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Sehr zugänglich, sehr vergnüglich, sehr persönlich.
In diesen kurzen, ursprünglich für eine portugiesische Tageszeitung geschriebenen Geschichten zeigt sich Lobo Antunes, der in seinen Romanen die Abgründe der menschlichen Seele erforscht, von seiner sonnigen Seite. Heitere Episoden aus der Kindheit, Spaziergänge durch Lissabon, Anekdoten aus seiner Zeit als Psychiater, Geschichten über Fußball, Tarzan, Gott, die Buchmesse, die Ehe, Erziehung, Strandleben, Karneval, alte und junge Frauen – Lichtblicke des Lebens, festgehalten mit einem Augenzwinkern.
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Seitenzahl: 433
António Lobo Antunes
Buch der Chroniken
Aus dem Portugiesischen vonMaralde Meyer-Minnemann
Sammlung Luchterhand
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Die Originalausgabe erschien 1998unter dem Titel Livro de Crónicasbei Publicações Dom Quixote, Lissabon.
Deutsche Erstausgabe
Copyright © der Originalausgabe 1998 António Lobo Antunes
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2006
Luchterhand Literaturverlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Satz: Greiner & Reichel, Köln
ISBN 978-3-641-32174-1V001
www.luchterhand-literaturverlag.de
Im Gedenken
an meinen Großvater
António Lobo Antunes
(1889–1960)
nach dem ich mich so sehr sehne
Lob der Vorstadt
Der große Barrigana
Verkehrsampeln und ihre Folgen
Gestern um drei Uhr nachmittags
Der Champion
Das Paradies
Der Olympiaschwimmer und die Erdnuß
Die Buchmesse
Das Alter
Sonette an Christus
Des Herzens Herz
Mein Tod
Die Erwachsenen
Offener Brief an Tarzan Taborda
Meine Sonntage
Ma petite existence
Erinnerungen an das Gelbe Haus
Im Dahinschlendern laut geschriebene Chronik
Der Schwerhörige
Habe ich dich je angelogen?
Ein Brief nach Campo de Ourique
Die armen Leute
Die Existenz Gottes
Praia das Maçãs
Zwei kleine Chroniken
Wie wir
Brief an meinen Onkel João Maria
Natürlich erinnerst du dich an mich
Schatten bärtiger Könige
So eine Sache 99
Gebrauchsanweisung
Mein Alter
Edgar, mein Liebster
Das Ende der Welt
Theorie und Praxis der Sonntage
Das große schreckliche Verbrechen
Die Einsamkeit der geschiedenen Frauen
Wo der Künstler sich vom werten Publikum verabschiedet
Die große Liebe meines Lebens
Ich bin sechs Monate jünger als Ihr Vater
Der berühmte Mann
Die Bräute
Sandokan und das Minho-Mädchen
Chopin ist ein Hähnchen
Zeichen von innerem Reichtum
Was dich betrifft
Die ewigen Jagdgründe
Wiedergutmachung und Lob für Frutuoso França
In Gesellschaft schlafen
Chronik des armen Liebenden
Der Schmetterling im Kokon und ich
Tierliebe
Die Computer und ich
Die Windungen der Meeresschneckenhäuser
Emília und eine Nacht
Die Nacht der Miss-Wahlen
Der letzte Trick meines Vaters
Weihnachtschronik
Der Oberstleutnant und Weihnachten
Porträt des Künstlers als junger Mann
Das Kreuzworträtsel aus der Zeitung
He, du Krücke, der Ton ist weg
Über die Sozialdemokratie als Scheidungsgrund
Der Spitfire von Olivais
Der Tag vor meinem Erstickungstod
Von Sünde nicht die Spur
Wie das Leben so spielt
António João Pedro Miguel Nuno Manuel
Ist ja gut, Junge
Eheliche Liebe
Unverhoffte alte Schatten
Der letzte König von Portugal
Aufs Blau kommt es an
Sehnsucht nach Ireneia
Die erste Begegnung mit meiner Frau
Der dritte Weltkrieg
Die Struktur der Schneeflocken
Chronik zum Karneval
Meinem Freund Michel Audiard gewidmete und von uns beiden geschriebene Chronik
Bringst du mir das Fliegen bei?
Die Feira Popular
Auf dem Grund des Leids ein offenes Fenster
Von der Witwenschaft
Bin gleich zurück
Chronik der Fastenzeit
Heute möchte ich über meine Eltern sprechen
Die Gasflaschen und ich
Brasilien
Nach zwei Glas Rotwein zum Mittagessen geschriebene Chronik
Ein Regentropfen auf dem Gesicht
Mit dem Taschenmesser geschrieben
Der Bauch
Besser man geht mit gesenktem Kopf als mit den Füßen zuerst
Bevor es Nacht wird
Die Militärs
Was Dulce einmal war, gibt es nicht mehr
Jedes Licht ist besser als die dunkle Nacht
Letzte Chronik
Beschreibung der Kindheit
Über Pferde, Könige, Priester & Tante Pureza
Mehr oder weniger das Leben
Die Museen
Hommage an José Ribeiro
Stirb jetzt bloß nicht, die Leute gucken schon
Ansprache an die Rosen
Alverca, 1970
Estrada de Benfica
Glossar
Ich bin in einem Vorort von Lissabon, in Benfica, aufgewachsen, damals Villen mit Gärten, kleine Gassen, niedrige Häuser, und ich hörte, wie in der Abenddämmerung die Mütter
– Vííííííííítor
riefen, mit einem Schrei, der, von der Rua Ernesto da Silva ausgehend, die Störche auf den Wipfeln der höchsten Bäume erreichte und die Pfauen im Teich unter den Ulmen ertränkte. Ich wuchs auf neben dem kleinen burgartigen Stadtor, das uns von Venda Nova und der Estrada Militar trennte, in einem Land, dessen Grenzposten die Drogerie von Senhor Jardim, der Krämerladen vom Glatzkopf und die Konditorei von Senhor Madureira und der Kurzwarenladen Havaneza von Senhor Silvino waren, und verbrachte die Nachmittage in der Schusterwerkstatt von Senhor Florindo, der in einem dunklen Kabuff, umringt von auf kleinen Schemeln sitzenden Blinden, in den Geruch von Leder und Armut gehüllt, der bis heute der einzige mir bekannte Geruch der Heiligkeit ist, Sohlen hämmerte. Dona Maria Salgado, klein, mager, immer in Trauerkleidern, trug die Heilige Familie von Villa zu Villa, und vierzehn Tage lang beherbergten meine Großeltern diese drei Tonfiguren unter dem beschlagenen Glassturz, den die Dienstmädchen mit Öldochten beleuchteten. Ich wuchs auf zwischen Senhor Paulo, der mit Bindfäden und Rohrstöckchen die Flügel der Spatzen richtete, und den »Papageiennasen«, deren Tante mit einem Zigeuner auf und davon war und am Strand aus Händen die Zukunft las, schwarz gekleidet wie die Witwe eines Seemanns, der die Küste nie erreicht hat. Meine Freunde hatten unglaubliche Vornamen
(Lafaiete, Jaurés)
und wohnten in Erdgeschossen, deren Fenster auf Straßenhöhe lagen und in denen riesige Radioapparate, Blumentöpfe mit Basilikum und Gevatterinnen in Pantoffeln zu erkennen waren. Der Hund der Gerberei zündete in den Julinächten, in denen Akazienpollen auf meine Augenlider regneten, phosphoreszierendes Gebell an, ich fand mich, vor Liebe zur Frau von Sandokan ersterbend, im Schulklo eingeschlossen als Einhorn wieder, und der Brigadier Maia stieg, die Baskenmütze auf dem Kopf, mit ausladenden Gesten auf die Regierung schimpfend, zur Adega dos Ossos hinunter. Damals, als ich dreizehnjährig im Fußballclub Benfica das erste Mal Rollschuhhockey spielte, stellte der mit den Schulterpolstern eines mittelalterlichen Barons versehene Torwart den staunenden Kameraden mich mit
– Der Vater vom Blondschopf ist Doktor
vor, was sofort in dem Augenblick meinen ersten sportlichen Ruhm und die erste finstere Verantwortung herstellte, als der Trainer, indem er meine Muskeln mit den Augen abtastete, mit zweifelnd verzogenem Gesicht meinte
– Mal sehen, ob du die fertigmachst, Blondschopf, dein Vater war nämlich auf der Rollschuhbahn ein ziemlicher Raufbold.
