, daß das Ehrendenkmal, welches an jenem Tage der hannoverischen Armee und ihrer Uniform errichtet worden, zugleich ein Grabmal ist, – ein Grabmal, an welchem nur die Hoffnung auf die einstige Erstehung eines mächtigen, ewigen und glücklichen Deutschlands Trost geben kann.«

Mit einer gewissen Ungeduld, welche die Ehrfurcht vor dem Vater zügelte, erwiderte der junge Offizier:

»Verzeih' mir, lieber Vater, – aber du lebst dort in den engen, traurigen und niedergedrückten Kreisen, – unter der preußischen Herrschaft, – das trübt immer den Blick – hast du nicht eine kleine Broschüre gelesen – ›des Königs Legion‹ – sie sagt in kurzen Worten alles, was man über die Emigration und ihre politischen Aufgaben sagen kann.«

»Ich habe die kleine Schrift gelesen,« sagte der Oberamtmann, – »sie ist nicht ungeschickt gemacht und einige Stellen haben mich warm angesprochen, – aber, mein lieber Sohn, ich sehe das mit dem Auge des Alters an, das ruhiger blickt, – das alles sind Illusionen, ähnliche Illusionen, wie sie einst zu dem schmerzlichen kleinen Feldzug im österreichischen Fahrwasser führten, der dem Könige den Thron gekostet hat. Frankreich wird ebensowenig die deutsche Einheitsbewegung jemals rückgängig machen, wie Österreich sie hat aufhalten können.«

Eine Bewegung machte sich unter den Gruppen bemerkbar, – man eilte an die Fenster und in den Garten, aus welchem man die Straße und den Kaiserstöckl übersehen konnte.

Der Leutnant von Wendenstein hatte sich dem Fenster genähert. »Der Kaiser ist eben bei den Herrschaften vorgefahren«, sagte er, zu seinem Vater zurückkehrend.

»Es muß für den Kaiser ein trauriger Anblick sein,« sprach der alte Herr, »diese vertriebene Königsfamilie zu sehen, welche im Kampfe auf Österreichs Seite ihren Thron verloren hat.«

Die Equipage des Kaisers Franz Joseph war inzwischen langsam durch die dichtgedrängte Menge von Hannoveranern in den Hof des Kaiserstöckls eingefahren.

Der Jäger sprang vom Bock und öffnete den Schlag. Rasch trat der Kaiser in der großen weißen Generalsuniform mit den roten Beinkleidern, den Hut mit dem grünen Federbusch auf dem Kopf, aus dem Wagen. Er stutzte ein wenig, als er diese dichten Menschenreihen sah, welche das untere Vestibül und die Treppen erfüllten.

»Der Kaiser, – der Kaiser«, tönte es flüsternd ringsumher und ehrerbietig öffnete sich eine Gasse, um dem Monarchen den Weg freizumachen.

Rechts und links grüßend, stieg der Kaiser, welchem an der unteren Stufe der Treppe bereits der Graf Alfred Wedel in der Uniform der hannoverischen Kammerherren entgegengetreten war, zu den hannoverschen Herrschaften herauf, die ihn an dem oberen Ende der Treppe empfingen.

Der Kaiser bot der Königin den Arm und schritt durch das dichtgefüllte Vorzimmer in den Salon der Herrschaften; der König mit dem Kronprinzen und den Prinzessinnen folgte.

Die Türen schlossen sich hinter den fürstlichen Herrschaften.

Ein flüsterndes Gespräch bewegte sich durch die Gruppen. Diese Hannoveraner, welche zu einem großen Teil an eine Wiederaufnahme des Kampfes von 1866 und an eine Wiederaufrichtung des welfischen Thrones glaubten, erblickten in dem so natürlichen Höflichkeitsbesuch des Kaisers ein Zeichen fortdauernder politischer Allianz – es freute sie, Zeuge zu sein und demnächst zu Hause erzählen zu können, in wie innigen Freundschaftsbeziehungen die verbannte Königsfamilie zum Kaiser stehe, und die Wünsche und Hoffnungen aller dieser Herzen griffen mit Begierde auch nach diesem Strohhalm.

Der Kaiser blieb nicht lange.

Nach kurzer Zeit öffneten sich die Flügeltüren des Salons, und die Herrschaften kamen wieder durch den Vorsaal.

An der Treppe verabschiedete sich der Kaiser von den hannoverischen Herrschaften und wehrte mit Herzlichkeit dankend das weitere Geleit des Königs ab; der Kronprinz begleitete den Monarchen die Treppe hinab.

Der Kaiser Franz Joseph erwiderte mit freundlichem Kopfnicken die tiefen Verbeugungen, mit welchen die zu beiden Seiten dicht gedrängt stehenden Hannoveraner ihn begrüßten.

Ziemlich schnell, als wolle er sich diesen Huldigungen baldigst entziehen, stieg er die Treppe hinab.

Sein Wagen fuhr vor und dem Kronprinzen die Hand reichend, setzte er den Fuß auf den Wagenschlag.

Da ertönte aus einer Ecke des dicht mit Menschen gedrängten Hofes eine starke Stimme, welche rief:

»Hoch lebe Seine Majestät der Kaiser, der erhabene Freund und Bundesgenosse unseres Königs!«

Mit lautem, brausendem Schall pflanzte sich dieser Ruf fort durch die dichten Gruppen auf dem Hofe, von der Treppe schallte er herab, die Fenster des Kaiserstöckls öffneten sich, dicht gedrängt erschienen die Köpfe der oben weilenden Hannoveraner, einstimmend in den Ruf, mit welchem man unten den Kaiser begrüßt hatte – in dem Garten von Dommayers Kasino schwenkte man die Hüte und Mützen und überall scholl es mit donnerndem Ton und mit aller Macht niedersächsischer Lungen:

»Hoch lebe der Kaiser, der Verbündete unseres Königs!«

Eine schnelle Röte flammte in dem Gesichte des Kaisers auf, es zuckte in eigentümlichem Mienenspiel um seine Lippen, er biß in seinen Schnurrbart, legte leicht die Hand an den Federhut und sprang in den Wagen, der anfangs langsam durch den mit Menschen gefüllten Hof fuhr und dann im schnellsten Trabe auf der Straße nach Wien fortrollte, – immer begleitet von den gewaltigen, weithin schallenden Hochrufen der Hannoveraner.

»Die guten Leute«, sagte der Oberamtmann von Wendenstein zu seinem Sohn, als diese Rufe an sein Ohr drangen. – »Es ist ja sehr schön von ihnen, daß sie den edlen und ritterlichen Kaiser so warm begrüßen, aber die Hoffnungen, die in diesem Ruf erklingen, werden wohl kaum sich jemals erfüllen und der arme Herr muß traurige und bittere Gefühle haben bei dieser Begrüßung der Hannoveraner, die auf Österreich ihr Vertrauen in die Zukunft bauen –«

»Doch nun,« fuhr er fort, indem er mit freundlichem Lächeln zu seinem Sohne hinüberblickte, »komm mit mir nach Wien, ich habe eine Überraschung für dich, und hätte ich dich heute nicht schon hier gefunden, so hätte ich dir telegraphiert, zu kommen. Schaffe schnell einen Fiaker!«

Der Leutnant, der seinen Vater ein wenig erstaunt angesehen, eilte hinaus, der Oberamtmann berichtigte seine Rechnung an den unvermeidlichen Zahlkellner und bald stieg er, auf den Arm seines Sohnes gestützt, in einen jener feschen Fiaker Wiens, welche den Vorrang vor allen öffentlichen Fuhrwerken der Welt behaupten und an Schnelligkeit mit den besten herrschaftlichen Equipagen wetteifern.

