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Zwei taffe Schwestern, ein gefaketer Selbstmord und eine SMS aus dem Grab – es geht wieder turbulent zu in Konnys und Kriemhilds neuestem Fall …
Während der Beerdigung eines befreundeten Priesters erhalten Konny und Kriemhild eine SMS des Geistlichen: »Ich wurde ermordet – rächen Sie mich!« Dieser Aufforderung können die beiden Schwestern unmöglich widerstehen, auch wenn die Polizei das als geschmacklosen Scherz abtut. Kurzerhand quartieren sie sich im Gästehaus des Klosters ein, in dem der Priester seinen Lebensabend verbrachte.
Bei ihren unkonventionellen Ermittlungen treten sie nicht nur den Klosterschwestern auf die Zehen, sie finden auch Blutdiamanten sowie eine frisch skelettierte Leiche unter dem Refektorium. Noch dazu will jemand die beiden mit vergiftetem Klosterlikör aus dem Weg räumen …
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Seitenzahl: 291
Veröffentlichungsjahr: 2020
Tatjana Kruse
Zwei Schwestern für ein Halleluja
Die K&K-Schwestern ermitteln
Insel Verlag
Für »Miles Kendig«, aus Gründen.
Cover
Titel
Widmung
Inhalt
Informationen zum Buch
Impressum
Hinweise zum eBook
Cover
Titel
Widmung
Inhalt
1
… in dem Konny sich bis über beide Ohren verliebt, wie immer hoffnungslos
2
… in dem die rosarote Seifenblase platzt
3
… in dem einer, der aus Staub gemacht worden war, wieder zu Staub wird
4
… in dem Konny sich in die Unterwelt begibt
5
… in dem Konny sediert ist und Kriemhild den Braten riecht
6
… in dem zwei unbescholtene Bürger vom geraden Weg abkommen
7
… in dem, immer wenn wir lachen, irgendwo ein Problem stirbt
8
… in dem die eine Schwester langsam wieder zu sich kommt und die andere Reißaus nimmt
9
… in dem man mit allem rechnen muss, auch mit dem Guten
10
… in dem man das Lotterleben nicht suchen muss – es findet einen von ganz allein
11
… in dem die Schwestern und ihr Gärtner Zuwachs bekommen
12
… in dem schon wieder wer stirbt
13
… in dem die Schwestern in flagranti ertappt werden
14
… in dem es einen Splitscreen gibt, aber als Text
15
… in dem wir lernen: Die Hölle, das sind wir selbst!
16
… in dem es um dieses
carpe dingsda
geht
17
… in dem Derrick und Columbo auf Gummi-Gabi treffen
18
… in dem nicht alles, was simpel ist, auch einfach ist
19
… in dem die Welt natürlich nicht in Ordnung ist, nur weil die Sonne scheint, auch wenn es sich so anfühlt
20
… in dem außerordentliche Umstände ungewöhnliche Opfer verlangen
21
… in dem die Zeit vergeht, weil sie es ja nicht besser weiß
22
… in dem manchmal, wenn der Groschen fällt, er eine Groschengerölllawine auslöst
23
… in dem Konny und Kriemhild und die Kindersoldatennonne sich auf Kriegspfad begeben wollen
24
… in dem der Klosterkellergeist geweckt wird
25
… in dem das Böse seine hässliche Fratze zeigt
26
… in dem Konny und Kriemhild eine mörderische Pilgerreise antreten
Epilog
… in dem alle Fäden vernäht werden
Danksagung
Die Frommen und die Unfrommen
Informationen zum Buch
Impressum
Hinweise zum eBook
Das eben ist der Fluch der bösen Tat, dass sie, fortzeugend, immer Böses muss gebären.
Friedrich von Schiller
Der Bösen Rotte hat mich umringt.
Psalm 22, 17
Saubande, vermaledeite! Die Pest soll euch holen!
Chuck Norris (der Graupapagei, nicht der Action-Darsteller)
Konny wähnte sich in einer Liebesschmonzette.
Die gletscherblauen Augen des Priesters neben ihr sahen zu dem frühlingshaft knospenden Baum, in dem eine Amsel ihr fröhliches Lied sang. Nein, schmetterte.
In seinen wie aus Marmor gemeißelten Wangen tauchten Grübchen auf, die zusammen mit dem Grübchen in seinem Kinn ein Dreieck von vitruvianischer Perfektion und Schönheit bildeten. Wäre Leonardo da Vinci zufällig im Garten anwesend gewesen, er hätte zu Pinsel und Palette gegriffen. Mona Lisas Lächeln war nichts im Vergleich zu dem von Hochwürden Robert Eberhard.
Konny schmolz dahin. Und es lag nicht daran, dass sie in der Ecke des Gartenpavillons saß, der die volle Strahlung der Maisonne abbekam, sondern an ihrer zunehmenden Zuneigung zu diesem Priester. Genau das war die Grundfrage der Gefühlsmathematik – ab welchem Neigungswinkel wurde aus einer ersten, oberflächlichen Bekanntschaft Liebe?
»Es gibt die Legende von einem Vogel …«, sagte der Pater leise über das Zwitschern der Amsel hinweg, mit einer sonoren Stimme, die Konny durch und durch ging, »… und dieser Vogel sucht vom Augenblick an, in dem er sein Nest verlässt, nach einem bestimmten Dornenbusch. Sobald er ihn gefunden hat, lässt er sich so darauf nieder, dass ihn der größte und schärfste Dorn des Busches durchbohrt, aber im Sterben fängt er an zu singen, und sein Gesang ist unvergleichlich, denn er bezahlt ihn mit dem Leben. Die ganze Welt lauscht ergriffen, sogar Gott im Himmel lächelt. Denn es ist ja so: Erst das größte Opfer bringt das Beste im Menschen hervor.« Der Priester drehte sich zu Konny. »Finden Sie nicht auch?«
»Was?«
Konny sah sich in den starken Armen des Priesters. Vor ihrem inneren Auge näherten sich ihre Lippen einander an, sie atmete seinen Duft nach Weihrauch und Kernseife ein und …
Jetzt schreckte sie aus ihren Dornenvögeltagträumen. »Was?«, wiederholte sie und sprach, auf Wirkung bedacht, eine Terz tiefer als sonst.