Der Besitzer der Apotheke União war Stockkämpfer, die Gattin des Besitzers der Apotheke Marques eine üppige Griechin mit amphorenförmigem Hinterteil und glühenden Augen, die mich die Frau von Sandokan vergessen ließ, wenn ich sie sonntags auf dem Weg zur Kirche sah, der Glöckner, der Zé-der-Hammer genannt wurde und während der Elevation der Mittagsmesse »Papagaio Loiro« anstelle des vorgeschriebenen »Am dreizehnten Mai« spielte, besaß ein Beerdigungsinstitut, dessen Prospekt mit den Worten begann »Wozu unbedingt weiterleben, wenn Sie für hundert Escudos eine schöne Beerdigung haben können?«, und ich schrieb in den Hockeypausen Gedichte, rauchte heimlich, war zwischen Jesus Correia und Camões hin- und hergerissen, und ich war unverschämt glücklich.
Wenn ich heute nach Benfica zurückkehre, finde ich Benfica nicht mehr. Die Pfauen schweigen, kein Storch hockt mehr auf der Palme bei der Post
(die Palme bei der Post gibt es nicht mehr, das Landgut der Lobo Antunes ist verkauft worden)
Senhor Silvino, Senhor Florindo und Senhor Jardim sind gestorben, mehrstöckige Gebäude wurden an der Stelle der Häuser hochgezogen, doch ich habe den Verdacht, daß unter diesen Gebäuden mit fünf, sechs, sieben, acht, neun Stockwerken, irgendwo unter den verglasten Veranden und Bankfilialen, Senhor Paulo noch immer mit Bindfäden und Rohrstöckchen die Flügel der Spatzen richtet, Dona Maria Salgado noch immer mit dem beschlagenen Glassturz mit der Heiligen Familie von Villa zu Villa trabt, Lafaiete und Jaurés auf der Calçada do Tojal von Basilikumtöpfen und Gevatterinnen in Pantoffeln umringt Kippel-Kappel spielen. Es gibt keine Pfauen und keine Störche mehr, doch die Akazie meiner Eltern hält beharrlich stand. Vielleicht hält nur die Akazie stand, bleibt allein sie aus dieser Zeit wie der die Wellen durchbrechende Mast eines versunkenen Schiffes. Die Akazie reicht mir. Die Läden und die Hinterhöfe haben sie abgerissen, sie spielen nicht mehr »Papagaio Loiro« mit den Glocken, doch die Akazie hält stand. Hält stand. Und ich weiß, daß ich bei ihrem Stamm, wenn ich die Augen schließe und das Ohr an den Stamm lege, die Stimme meiner Mutter hören werde, die
– Antóóóóóónio
ruft, und ein weizenblonder Junge wird durch den Garten kommen, in der Hosentasche ein Säckchen mit Murmeln, er wird an mir vorübergehen, ohne mich zu sehen, und dort oben in seinem Zimmer verschwinden und davon träumen, daß die Frau von Sandokan ihn jedenfalls niemals zwingen würde, beim quälenden Abendessen Kartoffelpüree und Suppe mit Kohlrübenblättern zu essen.
In den letzten vierzig Jahren habe ich voller Begeisterung, Hingabe und Bewunderung fast alle portugiesischen Torhüter spielen sehen, vom unvergeßlichen Azevedo, dem Herkules von Barreiro, bis hin zu José Pereira, dem Blauen Vogel
(von dem ich monatelang eine illustrierte Biographie wie einen Schatz gehütet habe, in der es jede Menge Fotos gab, von denen eines einen verhutzelten kleinen Mann neben einer Lokomotive und den beeindruckenden Untertitel zeigte, Sein Vater Amadeu Pereira in Ausübung seines Berufes als Tunnelwächter vom Rossio)
ich habe den hünenhaften Ernesto vom Atlético gesehen, den Schrecken der Rechts- und Linksaußenspieler, ich habe Abraão vom Olhanense gesehen, dessen magischer Name für mich den apokalyptischen Klang des Katechismus besaß, habe Cesário vom Sporting de Braga an jenem ruhmreichen Nachmittag gesehen, an dem er auf dem Grandplatz des Benfica die Torschüsse von Palmeiro, Arsénio, Águas, Rogério und Rosário gehalten hat, ich habe Capela vom Académico gesehen und Sebastião, den blonden Nero vom Estoril Praia, der für seine akrobatischen Flüge berühmt war, habe Campo Francisco Lázaro gesehen, der sich dem phantastischen Aníbal mit der mit Brillantine geformten Tolle auf ganzer Linie geschlagen geben mußte, angesichts dessen mein Onkel José Maria immer ausrief, größer war nur der von den punischen Kriegen, ich habe den kapriziösen Carlos Gomes gesehen, wie er Fotografen mit Fußtritten traktierte, bevor er nach Spanien transferiert wurde und dem Präsidenten des Clubs, als sie ihn nicht bezahlten, mit dem berühmten Satz drohte: Kein Geld kein Torwart, ich habe voller Zärtlichkeit Vital vom Lusitano de Évora begleitet, der mit der nachdenklichen Hacke seines Fußballstiefels die Mitte des Tores markierte, und dennoch habe ich zu meinem größten Bedauern kein einziges Spiel meines Idols gesehen, Frederico Barrigana, den »Eisenhände« genannten Keeper des FC Porto. Um dieses Unglück wettzumachen, schnitt ich hingerissen die Schnappschüsse aus der Zeitung aus, die ihn zeigten, wie er mit einem Stürmer hochsprang und ihm dabei ein bremsendes Knie in die männlichen Teile rammte
(warum bloß Teile, wo sie doch ganz sind?)
um das mörderische Ungestüm des Gegners abzukühlen; ich bewunderte seine Glatze, die die Mütze genau wie eine Kapsel bedeckte; ich sammelte seine Interviews
(als Beispiel eine seiner prophetischen Erklärungen: »Die Jungs vom Elvas werden alles um alles geben«)
und verfolgte mit offenem Mund, die Finger muschelförmig ans Ohr gelegt, die Reportagen von Artur Agostinho, der sonntags nachmittags um drei in epischem Tonfall von den Heldentaten des großen Frederico Barrigana im bis auf den letzten Platz besetzten Stadion berichtete. Mit zwölf Jahren wäre ich, hätte es nicht meinen leidenschaftlichen Wunsch gegeben, Schriftsteller zu werden, zu gern jener »Eisenhände« gewesen. Aber ich besaß selbstverständlich ein ausreichend gutes Gefühl für meine Grenzen, um zu wissen, daß man nicht der große Frederico Barrigana sein wollen kann; man ist es, weil Gott ihn so geschaffen hat, vollkommen wie nur er, von Anfang an.
Der Schmerz, kein einziges Spiel vom großen Frederico Barrigana miterlebt zu haben, hat mich ein ganzes Leben lang mit periodisch aufglimmender Melancholie begleitet, was mich dazu brachte, alle anderen portugiesischen oder ausländischen Torwarte, die mir das Estádio da Luz bot, mit einem schnellen Schulterzucken verächtlich abzufertigen: Es war das Barrigana-Syndrom
(eine Wesenheit der Nosologie, um deren Eingang in die medizinischen Fachbücher zu kämpfen ich nicht aufgegeben habe)
das mein Hirn bearbeitete: »Eisenhände« wurde zum unerreichbaren idealen Normmeter aus Platiniridium, wie jener im Institut für Maße und Gewichte
(für nähere Erklärungen siehe die Abbildung im Physikbuch des 3. Gymnasiumsjahres)
mit dem alles im Leben gemessen wurde, seien es Politiker, Dichter, Vizekönige oder Bildhauer.