»Nach dem Hotel Munsch!« rief der Leutnant dem Kutscher zu. Dahin eilte der Wagen nach Wien.

Zweites Kapitel

Inhaltsverzeichnis

Nachdem der Gratulationsempfang vorüber war, hatte sich der König Georg in das kleine Wohnzimmer der Königin zurückgezogen und dorthin den Grafen Platen und den Regierungsrat Meding, welcher von Paris zur Feier der silbernen Hochzeit des Königs herüber gekommen war, bescheiden lassen.

Beide Herren erschienen, der sonstigen Gewohnheit des Hietzinger Hofes entgegen, in der gestickten hannöverischen Galauniform, welche sie bei dem vorhergehenden Empfang getragen.

Der König hatte den geheimen Kabinettsrat und den Kronprinzen rufen lassen und sprach, indem er die Uniform aufknöpfte und sich etwas ermüdet in das Sofa zurücklehnte, auf welchem er Platz genommen:

»Ich muß auch an dem heutigen Festtage die freie Zeit benutzen, um einige ernste Angelegenheiten mit ihnen, meine Herren, zu besprechen, denn keine Stunde soll der Arbeit für meine Sache verloren sein. Sie haben mir vorher eine kurze Andeutung gemacht, Graf Platen, über eine Mitteilung, welche von dem Reichskanzler von Beust an Sie gelangt sei. Was betrifft es?«

Graf Platen, dessen bleiches Gesicht den Ausdruck nervöser Abgespanntheit zeigte, und der nicht mehr wie früher einen mit der Farbe seines schwarzen Haares übereinstimmenden Backenbart trug, zog ein Papier aus seiner Uniform und sprach, indem er dasselbe entfaltete und einen Blick hineinwarf:

»Herr von Beust, Majestät, hat mir eine vertrauliche Note geschickt, in welcher er es für nötig hält, mich darauf aufmerksam zu machen, in wie große Verlegenheiten die österreichische Regierung kommen würde, wenn die vielen hierher zusammengekommenen Hannoveraner ihre Anwesenheit zu politischen Demonstrationen benützen würden. Er spricht die Erwartung aus, daß von mir in diesem Sinne gewirkt würde, damit die so gerne gewährte Gastfreundschaft den Kaiser nicht in eine schiefe Stellung zu Preußen bringe.«

Der König biß einige Male heftig in seinen Schnurrbart, ein zischender scharfer Atemzug fuhr aus seinen Lippen. Dann fragte er, indem seine Hand sich fest um die Lehne des Sofas spannte:

»Ist irgendetwas vorgekommen, was zu dieser Belehrung des Herrn von Beust hätte Veranlassung geben können?«

»Nicht das geringste, so viel ich weiß, Majestät,« erwiderte Graf Platen, – »man hat allerdings den Kaiser soeben mit sehr lebhaften und vielleicht etwas demonstrativen Rufen begrüßt, allein, darauf kann sich die Note, die ich schon diesen Morgen erhielt, nicht beziehen.«

»Und darauf könnte sie sich auch nicht beziehen, wenn es gestern vorgefallen wäre,« rief der König lebhaft, mit zwei Fingern in die flache Hand schlagend, »soll es so weit mit dem Hause Habsburg gekommen sein, daß man in der Hofburg vor einem Stirnrunzeln in Berlin zittert, wenn loyale Gäste Österreichs dem Kaiser Hoch rufen?«

»Der ganzen Note,« sagte Graf Platen, »liegt wohl nur die Absicht zum Grunde, sich nach allen Seiten zu decken, und bei etwaigen diplomatischen Interpellationen den Beweis liefern zu können, daß man das Seinige getan habe, um alle möglichen Rücksichten auf Preußen zu nehmen.«

Der König zuckte die Achseln.

»Und was wollen Sie tun?« fragte er nach einem augenblicklichen Schweigen.

»Ich glaube allerdings, Majestät,« sagte Graf Platen, seine geschmeidige Gestalt zusammenbiegend, »daß man dahin wirken muß, die etwas erregten Hannoveraner von allen unnützen Demonstrationen zurückzuhalten, um so mehr, da noch eine andere Angelegenheit vorliegt, über welche ich demnächst sprechen werde, und welche der österreichischen Regierung einige Verlegenheit bereitet.«

»Vor allen Dingen aber müßte man doch«, bemerkte Regierungsrat Meding, »auf diese Note des Herrn von Beust eine sehr feste Antwort geben und sehr klar und bestimmt aussprechen, daß Eure Majestät sich vollkommen aller der Pflichten bewußt wären, welche der Genuß der österreichischen Gastfreundschaft Allerhöchst Ihnen auferlegte. Diese Gastfreundschaft ist in der Tat nach den vorhergegangenen Ereignissen so natürlich und selbstverständlich und wird von Eurer Majestät doch in der Tat in so bescheidenem Maße in Anspruch genommen, daß sie mir wirklich nicht die Verpflichtung für Eure Majestät zu bedingen scheint, Belehrungen solcher Art zu empfangen. Eure Majestät wissen,« fuhr er fort, »wie sehr ich stets darauf gedrungen habe, daß Allerhöchstdieselben sich in vollkommenster Unabhängigkeit nach allen Seiten erhalten, und in keiner Weise sich unter die Leitung der österreichischen Politik oder des Herrn von Beust zu begeben. Man hat in Paris zu meinem großen Erstaunen schon einigemal den Versuch gemacht, sich in die Angelegenheiten Eurer Majestät zu mischen.«

Der König horchte gespannt auf.

»Eure Majestät wissen,« fuhr der Regierungsrat Meding fort, »daß durch den Tod des Herrn Holländer die Angelegenheiten des Journals la Situation, in große Verwirrung geraten sind, da die Erben des Verstorbenen jetzt formell Herren der ganzen Sache sind, und es für mich ohne Bloßstellung des Namens Eurer Majestät nicht ganz leicht ist, den Behörden gegenüber die Sachlage klar zu stellen. Die französische Regierung ist mir dabei mit außerordentlicher Bereitwilligkeit behilflich, ich war daher nicht wenig überrascht, als mir vor einigen Tagen Herr von St. Paul, der Unterstaatssekretär des Innern, ganz erstaunt sagte, daß der österreichische Botschafter auf Veranlassung des Herrn von Beust ihn ersucht habe, diese Angelegenheit doch durch seinen Einfluß schleunigst zu Ende zu bringen. Herr von St. Paul drückte mir darüber sein um so mehr berechtigtes Erstaunen aus, als er ja bereits alles, was in seinen Kräften stand, zu meiner Unterstützung getan habe.«

»Unbegreiflich!« rief der König. – »Wissen Sie etwas davon, Graf Platen?«

»Ich erinnere mich allerdings, Majestät,« erwiderte der Graf, »daß ich mit Herrn von Beust vor einiger Zeit über die Schwierigkeit der Angelegenheit der › Situation‹ gesprochen habe, kann mich aber durchaus nicht erinnern, daß dabei von irgendeiner démarche der österreichischen Botschaft in Paris die Rede gewesen sei.«

»Und was haben Sie getan?« fragte der König sich zu Herrn Meding wendend.