Er sah sie an und zwinkerte. Die Wucht seines Wimpernschlags ließ sie erbeben. Weil man liebesschmonzettig fühlt, wenn man sich in einer wähnt. Und man ist ja nie zu alt, um wie ein Teenager zu schwärmen. Oder andersherum, je oller, desto doller. Konny war schockverliebt in diesen schmucken Priester, dessen Charakter ebenso schön war wie sein Äußeres. Als er in die Bed-&-Breakfast-Pension eingecheckt hatte, die sie zusammen mit ihrer Schwester Kriemhild führte, da hatte sie sich seinen Ausweis zeigen lassen – er war fast zehn Jahre älter als sie, sah aber aus wie eine nur leicht ergraute Symbiose der jungen Ausgaben von Franco Nero, Richard Chamberlain und Kardinal Georg Gänswein.
Zwar hatte Konny ein gesundes Misstrauen gegenüber exorbitant schönen Menschen, aber er strafte ihr Vorurteil in der kurzen Zeit ihrer Bekanntschaft Lügen: Jeden Tag, den sein Herr werden ließ, tat er eine gute Tat, rettete er entweder eine kleine Weinbergschnecke davor, auf der Straße überfahren zu werden, oder besuchte den bettlägerigen Bauern Schober auf dem Hof nebenan. Oder beides. Und immer ging er bei den alltäglichen Arbeiten in der Pension zur Hand, half Kriemhild beim Tischdecken und Herrn Hirsch, dem Gärtner, beim Hoffegen oder Unkrautjäten.
Kurzum, dieser Priester war ein Heiliger.
Fand Konny.
Jetzt versenkte Hochwürden Eberhard seinen Blick in Konnys Augen.
Die Knospen knospten, die Amsel zwitscherte, ein Schaf blökte, die Zeit blieb stehen.
»Ich wollte damit sagen«, fasste er seine Ausführungen zusammen, »dass man manchmal Dinge tun muss, die vielleicht große, sehr große Opfer bedeuten. Aber der Lohn dafür wird reich sein.« Pfarrer Eberhard sah hinüber zu der Wiese der Schobers, auf der ein Schafbock mit seinem Harem graste. »Die Gespräche mit Ihnen, meine liebe Konny, haben mir die Augen geöffnet. Es ist nicht übertrieben, wenn ich sage, dass ich jetzt alles in einem neuen Licht sehe. Ich bin Ihnen wirklich dankbar.« Er nahm ihre rechte Hand, drückte sie fest, sah ihr dabei wieder in die Augen, und legte ihre Hand dann vorsichtig zurück auf die Gartenpavillonsitzbank.
Konny sah auf ihre Rechte. Ihre Haut kribbelte.
Es war der Tag seiner Abreise. Zwei Wochen hatte der Priester in der Pension von Konny und ihrer Schwester Kriemhild verbracht. Um fernab seines Alltags einmal intensiv nachzudenken, wie er beim Einchecken gesagt hatte. Er war eigentlich schon längst pensioniert, betreute jedoch die Nonnen des Klosters, in dem er seinen Lebensabend verbrachte, als seelischer Beistand.
Konny, ganz knapp über sechzig, im Gegensatz zu ihrer nicht-eineiigen, großen und hageren Zwillingsschwester Kriemhild kleiner und draller, hatte sich in ihrem wilden Junggesellinnenleben als freie Journalistin einige ungute Gewohnheiten zugelegt: Sie steckte zu gern ihre Nase in Dinge, die sie nichts angingen, sie aß leidenschaftlich gern Kohlehydrathaltiges wie Cremeschnitten und Pasta, die sich – ohne Umweg über den Verdauungstrakt – sofort auf ihren Hüften absetzten, und sie verliebte sich grundsätzlich in die falschen Männer. Dieses Mal in einen Priester. Mit dem sie jeden Abend seines Hierseins draußen auf der Bank saß. Manchmal redeten sie, manchmal schwiegen sie. Wobei sie sich nicht anschwiegen, sie schwiegen miteinander. Was man ja nicht mit jedem x-beliebigen Menschen konnte. Das zwischen ihnen, das war etwas Besonderes.
Nur heute saßen sie ausnahmsweise schon mittags im Pavillon, weil es sein Abreisetag war und er um kurz nach eins den Regionalzug erreichen musste.
»Ich fand unsere Gespräche auch wunderbar«, sagte Konny, jetzt schon wehmütig, und strich sich eine ihrer wilden, braun gefärbten Locken aus dem Gesicht.
Konny war bereit, endlich die Liebe zuzulassen. DIE Liebe. Natürlich würde Robert nach einem langen Leben, das er der Kirche geweiht hatte, seine Gelübde nicht einfach so über Bord werfen. Das erwartete Konny auch gar nicht. Er durfte sich ruhig Zeit lassen. Sie gestand sich ein, jetzt in einem Alter zu sein, in dem man sich nicht mehr nach der heiß kochenden Leidenschaft verzehrte – ein leichtes Köcheln genügte vollauf fürs Glücklichsein. Falls er der Kirche doch nicht den Rücken kehren wollte, könnte sie in das Gästezimmer seines kleinen Häuschens auf dem Klostergelände ziehen und so tun, als sei sie seine Haushälterin, wie Lina Carstens in den Pater-Brown-Filmen mit Heinz Rühmann. Jeder Priester hatte doch eine Frau im Haus. Und ob sie nun in fleischlicher Sünde lebten – oder einfach nur wie Philemon und Baucis heimlich händchenhaltend abends auf der Bank vor seinem Häuschen saßen und in den Sonnenuntergang schauten: Alles, alles wäre gut. Wichtig war nur, dass sie den Mann, den sie liebte, neben sich wusste – und den Kater, den sie liebte, auf ihrem Schoß liegen hatte. So wie jetzt.