Im Jahr 1973 gefiel es dem Allerhöchsten, meine Bitten in Angola, in der Ebene von Cassanje, endlich zu erhören. In einer Pause in den kriegerischen Dramen an der Grenze zum Kongo, die jetzt nichts zur Sache tun, ging ich gerade über den Fußballplatz des Ferroviário de Malanje, als ich einen glatzköpfigen, dickbäuchigen Mann in einem gewissen Alter sah, der im Trainingsanzug auf das Tor schoß, in dem ein Mulatte stand, dessen Scheitel mit einem Taschenmesser ins Knäuel des Kraushaars geschnitten war, während ihn hinter dem Netz eine Gruppe schwarzer Kinder begeistert mit den Schreien anfeuerte
– Zeig’s ihm Barrigana
– Semmel ihn rein Barrigana
– Versenk ihn Barrigana
ich näherte mich anfangs ungläubig, dann hingerissen: ER war es. Auf einem verlorenen Fußballplatz in Afrika, inmitten von Affenbrotbäumen und Mangobäumen voller Fledermäuse, brachte »Eisenhände«, um den Hals eine Trillerpfeife, von missionarischem Geist und einer pädagogischen Hingabe erfüllt, die mich entzückten und rührten, den Kindern aus dem Musseque Fußball bei. Bei jedem Schuß des Genies brüllten die Jungs ekstatisch
– Hau drauf Barrigana
mit einer Vertraulichkeit, die mein Idol ärgerte. Niemand, kein Staatschef, Feldmarschall, Papst oder Zahnarzt, hatte aus seiner und aus meiner Sicht das Recht, den göttlichen Frederico Barrigana zu duzen. Zu Recht über eine derartige Beleidigung empört, ließ »Eisenhände« mit einer Patriziergeste den gescheitelten Mulatten erstarren, der sofort unterwürfig Haltung annahm, und ging dann mit ausgestrecktem Zeigefinger auf die vor Respekt wie angewurzelt dastehenden Kinder zu und befahl mit fürchterlicher Stimme wie beim Jüngsten Gericht, um ihre Zunge zu zähmen und sie jene ehrerbietige Höflichkeit zu lehren, die man den Göttern schuldet, welche Jupiters Barmherzigkeit uns nur höchst selten schickt, um unsere Existenz zu rechtfertigen, wie auch Eroberern, Heiligen, Geometern und Steuerprüfern
– Nicht Barrigana und nicht per du. In der dritten Person: Senhor Barrigana.
Und nie habe ich ihn mehr bewundert als an jenem Tag.
Ich hasse Verkehrsampeln. Zuerst einmal, weil sie immer rot sind, wenn ich keine Zeit habe, und grün, wenn ich welche habe, einmal abgesehen vom Gelb, das in mir immer eine gräßliche Unentschlossenheit hervorruft: Soll ich bremsen oder Gas geben? Bremsen oder Gas geben? Bremsen oder Gas geben? Ich gebe Gas, dann bremse ich, gebe wieder Gas, und als ich wieder bremse, ist mir gleich ein Lieferwagen in die Tür gefahren, hat sich bereits eine Menschenmenge versammelt, die auf Blut hofft, ist schon ein Typ mit einem Schraubenschlüssel in der Hand aus dem Lieferwagen gestiegen und nennt mich Sie Esel, legt mir die Versicherungsgesellschaft bereits wärmstens nahe, sie gegen irgendeine Rivalin auszutauschen, habe ich gleich eine Woche lang kein Auto mehr, stehe ich am Rand des Bürgersteigs und winke den Taxis mit den Gesten eines Ertrinkenden zu, zahle ich ein Vermögen für jede Fahrt und muß zudem noch das Pirilampo Mágico und die Heilige Jungfrau auf dem Armaturenbrett, das am Rückspiegel hängende Plastikskelett, den Aufkleber mit dem langhaarigen Mädchen mit Hut neben dem Hinweis ertragen »Nicht rauchen ich bin Asthmatiker«, eine Nachbarschaft, die mich annehmen läßt, daß die Atemwegsprobleme sich aufgrund irgendeiner verborgenen Niedertracht des Mädchens verstärken, welche allerdings ist mir nicht klar.
Der zweite und hauptsächliche Grund, weshalb ich Verkehrsampeln hasse, ist, daß jedesmal, wenn ich anhalte, an der Scheibe die unglaublichsten Kreaturen auftauchen: Zeitungsverkäufer, Verkäufer von Heftpflastern, fromme Damen mit einem Metallkästchen vor der Brust, die einem herrisch den Krebs von der Krebshilfe aufs Herz kleben, die stämmigen Burschen der Blindenliga João de Deus unweit eines Lautsprechers auf einem Lastwagen mit einem niegelnagelneuen Straßenkreuzer darauf, der würdige Herr, dem die Brieftasche geklaut wurde und der nun Geld für den Zug nach Porto braucht, der Tuberkulosekranke mit seinem Attest als Beweis, jede Art von Krüppeln
(Mikrozephale, Makrozephale, Einbeinige, Bucklige, nach innen und nach außen Schielende, Menschen mit Kropf, verkrüppelten Armen, Händen mit sechs Fingern, Händen ohne einen einzigen Finger, Mongoloide, Parteifunktionäre usw.)
einmal ganz abgesehen von den Männern der freiwilligen Feuerwehr, die einen Krankenwagen brauchen, den Coimbra-Studenten im letzten Studienjahr mit Umhang und im Gehrock, die beschlossen haben, zum Abschluß des Studiums eine Reise nach Burma zu machen, und all den Heroinjunkies, denen es an diesem Tag noch nicht gelungen war, einen Kassettenrecorder zu stehlen.
Ergebnis: An der ersten Ampel ist mein Kleingeld alle. An der zweiten habe ich keine Jacke mehr. An der dritten habe ich keine Schuhe mehr. An der fünften bin ich nackt. An der sechsten habe ich den Volkswagen verschenkt. An der siebten warte ich, daß es Rot wird, um mit der Menge aus Feuerwehrleuten, Studenten, Drogensüchtigen und Mikrozephalen das erste sich nähernde Auto zu überfallen. Im Durchschnitt wechsle ich fünfmal die Kleidung und den Wagen, bis ich mein Ziel erreiche, und wenn ich am Lenkrad eines TIR-Lastwagens, in riesigen Hosen schwimmend, ankomme, beschweren sich meine Freunde darüber, daß ich unpünktlich bin.
Ich kenne Pedro, so lange ich denken kann. Wir wohnten beide in der Travessa dos Arneiros in Benfica, ich unten zwischen der Schusterwerkstatt von Senhor Florindo und dem Kohlenladen, in dem Briketts und Rotwein verkauft wurden und in dem ein Rabe mit gestutzten Flügeln lebte, der alle Welt vom Sägemehl des Fußbodens aus beschimpfte, und er bei seiner Großmutter in der Nähe des Friedhofs in einem Häuschen mit Porzellanbambis auf den Regalen und einem Garten mit einem riesigen, an die Mauer gelehnten Mispelbaum, der keine Früchte trug.
Wir gingen zusammen in die Schule von Senhor André, sammelten gemeinsam Fußballbildchen und Fotos von Filmschauspielern aus den Kaugummis, wir sammelten für das Fest des heiligen Antonius auf dem Largo Ernesto da Silva und lasen das Lokalblatt Ecos de Pombal, das seine Großmutter abonniert hatte, vor allem die Todesanzeigen voller überraschender Mitteilungen. Ich erinnere mich an eine, in der kundgetan wurde, daß der Comendador Ernesto da Conceição Borges, der Onkel unseres werten Mitarbeiters Carlos Alberto Borges, zu gelegener Zeit in Brasilien gestorben sei. Ich für meinen Teil hoffe, niemals zu gelegener Zeit für einen meiner Neffen zu sterben.
Später ging ich, da mein Vater Arzt war, in das Liceu Camões. Da Pedros Großmutter Ecos de Pombal abonniert hatte, ging er in die Escola Veiga Beirão. Aber trotz dieser unterschiedlichen Schicksale, die aus der Tatsache herrührten, daß ich in zwölf Zimmern lebte, er aber nur in zweien, blieben wir Freunde. Wir wurden am selben Sonnabendnachmittag in die Geheimnisse des Fleisches in einem ersten Stock in der Rua do Mundo initiiert, einem Raum voller Spiegel und zerrissenem Samt, in dem die Wohltäterinnen auf zittrigen Stühlen Tantenhäkelarbeiten anfertigten. Eine Dame in Pantoffeln, die ihre Krampfadern wie ein invalider Sohlengänger herumschleppte, bot uns, als wir hereinkamen, ein Bier an und leerte, als wir hinausgingen, unsere Taschen. Und während wir in einem Seelenzustand die Treppe hinunterstiegen, der einer Levitation nahekam, dachte ich an das Geschöpf, das mir zum ersten Mal in meinem Leben die Fähigkeit zu fliegen verliehen hatte: Sie hieß Arlete, war in einer Nonnenschule in Penafiel erzogen worden und arbeitete im Bairro Alto, um die blinde Mutter ernähren zu können.
(Noch heute, wenn ich an sie denke, hoffe ich, daß sie Ecos de Pombal abonniert hat, um die Nachricht zu lesen, daß ein Onkel von ihr im Range eines Comendador in Brasilien gestorben ist, damit sie ihrer Mutter die Bequemlichkeiten, die die würdige Dame verdiente, bieten und selber ihre religiöse Erziehung vollenden konnte.)
