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Die Fortsetzung des Buchs der Chroniken – wie dieses sehr zugänglich, sehr persönlich und sehr liebenswert!
Eine hymnische Liebeserklärung an die Landschaft und die Menschen von Angola, eine heitere Begründung, warum man Gott nicht ins Wohnzimmer lassen kann, eine melancholische Geschichte über ein altes Ehepaar, das bei Regen im November fast glücklich ist – auch der zweite Band von Lobo Antunes’ Miniaturen zeigt den Schriftsteller als Menschenfreund. Er gibt Einblick in die Qual und die Notwendigkeit des Schreibens, schöpft die Welt aus Alltagsbetrachtungen und blickt tief in die menschliche Seele, vergisst darüber aber so wichtige Sachen wie Fußball, Frauen oder den einzigartigen Duft der Wellen keineswegs …
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Seitenzahl: 350
António Lobo Antunes
Zweites Buch der Chroniken
Aus dem Portugiesischen vonMaralde Meyer-Minnemann
Sammlung Luchterhand
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Die Originalausgabe erschien 2002unter dem Titel Segundo Livro de Crónicasbei Publicações Dom Quixote, Lissabon.
Deutsche Erstausgabe
Copyright © 2002 António Lobo Antunes und Publicações Dom Quixote
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2007
Luchterhand Literaturverlag, München, in der
Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Durch Vermittlung von The Colchie Agency, New York
Satz: Greiner & Reichel, Köln
ISBN 978-3-641-32175-8V001
www.luchterhand-literaturverlag.de
Für Margarida da Beira Cardosode Melo Machado de Almeida Lima,meine geliebte Großmutter
Inhalt
So war es bestimmt nicht, aber nehmen wir es einfach mal an
António 56½
Wir beide hier hören dem Regen zu
Wer hat mich umgebracht, daß ich so sanft bin?
Eine Chronik, die mit Kissanje-Begleitung gelesen werden sollte
Guten Abend allesamt
Geh noch nicht in diese dunkle Nacht
Im Falle des Falles
Ich, vor Ewigkeiten
Beiträge für eine Biographie von António Lobo Antunes
Stilleben mit Dame
Die Wahrheit liegt in der Mitte
Ich warte inmitten der Möwen auf dich
Provinz
Es war ja nicht anders zu erwarten gewesen
Vorschläge für das Heim
Der Duft der Wellen in dem Augenblick, da die Luft kälter ist als das Wasser
Hallo
Menuett eines Herrn mittleren Alters
Über Gott
Der Dicke und das Unendliche
Herr Antunes
So ist es nun auch wieder nicht
Die Chronik, die ich nicht schreiben konnte
Anleitung zum Lesen meiner Bücher
Dafür bin ich zu alt
Nachher warte ich hier auf euch
Das ist es
Im Dunkeln pfeifen
Heute abend bin ich für niemanden zu sprechen
Von Gott als Jazzfan
Rosa, laß die Röcke fliegen
Bildnis des Künstlers als junger Mann II
Man steigt nicht lebend von einem Kreuz herunter
Bitte jetzt nicht
Das Pseudonym Gottes, wenn er nicht unterzeichnen will, ist der Zufall
Das Mitgefühl des Feuers
In Porto mit Egito Gonçalves
Feiertag
Diese Art, in ein Wort hineinzuweinen
Text für das Buch des Fotografen Eduardo Gageiro
Gespenst eines Schattens
Sehr alte Chronik, die ich verloren glaubte
Ich lüge nicht, das schwöre ich
Hotel Mailberger Hof
Eine Nixe in den Korallen des Flusses
Als hätte dich der Tau geküßt
Für José Cardoso Pires, ins Ohr geflüstert
Der Mord an der Gattin von Senhor Sales, von ihm selber erzählt
Deine Hand brauche ich jetzt
Erinnerst du dich an morgen?
Alles, was dieses Land braucht, ist eine starke Regierung
Über dein Haar streichen
Kleines Weihnachten
Souvenir from Lisbon
Augen voller Kindheit
Vom Marquês de Pombal nach Laranjeiras
Neues Essay über das menschliche Verständnis
Für Artur Semedo, nah
Die Lusiaden, Kindern erzählt
Funkelnde Stille
Wie meine Verlobungszeit begann
Auf Kosten des Hauses
Sonnabendnacht ist die traurigste Nacht der Woche
Der Klang meiner Knochen
Der Tag des heiligen Antonius von Padua
Der Bauchnabel vom Bauchnabel vom Bauchnabel
Würdest du mich bitte in Ruhe lassen?
Solche Überraschungen gibt es
Kümmere dich nicht um meine Pingeligkeit
Die Pferdegesundheit meines Vaters
Guten Tag, Eugénio
Maria Irene
Etwas, zu dem ich geworden bin
Wir beide
Ein Gefühl von Wozu
Penn
Die Dämmerung in den Pelargonien
Glossar
Meine schönste Erinnerung an das Landgut meiner Großeltern in Beira Alta ist die Schwerhörigkeit meines Großvaters. Er trug so etwas wie Kopfhörer, aus denen eine geflochtene Schnur herauskam, die in einer Batterie endete
einer riesigen
die in der oberen Jackentasche steckte, und wegen seines andächtigen Gesichtsausdrucks kam er mir so vor, als kommunizierte er mit den Engeln oder jenen körperlosen Stimmen, die ich in den Kiefern zu hören vermeinte und denen er ganz bestimmt lauschte. Uns, die Irdischen, uns hörte er nie: meine Großmutter machte ihn schreiend und gestikulierend darauf aufmerksam, daß wir da waren, mein Großvater schaute herunter, lächelte, setzte zu einer Geste an, die er aber sogleich wieder vergaß, weil ihn die Kiefern oder irgendeine himmlische Dringlichkeit riefen. Von einem Menschen hatte er wenig: ich erinnere mich nicht daran, ihn lachen gesehen zu haben, ihn essen gesehen zu haben: entweder saß er stumm auf der zum Gebirge hinausgehenden Veranda, oder aber er las die Zeitung, die mit dem Mittagszug kam und vom Bahnhof abgeholt werden mußte. In einer weißen Leinenjacke, an eine Säule gelehnt, blätterte er die Seiten mit einem Taubenflügelgeräusch um, und sein Gesichtsausdruck veränderte sich nie. Wahrscheinlich las er nicht einmal: er verweilte gerade so lange bei den Nachrichten, daß wir dachten, er läse, vergaß dann die Blätter auf einem Liegestuhl und ging mit der zerstreuten Leichtigkeit von Seraphim zum Weinberg hinunter, ohne die Terrassen mit den Füßen zu berühren. Seine Gegenwart war stumme Abwesenheit, die nach Brillantine duftete: am späten Nachmittag nach dem Baden
(das Wasser wurde aus einem Brunnen heraufgepumpt, und die Dusche war ein Eimer mit kleinen Löchern)
erlaubte man mir, einen Tropfen dieser weißen Creme ins Haar zu tun, die meine Haarsträhnen härtete und mich mit dem Duft des Paradieses durchtränkte. Aber weder wurden die Geräusche im Haus leiser
(die Kastanienbäume knackten weiter im Fenster)
noch interessierten sich die Engel für mich. Ich aß im Pyjama zu Abend und haderte mit Gott.