»Ich habe der französischen Regierung sehr bestimmt erklärt,« erwiderte dieser, »daß ich niemand in der Welt kenne, der ein Recht habe, in den Angelegenheiten Eurer Majestät irgend etwas zu erklären oder zu verlangen: daß ich jede derartige Intervention auf das Bestimmteste ablehnen müßte, wenn ich auch die freundliche Absicht des Fürsten Metternich nur dankbar anerkennen könnte.«

Graf Platen neigte sich vornüber und hustete leicht. »Sie haben vollkommen recht gehabt und ganz in meinem Sinne gehandelt,« sagte der König lebhaft, »und ich bitte Sie, in jedem ähnlichen Fall nach gleichen Grundsätzen zu verfahren.«

Eine kleine Pause entstand.

»Sie wollten von einer anderen Angelegenheit sprechen,« sagte der König, »welche Österreich Verlegenheit bereite?«

»Eure Majestät erinnern sich,« erwiderte der Graf, daß einen Augenblick die Absicht bestand, die hannöverischen Emigranten, welche sich in der Schweiz nicht mehr halten konnten, auf das österreichische Grenzgebiet zu bringen, und daß deshalb die hiesige Polizei uns eine Anzahl von Pässen für jene Leute gegeben hat. Die Emigranten haben nun jene Pässe bei dem Eintritt nach Frankreich an der Schweizer Grenze überall vorgezeigt, darüber ist der österreichischen Regierung eine sehr gereizte Vorhaltung von Berlin gemacht worden, wo man in dieser Paßerteilung eine entschiedene Parteinahme für die Emigration und für deren Übergang nach Frankreich erblickte.«

»Es ist mir sehr lieb,« sagte der König, »daß Sie die Emigration gerade hier erwähnen, denn ich wollte Meding bereits darnach fragen. Ist denn die Angelegenheit vollständig in Ordnung?« fragte er, sich an den Regierungsrat wendend, »und sind meine armen getreuen Hannoveraner endlich in Ruhe?«

»Erlauben Eure Majestät,« erwiderte der Regierungsrat Meding, »daß ich zunächst die vom Grafen Platen erwähnte Paßangelegenheit berühre. Als Eure Majestät bei meiner letzten Anwesenheit hier im Dezember vorigen Jahres erklärten, daß die Emigration in der Schweiz, wegen der Schwierigkeiten, welche mir die dortigen Behörden bereiteten, nicht mehr bleiben könne, und daß Eure Majestät ihr ein Asyl in Frankreich, wo ja alle politischen Flüchtlinge Aufnahme finden, geöffnet zu sehen wünschte, habe ich diesen Wunsch sogleich der französischen Regierung zu erkennen gegeben, und der Kaiser hat sofort befohlen, daß die Emigranten die freundlichste Aufnahme in Frankreich finden sollten. Für die französischen Behörden sind die Hannoveraner also Flüchtlinge, welche unter den Schutz der französischen Gastfreundschaft aufgenommen werden. Sie bedürfen daher keines Passes und keiner Legitimation, die sie ja eben als Flüchtlinge in legitimer Weise gar nicht haben können. Es genügt vielmehr vollkommen, daß sie von mir der französischen Regierung als hannöverische Flüchtlinge bezeichnet und überwiesen werden. Ich vermag deshalb nicht zu begreifen, weshalb man die österreichischen Pässe überhaupt nach der Schweiz gesendet hat und weshalb man sie dieselben hat vorzeigen lassen, da beides ganz und gar überflüssig war.«

»Es wird auf einem Mißverständnis beruhen,« sagte Graf Platen, »welches sich aus den früheren anderen Absichten erklärt; jedenfalls befindet sich die österreichische Regierung in wirklicher Verlegenheit –«

»Dieser Verlegenheit«, sagte der Regierungsrat Meding, läßt sich sehr leicht abhelfen. Ich werde auf der Stelle den Emigranten die österreichischen Pässe abnehmen lassen und sie hierher senden, damit die corpora delicti aus der Welt verschwinden, die in Frankreich in der Tat gar keinen Zweck und Nutzen haben.«

»Das wird Herrn von Beust unendlich erfreulich sein!« rief Graf Platen aufatmend. »Ich kann ihn also versichern, daß binnen kurzem die unglücklichen Pässe hierher zurückgeliefert sein werden?«

»Zuversichtlich,« erwiderte Herr Meding, – »doch möchte ich«, fuhr er fort, »Eure Majestät, so ungern ich zur Verlängerung der Konferenz gerade an dem heutigen Tage beitrage, in derselben Angelegenheit noch um einen Befehl bitten. Der Eintritt der Emigration nach Frankreich hat schon zu verschiedenen Mißverständnissen Veranlassung gegeben, die für die Folge noch unangenehmer werden müssen, wenn ihre Wiederkehr nicht ein- für allemal verhindert wird. Wie ich Eurer Königlichen Majestät schon zu bemerken die Ehre hatte, sind die Emigranten für die französische Regierung eben nur einzelne politische Flüchtlinge, denen der Kaiser – ebenso wie den Polen – seinen Schutz gewährt, – keineswegs aber dürfen sie irgendwie eine militärische Organisation ersehen lassen.« »Das sollte ja aber auch gar nicht der Fall sein!« rief der König.

»Und doch, Majestät,« sagte der Regierungsrat Meding, »sind Dinge vorgekommen, die recht unangenehme Verwicklungen veranlassen, Ich habe«, fuhr er fort, »gar keine Mitteilung über den Zeitpunkt des Eintritts der Emigration nach Frankreich erhalten, habe also auch zu meinem großen Bedauern der französischen Regierung keine Anzeige machen können, um die Instruierung der unteren Provinzialbehörden zu veranlassen, vielmehr gingen mir plötzlich und ganz unerwartet aus einer Reihe von Orten des Elsaßes telegraphische Anzeigen von den Abteilungskommandanten zu, daß sie wegen der Quartierung der Leute in Verlegenheit seien, und die Ortsbehörden ihrer Aufnahme Schwierigkeiten entgegenstellten. Die französische Regierung war natürlich darüber sehr bestürzt und unzufrieden, um so mehr, als zugleich von den Unterpräfekten Meldungen einliefen, nach welchen die Abteilung der Emigranten sich vollständig als militärische Korps gerierten, und die führenden Offiziere sich sogar bei dem französischen Truppenkommandanten militärisch gemeldet hätten.«

»Ich begreife nicht –« sagte Graf Platen, die Hände reibend.