Nach dem Krieg sahen Pedro und ich uns weiterhin. Er war aus Benfica weggezogen, hatte ein Haus in Amora gemietet, arbeitete als Buchhalter in einer Reifenfabrik und schrieb Romane, die wir auf Segeltuchklappstühlen unter dem Apfelbaum im Garten sitzend Satz für Satz durchsprachen. Ich habe ihn zu einer Figur eines meiner Romane gemacht, seine Großmutter zu der eines anderen. Ich besuchte ihn sonnabends, und wir sprachen stundenlang über das verlorene Benfica und darüber, was wir einstweilen noch nicht verdienten. Ich war vor kurzem geschieden worden, Pedro hatte nie geheiratet.
Gestern bin ich wie gewohnt zu ihm nach Amora gefahren. Es war drei Uhr nachmittags. Als ich den Wagen anhielt, sah ich ihn, der mich nicht bemerkte, einen Seidenschal um den Hals geschlungen, zum Apfelbaum gehen. Er kletterte auf den Baum, band den Schal hoch oben an einem Ast voller kleiner Äpfelchen fest. Dann sprang er und fand sich in der Leere hängend wieder.
Heute stolperte ich über ein Foto aus dem Jahre 1925 mit einer Tribüne voller Leute mit Hüten, die drei Männern applaudierten, welche auf einem Feld, das der Hunger der Schafe zur Wüste gemacht hatte, über Hindernisse sprangen: Es war der erste Athletikwettkampf Spanien gegen Portugal, und das Foto zeigte den 110-Meter-Hürdenlauf. Sieger war mein Onkel Eloy.
Wenn stimmt, was der Romancier sagt
Das Herz hat mehr Zimmer als ein Hurenhaus
bewohnt Onkel Eloy in meinem kein Kabuff nach hinten hinaus, sondern eine komplette Suite mit Blick auf den Fluß. Von ihm habe ich die Hemden mit Monogramm, ein sorgfältig gesticktes F und E, geerbt, Hemden, die meine Mutter meinem Oberkörper eines heranwachsenden Fröschleins anpaßte, ein F und ein E, die, wenn ich mich im Gymnasium für den Turnunterricht auszog, verkehrt herum auf dem Hemdzipfel, auf dem Rücken, unter der Achsel auftauchten, je nach den Scheren- und Nadeloperationen derjenigen, die mir das Leben geschenkt hat.
Montags und donnerstags umringten mich die Schulkameraden im Umkleiderraum und schlossen Wetten über die Lokalisierung der Buchstaben ab. Cavaco sammelte das Geld ein. Ich erinnere mich noch an den Morgen, an dem ein diabetischer Fastalbino gewann, der zehn Cent auf den Nacken gesetzt hatte. Meiner Mutter ist leider nie eingefallen, aus diesem Popeline-Totolotto Kapital zu schlagen. Und Onkel Eloy wurde, ohne es zu wissen, zum Idol der 4 A.
Onkels Eloys Mutter war meine Großmutter Gui, die zwei Besonderheiten hatte: Sie war nicht meine Großmutter, und sie aß Weißrübenschößlinge mit einem so elastischen Mund, daß das Schauspiel jener Knetmassebackenzähne die unglaublichste Kontorsionistennummer war, die ich je gesehen habe. Zudem war sie eine in Pombal dermaßen bekannte Dame, daß der Kaufmann, wenn er ihre Einkäufe laut mit einem Bleistiftstummel zusammenrechnete, ehrfürchtig verkündete
– Vier und fünf neun und drei zwölf und eins, aber da es Sie sind, zwei, zwei und sieben neun und neun achtzehn und sieben fünfundzwanzig und zwei, aber da es Sie sind, drei
und Großmutter Gui zahlte mit stolzer Feierlichkeit das Gewicht ihrer Bedeutung.
Onkel Eloy kleidete sich wie kein anderer Mann: ohne eine einzige Falte, mit diskreter Eleganz vom Hemdkragen bis zu den großartigen Schuhen, die imstande waren
(Onkle Eloy war Linksaußen beim Académico gewesen)
einen Ball mit einem einzigen Schuß über die Praia das Maçãs, dann über die Lagune hinweg und so weit zu schießen, daß er sich jenseits vom Alto da Vigia Mariscos & Bebidas, der Ruine eines Bierlokals hoch oben auf der Felsenküste, verlor. Einen Ball, der, würde ihn Onkel Eloy in Benfica berühren, im besten Falle inmitten von verblüfften Fischern im Rio Guadiana schwimmend wiedergefunden werden würde. Diese Heldentat führte dazu, daß mein Bruder João und ich ihn nachzuahmen versuchten, indem wir Laufwettkämpfe auf den Kiesalleen des Gartens unseres Großvaters organisierten und auf dem Dachboden in der Calçada do Tojal uralte Exemplare der Très Sport lasen, in denen Georges Carpentier die Fäuste mit der leicht komischen Feierlichkeit eines Gottes in langen Unterhosen reckte.
Außerdem roch Onkel Eloy gut. Er war humorvoll. War intelligent. Gute Manieren zeigten sich, dem Familienkatechismus zufolge, am Abendbrottisch und am Spieltisch, und Onkel Eloy war an beiden unschlagbar: Er aß mit exakten Uhrmacherbewegungen, und wenn er beim Kartenspiel verlor, ließ er mit einem leichten Seufzer einen Satz fallen, den ich noch heute höre, wenn ich an ihn denke
– Wir werden sehen, sagte der Blinde.
Donnerstags aßen wir Neffen bei ihm zu Abend. Zum Nachtisch bot er uns Aniz del Mono in kleinen blauen Likörgläsern an, stellte die Wanduhren, setzte uns in der Travessa dos Arneiros ab und fuhr offiziell zur Abendgesellschaft in der Post. Selbstverständlich ging er nie zur Abendgesellschaft in der Post, aber er ging zur Abendgesellschaft in der Post. Als er bereits sehr krank war
(und er behielt in der Krankheit dieselbe freundliche Würde, die ihn auszeichnete, als er gesund war)
besuchte ich ihn im Krankenhaus, und sein Schlafanzug war schöner und geschmackvoller als meine neue Jacke. Makellos frisiert und rasiert wirkte er so, als wollte er mich besuchen. Eines Nachts war er nicht in der Klinik. Am Gesicht meiner Tante erkannte ich, daß er zur Abendgesellschaft in der Post gegangen war. Ich hab mir keine besonders großen Sorgen gemacht: Wenn ich durch die Calçada do Tojal komme, werde ich ihn wie üblich am Fenster entdecken, wo er mit nacktem Oberkörper von oben wie ein 110-Meter-Hürden-Champion am Ende eines Laufes winkt. Eines Laufes, den er gewonnen hat, denn der Sohn von Großmutter Gui
(und zwei, aber da Sie es sind, drei)
war kein Verlierer. Bei was auch immer.
Als ich klein war, gab es in Benfica zwei Imbißstuben. Eine unterhalb der Kirche, die vom Tresterschnapsproletariat frequentiert wurde, deren Boden immer von Sägemehl und zerquetschen Kippen bedeckt war und die Adega dos Ossos, die Knochenkneipe, genannt wurde; von deren Besuch wurde mir immer abgeraten, aus Furcht, ich könnte dem finsteren Laster des Schattenmorellenlikörs und der Português-Suave-Zigaretten verfallen und meine Tage beenden, indem ich Domino spiele, beim Sueca verliere und ins Taschentusch huste.
Es war ein düsteres Lokal voller Flaschen an der Wand, in dessen Vitrine es mehr Fliegen gab als Pastéis de Nata. Neben diesen Regalen mit Flaschenbuchrücken, dieser Deliriumtremensbibliothek, erinnere ich mich auch an den schielenden Kellner mit dem wütenden rechten und wohlwollenden linken Auge und an Senhor Manuel, den Sakristan, der in roter Kutte zwischen zwei Messen hier herunterstieg, salbungsvoll eine Dreidezilitergläsereucharistie zelebrierte, hinter dem Kühlschrank versteckt aus Angst vor dem Prior, der, die verkörperte Strenge, von den Schuhen bis zum Hals ganz Knöpfe war und dessen Meinung nach der Wein, wenn er nicht mit Oblaten zu tun hatte, die dämonische Eigenschaft entwickelte, die Schäflein vom Weg abzubringen und dazu, den Sechsuhrrosenkranz zugunsten des entsetzlichen Lasters ausfallen zu lassen und Bisca zu spielen.