Hm, Amenhotep. Das könnte womöglich ein Problem werden. Robert hatte ihr erzählt, dass auf dem Klostergelände keine Tiere erlaubt waren. Aber Konny dachte stets lösungsorientiert: Amenhotep war ein Nacktkater, der ohnehin nicht ins Freie durfte – sie würde ihn einfach in ihrem Schlafzimmer verstecken. Das machte ihm nichts: Solange er seinen Kratz- und Kletterbaum, ein warmes Fleece-Jäckchen und immer einen vollen Napf hatte, war er zufrieden. Die Nonnen würden überhaupt nicht merken, dass es ihn gab.
Hin und wieder hatte Konny in diesen zehn Tagen der Schockverliebtheit auch lichte Sekunden, in denen ihr klar war, dass sie mit ihren rosaroten Zukunftsvisionen womöglich vorschnell voranpreschte. Robert war immer Gentleman-Priester geblieben, hatte ihr nie mehr eingestanden als nur seine Freundschaft. Aber zum einen wurde die Zeit knapp. Statistisch gesehen hatte sie noch knapp zwanzig Jahre vor sich – viel zu wenig, um auf Nummer Vorsicht zu gehen. Wenn er also nicht von allein merkte, dass sie beide füreinander geschaffen waren, würde sie eben nachhelfen müssen. Und zum anderen konnte Konny sehr wohl zwischen den Zeilen lesen. Er suchte aktiv ihre Nähe, das bildete sie sich nicht ein.
Schon als er an seinem allerersten Tag in der Pension von einem Ausflug in die Stadt zurückkam, präsentierte er ihr im Anschluss an das Abendessen (in der Halbpension inkludiert) seine Beute vom Flohmarkt: eine alte, schwere Bibel. »Soll ich Ihnen daraus vorlesen?«, hatte er gefragt. Sie hatte – etwas atemlos – genickt und sich dann eine geschlagene Stunde aus dem Alten Testament vorlesen lassen. Sie! Konny! Mit 21 aus der Kirche ausgetreten. Noch dazu der evangelischen. Aber mit seiner Baritonstimme hätte er ihr auch den Beipackzettel einer Anti-Fußpilz-Creme vorlesen können, und sie wäre begeistert gewesen.
Und was hatte er ihr vorgelesen? Genau! Das Hohelied Salomons. Quasi die Porno-Ecke der Heiligen Schrift. Mein Geliebter ruht wie ein Beutel mit Myrrhe an meiner Brust. Wenn das kein Freud’scher Hinweis war, dann wusste sie auch nicht. Na gut, nicht gleich am ersten Abend – da war es ein Psalm gewesen. Konny hatte vergessen, welcher. Aber sukzessive hatten sie sich zum hocherotischen Hohelied hingearbeitet: jeden Abend eine Stunde. Nur sie beide. Im Garten. Unter dem Sternenhimmel. Und der Gartenlampe, um die Stechmücken schwärmten, kurz bevor sie zum Sturzflug auf Konnys Blutbahnen ansetzten.
»Die Zeit ist viel zu schnell vergangen«, sagte sie jetzt mit Seitenblick auf Hochwürden Eberhard. »Ich möchte Sie zu gern wiedersehen. Erwähnten Sie nicht, dass es im Kloster ein Gästehaus gibt?«
»In der Tat«, bestätigte er. »Ein wirklich nettes Gästehaus sogar. Nicht so komfortabel wie Ihre Pension, versteht sich, aber mit ebenso viel Liebe geführt.« Er nickte. »Ich würde mich ehrlich freuen, wenn Sie einmal vorbeikämen. Was Sie mir von Ihrem abenteuerlichen Leben erzählten … hochinteressant für mich. Das säkulare Leben ist mir fremd, aber …« Er stockte, sah sie an, lächelte. »… ich möchte mehr darüber erfahren. Viel mehr! Aus Ihrem Mund.«
Konny schloss die Augen. Das war bei aller Schlichtheit die schönste Liebeserklärung ihres ganzen Lebens. »Sehr, sehr gern!«
Weil jetzt alles gesagt schien, schauten sie beide zum Rand des Grundstücks, wo es hinab ging ins Tal und zur Stadt. Genau das machte die wahre Liebe aus: nicht sich ansehen, sondern zusammen in die gleiche Richtung schauen.
Konny seufzte glücklich.
Eigentlich müsste sie schon längst an dem Artikel sitzen, den sie für ein Online-Frauenmagazin schrieb. Konnys Kummerkastenkolumne. Aber was war schon Arbeit, wenn es im Dampfkochtopf der Gefühle brodelte?
Ja, fand sie, das Leben war eine große Schatulle an Abenteuern. Wenn man die Schatulle öffnete, wusste man nicht, was drin war. Wie bei Forrest Gumps Pralinenschachtel. Aber wenn man sich darauf einließ, war es nie langweilig. Und das Leben belohnte einen immer. Dass vor der Tür der Pension ein berühmter Musiker mit einem Aufsitzrasenmäher plattgefahren worden war, hatte dazu geführt, dass Gärtner Hirsch trotz seiner Aphasie die Frau fürs Leben fand. Dass der Kommodore einen Schatz vom Meeresgrund gehoben hatte, führte zu viel Verdruss für die Schnüffelschwestern und einem infernalisch fluchenden Papagei als Haustier, aber hinterher konnten sie ihre Pension grundsanieren und seitdem waren sie so gut wie immer ausgebucht. Dass Kriemhild im Wald mitbekam, wie ein stadtbekannter Promi seine Frau erschoss, führte zu …
Nein, da fiel Konny auf die Schnelle nichts Positives ein. Darauf hätte sie tutti completti – vom Magenauspumpen wegen Pilzvergiftung bis hin zu dem Moment, als sie mit ihrer Schwester im Sarg liegend in den Krematoriumsofen geschoben worden war – liebend gern verzichten können.