Ich kann mich nicht daran erinnern, daß mein Großvater je etwas anderes gemacht hätte, als zu levitieren. Hin und wieder steckte er eine Zigarette in die Zigarettenspitze und produzierte Wolken mit seinem Mund. Vielleicht war ja Wolkenbauen seine Hauptarbeit: die Dienstmädchen redeten ihn mit Herr Ingenieur an. Soweit ich wußte, bauten Ingenieure Brücken und Gebäude. Mein Großvater, dem gewichtslose Dinge und substanzlose Materie näherstanden, zog Gasförmiges vor, das den Launen des Windes gehorchte. Seine tadellosen, akkuraten Rauchkaravellen segelten den ganzen September hindurch nach Westen, trugen die Wildenten und den Sommer mit sich fort.Vom Weben am Herbst erschöpft, schlief mein Großvater auf dem Sessel im Salon ein.
So wie ich mich nicht daran erinnern kann, daß er irgend etwas tat, kann ich mich auch nicht daran erinnern, daß er jemanden begrüßte. Die Besucher kamen und gingen, wir kamen und gingen, die Zeitungen zerknitterten, den nächsten Tag ankündigend, im Mülleimer
(der Aufbruch der Zeitungen zum Mülleimer kündigte die Morgen an)
und mein Großvater schlief entweder stumm und abwesend im Sessel oder baute auf der Veranda Wolken, was das einzig Unveränderliche in einer Welt war, in der sogar die Bäume starben. Dieselbe weiße Leinenjacke, dieselbe weiße Creme, dasselbe weiße Haar, dasselbe weiße, zerstreute und, wie mir heute, so viele Jahre später, vorkommt, etwas traurige Lächeln, was verständlich ist, da im Himmel des Katechismus die Freude dumpf hallend und düster war und das Latein
(die offizielle Sakristeisprache)
ein schwieriges Esperanto. Die ganze Zeit Kopfhörer aufzuhaben und Deklinationen zu empfangen muß lästig sein. Als ich zwölf Jahre alt war, starb mein Großvater, und damit endete Beira Alta. Ich weiß nicht, was mit der Jacke und der Wolkenzigarettenspitze geschehen ist, aber Jahre später fand ich den Hörapparat in einem dieser Schränke, in denen Nutzloses verwahrt wird, die Vergangenheit sich häuft: Alben, Briefe, Überreste von Tassen, zu nichts passende Schlüssel, exotische Briefmarken, phosphoreszierende Madonnen, die ihren Heiligenschein verloren haben, alles, was zukünftigen Archäologen erlauben wird, uns aufgrund von Scherbenmüll zu rekonstruieren und zum Schluß zu kommen, daß wir im Vergleich zur Epoche der Galeeren einen Rückschritt gemacht haben. Allenfalls der Hörapparat wird sie ebenso verwirren wie mich. Sie werden die Kopfhörer auf die Ohren setzen
(wie ich die Kopfhörer auf die Ohren setze)
die riesige Batterie in die obere Jackentasche stecken
(wie ich die riesige Batterie in die obere Jackentasche stecke)
beides mit der geflochtenen Schnur verbinden
(ich verbinde beides mit der geflochtenen Schnur)
und werden sprachlos
(ich hörte es sprachlos)
das uralte Raunen der Kiefern und den Dialog der Seraphim hören. Sonst wird da noch die Wasserpumpe sein, die mir mein Bad ermöglicht, vielleicht der flüchtige Blick auf ein mit Brillantine eingeschmiertes Kind, das mit seiner Mutter über die Suppe, die Gerichte vom Abendessen verhandelt, die es gegen eine doppelte Portion Pudding ersetzt haben möchte. Und mit ein wenig Glück produziert ein schwerhöriger Herr auf einer zum Gebirge gewandten Veranda Wolken und entschwindet mit ihnen und den Enten in Richtung Herbst. Heute bin ich der Schwerhörige. Und die kleine Bohne, die mir die moderne Medizin ins Ohr gesteckt hat, bringt mir nur hallende Geräusche schlafloser Nächte von Autowerkstätten und das verzerrte Kreischen des Universums. Ich muß so schnell wie möglich nach Beira Alta zurückkehren und die Engel treffen. Wenn ich eine weiße Leinenjacke trage und eine Zigarettenspitze habe, werden sie mich für meinen Großvater halten und mich auf Latein fragen, ob es mir gutgeht. Ich weiß nicht, wie man da
– Es geht so
antwortet, ersetze aber die Worte durch ein Schulterzukken und zeige mit einem Finger auf die Gereiztheit der Galle. Anschließend lese ich die Zeitung, zünde eine Zigarette an und versuche ein ungelenkes Wölkchen: mit siebenundfünfzig Jahren ist die Zeit gekommen, ebenfalls in Richtung Herbst zu verschwinden, den Schrank mit den nutzlosen Dingen und ein Dutzend Bücher zurückzulassen, die nicht passenden Schlüssel, die ich besitze. Man kann nichts mit ihnen öffnen, nur Türen, die es nicht mehr gibt.