Die andere, der ersten fast gegenüberliegende Imbißstube trug den Namen Paradies von Benfica, wurde nach der Messe von Damen rostfreier, antimagnetischer und kugelsicherer Frömmigkeit besucht, wie beispielsweise meinen Großmüttern und meinen Tanten, deren inniges Verhältnis zu den Heiligen mich immer verwunderte und die sich beeilten, mir den Katechismus von dem Tag an beizubringen, als ich, auf ein Gebetsbildchen des Heiligen Geistes zeigend, fragte
– Wer ist dieser Spatz da?
und mir zu erklären versuchten, daß Gott kein Spatz, sondern eine Taube war, weshalb ich mir sofort vorstellte, daß er auf der Praça de Camões aus den Händen der Rentner aß, was mir als eine wenig passende Tätigkeit für jemanden erschien, der das Universum erschaffen hatte.
Das Paradies war das Lokal, das die Damen nach der Messe und die Männer während derselben zuhauf frequentierten.
(Als eine meiner Cousinen ihren Mann empört fragte, wieso er nicht mit in die Kirche kam, antwortete er mit einem leichten, unmißverständlichen Lächeln
– Das brauche ich doch nicht: Ich bin im Paradies. Da ist es kühler und es gibt Bier.)
Im Gegensatz zur Adega dos Ossos roch es dort gut, keiner der Kellner schielte, Dominospielen war verboten, die Kutte von Senhor Manuel schwebte nicht heimlich hinter dem Kühlschrank, und vor allem hatten meine Brüder und ich ein unbegrenztes Kuchen- und Eiskonto. Anfangs kam mir dieses Konto so rührend großzügig vor, daß ich vor Dankbarkeit fast geweint hätte. Später aber begriff ich, daß es sich keineswegs um Großzügigkeit handelte: Sonntags aßen wir nämlich immer bei meiner Großmutter zu Mittag, und das Angebot von Eis und Berlinern war dazu gedacht, mich vom ländlichen Hinterteil der Köchin abzulenken, das ich damals gerade entdeckt hatte. Zwischen zwei gleichermaßen himmlischen Paradiesen zögerte ich monatelang zwischen mit Schlagsahne gefüllten Éclairs und dem Vierflammenherd.
Am Ende habe ich mich für den Herd entschieden. Als nach einer Weile die Köchin einen Polizisten heiratete
(alle Köchinnen heirateten Polizisten)
und ich versuchte, zu den Berlinern zurückzukehren, hatte meine ob meiner Sünden enttäuschte Großmutter das Konto gelöscht. In meiner Verzweiflung erklärte ich mich bereit, sie bei einem Witwenausflug nach Fátima zu begleiten, um ihre Zuneigung und die Reisküchlein zurückzugewinnen; nicht einmal dieses heroische Opfer vermochte sie zu rühren. Und ich verwaiste darauf doppelt, was ein unerträglicher Zustand ist, aus dem mich zu erretten bis heute kein Quarktörtchen und keine Schürze Interesse gezeigt haben.
In meiner Jugend, als ich die Sommer im Schwimmbad der Praia das Maçãs verbrachte, gab es in meiner Welt zwei Leitfiguren, eine, die den Tag beherrschte, und die andere, die die Nacht beherrschte. Der Tag gehörte ausschließlich dem Olympiaschwimmer, die Nacht war das Reich des Barpianisten.
Der Olympiaschwimmer trug einen Strohhut auf dem Kopf, eine Trillerpfeife um den Hals und Gummischlappen, solche, die man wie die Kryptomegären aus Olivais Sul zwischen den großen Zeh und den Zeh daneben schiebt, und er marschierte, den Ertrinkenden Kraulbefehle zurufend, mit Brigadegeneralsschritten um das Becken herum. Zudem hatte er eine verspiegelte Sonnenbrille, Schultern, die mit der Nachgiebigkeit von Knetmasse weich zu werden begannen, außerdem hatte er ein Buch geschrieben, das beim Bademeister, der Badehosen aus Tigerfellimitation verlieh, zum Verkauf auslag und den keinen Widerspruch duldenden, beeindruckenden Titel trug: Schwimmen Können Ist So Wichtig und Nützlich wie Lesen oder Schreiben Können. Das Eingangskapitel war überschrieben, Camões, der erste portugiesische Schwimmchampion, und diese intellektuelle Seite des Olympiaschwimmers führte dazu, daß ich ekstatische Bewunderung für ihn empfand: Endlich kannte ich jemanden, der das Sprungbrett mit dem Zehnsilber verband, über Sonette nachsann, während die Schüler, um Hilfe schreiend, bis zum Gurgeln des letzten Atemzuges im Wasser spaddelten.
Mit Anbruch der Dämmerung wurde der Olympiaschwimmer durch den Barpianisten ersetzt, der die »Muschel«, ein Paradies aus Schatten und abgeblendetem Licht, über der Dunkelheit des Schwimmbades mit Liebesklagen in Boleroform erfüllte.
Da ich noch nicht das Alter erreicht hatte, um in dieses Heiligtum des Slow-Fox hineingelassen zu werden, blieb ich draußen auf einer Stufe sitzen und saugte mich mit einer Melancholie aus wirren Begierden voll, während der Barpianist ins Mikrophon säuselte
Liebling
dein Körper gleicht
wie er mir einheizt
einer röstfrischen Erdnuß.
Der Barpianist war im Gegensatz zum Olympiaschwimmer dicklich und trug eine unverspiegelte Brille, keine Trillerpfeife um den Hals und schien sich für die Wichtigkeit und Nützlichkeit nautischer Kenntnisse nicht weiter zu interessieren: Er reckte den Mund trichterförmig geschürzt zum Mikrophon, klimperte mit den Wimpern und verkündete mit einem leidenschaftlichen Flüstern
Liebling
dein Körper gleicht
wie er mir einheizt
einer röstfrischen Erdnuß.
Die Röstfrische Erdnuß mußte seine Ehefrau sein, eine Spaniern, die den Zeichnungen in der Zeitschrift Cara Alegre ähnelte, die für mich damals
(und hier bei uns, glaube ich, tun sie das immer noch ein wenig)
das Ideal weiblicher Schönheit darstellten. Wenn so gegen ein Uhr mittags die Röstfrische Erdnuß aus dem Schwimmbecken auftauchte, blond, sinnlich, unerreichbar, langsam wie das Tragegerüst bei einer Prozession, mit riesigen silbernen Ohrringen, spürte ich, wie meine Knochen vor Leidenschaft rauchten. Die Zeit schien stillzustehen, diejenigen, die vom Siebenmeterbrett sprangen, hingen reglos in der Luft, ein Schauer des Begehrens durchfuhr die sprachlosen Badenden, und nur der Olympiaschwimmer traktierte seine Schiffsuntergangslehrlinge, die unversehens imstande waren, auf den Wassern zu wandeln, weiter mit der Trillerpfeife. Mich traf es unvorbereitet, daß die Röstfrische Erdnuß und der Olympiaschwimmer skandalöserweise aus dem Schwimmbad verschwanden, um in einem Hotel irgendwo im Norden des Landes Paarkraulen zu betreiben. Ich persönlich fühlte mich ebenso betrogen wie der Barpianist. Und ich habe dann ganz allein, ohne Begleitung, ein Löffel diente mir als Mikrophon, zu Hause gesungen
Liebling
dein Körper gleicht
wie er mir einheizt
in der Hoffnung, eine der Zeichnungen aus Cara Alegre würde aus der Zeitschrift heraustreten, mich bei der Hand nehmen und mit mir zusammen in achtzig Welten um den Tag reisen, in dem Bett, wo ich Nacht für Nacht, allein zwischen den Laken strampelnd, nach der Röstfrischen Erdnuß seufzte.