Sie sah zu Hochwürden Eberhard.
Robert.
Er sah sie an. »In Ihnen, liebe Konny, habe ich ganz unerwartet einen besonderen Menschen gefunden. Was für ein Segen.«
Konny klimperte mit den Wimpern. Es schien ihr der richtige Moment für Wimpernklimpern.
»Ich möchte Ihnen das hier zu treuen Händen geben, bis ich wiederkomme.« Er drückte ihr die Flohmarktbibel in die Hand. Die wog gefühlt eine Tonne und roch muffig-säuerlich. Nach den verwesenden Cellulosefasern des Papiers und dem Essigsäureleim, mit dem das Buch gebunden worden war, dachte Konny, die für einen Artikel einmal über antiquarische Folianten recherchiert hatte.
Sphinxkater Amenhotep kräuselte sein Schnäuzchen und sprang – ungnädig miauend – von Konnys Schoß, um angewidert in Richtung Küchentür zu stolzieren. Was elegant und nachgerade altägyptisch-katzengottgleich hätte wirken können, würde er nicht seinen froschgrünen Babystrampler tragen wie immer, wenn Konny ihn bei nicht ganz hochsommerlichen Temperaturen ins Freie ließ.
»Pfarrer Robert, ich weiß gar nicht, was ich sagen soll?« Konny streichelte den fleckigen Ledereinband der Bibel, als wäre es der Handrücken des Priesters. In ihr jubilierte alles – er hatte gesagt, dass er wiederkommen wolle. Hossa! Aber das sprach sie natürlich nicht aus. Es war ein bisschen, wie wenn man ein wildes Tier mit der Hand fütterte: Jedes laute Geräusch konnte das Tier verschrecken und dann würde es fliehen und niemals wiederkommen. Also sagte sie nur: »Ist die Bibel nicht viel zu wertvoll, um sie mir zu überlassen?«
»Hm«, sagte er und sah die Bibel nachdenklich an. »Ich habe sie auf dem Kinderflohmarkt einem frühpubertierenden Buben für einen Hunderter abgekauft. Er meinte, er hätte sie auf dem Dachboden gefunden, und sie hätten’s in seiner Familie nicht so mit der Religion. Jetzt möchte ich diese Bibel in Ihre Hände geben, liebe Konny. Ich hoffe, Sie lesen fleißig darin«, sagte er eindringlich, aber mit einem völlig unmissionarischen Lächeln. »Wissen Sie, nur ein einziges Mal zuvor hatte ich das Gefühl, meinem Leben eine völlig neue Richtung geben zu wollen. Das war damals, als ich den Ruf des Herrn vernahm.« Er schaute milde. »Aber jetzt stehe ich wieder an einem Scheideweg, und dank Ihnen, meine liebe Konny, weiß ich, welchen der beiden Wege ich einschlagen muss.«
War das Code für Ich will dich an meiner Seite wissen, von nun an bis in alle Ewigkeit?
»Ja«, hauchte Konny.
»Wie bitte?« Er hielt ihr sein gutes Ohr hin.
Konny lief rot an. In einer Mischung aus Hummer- und Tomatenrot, die ihrem Teint so gar nicht schmeichelte. »Ich sagte: Gern geschehen.«
»Es ist zu entzückend, wenn Sie erröten!« Er grinste spitzbübisch. Seine Grübchen vertieften sich. Alle drei.
Blitzschnell überlegte sie, ob sie ihm vorflunkern solle, es handele sich um wechseljahrsbedingte Hitzewallungen. Oder ob sie nach einer Ablenkung suchen sollte. Sie entschied sich für die Ablenkung. Auch, weil in exakt diesem Moment drüben, an der Grundstücksgrenze zum Bauernhof von Ehepaar Schober, ein Wanderer auftauchte.
»Da ist schon wieder einer, der das Schild Privatgrundstück nicht lesen konnte«, schimpfte Konny und sah zu der verhuscht wirkenden, männlichen Gestalt mit Leinenhut und Rucksack, die ihnen den Rücken zukehrte und Fotos von den Schafen schoss.
»Es ist aber auch zu verlockend, dem Trampelpfad zu folgen, der von der Landstraße hier am Haus vorbei zum Wald führt«, meinte Pfarrer Eberhard, der immer erst mal den Advocatus Diaboli spielte. Er konnte nicht anders, das war eine déformation professionelle. »Oder es ist ein Tourist aus dem Ausland, der unsere Sprache nicht spricht.«
Es war natürlich durchaus möglich, dass der Rücken jemandem gehörte, der nur kyrillische oder chinesische oder arabische Schriftzeichen zu lesen vermochte. Wegen des Leinenhutes sah man den Kopf nicht, und Rucksackrücken sind ja der große Gleichmacher vor dem Herrn.
»Mittagessen ist fertig!«, rief Frau Friedrich aus der Küche, bevor Konny etwas darauf erwidern konnte.
Pfarrer Eberhard stand auf.
»Lassen Sie mich die Bibel tragen, sie ist ja doch recht schwer.« Er nahm ihr das Buch der Bücher ab.
»Danke!«, raunte Konny, wie man es einem Superhelden zuraunte, der einen gerade aus den Händen des Schurken errettet hat. Sie sahen sich noch einmal in die Augen, lächelten und gingen zur Pension.