»Mir ist es in der Tat auch unbegreiflich,« fuhr der Regierungsrat Meding fort, »wie dies hat geschehen können, da ich doch zu wiederholten Malen dringend beantragt hatte, daß jeder sichtbare Schein von militärischer Organisation der Emigranten vermieden werden sollte; was nun einmal geschehen, ist leider nicht mehr zu ändern und der Kaiser Napoleon wird zu seinem Bedauern nicht umhin können, die Emigranten internieren zu lassen, wenn dies auch mit der größten Rücksicht und Schonung ausgeführt werden wird, und ihnen wesentlich nur der Aufenthalt in der Nähe der Grenze untersagt werden soll, damit der preußischen Regierung keine Veranlassung zu gegründeten Interpellationen gegeben werde. Um nun aber für die Folge ähnliche Vorkommnisse zu vermeiden, welche mir immer persönlich die größten Unannehmlichkeiten bereiten, so möchte ich Eure Majestät dringend bitten, daß alle Befehle, Geldsendungen usw., welche von hier aus an die Emigration gehen, nicht an deren Kommando direkt, sondern an den Major von Düring, den Eure Majestät mir für die militärischen Angelegenheiten beigegeben haben, erlassen werden. Der Major von Düring wird das nötige vermitteln, um alles so anzuordnen, daß keine Ombrage entsteht, und ich werde in der Lage sein, für die Emigration im Einverständnis mit der französischen Regierung zu sorgen, ohne daß ich persönlich von irgendwelchen militärischen Verhältnissen innerhalb derselben Notiz zu nehmen nötig habe, was ich schon meiner Stellung wegen nicht darf.«

»Gewiß, gewiß!« rief der König, »Sie haben vollkommen recht und ich bitte Sie, Graf Platen, dafür zu sorgen, daß in diesem Sinne der Verkehr der Emigration organisiert wird.«

Graf Platen verneigte sich schweigend.

»Ich lege hierauf,« fuhr der Regierungsrat Meding fort, »ein ganz besonderes Gewicht, nicht nur wegen der Verlegenheiten der französischen Regierung, welche mich persönlich peinlich berühren, sondern ganz vorzüglich auch wegen der Vermögensverhältnisse Eurer Majestät.«

Der König richtete den Kopf empor und horchte auf.

»Eure Majestät haben,« fuhr der Regierungsrat Meding fort, »den Vertrag mit Preußen geschlossen, nach welchem Allerhöchstdenselben die Revenüen des im preußischen Depositum verbleibenden welfischen Vermögens gezahlt werden. Ich habe Eurer Königlichen Majestät bereits, als Sie mir im September vorigen Jahres die Ehre erzeigten, mich über den Abschluß dieses Vertrages um Rat zu fragen, meine Meinung dahin ausgesprochen, daß Eure Majestät den Vertrag abschließen müssen nicht aus Rücksicht auf die augenblickliche Lage, sondern aus Rücksicht auf die Zukunft Allerhöchst Ihres Hauses. Denn durch den Vermögensvertrag ist das zweifellose Eigentumsrecht an dem zu ermittelnden Äquivalent des welfischen Domanialvermögens festgestellt und für alle Zeiten gesichert worden. Ich habe damals Eurer Majestät ferner bemerkt, daß ich diese Feststellung für um so wichtiger halte, als sie Allerhöchst Ihrem Hause eine gedeckte Rückzugslinie und die Sicherheit einer großen fürstlichen Existenz bietet für den Fall, daß die Hoffnungen, welche Eure Majestät jetzt hegen und an deren Erfüllung wir arbeiten, sich nicht realisieren sollten. Ich war schon damals der Meinung, daß die gegenwärtige Zahlung der Vermögensrevenüen an Eure Majestät nicht allzu lange dauern würde, denn, wenn Eure Majestät den Kampf fortsetzen, so muß früher oder später der Zeitpunkt kommen, an welchem die preußische Regierung erklären wird, dem Gegner die Mittel zur Kriegführung nicht mehr gewähren zu wollen und zu können.«

»Dazu hat aber die preußische Regierung gar kein Recht«, rief Graf Platen.

»Die Rechtsfrage zu erörtern möchte zu weit führen,« sagte der Regierungsrat Meding ruhig, »über die Tatsache habe ich keinen Augenblick Zweifel. Nach Äußerungen, welche der Finanzminister von der Heydt in Berlin in Abgeordnetenkreisen getan hat und über welche mir Mitteilungen zugegangen sind, die auch bereits durch Zeitungsnotizen bestätigt werden – nach diesen Äußerungen scheint es, daß man in Berlin geneigt sei, gerade den Übertritt der Emigration nach Frankreich als Veranlassung zur Beschlagnahme des Vermögens Eurer Majestät zu benutzen.

»Das wäre doch aber unerhört!« rief der Kronprinz, indem er leicht mit den Zähnen die Nägel seiner linken Hand biß.

»Wir dürfen von unseren Gegnern keine Sentimentalität erwarten, Königliche Hoheit,« erwiderte der Regierungsrat Meding, »und müssen gerade in unserer Lage doppelt darauf sehen, nur mit wirklichen Tatsachen zu rechnen. – So sehr ich nun überzeugt bin,« fuhr er fort, »daß früher oder später die Beschlagnahme des Vermögens stattfinden wird, so halte ich es auch für sehr wichtig, daß unserseits nichts geschehe, dieselbe zu provozieren und vor den Augen des Publikums zu rechtfertigen. Eine hervortretende militärische Organisation aber und der Nachweis der Überweisung von Geldmitteln an dieselbe von hier aus würde der preußischen Regierung die Rechtfertigung der Beschlagnahme an die Hand geben. Unsere Politik aber muß es sein, einmal den Zeitpunkt dieser Beschlagnahme selbst so weit wie möglich hinauszuschieben und sodann der Rechtfertigung derselben so wenig Haltpunkte als möglich zu bieten. Ich möchte deshalb besonders darauf aufmerksam machen, daß im Verkehr mit der Emigration die äußerste Vorsicht beobachtet, daß namentlich der Gebrauch des Telegraphen ganz vermieden werde, und daß alle Befehle und Sendungen durch den Major von Düring ergehen, in allen wirklichen diskreten Fällen durch meine Vermittlung und der diplomatischen Chiffre.«

»Ich begreife nicht recht,« bemerkte Graf Platen, »wie ein direkter Verkehr mit der Emigration bekannt werden könnte.«

»Ich halte, wie Eure Majestät wissen,« sagte der Regierungsrat Meding lächelnd, »sehr wenig von dem Geheimnis des Telegraphenverkehrs, und besonders dürfen wir nicht vergessen, daß wir uns einer Macht gegenüber befinden, welche im Besitze einer sehr bedeutenden und ausgedehnten Polizeigewalt ist und den festen Willen hat, sich dieser Macht rücksichtslos zu bedienen.«

»Wäre es aber nicht besser,« sagte der Kronprinz mit zögernder Stimme, »wenn man diese Emigration ganz abschaffte, die doch so viel Geld kostet?«

»Nachdem die Emigration einmal da ist,« sagte der Regierungsrat Meding, »würde ihre Abschaffung dem Aufgeben des Kampfes von seiner Majestät gleichkommen, und da Seine Majestät den Kampf nicht aufgeben wollen–«

»Niemals!« rief der König lebhaft, mit zwei Fingern der rechten Hand stark auf den Tisch schlagend, »niemals werde ich den Kampf für mein Recht aufgeben, so lange ich noch einen Taler übrig habe; keine finanziellen Rücksichten würden mich jemals bestimmen, in der Verfolgung meines Rechtes nachzulassen.«

»Da Eure Majestät nun also gesonnen sind,« sprach der Regierungsrat Meding weiter, »so kann von einer Auflösung der Emigration um so weniger die Rede sein, als Eure Majestät den Leuten Ihre königliche Unterstützung versprochen haben; jedenfalls müßte man dann doch denjenigen, welche sich durch ihre Auswanderung straffällig gemacht haben, zunächst die freie Rückkehr nach der Heimat erwirken, was auch wieder nur durch eine Anerkennung der Annexion geschehen könnte.«