Die Buchmesse, das heißt unter einem gestreiften Sonnenschirm sitzen, Autogramme geben und das Eis essen, das mir meine Tochter Isabel immer wieder von einem kleinen Stand zwei Verlage weiter mitbringt, weil sie sich um einen geplagten, schwitzenden Vater Sorgen macht, der plötzlich so alt ist wie sie und mit heraushängender Zunge eifrig wie ein Schüler Widmungen schreibt. Dies ist keine Klage: Ich mag die Leute, ich mag, daß sie mich lesen, mir gefällt vor allem, die Leute kennenzulernen, die mich lesen und mir helfen, nicht das Gefühl zu haben, wahllos Flaschen mit Piratenbotschaften ins Meer zu werfen, von denen man nicht weiß, wo sie landen, und ich mag die Romane, die ich geschrieben habe. Ich bin stolz auf sie, und ich bin stolz auf mich, weil es mir gelungen ist, sie zu schreiben. Und so sitze ich dort, zufrieden und schüchtern, in Begleitung von Nelson de Matos, der mich wie ein geduldiger Hirte betreut, vor mir ein Schild mit meinem Namen und die in einem Fächer ausgebreiteten Buchumschläge, während mich das Gefühl beschleicht, marokkanischen Schmuck in den U-Bahn-Tunneln am Marquês de Pombal oder neonfarbene Trainingsanzüge auf dem Relógio-Markt zu verkaufen, die die Leser durchblättern, kaufen und mir zum Abstempeln reichen, und anstatt ihnen zuvorkommend und bestimmt zu erklären, daß die Bücher weder färben noch einlaufen, beschränke ich mich darauf, weil mir die Berufung zum Zigeuner fehlt, den Aufkleber reinzupappen
(Gott weiß, daß ich manchmal Lust habe, mit Hermès oder Valentino zu unterschreiben)
und sie ihnen mit dem Lächeln eines Ladeninhabers zurückzureichen, der Qualitätsarbeit und guten Stoff garantiert. Wie beim Ausverkauf in der Avenida de Roma passiert auch hier so einiges: Da kommt der mittelalterliche Herr mit kupplerischem Blick, der den »Judaskuß« aufschlägt, erst neugierig und dann enttäuscht darin blättert und sich dann schimpfend, zu einem Kumpel mit langem Gitarrenspieler-fingernagel gewandt, entfernt
– Kannste vergessen da sind nicht mal Fotos drin
da kommt der Junge mit gelgezähmtem Haar und dem Krokodil auf der Brustwarze, wie Alexandre immer sagte, der mit einem komplizenhaften Zwinkern fragt
– Wo Sie schon mal da sind gibt´s da was Scharfes drin Bettszenen oder so Sie verstehen schon?
und da kommt die tugendsame Tante mit Schuhen vom Typ Geigenkasten, die sich um die Bildung ihrer Nichten und Neffen sorgt, eine von diesen Tanten, die sich immer anbieten, sie zum Pipimachen zu begleiten, und mich jetzt mit apostolischer Strenge betrachtet
– Was soll ich meinem Patenkind kaufen der lieben Kleinen die vorgestern ihre erste Kommunion hatte?
und da kommt der Herrische, der den Finger in die Seite piekt und mit Feldwebelstimme befiehlt
– Schreiben Sie da: Für Fernanda zu ihrem achtunddreißigsten Geburtstag mit den herzlichsten Glückwünschen und jetzt setzen Sie da Ihren Nachnamen drunter
und der, der nach vorn gebeugt, die Hände in den Gesäßtaschen, zutiefst mißtrauisch das Ausstellen des Rezepts verfolgt und mich beleidigt korrigiert
– Elisabeth mit th haben Sie was gegen die Elizabeths oder sind Sie etwa kein Schriftsteller?
Um sieben Uhr abends breche ich die Zelte ab. Das Schild mit meinem Namen verschwindet, die Bücher verschwinden, und da ich glücklicherweise nicht in Loures oder Damaia de Cima wohne, habe ich noch Zeit, mit Isabel das Ende des Schlußverkaufs mit einem letzten Eis zu feiern. Wir setzen uns auf den Rasen wie ein verliebtes Pärchen und beobachten von fern die anderen Verkäufer marokkanischen Schmucks oder neonfarbener Trainingsanzüge, wie sie ihre Produkte voll Händlereifer mit Beglaubigungsformeln versehen, während wir uns die Onkel-Dagobert-Heftchen teilen, die wir an einem Stand mit schwieriger Lektüre gekauft haben, deren Titel mich begeistern: »Psychoanalysieren Sie sich selbst«, »Wie werde ich reich, ohne das Haus zu verlassen«, »Adolf Hitlers Sexualleben«, »Zehn berühmte Blinde«, »Heilung von Gebärmutterkrebs durch die spirituelle Methode«. Ein Betrunkener neben uns schnarcht zweitaktermäßig Mofastottern. Der Himmel füllt sich mit Magritte-Wolken. Ich schlage meiner Tochter einen Wettlauf zum Wagen vor, wer zuletzt ankommt, ist eine Memme. Im Wagen neben unserem hilft der Herrische von Fernanda dem Glück auf die Sprünge: Er hat ein Maskottchen am Rückspiegel, zwei an der Heckscheibe, einen Sticker mit einem Mädchen mit Hut auf der Stoßstange, und unterbricht sich, um die Information weiterzugeben
– Das da ist der Heini der das Buch geschrieben hat.
Fernanda wirft mir, ganz Transparenz und Rüschen, von der Höhe ihrer Drüsenopulenz herab einen zerstreuten Wimperntuscheblick zu, und Isabel, die ihre Gleichgültigkeit und den Seitenblick in vollem Flug erfaßt hat, rät mir, weil sie Mitleid mit mir hat, auf dem Weg zum Abendessenhamburger
– Nach all dem hier Vater fände ich es besser Sie wären kein Schriftsteller.
Ich glaube, ich werde alt: Die Paula Cristinas sind jetzt über zwanzig Jahre alt, die Bruno Miguels sind bereits fünfzehn, Martas, Catarinas, Marianas sind an die Stelle der Katias und Sónias getreten. Die meisten Polizisten sind jünger als ich. Neuerdings mag ich Suppe mit Rübenschößlingen. Habe ich Lust, früher nach Hause zu gehen. Sehe ich im Morgenspiegel Abgesacktes, ungeahnte Falten, den Mund zwischen immer tiefer werdenden Parenthesen. Schaue ich mir meine Kinderbilder an, als handelte es sich um einen Fremden. Neuerdings ist mir Fußball gleichgültig geworden, mir, der ich die Namen aller Spieler des Benfica kannte, angefangen vom unvergleichlichen Fernando da Conceiçao Cruz, dem Spätzchen vom Bairro da Liberdade bis hin zum ruhmreichen Domiciano Barrocal Gomes Cavém, über José Pinto de Carvalho Águas, den großen Kapitän, und Màrio Esteves Coluna, das Monster, der in einem Interview behauptet hat, der Victor Mature der Stadien zu sein. Ich habe kein Interesse mehr an der Eiscreme von Santini, die Dinis Machado, ein Zigarillo zwischen den Zähnen, als pektoral bezeichnete. Wahrscheinlich trage ich schon bald an einem Fuß einen Schuh und am anderen einen karierten Pantoffel und gehe am Stock in den Príncipe-Real-Park, um die Tauben zu zählen, die wie Abteilungsleiter, die Hände auf dem Rücken, die Zeder umrunden. Oder ich spiele mit baskenmützetragenden Kollegen auf der Alameda Afonso Henriques Sueca, die definitive Pik-Sieben mit Freiheitsstatuengeste in die Luft gereckt. Oder ich werde in Mein Heim, Für Senioren Invaliden & Rekonvaleszente untergebracht, um dort die Nachmittage in der Schlafanzugjacke in einem Ohrensessel am Fenster zu verbringen, die Taschen voller Zahnstocher, Glückszahlen und Butterkekskrümel, werde zu Ostern von Neffen besucht, die es eilig haben, und von Säckchen voll mit rosa und weißem Zucker überzogenen Mandeln. Wenn ich mir meiner selbst bewußt werde, finde ich mein Lächeln, das mich auf dem Nachttischchen aus einem Wasserglas mit zweiunddreißig Plastikzähnen spöttisch angrinst. Ich werde meinen Platz am Tisch an den Medikamentenfläschchen auf dem Tischtuch erkennen und mich dabei an jene Fahnen erinnern, die wie die Automobilfahrer der heroischen Zeiten als Bären verkleidete alte Entdecker in polares Eis pflanzten. Ich werde wie jene alte, stocktaube, einstmals schöne Cousine sein, die an ihrem Bett ein riesiges Radio stehen hatte und zu der der Krankenpfleger, der ihr die Spritzen gegen das Rheuma gab, einmal meinte
– Sie haben da einen wirklich schönen Radioapparat
worauf sie mit einem Seufzer, den Hintern nackt in Erwartung der Spritze, stolz und kokett seufzte
– Sie hätten ihn mal vor vierzig Jahren sehen sollen.