Natürlich konnten sie es nicht wissen, aber der Tourist war kein Tourist, und er stand auch nicht zufällig auf dem Trampelpfad vor dem Elektrozaun der Schafwiese. Aus den Augenwinkeln sah er zu Konny und dem Mann im schwarzen Anzug, die jetzt durch die Hintertür ins Haus traten. Er zupfte sich unbewusst das schüttere Ziegenbärtchen. Und meinte, förmlich zu spüren, wie die Visitenkarte in seiner Westentasche aufzuleuchten schien, als sei sie soeben zum Leben erwacht. Eine Visitenkarte, auf der nichts weiter stand als:
Pater Robert Eberhard
Geistlicher Beistand der
Schwestern unserer Lieben Frau vom Sonnenberg
Kloster Mistelau am Walde
Liebe Konny,
mein Mann und ich sind seit fast vierzig Jahren verheiratet. Es gab nie ein böses Wort. Aber seit ich vor drei Monaten mit dem Rauchen aufgehört habe, beschwert sich mein Walter ständig über das Essen. Es sei entweder verkokelt oder noch roh. Er hat ja nicht ganz unrecht: All die Jahre habe ich die Kochzeit danach berechnet, wie viele Zigaretten ich rauchen kann, bis das Fleisch durch ist oder die Nudeln al dente sind.
Ich habe ihm angeboten, wieder mit dem Rauchen anzufangen, aber er sagt, er hat es satt, einen Aschenbecher zu küssen. Ich habe es allerdings auch satt, ständig angenörgelt zu werden. Was denn nun?? Ich bin sooo kurz davor, unsere Ehe in die Tonne zu klopfen!
Rauchfrei auf 180, Sybille
Liebe Zigarettenlängenköchin,
wenn’s funktioniert, soll man’s nicht ändern. Wenn man’s aber ändern muss, weil man keine Teerlunge haben will, dann funktioniert es eben anfangs nicht ganz reibungslos. Es ist nur eine Übergangsphase. Sie werden neue Wege finden, um herauszufinden, ob sie in der Pfanne noch Hamburger oder schon Kohlebriketts braten. Ich persönlich rate zu einem Küchenwecker.
Wenn Ihr Walter nicht anerkennen kann, dass Sie sich für ihn gesund halten und ihn gleichzeitig verköstigen wollen, soll er gefälligst stumm leiden.
Er soll sich zur Ablenkung ein Hobby zulegen. Beispielsweise Kochen.
Man muss den Menschen – auch denen, die man liebt – zeigen, wie man behandelt werden möchte. Werfen Sie ihn aus dem Esszimmer beziehungsweise der Küche, sobald er den Mund zu etwas anderem öffnet, als einen Bissen zu sich zu nehmen oder Ihnen ein »Danke, dass du mich versorgst, Schatz!« zuzurufen.
Kochlöffelgrüße, Ihre Kummerkastenkonny
Es war ergreifend. Irgendwie. Mehr irgend als wie.
Aber ergreifend.
Klein-Wilmer an der Blockflöte intonierte mit Inbrunst My Heart Will Go On. Sämtliche Gäste der Bed-&-Breakfast-Pension von Konny und Kriemhild standen aufgereiht vor dem Eingang, wie die Dienerschaft auf Downton Abbey, um Pfarrer Eberhard zum Abschied zuzuwinken.
Die idyllisch zwischen Waldrand und Bauernhof gelegene, urschöne Jugendstilvilla, die Konny und Kriemhild geerbt und in einen schlichten, aber geschmackvollen Hotelbetrieb verwandelt hatten, erlebte selten so eine Abschiedszeremonie wie an diesem frühen Nachmittag. Genauer gesagt: nie. Aber der Priester war so ein sympathischer Mensch, da verspürten alle das innere Bedürfnis, ihm eine gute Reise zu wünschen.
Konny knüllte ein Stofftaschentuch. Was sollte sie jetzt, wo er ging, mit ihren angebrochenen Gefühlen machen?
Sie und Pater Eberhard standen vor dem Taxi, mit dem ihre Schwester Kriemhild soeben vom Bahnhof gekommen war. Der Taxifahrer, entzückt über die ungeplante Retourfahrt, hievte die schwarze Priestertasche in den Kofferraum. Konny hatte eigentlich geplant, »ihren« Robert mit ihrer Harley zum Bahnhof zu bringen, um sich dort – ohne Zeugen – von ihm zu verabschieden. Womöglich sogar mit einem Kuss. Aber hier, vor den Augen aller, würde es nur einen Handschlag geben, das war ihr klar. Vor lauter Enttäuschung schoss ihr Pipi in die Augen.
Herr und Frau Friedrich, die Eltern von Klein-Wilmer, standen in der Haustür, er hatte seinen Arm um ihre Schultern gelegt, sie hielt Nacktkater Amenhotep an ihren Busen gedrückt.
Klein-Wilmer flötete, als ginge es um sein Leben, als wäre dieses zarte Instrument in Kinderhand eine der Trompeten, die die Mauern von Jericho zum Einsturz bringen sollten. Will heißen, es war nicht schön, dafür laut.