Was wir Umstände nennen und was schlicht und einfach nichts weiter ist als das, was wir dem Leben und den Leuten erlauben, uns anzutun, zwingt ihn ständig mehr dazu, über sich selber nachzudenken. Mit zwanzig Jahren glaubte er, die Zeit würde seine Probleme lösen: mit fünfzig merkte er, daß die Zeit zum Problem geworden war. Er hatte so intensiv alles auf das Schreiben gesetzt, jeden Roman genutzt, um den vorangegangenen auf der Suche nach dem Buch zu korrigieren, das er nie mehr korrigieren würde, daß er sich nicht an die Ereignisse erinnern konnte, die geschehen waren, als er diese Romane schrieb. Diese Intensität und diese Arbeit führten dazu, daß er keinem anderen Einfluß als dem eigenen ausgesetzt war und er außerhalb seiner selbst nichts als Vorbild hatte, obwohl ihn das einsamer machte als eine in einem leeren Hotelzimmer vergessene Jacke, während der Wind und die Enttäuschungen nachts den Rollladen klappern lassen, den niemand geschlossen hat. Da ihm Traurigkeit fremd war, wußte er, was Verzweiflung ist: das eigene Gesicht morgens im Rasierspiegel oder besser kein Gesicht, Teile eines von einer unruhigen Oberfläche reflektierten Gesichts, die, unfähig, die Gegenwart zu bauen, ihm lose Fragmente der Vergangenheit zurückwarfen, die unscharf blieben
(Nachmittage im Garten, Kinderkittelchen, Dreiräder)
und weniger eine anrührende Erinnerung, sondern ein Gefühl von Fremdheit vermittelten, von dem er annahm, daß es jenen beim Träumen half, die nicht den Mut hatten, ohne Hilfe zu träumen. Der Konsumethik der anderen setzte er eine Produktionsethik entgegen, nicht aus irgendeiner Tugend heraus
(er besaß keine Tugenden)
sondern aufgrund der Unfähigkeit, die praktischen Mechanismen des Glücklichseins anzuwenden. Seine Verachtung für das Geld beruhte auf einer Deformation, die nichts mit Liebe zur Armut zu tun hatte. Er betrachtete das Bankkonto wie die uninteressanten Bücher, die hinten im Haus aufgestapelt lagen: irgendwann würde er aus einer plötzlichen Anwandlung von Hygienebedürfnis heraus die Scheine nach Gewicht verkaufen.
Die Wertschätzung junger Schriftsteller und Schriftstelleraspiranten, die ihm Manuskripte und Briefe schickten, verwirrte ihn: wie sollte er begreifen, daß es Männer und Frauen gab, die bereit waren, tagtäglich im Zustand von Unruhe und Bangigkeit zu leben? Er hatte nie beschlossen, Bücher zu machen: etwas oder jemand hatte es ihm auferlegt, und er dankte Gott, daß diejenigen, die er gern hatte, freie Menschen waren und ihn mit jener Nachsicht betrachteten, die man jemandem entgegenbringt, der im Dienste von etwas Unsinnigem einen Arm verloren hat. Seine Freunde neigten dazu, ihn mit jener freundlichen Hand zu führen, mit der man Blinde leitet, machten ihn auf Unebenheiten auf der Straße aufmerksam, aus der Gewißheit heraus, daß er von einer hilflosen Unschuld erfüllt war, die ihn fast allem, insbesondere sich selber, schutzlos auslieferte. Wenn sie könnten, würden sie ihm die Schnürsenkel und den Gürtel abnehmen, wie man es bei Häftlingen tut, um sie daran zu hindern, wer weiß wohin auszureißen oder aus Unachtsamkeit zu sterben, da er weder Zucker von Sand noch Diamanten von Glas unterscheiden konnte, weil er damit beschäftigt war, die Worte so tief einzugravieren, daß man sie ohne Augen wie Braille lesen konnte. Daß der Finger über die Zeilen strich und das Feuer und das Blut fühlte. Damit das Feuer und das Blut zu spüren waren, mußte er brennen und bluten. Wußten die Schriftstelleraspiranten, was man für eine einzige Seite zahlt? Was der Unterschied zwischen dem Reinen und dem Unreinen ist? Wann man etwas überarbeiten und wann man damit aufhören muß? Daß der Erfolg nichts wert ist, erstens, weil man bereits auf der anderen Seite ist, und zweitens, weil die Qualitäten fast immer getarnte Mängel sind und es unehrlich ist, sich zu freuen, wenn man wegen der eigenen geschickt verborgenen Mängel gelobt wird? Wußten die Schriftstelleraspiranten, daß unser bitterer Triumph bestenfalls bedeutet, nicht zu erreichen, was wir wollen? Daß der abgeschlossene Roman uns eher erschöpft zurückläßt, als daß er uns Freude bringt, und daß uns sofort die lähmende Angst quält, das nächste Buch nicht schreiben zu können?
Nachmittage im Garten, Kinderkittelchen, Dreiräder. Jetzt, wo die Zeit die Probleme gelöst hatte und
sie, die Zeit
zum Problem geworden war, bemerkte er, daß aus seinen Töchtern Frauen geworden waren und die Nacht hereingebrochen war. Doch mit ein bißchen Glück würde er keine Spur, keinen Schatten, keine Erinnerung, nur das hinterlassen, was an Tiefe er in sich verbarg: was er den anderen voraushatte. Und dann, wenn die Stunde gekommen war, würde er sich in Frieden hinlegen, die Augen schließen und schlafen können: endlich wäre er so geworden wie ihr.
November ist ein schwieriger Monat: es war der Monat, in dem deine Mutter gestorben ist und wir den Hund verloren haben. Das mit deiner Mutter hatten wir wegen des Alters und des Diabetes mehr oder weniger erwartet. Der Arzt riet
– Passen Sie mit der Kälte auf
wir haben ihr noch mehr Bettdecken gegeben, du hast ein großes Umschlagtuch besorgt, wir haben einen Ölheizkörper gekauft, den wir neben den Sessel geschoben haben
– Das sollte jetzt gut sein
wir haben die Hühnerbrühen noch kräftiger gemacht, aber klar, dreiundachtzig Jahre sind nun mal dreiundachtzig Jahre, deine Mutter sah schlecht, stolperte über den Heizkörper, brach sich den Knochen im Bein, auf der Unfallstation warnten sie gleich
– Das mit dem Knochen im Bein wird ein Problem werden
sie kam doch wieder nach Hause, Decken, Umschlagtücher, und uns bleibt der Trost, daß ihr schön warm war, als sie starb. Es mag eigenartig klingen, aber ohne sie ist das Wohnzimmer größer geworden.