»Warum sind die Leute aber fortgelaufen?« sagte der Kronprinz achselzuckend, »sie hätten zu Hause bleiben sollen – jetzt haben wir sie auf der Tasche.«

»Sie sind fortgegangen,« sagte der Regierungsrat Meding, während der König schweigend in seinen Schnurrbart biß und den Kopf in die Hand stützte, – »sie sind fortgegangen aus Liebe und Anhänglichkeit zu dem königlichen Hause, dessen Vorfahren seit tausend Jahren in ihrem Lande herrschten; wenn auch der eine oder der andere unter der Zahl dieser jungen Leute sein mag, der aus Lust zu einem abenteuerlichen Leben sich der Emigration angeschlossen hat, so besteht doch die weitaus größte Mehrzahl derselben aus Söhnen der besten Bauernfamilien des Landes, und es wäre unverantwortlich, dieselben einfach ihrem Schicksal zu überlassen, das dann nur ein sehr trauriges sein könnte. Ich werde meinesteils niemals aufhören, für diese braven Leute, ganz abgesehen von der hohen Bedeutung, welche sie für die Sache Eurer Majestät haben, zu plädieren und ihre Sache zu der meinigen zu machen.«

»Und bei mir,« rief der König, sich hoch aufrichtend, »werden Sie niemals Schwanken und Zögern finden, wo es meine heilige Sache und das Schicksal meiner Getreuen gilt.«

»Davon bin ich überzeugt, Majestät«, erwiderte der Regierungsrat Meding, »und hätte ich diese Überzeugung nicht, so würde ich nicht cm dem exponierten Platz im Kampfe für die Rechte Eurer Majestät stehen, an welchem ich mich jetzt befinde.«

Der König erhob sich.

»Ich will etwas ruhen, um mich vorzubereiten zu dem Feste in dem Stadtpark, das mir noch viele schmerzliche Aufregungen bringen wird,« fagte er mit tiefem Seufzer – »aber,« fuhr er dann fort, indem ein glückliches Lächeln wie Sonnenschein sein Gesicht erleuchtete, »wo ich auch das stolze Bewußtsein haben werde, mich trotz meines Unglücks und trotz meines Exils von so vielen Vertretern meines treuen Volkes umgeben zu wissen.« Er faltete die Hände und richtete einen Moment das Auge nach oben. Dann nahm er den Arm des Kronprinzen, verneigte sich gegen die anwesenden Herren und schritt die Treppe hinab, um in seinen Wagen zu steigen und begleitet von den jubelnden Zurufen der auf den Straßen versammelten Hannoveraner nach der Villa Braunschweig zurückzukehren.

Drittes Kapitel

Inhaltsverzeichnis

Der Oberamtmann von Wendenstein war inzwischen mit seinem Sohne in Wien angekommen. Unter der großen Einfahrt des Hotel Munsch hielt der Fiaker und der alte Herr stieg, auf den Arm des Leutnants gestützt, langsam und vorsichtig zu seinen Zimmern im ersten Stockwerk hinauf.

Mit einem eigentümlich forschenden Blick auf seinen Sohn öffnete er lächelnd die Tür seines Zimmers und schob, etwas zur Seite tretend, den jungen Mann über die Schwelle des tiefen und durch schwere Vorhänge etwas verdunkelten Gemachs.

Ein leichter Aufschrei ertönte aus dem Innern des Zimmers. Von einem Fauteuil erhob sich eine dunkle in Seide gekleidete weibliche Gestalt und streckte die Arme der Tür entgegen.

Der Leutnant blieb einen Augenblick auf der Schwelle stehen, wie geblendet durch diese unerwartete Erscheinung – dann atmete er tief auf, eilte mit rascher Bewegung in das Zimmer und kniete im nächsten Augenblick zu den Füßen Helenens.

Er ergriff ihre Hände und drückte sie leidenschaftlich an seine Lippen, während die in sanftem Licht strahlenden Augen des jungen Mädchens das Bild ihres Geliebten in durstigen Zügen zu trinken schienen.

»Helene, meine süße Helene, welche selige Überraschung!« rief der junge Offizier in entzücktem Ton.

»Mein Geliebter, ich sehe dich wieder nach so langer schmerzvoller Trennung,« flüsterte Helene mit erstickter Stimme.

Dann machte sie sanft ihre Hände los, legte sie auf die Schulter des vor ihr knieenden Geliebten und drückte ihre Lippen auf dessen Stirn, während ihre Augen sich in einen leichten Tränenschleier hüllten.

»Habe ich es recht gemacht?« fragte der Oberamtmann, welcher langsam herangetreten war, in munterem Ton, durch welchen jedoch eine Nuance tiefer Rührung zitterte, und während zugleich die ältere der Schwestern des Leutnants aus dem Nebenzimmer herantrat und mit liebevollem Blick den Bruder und die Freundin betrachtete.

Der Leutnant sprang auf, umarmte stürmisch seinen Vater und seine Schwester und rief mit jubelnder Stimme:

»Dank, tausend Dank euch allen für die Freude des Wiedersehens!«

Dann schloß er seine Braut von neuem in seine Arme; während sie ihr Haupt an seiner Schulter ruhen ließ, bedeckte er ihr weiches glänzendes Haar mit zärtlichen Küssen.

Schweigend hatte der Oberamtmann seiner Tochter einen Wink gegeben, beide zogen sich in das Nebenzimmer zurück, das junge Paar sich selbst überlassend.

Der Leutnant führte seine Geliebte zu einem Lehnstuhl in der Nähe des Fensters; indem er sie sanft darauf niedersetzte, ließ er sich zu ihren Füßen auf die Kniee sinken und blickte liebevoll zu ihr empor.

Das volle Licht fiel auf die schönen Züge des jungen Mädchens, – der Leutnant sah dieses liebe Gesicht wieder und alle Erinnerungen der Vergangenheit stiegen in reinen Bildern aus der Tiefe seiner Seele wieder herauf. Die Spiele seiner Kindheit, das erste Erwachen der Jugendliebe, der gewaltige Kampf, sein Leiden an den Grenzen des Todes, das alles zog durch sein Herz unter dem Blick dieser so sanften und doch so still beredten Augen.

Beide jungen Leute sprachen miteinander, was schon so viele Tausende vor ihnen gesprochen hatten. Worte der Erinnerung, Worte der Liebe, – für jeden Dritten wären es eben leere, oft nichts bedeutende Worte gewesen, die kaum in einem inneren Zusammenhange miteinander standen. Für sie aber waren es Erzählungen von tiefem Inhalt, Gedichte von hoher Poesie, denn zwischen den Worten sprachen ihre Blicke und auf dem magnetischen Strom dieser Blicke zogen von Herz zu Herz tausende jener Mitteilungen des inneren Lebens, welche kein Ton ausdrückt und keine Sprache in Worte kleidet.

Im vollen Tageslicht aber sah der Leutnant mit stillem Erbeben seines Herzens, daß die immer schon so zarten Züge seiner Geliebten eine fast durchsichtige Blässe angenommen hatten. Ihre Augen glänzten in krankhaftem perlmutterartigem Schimmer. Eine fast fieberhaft scharfe Röte zeigte sich auf ihren Wangen, ließ den Glanz der Augen noch mehr hervortreten und aus den zuweilen wie schmerzhaft zuckenden Lippen drang der heiße Atem mühsam hervor.