Mama und Papa Friedrich hatten ihrem Sohnemann schon drei Blockflöten stibitzt. Klein-Wilmer gegenüber hatten sie jedes Mal besorgt die Elternstirne in Falten gelegt und gemutmaßt, er müsse seine Flöten wohl »verlegt« haben, aber inoffiziell hatten sie die Flöten in Nacht-und-Nebel-Aktionen klammheimlich im Restmüll entsorgt. Eine sogar vergraben, weil ihr Sohn anfing, die Abfalleimer zu durchsuchen. Das mit Klein-Wilmer und der Blockflöte war eine einseitige Liebe. Er war Feuer und Flamme für die Musik, aber die Musik erwiderte seine Liebe nicht. Wenn er spielte, klang es wie Fingernägel, die über eine Schiefertafel kratzten. Ent-setz-lich. Aber es half alles nichts. Klein-Wilmer sparte jedes Mal sein Taschengeld, bis er wieder eine neue Flöte kaufen konnte, und dann begann die Qual von Neuem. Herr Friedrich schwor mittlerweile auf Ohrstöpsel, wenn er zu Hause war. Frau Friedrich stülpte sich Kopfhörer über und drehte ihre Lieblingsmucke auf. Und auch jetzt standen sie mit entspannten Gesichtern – er mit Ohrstöpseln, sie mit Kopfhörern – vor der Tür und lächelten ihrem Nachwuchs milde zu, während der mit dicken Backen blies. Überall auf dem Hof flatterten Amseln und Spatzen verstört auf, und Regenwürmer bohrten sich traumatisiert zurück in die Erde. Picasso sagte einmal, als Kind sei jeder ein Künstler – die Schwierigkeit bestünde darin, als Erwachsener einer zu bleiben. Klein-Wilmer bildete die Ausnahme von dieser Regel. Er war kein Künstler: Er war ein Täter – ein Mörder von Rhythmus und Melodie. Nie war My Heart Will Go On bestialischer geschändet worden, und wo immer Céline Dion sich gerade aufhalten mochte, zweifellos liefen ihr in diesem Moment eisige Schauder über den Rücken.
Konny war taub für diesen infernalischen Lärm. Sie hatte nur Augen für Pater Robert. Es war, als hätten alle anderen Sinne dichtgemacht. Sie hörte es nicht einmal, als urplötzlich eine heisere Stimme über die Flötentöne hinweg donnerte: »SAUBANDE, VERMALEDEITE! PIRATENFÜRZE!«
Die Stimme gehörte Chuck Norris, der aus dem geöffneten Bürofenster geflattert kam und sich auf Kriemhilds Schulter niederließ, wo er von einem Fuß auf den anderen wippte und mit dem Köpfchen wackelte, als würde er Samba tanzen. Er freute sich sichtlich, Kriemhild wiederzusehen. Kriemhild war seine Favoritin.
Natürlich handelte es sich bei Chuck Norris nicht um den berühmten Action-Darsteller, von dem es hieß, er sei vor zehn Jahren gestorben, der Tod habe aber nicht den Mut, es ihm zu sagen. Und er trage keine Uhren, weil ER entscheide, wie spät es sei. Und das Letzte, was seinen Opfern durch den Kopf gehe, sei sein Fuß. Nein, das war der andere Chuck Norris.
Dieser Chuck Norris war ein Graupapagei und hatte einst dem Smutje des Kommodore gehört, des verstorbenen Ehemannes von Kriemhild. Jetzt fristete dieser fluchende Vertreter der Gattung Psittacus seinen Lebensabend bei Kriemhild und Konny, und wenn es auf TripAdvisor oder anderen Bewertungsplattformen für Hotelbetriebe hin und wieder einen Abzug in der B-Note für die Pension der Schwestern gab, dann nur wegen Chuck Norris. Der Smutje hatte ihm in aufopferungsvoller Kleinarbeit sämtliche, weltweit existierenden Seemannsflüche beigebracht, die der Vogel gern und laut zu den unpassendsten Momenten zum Besten gab. Beispielsweise morgens bei Sonnenaufgang, wobei er es darauf anlegte, immer eine Schnabellänge schneller zu sein als der Hahn auf dem Hof der Schobers.
Außerdem war Chuck Norris nicht dumm: Egal, womit die Schwestern seine Zimmervoliere verschlossen – er biss Lederriemen durch und drehte Schlüssel im Schloss. Oder mimte den Sterbenden, bis Gäste, die zufällig vorbeikamen und ihn wie tot auf dem Volierenboden liegen sahen, besorgt die Tür öffneten. Dann entwischte er und stellte irgendwo in der Pension Unsinn an.
Und auch jetzt war er wieder getürmt, denn Konny erinnerte sich genau, das Schloss der Zimmervoliere vorhin noch einmal überprüft zu haben.
Kriemhild zeigte nie viel Zuneigung. Dass sie den Vogel auf ihrer Schulter gewähren ließ, war schon das Äußerste an Gefühlen. Und sie gestattete es auch nur, weil sie – wie immer, wenn sie auf Reisen ging, sei es tiefster Winter oder Schweißausbrüche induzierender Hochsommer – ihren grauen Staubmantel trug, der imprägniert und somit abwaschbar war. Chuck Norris war nämlich so einiges, aber stubenrein war er nicht.
»Ich freue mich sehr, Sie alle kennengelernt zu haben«, sagte Pater Eberhard, schritt die Reihe der Anwesenden ab und drückte allen die Hand. Einem von ihnen ganz besonders gefühlvoll. »Alles Gute für Sie, Herr Hirsch.«
»Lippenherpes«, erwiderte Herr Hirsch, der Gärtner der Schwestern. Seit einem Schlaganfall war er Aphasiker – körperlich und geistig vollkommen wiederhergestellt, nur sein Sprachzentrum war noch gestört. Der Sprechapparat funktionierte einwandfrei, aber bis die lautgebenden Befehle aus dem Gehirn bei ihm ankamen, waren sie bis zur Unkenntlichkeit verschwurbelt. Heraus purzelten dann Wörter, deren Zuordnung selbst den Eingeweihten oft schwerfiel.
»Herr Hirsch sagt danke«, dolmetschte Konny. Ihr brach fast die Stimme.
Der Priester nickte dem Gärtner zu. Männer verstanden sich auch wortlos.
»Meine liebe Konny, wie kann ich Ihnen nur danken?« Pater Eberhard lächelte sie an. Seine gletscherblauen Augen blitzten.
Konny konnte nur noch gefühlsüberfraut gurgeln.