In der Woche darauf der Hund. Er war weder alt, noch hatte er Diabetes. Ich führte ihn montags, mittwochs und freitags zum Pinkeln aus, du kümmertest dich dienstags, donnerstags und sonnabends um die Blase des Tierchens, sonntags gingen wir zusammen, eingehakt, Schaufenster im Viertel angucken, du mit der Leine, ich pfiff hinter ihm her
– Benfica
beim Lampengeschäft, als wir versuchten, den Preis eines Lüsters zu erspähen, der auf einem Preisschild stand, das mitten zwischen den Kristallklunkern schaukelte
– Es ist nicht der rechte es ist der linke Henrique
haben wir nicht aufgepaßt, haben wir eine Sekunde lang Benfica vergessen, der an den Reifen eines stehenden Wagens schnüffelte
er liebte es, an Reifen zu schnüffeln
und seine Leidenschaft für Reifen war sein Verderben: trotz der Warnungen, die wir ihm, wenn wir die Treppe hinunterstiegen, mit auf den Weg gaben
– Schön aufpassen Benfica
wollte er ausgerechnet an den Reifen eines fahrenden Autos schnüffeln, und wir hörten einen dumpfen Schlag, und es war aus mit ihm. Deine Mutter und der Hund, beide tot, hatten so etwas wie eine Familienähnlichkeit, ich habe dich darauf hingewiesen, als wir uns über das Tier auf der Straße beugten
– Sieht er nicht aus wie deine Mutter Irene?
Du stimmtest mir Trauer schniefend zu, der Besitzer des Wagens zu uns
– Es war nicht meine Schuld es war nicht meine Schuld
du zeigtest auf den Hund
– Er sieht wie meine Mutter aus wissen Sie
der mit dem Auto stand mit offenem Mund da, und im Morgengrauen hat der Müllwagen den Hund mitgenommen. Das Wohnzimmer wurde noch größer, und da wir niemanden haben, den wir im Viertel spazierenführen müssen, sehen wir uns keine Schaufenster mehr an.
Wir sind also allein. Das Foto deiner Mutter steht oben auf der Kommode, und die Leine des Hundes liegt in der Schublade, manchmal, wenn wir das Foto anschauen, öffnen wir die Schublade, um die Leine zu berühren, und sind immer noch allein. Wir sitzen auf den üblichen Plätzen, du häkelst auf dem Schaukelstuhl, ich auf dem Sofa tue so, als würde ich die Zeitung lesen, zwischen uns liegt ein großes Schweigen, und mit etwas Glück regnet es draußen. Wenn wir den Regen hören, hebst du den Blick von der Häkelarbeit
– Hörst du den Regen Henrique?
ich hebe den Blick von der Zeitung und nicke, und wir betrachten das Fenster, an dem die von den Laternen auf dem Bürgersteig schräg angeleuchteten kleinen Tropfen herunterrinnen. Wenigstens sprechen wir. Wenigstens hast du
– Hörst du den Regen Henrique?
gesagt, wenigstens habe ich von der Zeitung her genickt, wenigstens waren wir einen Augenblick lang in Gesellschaft. Wir sind zurückhaltende Menschen, unfähig zu Übertreibungen, Unterhaltungen, nutzlosen Gefühlen. Ich denke, das hat uns verbunden, die Schüchternheit, das Fehlen von Tränen. Wie gut. Wie gut für uns. Wir haben vor siebenunddreißig Jahren geheiratet und uns nie gestritten. Wozu? Und dann gibt es solche Augenblicke nach dem Abendessen, in denen es zu regnen beginnt, und wir sind hier drinnen, friedlich, fast glücklich. Und ich schreibe fast glücklich, denn damit ich glücklich schreiben könnte, müßte der Regen so stark sein, daß er das Haus und uns dazu zum Tejo mitreißt, was selbstverständlich nie geschehen wird. Vielleicht ist es auch besser so: der Sommer geht im Nu vorbei, und bald ist schon wieder November. Wir werden deine Mutter wieder verlieren, werden den Hund wieder verlieren. Das ist unwichtig. Wie du mir erklärt hast, hat alles seine gute Seite, und wir haben den Trost des Regens. Du wirst mich fragen
– Hörst du den Regen Henrique?
ich werde nicken, und einen Augenblick lang sind wir zu zweit, und, Ehrenwort, einen Augenblick lang könnte ich in unserer beider Namen schreiben und das fast dabei weglassen, daß wir glücklich sind.
Der riesige, dumme Finger des Grundschullehrers, der mich unter dem Vorwand der linken Nebenflüsse des Tejo zwischen den Pulten suchte; die Geduld meiner Tante, die meinen ungeschickten Fingern beibrachte
Schmoll
auf dem Klavier zu spielen; der Gärtner, der Spatzen tötete, indem er ihnen, während er mich anlachte, hinter seinem Rücken den Hals umdrehte; das Mädchen, in das ich mich verliebte, als ich zehn Jahre alt war, und das Zahnärztin werden wollte und vorher zwischen den Eisenlaken eines Autos starb, die grausam über einem Bett aus Polstern, Rädern, Chassis festgezurrt waren: was von alldem hat mich zuerst umgebracht? Ist es schwierig zu leiden, oder ist es nur eine unangenehme Banalität für die anderen wie Alter oder Krankheit? Sie haben das Mädchen, das damals zwanzig Jahre alt war, von seiner Matratze geholt, es hielt eine Platane umarmt, und ich könnte schwören, daß sein Mund
– António
sagte, wo doch sein Mund nichts sagte, diese Gleichgültigkeit der Verstorbenen, die wir Lächeln nennen und die überhaupt kein Lächeln ist, eine gläserne Abwesenheit, eine beunruhigende Ruhe. Ich will nur das Unmögliche: einen Jungen, der mir zuwinkt, ein Schiff, das kommt, mit der linken Hand hämmern, Tango tanzen können, dich aus der Ferne erkennen, wie du auf dem Flughafen auf mich wartest. Meine Tante brachte mir Noten bei, stellte das Metronom ein, und dieser riesige, zudem noch dumme Finger ging mit Herzschlagbeharrlichkeit von rechts nach links. Im Restaurant reden und reden die üblichen Freunde. Worüber? Ich höre sie nicht mehr, als ein Rentnerehepaar hereinkommt: beide brauchen ewig, bis sie sitzen, ihre Knie sind wie Federn von Taschenmessern, winkeln sich mühsam an. Wenn einer dem anderen etwas sagt, legt der andere die Hand ans Ohr. Die Ehefrau bittet darum, die Reste vom Abendessen in einem Plastikbeutel