Der junge Mann sah das alles. Er fühlte bei diesem Anblick, wie tief Helene durch die Trennung gelitten haben mußte. Er schlug die Augen nieder, um ihr den Ausdruck tiefer Besorgnis in seinem Blick nicht zu zeigen.

Wunderbar und chaotisch waren die Gefühle, welche sein Herz bewegten.

Dieses junge Mädchen, welchem sein Herz sich einst unter dem Eindruck der Kindererinnerung und der großen, mit erschütternder Gewalt in sein Leben hereinbrechenden Katastrophe mit so stiller inniger Liebe zugewendet hatte, sah er vor sich wie ein verkörpertes Bild der Träume der Vergangenheit. Aber dies Bild, so süß und lieb es seinem Herzen war, war umhaucht vom Schimmer der Krankheit, und wie mit einem Nebelschleier bedeckt erschien es neben dem glühenden Farbenreiz der tausendgestaltigen Bilder des großen Weltlebens, welche die letztvergangene Zeit vor ihm aufgerollt hatte.

Sie sprach ihm von jenem kleinen stillen Leben in der einfachen Heimat. Unter ihren Worten traten jene ruhigen eng begrenzten Lebensverhältnisse vor ihn hin, in denen er einst sich bewegt und welche sein Denken, Wünschen und Hoffen ausgefüllt hatten. Das alles mutete ihn lieb und heimisch an, aber es stand doch auch farblos und kühl da neben dem lichtvoll glühenden Leben, das sein junges Herz voll durstigen Entzückens in sich aufgesogen hatte. Unter den Bildern dieses Lebens stieg lockend und berauschend jene Frau vor ihm empor mit den Blicken voll dämonischer Geheimnisse, mit dem Atem so glühend wie der Duft der Tropengewächse, und mit schauerndem Erbeben erinnerte er sich, daß dieser Atem über sein Gesicht gestrichen war und daß aus jenen Augen ihm ein voller Feuerstrom verzehrender Wonne entgegengeflutet war. Als er von diesen, in seinem Innern aufsteigenden Bildern den Blick erhob zu der zarten, einfachen, krankhaft gebrechlichen Gestalt vor ihm, da zuckte ein tiefes Mitleid zwar, eine innige, tiefe und treue Teilnahme durch sein Herz, aber es stieg auch ein Seufzer aus seiner Brust herauf, den er zu unterdrücken nicht die Macht hatte.

Der Oberamtmann trat wieder ins Zimmer.

»Nun habt ihr Zeit gehabt«, sagte er, »euch zu erzählen, was so junge verliebte Leute sich zu sagen haben und wovon ein anderer vernünftiger Mensch kein Wort versteht, – jetzt laßt uns zu Tisch gehen und nach alter, rechtlicher, norddeutscher Sitte ein ordentliches Diner zu uns nehmen. Ich habe die Karte gemacht und auch einen ganz genießbaren Bordeaux in diesem Hotel gefunden. Man wird uns bald zu Tische rufen. – Inzwischen will ich noch mit euch jungen Leuten ein ernstes vernünftiges Wort sprechen, das ihr, wie ich hoffe, gern hören werdet.«

Er zog einen Stuhl neben Helene, während der Leutnant sich zur anderen Seite seiner Braut setzte, ihre Hand in der seinen haltend. Fräulein von Wendenstein war im anderen Zimmer geblieben, mit der Vollendung ihrer Toilette beschäftigt.

Der Oberamtmann lehnte sich in seinen Stuhl zurück und sprach, mit freundlichem Wohlwollen die jungen Leute anblickend:

»Es ist eine recht dumme Geschichte, mein Sohn, daß du durch deine Flucht und deinen Prozeß auf lange hinaus, vielleicht auf immer aus der Heimat verbannt bist. Doch das ist nun einmal so und kann vorläufig nicht geändert werden. Es ist aber nicht möglich, wegen dieser unglücklichen Verhältnisse die Zukunft unsicher und unklar zu lassen und dich einem einsamen und unruhigen Leben ins Unbestimmte hinein zu übergeben. Ich bin deshalb der Meinung, daß es am besten ist, eure Verbindung nicht weiter hinauszuschieben und denke, daß ihr euch vorläufig in der Schweiz, Zürich oder Luzern, niederlassen sollt. Das Gut, das ich für euch gekauft, habe ich verpachtet. – Im Sommer kommen wir zu euch, – den Winter freilich möchte ich in der alten Heimat und unter den alten Bekannten zubringen.

Die feine Röte auf den Wangen Helenens hatte bei den Worten des Oberamtmanns einem dunklen Purpur Platz gemacht. In raschem Aufblitzen leuchtete ihr Auge zu ihrem Geliebten hinüber und verhüllte sich dann wieder unter den herabgesenkten Lidern. Der Oberamtmann schien eine freudige, dankbare Zustimmung Vonseiten seines Sohnes zu erwarten und blickte ein wenig überrascht zu ihm hin, als der junge Mann mit dem Ausdruck einer gewissen Befangenheit auf seinem Platze unbeweglich blieb und die Augen zu Boden senkte.

Ein leichtes Zittern flog durch die Gestalt Helenens, tiefe Blässe folgte der dunklen Glut, welche soeben noch ihre Wangen gefärbt hatte, und wie in tiefem Erschrecken warf sie einen starren Blick auf den jungen Mann hinüber, während ihre fest aufeinander gedrückten Lippen die tiefen Atemzüge ihrer Brust zurückhalten zu wollen schienen.

»Nun, Junge!« rief der Oberamtmann in verwundertem Ton, »was soll das heißen, du sitzest da wie ein Steinbild, du dankst mir nicht, du freust dich nicht, du umarmst deine Braut nicht? Ist das die Art, wie du die Nachricht deines Glückes aufnimmst?«

Ein heftiger Kampf malte sich auf dem Gesichte des Leutnants. Rasch ergriff er die Hand seiner Braut, welche diese ihm in unwillkürlicher Bewegung entzogen hatte, und sprach zu seinem Vater:

»Was könnte mich glücklicher machen, als die Hoffnung einer baldigen Verbindung mit meiner Helene! Verzeihe mir, meine Geliebte, wenn ich nicht des Vaters Mitteilung mit jubelndem Entzücken aufgenommen habe. – Aber du wirst verstehen, was in diesem Augenblick die freudige Aufwallung meines Herzens dämpft. – Es sind soeben alle diese armen hannoverischen Emigranten, welche ihr Vaterland verlassen haben aus Anhänglichkeit an den König, und welche weder in Holland noch in der Schweiz ein Asyl finden konnten, nach Frankreich gegangen. Ich habe in der Schweiz ihr Schicksal geteilt und der König hat mir nun den Auftrag gegeben, auch in Frankreich eine der dortigen Abteilungen zu führen. Wie würden diese armen Leute über mich urteilen, was würden meine Kameraden, die Offiziere in Frankreich sagen, wenn ich mich jetzt von der Emigration trennte und in stiller und sicherer Zurückgezogenheit nur meinem Glücke lebte! In kurzem, in wenigen Monaten vielleicht,« fuhr er fort, »wird es möglich sein, mich mit Ehren von der Legion loszumachen. – Jetzt aber –«

Er kniete vor seiner Braut nieder und drückte ihre Hand an sein Herz.