»Ich melde mich, sobald ich zu Hause angekommen bin«, versprach er und drückte ihr keinen Kuss auf die Wange, wie sie befürchtet hatte, sondern nur fest die Hand.
»Wir müssen jetzt los, sonst kriegen Sie den Zug nicht mehr«, rief der Taxifahrer aus dem Wagen.
»Ja dann …« Pfarrer Eberhard stieg ein und schnallte sich an, und schon trat der Taxifahrer aufs Gas. Weil es lange nicht mehr geregnet hatte, staubte die Auffahrt vor der Pension. Eine regelrechte Staubwolke stieg auf. Man konnte das Taxi nur noch erahnen. Für einen zünftigen Western fehlten nur noch Ennio-Morricone-Klänge. Gott sei Dank hatte Klein-Wilmer die Blockflöte schon weggepackt, sonst hätte er womöglich, mit der instinktsicheren Kindernase für Umgebungsstimmungen, Spiel mir das Lied vom Tod intoniert.
Konny hustete sich den Staub aus der Lunge. Und winkte. Und tupfte sich mit dem zerknüllten Stofftaschentuch Staubkörner aus den Augenwinkeln. Und winkte weiter.
Die Pensionsgäste gingen auf ihre Zimmer oder in den Speisesaal, um einen Verdauungs-Espresso zu trinken. Herr Hirsch erklomm den Aufsitzrasenmäher und tuckerte in Richtung Wiese. Klein-Wilmer nahm seiner Mutter den Nacktkater ab und ging mit Amenhotep zum Spielen in die umgebaute Scheune. Kriemhild, auf deren Staubmantelschulter immer noch Chuck Norris wippte, brachte ihre Reisetasche auf ihr Zimmer.
Nur Konny blieb in der Auffahrt stehen und winkte dem Taxi nach, das ganz vorn, am Ende der langen Allee, auf die Landstraße bog. Sie konnte einfach nicht aufhören zu winken.
Hach, seufzte es in ihr.
Als das Taxi selbst mit viel gutem Willen nicht mehr auszumachen war und ein fremder Opel hupte, weil die Insassen wohl dachten, Konny winke ihnen zu, kehrte sie schweren Herzens ins Haus zurück, um ihre Schwester zu begrüßen.
Konny hatte noch nicht einmal die oberste Stufe der Eingangstreppe erreicht, da hörte sie Kriemhild im kleinen Büro der Pension keifen: »Was ist denn das für ein Durcheinander auf dem Schreibtisch?«
Unterschiedlicher als Konny und Kriemhild konnten Zwillingsschwestern gar nicht sein. Weder äußerlich noch innerlich. Die dralle Konny war der Gemütsmensch der beiden, Kriemhild verkörperte in ihrer Hagerkeit eher die strenge Internatsdirektorin. Shakespeare hatte seinen Julius Cäsar sagen lassen, er wolle dicke Männer um sich haben. Vermutlich hatte Shakespeare auch jemanden wie Kriemhild gekannt und daraus seine Schlüsse gezogen. Kriemhild war nicht böse, nur schnörkellos ehrlich. Wie sie es nannte.
»Du bist fürs Praktische zuständig, ich für die Verwaltung. Rede mir nicht in meine Arbeit hinein«, blaffte Konny, die wegen akuten Priesterentzugs ihr übliches Gutmenschentum vermissen ließ.
Kriemhilds Augenbrauen wanderten überrascht nach oben. Sogar Chuck Norris, den Kriemhild wieder in seine Voliere gesetzt hatte, erstarrte mitten im Knabbern an einer seiner geliebten Hirsestangen. So kannte man Konny nicht.
Und auch Konny erkannte sich nicht wieder. Sie räusperte sich, zeigte mit dem Finger auf eine Postkarte und sagte einen Ticken freundlicher: »Da. Für dich.«
Die Postkarte zeigte die Skyline von Hongkong.
»Für Konny, Kriemhild, Amenhotep und Chuck Norris: wish you were here. Euer Lambert«, las Kriemhild laut vor. »Wie nett, unser Herr Kaiser hat uns nicht vergessen.«
Lambert Kaiser arbeitete jetzt als Chefconcierge in einem Fünf-Sterne-Haus in Asien, aber davor war er für kurze Zeit so was wie der gute Geist der Pension gewesen. Im Gegensatz zu Konny und Kriemhild hatte er das Hotelgewerbe von der Pike auf gelernt, und dass der Laden in letzter Zeit flutschte, war allein ihm zu verdanken. Außerdem hatte er ihnen das Leben gerettet. Aber das war eine andere Geschichte.
»Ich hänge sie zu den anderen«, sagte Kriemhild und ging in die Küche.
»STINKENDE LANDRATTEN!«, kommentierte Chuck Norris ihren Abgang. Er hasste es, allein im Büro zurückzubleiben.
Konny folgte ihrer Schwester. Mit einem kurzen Umweg über das Badezimmer im Erdgeschoss, um sich die Mascara-Schlieren von der Wange zu wischen.
Als sie in die Küche kam, zierte Lamberts Postkarte bereits die Kühlschranktür, an der all seine Postkartengrüße klebten: aus Singapur, Kuala Lumpur, Hanoi, Tokio und Sydney. Bunte Zeugnisse in DIN-A6-Format von der Tatsache, dass Lamberts Flugangst geheilt war.
»Und? Was habe ich verpasst?«, fragte Kriemhild, während sie sich mit kritischem Blick in der Küche umsah. In ihrer Abwesenheit hatte Frau Friedrich die Pensionsgäste bekocht. Die Friedrichs waren Stammgäste und hatten ein Sonderarrangement ausgehandelt: Sie durften umsonst im großen Eckzimmer des Haupthauses mit Blick aufs Tal wohnen, wenn Frau Friedrich den Kochlöffel schwang. Weil Konny nämlich nicht kochen konnte. Konny scheiterte ja schon daran, Wasser zum Kochen zu bringen.