für das Hündchen einzupacken, das zu Haus bleibt und verzweifelt mit den Krallen an der Tür kratzt, verstörtes Pipi auf den Teppich tröpfelt. In ihrer Wohnung, das möchte ich wetten, Hausrat, Schatten, uralte Zeitschriften. Vielleicht brauchen sie nur, um das Metronom zu hören, keine Hand am Ohr. Wie bügelt man zerknitterte Eisenlaken? Uralte Zeitschriften, die an Regensonntagen gelesen werden. Illustração Portugueza, Très Sport, und im Très Sport der Weltchampion Georges Carpentier in Angriffshaltung, mit Mittelscheitel und unheimlich langen Turnhosen. Sein Gegner trug einen hochgezwirbelten Schnurrbart wie jene Fähnriche, die Anfang des Jahrhunderts an Prozessionsnachmittagen unter mit Decken geschmückten Balkons Damen den Hof machten. Die alten Zeitschriften rochen nach Musikpavillon und Flohsamenwegerich, nach dem ausgestopften Vogel des republikanischen Pharmazeuten, der Gott lästernd Heilmittel herstellte. Meine Großmutter erklärte mir leise, daß der Pharmazeut als junger Mann
(ich war mir sicher, daß der Pharmazeut niemals jung gewesen ist, Sie haben mich angelogen, Großmutter)
ein As beim Stockfechten gewesen sei, das den Erklärungen zufolge, die sie mir über diesen Sport gab, eine Art Ballett mit Hieben war. Würde der Pharmazeut Gott richtig zu fassen bekommen, könnte er ihm eine verpassen, und zack. Weihnachten trat er, die Hände in der Taille, den Hut auf dem Kopf, in die Kirche und forderte den Schöpfer heraus:
– Zeig was du kannst nun komm schon
Gott hat ihn geduldig ein paar Jahre lang stumm ertragen, bis er beschloß
(Gott braucht lange, bis er sich entscheidet)
ihn auf der Treppe ausrutschen zu lassen. Meiner Meinung nach war das ein Tod wegen Verrats. Am Nachmittag der Beerdigung setzte sich meine Tante zum Metronom: als junges Mädchen mußte sie den Pharmazeuten geliebt haben. Der Beweis ist, daß ihr Mund zitterte, wenn sie Sirup bei ihm kaufte, und die Arme des Pharmazeuten sinnlose Gesten malten. Er redete sie mit
– Gnädige Frau
an, und bis wir hinausgingen, ließ er Gott in Frieden. Einmal, als meine Tante ihren Regenschirm vergessen hatte, bin ich in den Laden zurückgegangen, um ihn zu holen, und stieß auf den Pharmazeuten, der sich gerade schneuzte. Er versenkte den Ärmel in das Glas mit den Hustenbonbons und streckte mir, ohne das Taschentuch von der Nase zu nehmen, einen Haufen nach Eukalyptus und Zucker riechender Würfel hin, auf deren Papier ein bärtiger Herr
Professor Malinovski
in einem von Blümchen umringten Medaillon abgedruckt war. Meine Tante errötete, als ich ihr die Bonbons übergab, und steckte sie vorsichtig, als handelte es sich um Kristalle, in die kleine Schatulle zum Schmuck, will heißen zu einer Kamee ohne Fassung und den Eheringen ihrer Eltern. Dann fragte sie mich
– Was machte er gerade?
Ich antwortete
– Er schneuzte sich
und sie hatte dann ewig lange das Piano angeschaut. Vor geraumer Zeit las ich in einem Buch, daß die Heimat einer Frau dort ist, wo sie sich verliebt hat. Am selben Abend bemerkte ich beim Abendessen, daß meine Tante sich parfümiert hatte. Und die Glyzinie schlug gegen das Fenster und winkte uns zu. Mir kam es so vor, als würde die Glyzinie sinnlose Gesten machen, mir kam es so vor, als wenn eine Blütentraube
– Gnädige Frau
mir kam es so vor, als hörte meine Tante sie, aber ich mußte mich geirrt haben. Ich habe mich sicher geirrt: seit wann schneuzen sich Glyzinien?
Das Schönste, was ich bis heute gesehen habe, ist kein Bild, kein Denkmal, auch keine Stadt und keine Frau, auch nicht die kleine Biskuitschäferin meiner Großmutter Eva, als ich klein war, auch nicht das Meer oder die dritte Minute der Morgenröte, von der die Dichter sprechen: das Schönste, was ich bis heute gesehen habe, sind zwanzigtausend Hektar Sonnenblumen in der Baixa do Cassanje in Angola. Wir brachen vor dem Morgengrauen auf, und plötzlich, wenn das Licht kam, hoben die Sonnenblumen die Köpfe und drehten sich nach Osten, das ganze Land rechts und links des Pfades bestand aus gelben Wimpern, und einmal
daran erinnere ich mich
beobachtete uns von einem Hang aus reglos eine Horde Mandrille. Irgendwann hatten sie genug von uns und verschwanden im Schatten der Stengel. Das Schönste, was ich bis heute gesehen habe, war Angola, und trotz des Elends und des Grauens des Krieges empfinde ich eine nicht verlöschende Liebe für das Land. Ich mag seinen Duft und seine Menschen. Vielleicht war einer der Augenblicke, in denen ich dem, was man Glückseligkeit nennt, am nächsten war, jener, als ich bei einer Geburt half
ich löste die Probleme, die die Frauen oder mein Kollege, der Medizinmann, nicht lösen konnten
euá Kimbanda
als ich fertig war, trat ich aus der Hütte, die als Krankenstation diente, als hielte ich noch immer ein kleines zitterndes Leben in den Händen, und fühlte mich glücklich. Die riesigen Mangobäume raschelten über meinem Kopf, Senhor António lugte aus der Ladenkneipe. Eigenartig: in schwierigen Augenblicken hilft mir die Erinnerung an die Baixa do Cassanje. Ich erinnere mich an den Soba Macau
euá Muata
sage zu mir selber
– Tumama tchituamo
und ich werde ruhig. Würde ich ans Fenster gehen, gäbe es, da möchte ich wetten, sogar in Lissabon zwanzigtausend Hektar Sonnenblumen, blonde Wimpern, so weit das Auge reicht, die Mandrille. Die unglaubliche Schönheit der Mädchen, ihre so weiche Haut, Tia Teresa, dick, riesig, die das Kommando über eine Hurenhütte in Marimba hatte und sehr viel mehr über das menschliche Dasein wußte als jeder andere, den ich kennengelernt habe
– Euá Tia Teresa
euá den Trommeln nachts in der Sanzala von Dala, dem Liamba der Begräbnisse:
euá Liamba.