Ich glaube, ich werde alt. Und dennoch erwische ich mich manchmal dabei, wie ich in der Jackentasche nach einer Zwille taste. Ich hätte immer noch gern ein Taschenmesser mit Perlmuttgriff und sieben Klingen, Korkenzieher, Schere, Dosenöffner und Schraubenzieher. Ich wünsche mir immer noch, mein Vater würde mir auf dem Markt von Nelas einen kleinen runden Spiegel mit dem Foto von Yvonne de Carlo im Badeanzug auf der Rückseite kaufen. Es macht mir immer noch Spaß, meinen Namen auf eine Fensterscheibe zu schreiben, nachdem ich sie angehaucht habe. Ich gehe noch immer an der Kante des Bürgersteigs, ohne auf die Ritzen zwischen den Steinen zu treten. Ich hätte es immer noch gern, wenn mein Großvater an mein Bett käme, um mir über den Kopf zu streichen. Löse noch immer gern die Buchstabenrätsel in den Almanaque Bertrand vom Dachboden, die Dona Maria Fernandes Costa zusammengestellt hat, und wenn die Frage Großer Portugiesischer Leider Bereits Verstorbener Schriftsteller lautet, möchte ich immer den Namen des verdienten Dichters General Fernandes Costa eintragen. Bei rechtem Licht besehen
(und das sage ich dem Spiegel)
bin ich kein alter Herr, der sich das Herz eines kleinen Jungen bewahrt hat. Ich bin ein kleiner Junge, dessen Hülle abgenutzt ist.
Bei Interviews, die für mich auf der Welt die erschreckendste Form von Verhören sind, weil man mir ein Tonbandgerät in den Mund stopft und mir befiehlt, allgemeingültige Ideen und Meinungen zu haben, etwas, das ich niemals hatte, schlingert das Gespräch unvermeidlich auf die für Fußpflegerinnen typische Frage zu: Wie haben sie angefangen zu schreiben?, auf die ich wohl mindestens dreihundert verschiedene Antworten gegeben habe, angefangen mit solchen, die ich für intelligent halte, bis zu denen, die ich ironisch finde, aber ehrlich war ich nie. Die Wahrheit ist, daß ich mit dreizehn Jahren aus schmerzvoller materieller Not zu schreiben begann, obwohl ich mich auch darauf hätte spezialisieren können, im Café Heftpflaster an den Mann zu bringen oder an den Ampeln Tuberkuloseatteste in der Hoffnung vorzuzeigen, fremde Großzügigkeit zu wecken.
Damals schien es mir leichter, meine Großmutter zu rühren. Erstens, weil ich fürchtete, daß meine Familie wenig erbaut davon gewesen wäre, ihren Erstgeborenen in den Konditoreien von Tisch zu Tisch gehen und eingewachsenen Nägeln Linderung versprechen zu sehen, und zweitens, weil es mir schwerfiel, überzeugend über ein halbes Blatt offiziell gestempeltes Papier zu husten, das versicherte, daß ich mir im Sanatório do Lumiar die Seele aus dem Leib spuckte. Katarrh kann man nicht vortäuschen, den erwirbt man sich mit mehreren Packungen Português-Suave-Zigaretten pro Tag, und damals gab es für mich gerade eine gelegentliche, von meiner Mutter geklaute Chesterfield, die ich am Badezimmerfenster rauchte, voller Angst, bei dieser sündigen Tat erwischt zu werden, die sich in Schwindelgefühl und Tränen in den Augen ausdrückte und anschließend viel Zahnpasta, um den Geruch zu bannen.
Da entstand der Gedanke mit den Sonetten an Christus. Die Sonette an Christus retteten mich vor dem Elend. Ihnen verdanke ich, daß ich Geld für Kaugummi, Karten für die hinteren Reihen im Kino Eden, einen kleinen Milchkaffee in der Adega dos Ossos, Reisküchlein in der Schulpause im Gymnasium und Bücher aus zweiter Hand des Minerva-Verlages mit entsetzlichen Übersetzungen von Maxim Gorki hatte, den ich für einen erhabenen Schriftsteller hielt, dessen schlecht gedruckte Textpassagen an meinen Fingern kleben blieben und mir von armen, traurigen Kindheiten erzählten, die voll heroischem Aufbegehren um einen Samowar herum ertragen wurden
(jahrhundertelang dachte ich, daß Samowar das russische Gegenstück des Scimitar von Salgari wäre, von dem ich auch nicht wußte, was es war, doch die Verwandtschaft im Unverständlichen reichte mir).
Die Sonette an Christus, von denen ich im Durchschnitt eines pro Woche verfaßte, behandelten in zwei Quartetten und zwei Terzetten wohlgereimt und ausgezählt Episoden aus dem kurzen irdischen Leben von Gottes Sohn. Bei den Quartetten fiel ich etwas ab, doch in den Terzetten gelang mir das hohe C, wenn ich einen Haufen böser Juden und behelmter Römer einführte, die großen Spaß daran hatten, Lanzen in Leute zu stechen, und meist endete alles mit einer Agonie auf dem Kalvarienberg, bei der je ein Dieb zu beiden Seiten den Herrn stützte wie die Elfenbeinelefanten die gebundenen Bücher in den Wohnungen im dritten Stock in der Rua Visconde de Valmor.
War die Tragödie komponiert, kopierte ich sie auf rosa Briefpapier mit Täubchen in der Ecke, steckte sie in die Tasche, klingelte mit einem dräuende Katastrophen andeutenden Gesicht bei meiner Großmutter, und wenn sie mich besorgt ins Zimmer bat, um zu hören, welches Mißgeschick mir widerfahren war
(Mißgeschicke waren meine Stärke, und meine Großmutter verbrachte einen Großteil ihres Lebens damit, den Unsinn, den ich verzapft hatte, wieder auszubügeln)
lehnte ich mich an den Hausaltar, auf dem die himmlischen Heerscharen in vergoldetem Schnitzwerk, Ton, Bronze und anderen weniger edlen Materialien dargestellt waren, zog das Sonett aus der Tasche und rezitierte es so hohlstimmig, wie ich konnte, mit nach oben verdrehten Märtyreraugen. Meine Großmutter öffnete, überzeugt, daß ihr Enkel eine Karriere als Erzbischof vorbereitete, die Schatulle, die, ich weiß nicht, warum, immer bei den Heiligen stand, und belohnte meine Devotion mit dem, was einem Seitenplatz im Estádio da Luz und einem heimlichen Tresterschnaps in der Adega dos Ossos entsprach, der männlich unter Prusten und Niesen getrunken wurde.
Ich glaube, daß das, was ich später schrieb und erst nach ihrem Tod zu veröffentlichen begann, sich noch immer an sie wendet. Und jedesmal, wenn der Verleger mir eines der ersten Exemplare eines neuen Romans überreicht, denke ich an meine Großmutter. Ich weiß nicht, ob sie meine Bücher mögen würde, so wie ich auch nie erfahren habe, ob sie meine Sonette an Christus mochte, doch ich hoffe, daß sie mir zwanzig Escudos dafür geben würde und vor allem den Kuß, der den Geldschein begleitete, einen Kuß, wie ich ihn, seit sie gegangen ist, nie wieder bekommen habe.
Der Roman, den ich gern schreiben würde, wäre ein Buch, in dem wie im letzten Stadium der Weisheit der Chinesen alle Seiten Spiegel wären und der Leser nicht nur sich selber und die Gegenwart sieht, in der er lebt, sondern auch die Zukunft und die Vergangenheit, Träume, Katastrophen, Wünsche, Erinnerungen. Eine Geschichte, in der ich, während ich sie durchblättere, um sie, bewaffnet mit einem für ein Blutbad von Verbesserungen gedachten Rotstift, zu korrigieren, plötzlich auf den Sohn des Hausmeisters stoßen würde, der mir von einem Absatz her zuwinkt, auf dem er sitzt wie auf einer Mauer auf dem Landgut meines Großvaters, den Sohn des Hausmeisters, der mir beigebracht hat, mit der Zwille Vögel zu erlegen und Feigen in Nachbars Obstgarten zu stehlen, und der heute womöglich ein Blechschmied ist, der in einen zweiten Stock in Alverca verbannt lebt, wo es keinen Platz für die Störche von Benfica gibt, für die Bäume des Wäldchens, für diese umfassende, religiöse Dimension der Morgenröte zwischen Himmel und Erde, in der die Apfelsinenbäume langsam atmen und die Fische im Wasserbecken durch die Poren der Haut in uns hinein und wieder hinaus schwimmen. Und nicht nur der Sohn des Hausmeisters: auch die Klaviermusik aus der Villa Ventura, in der zwei häßliche Jungfern wohnten, die Chopin verwandelte, indem er ihren Blick besänftigte, bis er die unerträglich hinreißende, schöne Zärtlichkeit erlangte, mit der kranke Tiere in einer Sprache mit uns reden, für die wir mit der Zeit zu taub geworden sind, als daß wir sie verstehen könnten, zu verschlossen für das Engelhafte, welches Invaliden, Waisen und verheirateten Frauen eigen ist, den einzigen Wesen, von denen ich weiß, daß sie imstande sind, über dem Geheimnis der Dinge zu fliegen.