»Helene, meine Geliebte,« sagte er mit gepreßter Stimme, »würdest du glücklich sein können, wenn du auf meiner Stirn die Röte der Scham erblicken würdest, der Scham darüber, daß ich die Gefährten des Unglücks verlassen habe, weil mir ein gütiger Vater die Möglichkeit gibt, mein Schicksal von dem ihren zu trennen?«

»Dummes Zeug,« sagte der Oberamtmann mürrisch in verstimmtem Tone, »ich weiß auch, was Ehre und kameradschaftliche Pflicht erfordern. – Das aber scheint mir überspannte Ansicht zu sein, den armen Legionären würde es um kein Haar breit schlechter gehen, wenn du nicht bei ihnen bist. Ich werde dem König die Sache vortragen, – er wird dich auf der Stelle der Verpflichtungen, die du eingegangen bist, entheben –«

»Das wird der König gewiß tun,« rief der junge Mann, »aber kann das meinem Bewußtsein genügen? Wenn alle Offiziere handelten, wie ich handeln soll, welches würde das Schicksal der armen Leute in fremdem Lande sein?«

»Wohin sie gar nicht hätten gehen sollen,« warf der Oberamtmann finster ein, – »wenn du –«

Helene hatte einige Augenblicke stumm dagesessen.

Jetzt schlug sie ihr gesenktes Auge voll zu ihrem Geliebten auf. Ein Strahl von Begeisterung leuchtete aus ihrem Blick, Glauben und Vertrauen strahlten von ihren Zügen, ein Lächeln voll unendlicher Liebe glitt um ihre Lippen.

»Du hast recht, mein Geliebter,« sprach sie, sich sanft zu ihm hinüber neigend, »welches Glück könnten wir genießen, wenn du den Stachel in deinem Herzen trügst, gegen deine Überzeugung von Ehre und Pflicht gehandelt zu haben? – Niedrig handelt das Weib, das den Mann herabzuziehen sucht von den Wegen, die sein Bewußtsein ihm zu verfolgen befiehlt. – Wir müssen im Gegenteil den Mann unserer Liebe anspornen und begeistern, stets würdig zu handeln des hohen Ideals der Ehre, das er in seinem Innern trägt.«

Sie blickte wie träumend vor sich hin.

»Als Herkules am Scheidewege stand,« sprach sie dann mit leiserer Stimme, »da war es die himmlische Gestalt, welche ihn auf den rauhen Weg der Ehre und Pflicht wies, und himmlisch soll ja der Beruf eines edlen Frauenherzens in seiner Liebe sein.

»Du hast recht, tausendmal recht, mein Geliebter,« rief sie dann mit gehobenem Ton, »wir werden warten, bis deine Pflichten dir erlauben, ohne Schamröte glücklich zu sein – o, ich liebe dich mehr wegen deiner edlen Zögerung, als wenn du nur an das Glück des Augenblicks gedacht hättest, und nie soll deine Liebe zu mir dich mit den Geboten der Ehre in Widerspruch bringen.«

Der Leutnant senkte das Haupt.

Eine dunkle Röte erschien auf seiner Stirn.

War es der Schmerz, daß er sein Glück, das ihm so nahe winkte, hinausschieben müsse?

War es die Scham, daß in seinem innersten Herzen noch andere Gedanken und Gefühle wogten, als diejenigen, welchen Helene eine so edle und begeisterte Anerkennung ausgesprochen hatte?

»In kurzer Zeit vielleicht,« sagte er mit etwas unsicherer Stimme, »wenn das Leben und die Verhältnisse der Emigration in Frankreich geordnet sind, oder der König vielleicht anderweitig für die Leute zu sorgen Gelegenheit findet, dann werde ich von allen meinen Pflichten frei sein, und dann, meine Helene, – dann –« »Dann werden wir glücklich sein, ohne Stachel im Herzen,« flüsterte Helene, indem sie mit den Lippen seine Stirn berührte und dann mit einem glücklichen Lächeln dem noch immer finster dasitzenden Oberamtmann die Hand reichte.

Ein leichter Husten ließ ihre Brust erzittern. Sie bog sich wie schmerzhaft zusammen und preßte die Lippen aufeinander.

Erschrocken blickte der Leutnant zu ihr auf, aber schon lag wieder das heitere ruhige Lächeln auf ihrem Munde.

Der alte Herr stand auf.

»Ihr seid mir ein merkwürdiges Paar,« sagte er, zwar ein wenig besänftigt, aber noch immer mit einem Klange von Unzufriedenheit in der Stimme, »solche Subtilitäten kannte man zu meiner Zeit nicht – die Mama wird recht traurig sein –«

»Die Mama wird mich und ihren Sohn vollständig verstehen,« sagte Helene mit einem aus schwärmerischer Begeisterung und schalkhafter Neckerei gemischten Ausdruck.

»Ihr seid ja immer einig gegen den alten Papa,« erwiderte der Oberamtmann lächelnd.

Ein Kellner des Hotels trat ein und meldete, daß für die Herrschaften im kleinen Speisesaal serviert sei.

Fräulein von Wendenstein erschien an der Tür des Nebenzimmers.

»Nun zu Tische,« rief der alte Herr, wieder bei vollständig guter Laune, »mögen die Zeiten so schlecht sein, wie sie wollen, durch ein ordentliches Stück Roastbeef und ein Glas guten Wein können sie niemals schlechter werden. – Da ihr so lange getrennt gewesen seid,« sagte er zu seinem Sohn, »so will ich dir heute Helene abtreten, obwohl es eigentlich mein Recht wäre, sie zu Tische zu führen.«

Er reichte seiner Tochter den Arm und führte sie die Treppe zum Speisesaal hinab.

Der Leutnant folgte mit seiner Braut.

Die prachtvollen Räume des Kursaals im Stadtpark in Wien strahlten am Abend desselben Tages m tageshellen Wanze unzähliger Gasflammen und Kerzen. Berittene Gendarmen hielten die Ordnung aufrecht vor dem Kursaal und in dichten Reihen fuhren von neun Uhr an Wagen auf Wagen vor dem großen Portal vor, umdrängt von noch zahlreicheren Fußgängern, welche dem festlich erleuchteten Bau zuströmten.

König Georg V. versammelte hier zu dem Feste seiner silbernen Hochzeit die Getreuen aller Stände, welche so zahlreich aus Hannover herübergekommen waren, und die Ausschmückung der an sich schon so schön dekorierten Räume des Stadtparks ließ den ganzen Glanz des versunkenen hannoverischen Königtums noch einmal in hellen Strahlen aufleuchten.

In dem großen Mittelsaal, einem Meisterwerk der Architektur, waren die wunderbaren reichen und schönen Schätze der hannoverischen Silberkammer, dieser Jahrhunderte alten Sammlung der englischen Könige aus dem hannoverischen Hause, ausgebreitet. Man sah dort den Tafelaufsatz mit dem heiligen Georg, der den Drachen niederschlägt, viele kostbare Schilder und Pokale, das Taufbecken aus massivem Golde und den prachtvollen ostfriesischen »Upstallsboom«, drei große Eichen aus Silber mit neunzigtausend beweglichen Blättern, unter denselben einen Ritter mit dem Schwert, das Sinnbild der ausübenden Gerechtigkeit. Die zahllosen Silbergeschirre dieses Schatzes, wie ihn kaum ein fürstliches Haus in Europa zum zweiten Male aufzuweisen imstande ist, waren auf den reichen, mit den erlesensten Speisen und Weinen besetzten Büfetts aufgestellt. Unter der Kuppel, welche, der Hauptwand gegenüber, eigentlich für das Orchester errichtet war, erblickte man eine hohe Estrade, auf welcher die zur silbernen Hochzeitsfeier eingelaufenen Geschenke ausgebreitet waren. Hier sah man das große, reich verzierte Album, welches die dem König in die Verbannung Gefolgten mit ihren Bildnissen geschenkt hatten. Hier sah man prachtvolle Gaben des reichen, hannoverischen Adels, hier sah man aber auch kleine, unbedeutende Gaben aus den Kreisen des Volkes, – unscheinbare Stickereien, Leinengewebe und viele kleine Dinge, welche rührend ansprachen, da sie den Beweis lieferten für die innige Teilnahme, die dem gefallenen Könige ans dem Lande seiner Väter in die Verbannung gefolgt war.