Abends, wenn mich die Sehnsucht nach allem überkam, unterhielt ich mich mit Tia Teresa. Manchmal wollte sie mir eine ihrer Angestellten aufdrängen: ich konnte das nie annehmen. Sie ließ eine Schüssel mit Wasser, Seife, ein Handtuch bringen, und wir wuschen feierlich unser Gesicht. Einmal gab sie mir eine Dose mit Talkumpuder zum Schutz vor dem bösen Blick. Wahrscheinlich hat es geklappt. Und mit mörtelfarbenen Handflächen aßen wir gemeinsam Muamba. Sie und der Kimbanda Kindele, der weiße Arzt. Ich, der ich mich in Afrika so viele Male geschämt habe, es zu sein. Meines Körpers geschämt habe, dem Anmut fehlte. Legte ich mein Ohr an einen Baum, würde ich nicht wie Tia Teresa wissen, wer kommt. Aber der Soba Kaputo hat mich gebeten, der Pate seines Sohnes zu werden, die größte Ehrung, die mir bis heute zuteil wurde: aus Anstand hat niemand sich über meine Art zu tanzen lustig gemacht. Eine Alte mit der Zigarettenglut im Inneren des Mundes drückte meine Finger in ihren Fingern:
euá Alte
drücke meine Finger noch einmal: ich schreibe dies mit einer so großen Freude, derselben, mit der ich sonntags morgens mit den Männern die Mutopa rauchte
die Kalebassenpfeife
ihnen zuhörte, wie sie sich unterhielten, mit ihnen eine Art Backgammon mit kleinen Steinen spielte, während ich zusah, wie das Floß unter den Fledermäusen der Dämmerung den Rio Cambo überquerte und in der Ferne die Lichter von Chiquita glitzerten. Die Sonnenblumen zogen zum Schlafen den Kopf ein, auf dem Weg flogen die Käuzchen gegen die Scheinwerfer des Jeeps. Die Tabakfarm von Senhor Gaspar mit ihren Hippopotamusschädeln. Senhor Gaspar lächelte in seinen Schnurrbart
euá Senhor Gaspar
wir setzten uns auf die Veranda
– Tumama tchituamo
und sein Affe ließ kreischend die Kette rasseln: er hatte Angst, wenn es dunkel war. Dann kamen die Wasserschüssel, die Seife, das Handtuch. Inmitten des Elends und des Grauens gab es Augenblicke so großer Zufriedenheit. Einen Frieden für die Ewigkeit, den ich nie wieder gefunden habe. Am meisten auf der Welt wünsche ich mir die Sonnenblumen der Baixa do Cassanje und inmitten von ihnen zu gehen
zu fliegen
– Euá Alte
drücke meine Finger noch einmal.
Wenn der Zug abfährt, verabschiede dich nicht, denn du bist auf dem Bahnsteig zurückgeblieben. Nur deine Vergangenheit ist im dritten oder vierten Wagen der zweiten Klasse weggefahren, genau in dem, der jetzt gerade im Tunnel verschwindet. Nur deine Vergangenheit ist weggefahren: deine Gegenwart ist geblieben. Deine Gegenwart, will heißen: ins Bahnhofscafé gehen, ohne das Taschentuch aus der Tasche zu ziehen, ohne Sehnsucht, ohne Reue, ohne Trauer, und durch die Scheibe in der Tür auf den leeren Bahnsteig blicken, während die Uhr eine Zeit anzeigt, die nicht mehr deine ist. Denke nicht an das Gepäck, das niemand im Bahnhof einer Stadt abholen wird, in die du nie fahren wirst: was du eingepackt hast, gehört dir nicht mehr. Dir gehört dieser Nachmittag in Lissabon, vielleicht die eine oder andere Taube, irgendeine Statue, der Fluß. Stecke die Hand in die Tasche und wirf den Haustürschlüssel weg, den Personalausweis, das Telefonbüchlein, die Fotos deiner Kinder, die längst fällige Stromrechnung, die du eigentlich zahlen solltest: deine Vergangenheit ist weggefahren, deine Frau ist weggefahren, deine Anstellung ist weggefahren, du hast am Vortag aufgehört zu existieren, hast aufgehört, an morgen zu denken. Im Bahnhofscafé erlebst du den nächsten Zug, den um neun. Wirst du zum Abendessen erwartet? Wurden dein Teller, dein Glas, dein Besteck aufgedeckt? Deine Augentropfen hingestellt, die, die so brennen? Mach dir keine Sorgen wegen des Abendessens oder der Tropfen: nicht dich erwarten sie. Du hast keinen Namen, du bist weggefahren, die Möwen und die Menschen beachten dich nicht, kein Bettler, kein Hund beschnüffelt dich. Wirst du gegrüßt, erwidere den Gruß nicht, wirst du was auch immer gefragt, antworte
– Ich weiß nicht
oder erfinde irgendeine Sprache, beispielsweise
– Vlkab
oder
– Tjmp
und zeige mit dem Zeigefinger auf den Fluß. Dann geh in Richtung Wasser, wo du die Züge, die Autos, die Menschen hinter dir, die jetzt zu weit weg sind, die Fledermäuse, die dich im Schein der Laternen verfolgen, nicht mehr hören kannst. Um diese Zeit ist der letzte Bus durch die Straße, in der du gewohnt hast, gefahren, durch die Straße, in der das, was deinen Namen trug, gewohnt hat. Nummer vierzig, erster Stock rechts, eine Kampferholztruhe am Eingang, darüber ein Spiegel, der deiner Mutter gehört hat. Es fehlt ein Stückchen vergoldetes Schnitzwerk, aber in ihm betrachten sich hin und wieder die alten Gesichter, darüber verblüfft, daß sie gestorben sind. Beuge dich über die Mauer zum Fluß, und du wirst niemanden sehen: der Zug hat dich mitgenommen. Vielleicht gibt es ein Telefon, einen Kollegen, der sich für dich interessiert, vielleicht dein älterer Sohn dort hinten an der Ecke, denn es kann sein, daß ein Taxi, es kann sein, daß du, ein Abend im Büro, ein Freund aus der Militärzeit, ein Arztbesuch, der länger gedauert hat, deine Frau zwischen Treppenabsatz und Fenster, so etwas wie eine Träne, ein Schluchzen: höre nicht hin. Höre das Wasser des Tejo, ohne in seinem Rahmen aus vergoldetem Schnitzwerk, dem ein Teilchen fehlt, das Wasser des Tejo zu sehen, etwas, das du für einen dahintreibenden Korb oder Stiefel hältst, der Reflex von irgend etwas, aber wovon? Sag
– Vlkab
sag
– Tjmp
das ist die einzige Sprache, die du wirklich kannst. Erinnerst du dich an deinen Vater im Garten? Diese Verwachsung am Daumen, die Narbe am Handgelenk? Daran, wie du heimlich hinter dem Hühnerstall geraucht hast? Eier geklaut hast, um sie im Laden zu verkaufen? An die Fayencekatze? Die echte Katze, nur Augen und Schwanz? Deine Vergangenheit ist weggefahren, du erinnerst dich an nichts, nichts von alldem hat es je gegeben, und es ist dunkel. Sag
– Guten Abend allesamt
sag
– Fcdnqr
der Tejo versteht es. Und dann gehe ganz langsam zu ihm hinunter. Schau: die Kampferholztruhe, der Spiegel darüber. In der Truhe die Bettücher der Aussteuer, im Spiegel die alten Gesichter, die auf dich warten. Du bist eines von ihnen, warst immer eines von ihnen. Wenn deine Frau oder deine Kinder am Eingang vorbeikommen, werden sie dich dort zwischen einem dahintreibenden Korb und einem Stiefel vorfinden, und sie werden wissen, daß du zurückgekehrt bist. Und da sie wissen, daß du zurückgekommen bist, beginnt dein Mund unter Wasser zu lächeln.