Im Roman mit den Spiegelseiten, den ich gern schreiben würde, träfe ich unvermittelt an der Ecke eines Kapitels auf die Jahre von Nelas, Tenniscourts, die mit Lichtern übersäte Serra da Estrela, auf den Kastanienzweig, der mich, gegen den Fensterladen der Schlaflosigkeit schlagend, erschreckte, auf Dona Irene, die mit den gezähmten Turteltauben ihrer Finger die Harfe spielte, auf die verwitwete Dame, die wie ein unglaublich dicker Buddha oben an der Treppe thronte, und auf den Cousin und eingefleischten Junggesellen, der mit Galangehabe ins Telefon flüsterte
– Schicken Sie mir ein halbes Kilo Hüfte Senhor Borges.
Da die Seiten Spiegel sind, werden auch mein Gesicht von heute und alle Gesichter darin sein, die ich bis zum Gesicht von heute gehabt habe und im Babyalbum wieder aufsuche, in dem, mumifiziert wie der Zopf eines Heiligen, ein Bündelchen Haar von einem Kind verwahrt wird, das heute tot ist, das ich einmal war und das mich über Jahrhunderte hinweg mit anklagendem Mißtrauen anschaut, Haare, die ich zu berühren vermeide, aus Angst, daß sie zu Staub zerfallen wie die Orangenblüten einstiger Bräute und im Zerfallen auch das verschwindet, was ich einmal war, und die Menschen, die ich voller Leidenschaft ohnegleichen geliebt habe, meinen Großvater väterlicherseits, meine Großmutter mütterlicherseits, Flash Gordon, das Mädchen mit den langen Wimpern, das beim Krippenspiel in der Kirche die Muttergottes spielte, Sandokan und Kapitän Haddock.
Da die Seiten Spiegel sind, wäre es ein Buch, das schroff und gefühlvoll ist wie die Häuser der Beira im September, wie der Wind im Wald von Zé Rebelo, der erste Regen an den Granitwänden, meine Mutter, die mit gerunzelter Stirn, die Hand muschelförmig ans Ohr gelegt, schreiend
– Wie bitte?
fragt, und in einer Zimmerecke, wo man sein verführerisches Wispern nicht hört, gurrt der Hagestolzcousin mit geschlossenen Augen ins Telefon, männlich, überzeugend, unwiderstehlich
– Nein lieber doch keine Hüfte Senhor Borges ein Kilo Kluft.
Da die Seiten Spiegel sind, werden sich dort auch meine Chorknabenjahre finden, die hypnotisierende Choreographie der Messen, die düstere Inszenierung der Prozessionen, die Angst vor einem furchteinflößenden Gott, der mich ständig in der Hoffnung ausspähte, mich bei einer Lüge zu erwischen, bei einem Schimpfwort, bei in den Hosentaschen versteckten, sündige Verrichtungen unternehmenden Daumen, um mich dann geradewegs in ein Universum zu schieben, das einer rostigen Küche glich, voller Töpfe mit siedender Kohlsuppe und voller Dienstmädchen mit phosphoreszierenden Augen und Ziegenfußfesseln, die bereit waren, mich für eine Ewigkeit in die Qual dampfender Suppen zu tauchen. Die Priester mit gewachsten Wangen wie Frauen, die sonnabends ins Haus meiner Großeltern zum Essen kamen und das Mittagessen zu einem feierlichen Sakrament machten, bei dem der Entenreis eine liturgische Dichte erlangte, die ein nordportugiesischer Akzent und ein kräftiger, nach dem Inhalt der sakralen Gefäße riechender Atem noch unterstrichen. Und unbeeindruckt von den Priestern, dem Teufel, der Hölle, samtig und gurrend, die Gesichtszüge im Schatten wie Humphrey Bogart und den Hut schräg über den Augenbrauen, bezaubernd, magisch, rauchig, resignierte der Hagestolzcousin, die Lippen an der Sprechmuschel dahinsterbend
– Also gut Senhor Borges wenn Sie keine Kluft haben dann haben Sie eben keine Kluft Schluß aus dann bringen Sie mir zweihundertfünfzig Gramm gekochten Schinken.
Da die Seiten Spiegel sind, würde ich, wenn ich mich dem Buch noch mehr nähern würde, hinter meinen Großeltern, hinter Sandokan, Flash Gordon, dem Mädchen vom Krippenspiel, meiner Mutter mit der Hand am Ohr und dem vor Schüchternheit und Pickeln glühenden Jüngling, der ich nicht mehr bin, den Mann sehen, der bang, unter Qualen Wort für Wort seinen Roman schreibt, bis er ihn dem Verleger übergibt, der ihn auf der anderen Seite des Schreibtisches sitzend mit pastoralem Wohlwollen empfängt wie ein kirchlicher Würdenträger das Geschenk eines Gläubigen. Ich lege ihm respektvoll ein Bündel Blätter auf die Tischplatte, er segnet mich mit dem Bischofsstab eines silbernen Kugelschreibers, und als ich die Straße erreiche, wird mir klar, daß ich mit dem Roman einen wesentlichen Teil meiner Identität verloren habe, so daß ich, wieder zu Hause, sofort damit beginne, die Blöcke für die nächste Geschichte vorzubereiten, weil ich darauf brenne, mich erneut in dem Papier zu spiegeln, in welchem ganz langsam eine Hoffnung aufkommt, die mir unablässig versichert, es gebe solch morgendliche Morgen, daß es allein ihretwegen lohnt, sogar an die Politiker, diese lächerlichen Verwalter des Vergänglichen, oder gar an die Wirtschaftsexperten, diese absurden Manager des Unvorhersehbaren, an alle Geschöpfe zu glauben, die ihr Prestige auf eine fragwürdige Energie gründen, und daß es sich lohnt, am Leben zu bleiben. Denn ich kann ja immer, wenn ich es gerade am wenigsten erwarte, auf den das Telefon wie den Körper einer Frau umarmenden Hagestolzcousin stoßen, der ganz leise, damit niemand ihn hört, vertraulich flüstert
– Einhundertfünfzig Senhor Borges mindestens einhundertfünfundzwanzig Gramm gekochten Schinken für das Frühstückssandwich.
Ich rede wenig. Ich rede sowieso schon wenig und rede immer weniger. Zuerst einmal, weil ich den Faden verliere und das Gesprächsthema vergesse, und zweitens, weil die Leute nicht erwarten, daß ich ihnen eine Antwort gebe, sondern ihnen zuhöre, was einfach ist, wenn ich hin und wieder nicke und
– Ja natürlich
sage, wenn sie mich mit hochgezogenen Augenbrauen in Erwartung von Zustimmung und Applaus anschauen. Ich bin zu einem Spezialisten des
– Ja natürlich
geworden, das ich in mindestens dreiundzwanzig unterschiedlichen Tonfällen sagen kann, abhängig vom muffigen Gesicht oder der Begeisterung
(oder dem Fehlen derselben)
des Gesprächspartners, und wenn sie mich überrascht fragen
– Wieso ja natürlich?
verziehe ich den Mund zu einem rätselhaften, subtil zustimmenden Lächeln, damit der andere beruhigt seine Zweifel aufgibt, mir zufrieden auf die Schulter klopft, erleichtert seufzt
– Ich wußte doch daß du meiner Meinung bist
und sich in eine gewundene Erzählung stürzt, bei deren erster Kurve ich verlorengehe, dennoch weiterhin, an wer weiß was denkend
– Ja natürlich
in die Breschen aus Schweigen murmele, die sie mir manchmal öffnen und die meiner Bewunderung oder meinem Applaus zugedacht sind. Denn auch, wenn ich nicht rede
(und ich rede nicht)
bin ich doch bei ihnen, bin ich immer bei ihnen, und ich bin bei ihnen, weil ich nichts gehört habe und weil ich Streit, Rechthaberei, Meinungen, Überzeugungen, Gründe hasse. Daher beschränke ich mich auf das
– Ja natürlich
und nicke stumm. Konzentriert. Mit gerunzelter Stirn. Brüderlich. Manchmal ersetze ich diese Art des Applauses durch einen Seufzer, der bedeutet