In diesen so glänzenden Räumen bewegte sich eine zahlreiche und unendlich verschiedene Gesellschaft. Man sah die Galauniformen des früheren hannoverschen Hofes im Glanz der reichen Goldstickerei. Daneben die hannoverischen Bürger und Bauern in der einfachen Sonntagstracht ihres Standes. Man sah die Damen der ersten hannoverischen Familien in reichen Hoftoiletten und daneben die einfachen Frauen des Landes in schlichtem Busentuch und weißer Schürze. Es war eben ein Bild des ganzen Volkes, das seinem früheren Könige zu seinem schönen Familienfeste einen Gruß liebevoller Erinnerung gesendet hatte. »Alle diese verschiedenen Gruppen bewegten sich durch die Säle in auffallender Stille, man hörte nur das dumpfe Murmeln flüsternder Stimmen. Es lag über all diesem Glanz ein Hauch tiefer Wehmut, und alle diese Herzen empfanden mehr oder weniger deutlich, daß hier das glänzende Leichenbegängnis eines tausendjährigen Königtums sich vollziehe.

Außer den Hannoveranern waren nur wenige Österreicher zu dem Feste geladen, niemand aus den Kreisen des Hofes und der Diplomatie, – es sollte eben ein rein häusliches Fest sein und bleiben und der österreichischen Regierung keine Verlegenheit bereiten. Vorzugsweise waren es Vertreter der Wiener Presse, welche hier gegenwärtig waren, und einer dieser Fremden, ein junger Mann mit intelligentem, scharf geschnittenem Gesicht von dunklem slawischen Typus, stand an die Türe des Saales gelehnt und ließ seinen Blick mit trauerndem Ausdruck über die Versammlung schweifen, während er sich mit einem Manne von ungefähr zweiunddreißig Jahren, in der Uniform der hannoverischen Diplomatie, unterhielt, dessen rosig frisches Gesicht mit dichtem blondgelockten Haar und kleinem zierlichen Bart ihn noch jünger erscheinen ließ.

»Der Anblick dieser Versammlung macht mich tieftraurig, Herr Graf,« sagte der Doktor Pribro, ein talentvoller Journalist böhmischer Abkunft, »wollte Gott, daß allen Herrschern auf den Thronen Europas so große Anhänglichkeit bewiesen würde, als hier ein kleines treues Volk dem gefallenen Könige entgegenträgt.«

»Gerade diese Treue und Anhänglichkeit«, erwiderte lebhaft der Graf Georg Platen, der Neffe des Ministers des Königs Georg, »ist eine Bürgschaft dafür, daß die Dynastie nicht für immer gefallen ist. Wo ein solches Band der Liebe den Fürsten und das Volk vereinigt, da kann eine dauernde Trennung nicht stattfinden.«

Der Doktor Pribro blickte den Grafen etwas erstaunt an und schüttelte mit traurigem Ausdruck den Kopf.

»Sie glauben also wirklich«, sagte er, »ernsthaft an eine Wiederherstellung des hannöverischen Thrones, Sie glauben, daß die Agitationen, welche jetzt in Hannover geschehen, zu einem Resultat führen könnten?«

»Zuversichtlich!« rief der Graf Platen, »das glaubt der König, und wir alle arbeiten für seine Sache und sein Recht, in dem vollen Bewußtsein zwar, daß wir etwas unendlich Schwieriges unternommen haben, doch auch mit dem Glauben an den endlichen Sieg, wenn die Verhältnisse nur einigermaßen sich günstig gestalten.«

»Der König glaubt an den Sieg seines Rechts,« sagte der Doktor Pribro, »und er hat wohl auch den festen Stolz und unbeugsamen Mut, um den Kampf für sein Recht, den er unternommen, bis auf das Äußerste durchzuführen. Auch hat er treue und gewandte Diener, die sich rücksichtslos für ihn exponieren, aber«, fuhr er fort, »Ihre Dynastie steht auf vier Augen, – hat Ihr junger Prinz die Eigenschaft, der Erbe einer solchen Aufgabe zu sein, wie sie der hohe Mut seines königlichen Vaters sich gestellt hat?«

Er blickte forschend in das Gesicht des Grafen Platen.

Dieser schlug die Augen zu Boden und schwieg einen Augenblick.

»Der Prinz ist jung,« sagte er dann, »sein Charakter wird sich bilden, sein Geist sich entwickeln. – Übrigens«, fuhr er lebhafter fort, »liegt die Sache des Welfenhauses nicht so ausschließlich in den persönlichen Eigenschaften seiner Vertreter, es ist eine Sache der Selbständigkeit des deutschen Volkes, und wenn alle die Elemente, welche im letzten Kampfe unterlegen sind, sich wieder aufraffen, die endliche Entscheidung der deutschen Frage herbeizuführen, wenn Osterreich –«

»Österreich?« – rief der Doktor Pribro, ihn lebhaft unterbrechend. »Glauben Sie, daß Osterreich jemals wieder den Wahnsinn begehen könnte, den Kampf vom vorigen Jahr von neuem aufzunehmen?«

Graf Platen blickte ihn befremdet an.

»Nun,« sagte er dann, »ich meinesteils kann es nicht glauben, daß eine Macht, welche jahrhundertelang an der Spitze Deutschlands gestanden hat, sich durch einen einzigen Feldzug für immer aus dem Lande ihrer früheren Herrschaft sollte hinauswerfen lassen. – Man hat hier doch auch Verpflichtungen gegen Deutschland, Verpflichtungen gegen die Bundesgenossen –«

»Die erste Verpflichtung eines jeden Staates«, rief Doktor Pribro, »ist die Selbsterhaltung, und Osterreich würde bei einem neuen Kriege unfehlbar in zersplitternde Trümmer auseinanderfallen. Wir brauchen wenigstens zehn Jahre, um uns von dem Schlage von 1866 zu erholen. Die Pflicht eines jeden Österreichers ist es, unsere Regierung von jeder abenteuerlichen Revanchepolitik zurückzuhalten.«

»Doch die innere Kraft Österreichs erstarkt ja mächtig unter dem neuen Regiment,« sagte Graf Platen, »wie Ihre Journale beteuern, und alle Freunde des Herrn von Beust versichern. Wozu wäre diese Regeneration der Staatskräfte, wenn sie nicht dazu benützt würde, dem Kaiserstaat seine historische Stellung wieder zu erobern?«

»Regeneration der Staatskräfte?« sagte Doktor Pribro mit leichtem Achselzucken. – »Ja, den guten Willen hat man gewiß dazu, – der Kaiser vor allem, Herr von Beust nicht minder – aber es wird halt etwas langsam damit gehen.«