Wie alt du auch immer warst, du warst noch so jung. Ich weiß nicht recht, was ich über dein Lächeln sagen soll, dennoch, wenn du mich ansahst, war mir so, als begänne es in meinem Mund und verbreitete sich dann über die Wände des Hauses, bis es deinen Mund zum Leuchten brachte wie bestimmte Eschen, Kinder, Rosen. Oder Vögel. Die Elstern in Abrigada beispielsweise, hinter denen du immer herliefst, im sicheren Glauben, fliegen zu können. So wenige Schornsteine, so wenige Dächer damals, und so viele Bäume im Gebirge, die vom Duft des Ginsters gerührt waren, Bäume, die nachts wie Hunde bellten, die in jeder Tür nach dir spähten, durch den Garten rannten, sich vor dem versteckten, was der Mond im großen Frieden des Obstgartens erlaubte. Damals hatten nicht alle Dinge einen Namen: im Wörterbuch der Großmutter fehlten Seiten, und im Gläserschrank gab es eine Lücke für die flüchtige Seide der Katze. In den Schubladen wohnten große Geheimnisse: die Schwester, die du nie kennengelernt hast, Herbarien, durchgebrannte Glühbirnen, welke Augen von Blinden, die das Arbeitszimmer beleuchteten. Die kleine Gipsstatue auf der Mauer, die jeden Winter Finger verlor. Der Lotse der Azorenbucht, von dem du erzählen hörtest und der deinen Schrecken mit Schiffbrüchen füllte. Und mit Eisvögeln, die über der Gischt schwebten. Onkel José in Caldas da Rainha, dessen Jackentaschen prallvoll mit Krümeln für die Schwäne im Park waren, der Schnurrbart, der Zärtlichkeit und Worte verhinderte. Wie alt auch immer du warst, du warst noch so jung: nach dem Regen schmeckten die Brombeeren immer nach Morgen, und manchmal kamen Briefe aus Lissabon und die Mittagszeitung mit den erschreckenden Politiken der Welt, Ereignissen vom anderen Ufer der Traurigkeit, Worte, deren Sinn du nicht kanntest, denn der Wind hatte genau die Größe deines Körpers und erlaubte nicht, daß ein Schatten auf dein Blut fiel, daß irgendeine Unruhe die Finger auf ihrem Weg zur Sonne ablenkte. Die Steine schon. Die Kräuter schon. Und du standest in der Märzweiße der Akazien. Könnte ich doch mit dir reden. Könnten meine Hände, meine Stimme dich berühren: du hörst mich nicht, es ist noch zu früh für dich zu wissen, daß ich existiere. Du kennst nur die Sonne und wenige Stimmen, ein paar wesentliche Geräusche, das Wasser, die Blätter der Ulme um sechs Uhr nachmittags, die Rückkehr der Herden, vermischt mit dem Gewicht des Schweigens deines Vaters. Das Geschirr in der Küche, einem Ort voll Dampf und Frieden, wo der Briefträger zum Dienstmädchen spähte, die Schüchternheit in der Mütze aufrollte. Sein Fahrrad fuhr, auch wenn es stand, immer den Pfad hinauf, denjenigen, der zum Fluß führte, wo der Schlamm sich in Frösche verwandelte und dich erschreckte. Auf der Uhr fehlte die Zeit für dein Erwachsensein. Du würdest nie erwachsen sein, nicht einmal nach den Kindern, denn mit jedem Kind begann erneut deine Berufung zur Brombeere, die nach innen blutet, und die Sonntage verlängerten deine Arme. Du maltest die Augen an, wie du als Kind der Zeichnung der Sonne Wimpern hinzufügtest. Und Wangen. Und Haar. Und eine Wolke voller Kirschen. Die innerste Wahrheit: es gibt keine Sonne ohne Wimpern und keine Wolke ohne Kirschen. Wir vergessen das nur, und in dem Vergessen liegt die Wurzel des Schreckens. Wolken mit Kirschen, ja: von jeder Wolke
(jedes Kind erklärt das, und es ist natürlich)
können wir nehmen, was notwendig ist, um die Erde auf ihrer Außenhaut zu bewohnen. Auf der Innenseite haust das häßliche Ödland dessen, was wir nicht wissen: Bauschutt wie Vaterland, wie Knochen, wie die bitteren Leichen des Neides, all das, worüber du nie gestolpert bist, dessen Spur du keinen Augenblick lang erahnt hast: du warst noch so jung, du wirst immer so jung sein, sogar jetzt, wo um deinen Namen herum alles Asche ist und niemand bei dir verweilt. Aber mir gefällt der Gedanke, daß du bei den Zitronenbäumen eines anderen Sommers wachsen wirst und dich über Angola beugen wirst, um die Erde zu hören. Erinnerst du dich? Du trugst das Haar ganz kurz, ein Kleid aus Kattun, und die Leute blieben stehen, um dich anzusehen: du sahst sie nicht, warst so auf das Herz der Erde konzentriert, auf das Feuer des hohen Grases, auf deine Tochter. Und deine Schultern erinnerten, wenn du gingst, an die Schultern der Schiffe. So bist du gegangen, aber geh nicht, geh noch nicht in diese dunkle Nacht, laß uns nicht hier, wo diese Disteln sogar dem Meer weh tun. Und die Tränen, verstehst du, auch sie Dornen. Die einzige Art, dir treu zu sein, ist, das Leben langsam auf der Rückseite des Schmerzes zu nähen, eine Brust zu erfinden, an die du dich lehnen kannst, mit großen Laken die Spiegel zu verhängen, damit nichts deine Rückkehr verhindern kann. Da ich nicht sehen wollte, wie du gingst, werde ich am Tag der Ankunft da sein. Als ich aus dem Krieg zurückgekehrt bin, wußte niemand von meinen Schritten. Im November, morgens, so frühmorgens, daß die Toten in meinem Blut nicht einmal Zeit hatten, aufzuwachen. Sie schliefen, wie du. Und da sind sie. Sie gehören zu dir, zu mir, zur Welt. Von da, wo du wieder geboren wirst. Unendlich.