Nun vergewisserte sich Kriemhild, ob Frau Friedrich auch ja nicht an der heiligen Ordnung in ihrer Küche gerüttelt hatte – beispielsweise den Kartoffelschäler in die falsche Schublade gelegt oder die Flasche Abflussreiniger nicht links unter die Spüle gestellt hatte, sondern rechts.
Kriemhild war zufrieden. Alles war noch an seinem Platz. Sie drehte sich zu Konny, weil die nicht antwortete, sondern nur verträumt in den Garten schaute, wo Herr Hirsch auf dem Aufsitzrasenmäher gerade mit einem solchen Karacho über die Wiese bretterte, dass seine grauen Haare im Wind flatterten und er aussah wie Albert Einstein. »Ich fragte, was ich verpasst habe?«
Konny presste sich die Hand an den Busen. Wie eine Courths-Mahler-Heldin. »Ich habe mich verliebt«, hauchte sie.
»Schön. Und sonst? Irgendwas Wichtiges?«
Kriemhild war nicht durch und durch gefühllos. Aber angesichts der Häufigkeit, mit der ihre Schwester sich verliebte – seit Eröffnung der Pension gern auch in Gäste des Hauses –, nahm der Grad der Mitfreude und / oder Anteilnahme doch deutlich ab. Auf »Heute Morgen ging die Sonne auf« reagierte man ja auch allenfalls mit einem »schön«. Wäre die Sonne an diesem Morgen nicht aufgegangen, tja, das hätte eine gebührende Reaktion erzeugt.
»Wie kannst du nur so kaltschnäuzig sein.« Konny schmollte. »Du hast deinen Tröndle gefunden. Gönn mir ruhig ein wenig Glück.«
Kriemhild brummte Unverständliches. Sie persönlich fand ja, dass man sich ab einem gewissen Alter nicht mehr verliebte – man suchte sich jemand, der nicht allzu sehr nervte, und gut. So hatte sie selbst es zumindest gehalten. Und auch, wenn Kriemhild das niemals laut aussprechen würde, so hielt sie sich durchaus für den Maßstab aller Dinge.
Bei einem Hamburg-Roadtrip der Schwestern waren mehrere lebensverändernde Dinge passiert. So hatte sich beispielsweise Kommissar Tröndle (trotz des Namens ein Hanseat in dritter Generation) in Kriemhild verliebt – für alle, im Grunde auch für ihn selbst, unerklärlich. Seine Gefühle blieben nicht unerwidert. Denn Kriemhild, die ihren verstorbenen Mann, den Kommodore, jahrzehntelang auf ein Podest gestellt und ihn nachgerade angebetet hatte, selbst als er schon tot war und in einer Urne steckte, hatte feststellen müssen, dass er zu Lebzeiten jahrelang eine Zweitfrau auf der Reeperbahn gehabt hatte. Jetzt stand die Urne mit der Asche (es war weder die Originalurne noch die echte Asche) als reiner Ziergegenstand auf einem Beistelltischchen im Flur der Pension. Und die Leere in ihrem Herzen füllte ein unscheinbarer Mann, der einen schwäbischen Nachnamen trug, aber mit jeder Pore seines Seins ein Fischkopp war. Kriemhild hatte ihn schon dreimal im hohen Norden besucht. Aber sie verbat sich jedwede Nachfrage. Hatten sie und Tröndle nur händchenhaltend das Miniatur-Wunderland mit der größten Modelleisenbahn der Welt besucht? Oder wilde Orgien mit Fetischsex gefeiert? Konny wusste es nicht. Wenn sie raten sollte, würde sie allerdings auf die Miniaturen tippen.
Ach ja, sie hatten auch noch Chuck Norris geerbt. In diesem Moment kam der Graupapagei zu Fuß in die Küche gewatschelt. Konny nahm sich fest vor, die Zimmervoliere in einen Hochsicherheitstrakt zu verwandeln. Geld genug dafür hatten sie ja jetzt. Bei der Hamburg-Reise waren die Schwestern zu einem kleinen Vermögen gekommen. Aber auch das war eine andere Geschichte.
Chuck Norris sprang auf einen Küchenstuhl und von dort auf den Küchentisch, wo er sich erst einmal ausgiebig das Gefieder putzte. Solange es keiner der Gäste mitbekam, war Konny das egal.
»Welcher unerreichbare Kerl ist dieses Mal der Held deines Wunschdenkens?«, fragte Kriemhild. Sie hatte ihre Inspektionstour beendet – alles zu ihrer Zufriedenheit – und setzte den Wasserkessel auf. »Assam oder Earl Grey?«
»Assam.« Konny hasste alles Bergamottige. »Und es ist kein Wunschdenken!«
Kriemhild drehte sich zu ihr um. Unter dem skeptischen Blick ihrer Schwester verlor das rosarote Bild vor Konnys innerem Auge schlagartig an Kontur. Hatte sie sich das mit ihr und Pfarrer Eberhard nur eingebildet?
Konny schaute auf das Display ihres Smartphones, das mit ihrer Hand förmlich verwachsen sein würde, bis sie von ihm hörte. Nichts. Keine SMS, keine Mail, kein entgangener Anruf. Priester waren ja auch nur Männer. Er würde sich nicht schon am Gleis bei der Abfahrt des Regionalzuges bei ihr melden, um sie wissen zu lassen, wie sehr er sie jetzt schon vermisste. Erst wenn er im Kloster ankam, würde er ihr schreiben. Oder? ODER?
»Zwischen … Pfarrer Eberhard und mir … ist eine Freundschaft erwachsen …«, fing Konny an und wollte ihre aufkeimende Liebe in poetische Worte kleiden. Aber sie wurde von ihrer Schwester schnöde unterbrochen.
»Du hast dich in den Priester