Heute könnte ich einfach gehen: ohne einen Grund dafür zu haben, die Autoschlüssel nehmen
(die Schlüssel liegen immer im Teller bei der Wohnungstür)
die Treppe hinunter
(nicht den Fahrstuhl benutzen, die Treppen hinuntergehen)
bis zur Garage im Keller gehen, sehen, wie sich das elektrische Schloß mit zwei Piepsern und zwei Lichtzeichen öffnet, sehen, wie die automatische Tür langsam hochgeht, und auf der Straße gleich soviel Gas geben wie möglich, bei Rot über die Ampeln in Richtung Autobahn fahren, ohne auf die Schilder zu achten, die auf Städte und die Entfernung in Kilometern hinweisen, ohne eine Vorstellung im Kopf, ohne Ziel, nur von dieser Eile getrieben zu gehen, zwischen mich und mich den größtmöglichen Raum zu legen, meinen Namen zu vergessen, die Namen meiner Freunde, meiner Familie, des Buches, das ich nicht fertigbekomme und das mich mit Angst erfüllt. An einem dieser Restaurants neben den Mautstellen halten und allein essen, ohne jemanden anzuschauen, ohne jemanden zu sehen, nicht einmal die Kinder, die schreiend zwischen den Tischen herumlaufen, und wieder Gas geben, leer, an das Lenkrad geklammert wie als Kind an den Lenker des Fahrrads, während mein Vater mir, neben mir herlaufend, das Radfahren beibrachte.
Heute könnte ich einfach gehen: die Wände der Wohnung ziehen sich zusammen, alles kommt mir so klein vor, so nutzlos, so fremd. Romane schreiben. Sie veröffentlichen. Monatelang auf den neuen Roman warten. Ihn schreiben. Ihn veröffentlichen. Anrufe vom Agenten wegen Verträgen, Übersetzungen, Preisen erhalten. Die Kritiken vom Verlag erhalten, lange Prunkzüge voller Lob, von jemandem, der nichts begriffen hat und, ohne zu verstehen, lobt. Oder aber ich bin es, der nichts versteht. Jedenfalls lese ich meine Arbeiten nicht: ich beschränke mich darauf, sie zu produzieren, und wenn ich fertig bin, wendet sich mein Kopf der folgenden Arbeit zu. Auch all diese Seiten aufgeben. Heute könnte ich einfach gehen, bevor ich verrückt werde wie die Hunde, die nachts im Kreis rennen. Wenn ich ans Fenster trete, stelle ich fest, daß die Kälte die Deckel der Mülltonnen mit Tau befeuchtet hat und daß nur in einem Fenster in einem Gebäude das Licht brennt. Man könnte meinen, nur ich allein sei noch am Leben. Ich und das Telefon, das, obwohl es schweigt, wirkt, als würde es gleich losschreien. Meine Rippen atmen gegen das Glas. Auf dem leeren Parkplatz vor dem Haus eine tote Taube. Oder eine Möwe. Irgendein Vogel. Die Deckel der Mülltonnen reflektieren die Laternen als geronnene, feststehende Flecken. Ich ziehe mir selber in der Fensterscheibe eine Grimasse.
Heute könnte ich einfach gehen. Ich würde das ganze Geld aus der Schublade in die Tasche stecken, würde die Brieftasche hierlassen, die Dokumente, die Zeichen dessen, wer ich bin. Wenn man mich fragt, was ich mache, antworte ich, ich hätte keinen Beruf. Ich bin nur ein Mann in einem Restaurant neben einer Mautstelle, der schweigend kaut. Vielleicht komme ich eines Tages zurück, vielleicht auch nicht. Was werden der französische Verleger, der deutsche Verleger, der schwedische Verleger sagen? Verzweifelte Briefe des Agenten, die ich nie erhalten werde, nicht geöffnete Telegramme im Briefkasten, die ein Werk einfordern, für das ich bezahlt wurde und das unvollendet blieb, mitten im vorletzten Kapitel aufhört, noch korrigiert, noch geändert werden muß. Was kümmert es mich? Reihen nutzloser Buchrücken auf den Regalen, Werke von Schriftstellern, die ich gern lesen wollte, die mir aber jetzt gleichgültig sind: Felisberto Hernandez, William Gaddis, Eliseo Diego. Felisberto Hernandez und Eliseo Diego sind schon gestorben. Hernandez spielt Klavier auf dem Foto, das ich von ihm habe, Eliseo Diego starrt mich, eine Pfeife in der Hand, an. Vielleicht nehme ich außer dem Geld aus der Schublade Felisberto Hernandez mit: einen Autor, und das war’s. Oder Juan Benet. Ich könnte sie beim Kauen lesen. Eliseo Diego, der ein Dichter war, eignet sich nicht fürs Restaurant, er verlangt die Intimität eines Augenblicks, in dem niemand im Wohnzimmer ist. Er hat ein sehr kurzes Gedicht über seine Großmutter geschrieben, in dem seine Großmutter bittet, die Spiegel zu verhängen. Weggehen ist wie alle Spiegel über mir verhängen. Heute könnte ich einfach gehen. Ohne viel Getue, ohne Gespräche, ohne Erklärungen, ohne diesen prüfenden Seitenblick, den wir uns immer gönnen, um zu sehen, ob das Haar sitzt. Als ich ein sehr junger Arzt war, habe ich eine alte Frau behandelt, die im Sterben lag. Am Nachmittag fragte sie mich:
– Finden Sie nicht daß ich etwas müde wirke?
Und am nächsten Morgen kamen die Männer vom Bestattungsinstitut und legten sie in den Sarg. Ihre Tochter erzählte mir später, daß die alte Dame nach der Frage
– Finden Sie nicht daß ich etwas müde wirke?
hinter meinem Rücken um ein Glas Portwein gebeten hat. Die Hälfte goß sie sich über den Hals, aber die Hälfte, die sie geschluckt hat, munterte sie auf. Sie war schon lange Witwe und erwartete von niemandem mehr etwas. Sollte