Elefantengedächtnis - António Lobo Antunes - E-Book

Elefantengedächtnis E-Book

António Lobo Antunes

3,9
7,49 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Er ist Psychiater in Lissabon, und er hasst sein Leben. Einen Tag lang versammelt er all die Dämonen, die ihn bedrängen: die Arbeit in der Irrenanstalt Miguel Bombarda, sinnlos und menschenunwürdig; die Erinnerungen an die Familie, ein Paradebeispiel der portugiesischen Bourgeoisie samt ihrem zuckersüßen und repressiven Katholizismus; sein qualvolles Scheitern als Ehemann und Vater; die Erfahrung im Krieg in Angola. Am Ende wird klar, dass es für diesen Mann nur einen Weg geben kann, den Kontakt mit der Welt zu halten: das Schreiben.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 248

Bewertungen
3,9 (18 Bewertungen)
7
4
5
2
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Buch

Ein fünfunddreißigjähriger Psychiater kommt morgens zur Arbeit ins Hospital Miguel Bombarda in Lissabon, hält seine Sprechstunde ab, trifft sich mittags, weil er völlig fertig ist, mit einem Freund, wartet an der Schule seiner Töchter, von deren Mutter er sich getrennt hat, darauf, die Kinder heimlich beim Herauskommen beobachten zu können. Anschließend geht er zur Gruppentherapie, fährt in seine Wohnung in Estoril, geht in eine Kneipe, reißt eine Frau auf, mit der er die Nacht verbringt, und versichert am nächsten Morgen, das Leben als braver Spießer von vorn anfangen zu wollen – eine Lüge, wie sich herausstellen wird.

Diese Beschreibung eines Tages ist durchsetzt von prallen, boshaften und respektlosen Ausbrüchen ins Phantastische, Skurrile und Komische, sie ist der Ausdruck einer existenziellen Krise: Hier spricht einer, der sich an der Welt reiben muß, um nicht an ihr zugrunde zu gehen. Elefantengedächtnis, 1979 geschrieben, ist der erste Roman von António Lobo Antunes, er ist eine Autobiographie »bis zur Hälfte seines Lebens« – mit ihm begründete Lobo Antunes ein beispielloses literarisches Werk.

Autor

António Lobo Antunes wurde 1942 in Lissabon geboren. Er studierte Medizin, war während des Kolonialkrieges Militärarzt in Angola und arbeitete danach als Psychiater in einem Lissabonner Krankenhaus. Heute lebt er als Schriftsteller in seiner Heimatstadt.

Lobo Antunes zählt zu den wichtigsten Autoren der europäischen Gegenwartsliteratur. In seinem Werk, das mittlerweile sechzehn Titel umfaßt und in circa dreißig Sprachen übersetzt worden ist, setzt er sich intensiv und kritisch mit der portugiesischen Gesellschaft auseinander. Er erhielt zahlreiche Preise, zuletzt 2005 den Jerusalem-Preis für die Freiheit des Individuums in der Gesellschaft.

António Lobo Antunes

Elefantengedächtnis

Roman

Aus dem Protugiesischen vonMaralde Meyer-MinnemannMit einem Nachwort von Sigrid Löffler

btb

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Die Originalausgabe erschien 1979 unter dem Titel »Memória de Elefante« bei Publicações Dom Quixote, Lissabon.

Der Verlag dankt dem Portugiesischen Institut für das Buch-und Bibliothekswesen für die Förderung der Übersetzung.

Genehmigte Ausgabe März 2006, btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Copyright © der Originalausgabe 1979 by António Lobo Antunes Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe

2004 by Luchterhand Literaturverlag,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, München

Umschlaggestaltung: Design Team München

Umschlagfoto: Tina Deininger / Gerhard Jaugstetter

Satz: Filmsatz Schröter GmbH, München

MM · Herstellung: AW

ISBN 978-3-641-11141-0V002

www.btb-verlag.de

Für Zézinha und für Joana

… as large as life and twice as natural.

 

Lewis Carroll,

Through the Looking-Glass

 

 

 

’ne Gelegenheit zu türmen gibt’s immer, für euch ist Zoff angesagt, seht zu, wie ihr damit klarkommt.

 

Satz, den Dédé sagte, als er aus dem Gefängnis ausbrach.

Wann hat die Scheiße angefangen? fragte sich der Psychiater, während Charlotte Brontë unbeeindruckt mit ihrer grandiosen Lewis-Carroll-Rede fortfuhr. Wie jemand, der, ohne nachzudenken, die Hand auf der Suche nach dem Trinkgeld einer Antwort in die Tasche steckt, tauchte er den Arm in die Schublade der Kindheit, unerschöpflicher Überraschungskrimskrams, ein Motiv, von dem sein späteres Leben in matter Monotonie verschiedenste Abziehbilder machte, und holte rein zufällig, ganz deutlich in der muschelförmigen Handfläche, sich selber heraus, wie er als kleiner Junge auf dem Topf hockte, vor dem Spiegel des Kleiderschranks, in dem sich die Jackenärmel der Glencheckanzüge seines Vaters, ägyptisch anmutend im Profil aufgehängt, zu weichen Lianen vervielfachten. Ein kleiner blonder Junge, der abwechselnd drückt und beobachtet, dachte er, indem er den leeren Jahren einen Seitenblick gönnte, eine vernünftige Zusammenfassung der vorangegangenen Kapitel müßte lauten: Sie pflegten ihn stundenlang auf seiner Sèvrestasse aus Emaille sitzen zu lassen, in der das Pipi schüchterne Harfentonleitern klimperte, und er redete derweil mit sich selber, in den vier oder fünf Worten seines einsilbigen Vokabulars, das von Lautmalereien und den kleinen Schreien eines verlassenen Seidenäffchens vervollständigt wurde, während sich im Stockwerk darunter der Rüssel des Ameisenbärstaubsaugers raubtierhaft, von der Frau des Hausmeisters geführt, deren herbstliches Aussehen durch das Ungemach von Gallensteinen betont wurde, die eßbaren Teppichfransen einverleibte. Wann hat die Scheiße angefangen? fragte der Arzt den Jungen, der sich mit seinem Gestotter ganz allmählich auflöste, um einem schüchternen Heranwachsenden mit Tintenflecken an den Fingern Platz zu machen, der an einer Ecke lehnte, die günstig war, um das gleichgültige und lachende Vorbeiziehen der Mädchen aus dem Gymnasium zu beobachten, deren Söckchen ihn mit wirren, aber heftigen Begierden erschütterten, die in einsamen Zitronentees in der benachbarten Pastelaria ertränkt wurden, wo er, bespitzelt durch die strenge Zensur des Wohlverhaltenskatechismus seiner Tanten, in einem Heft Sonette à la Bocage wiederkäute. Zwischen diesen beiden beginnenden Larvenstadien standen wie eine Galerie von Gipsbüsten Sonntagmorgen in menschenleeren Museen, die von Ölgemälden häßlicher Männer und stinkenden Spucknäpfen begrenzt wurden, in denen Husten und Stimmen wie nachts in der Garage widerhallten, regnerische Sommer in Thermalbädern, die in unwirklichem Nebel versunken waren, aus dem mühsam die Umrisse verwundeter Eukalyptusbäume herauswuchsen, und vor allem Opernarien im Radio, die er in seinem Kinderbett hörte, Duette schriller Beschimpfungen zwischen einer Sopranistin mit Fischfrauenlunge und einem Tenor, der sie, unfähig, ihr standzuhalten, am Ende heimtückisch an der Schlinge eines C mit unendlicher Lungenfülle erhängte und somit der Angst vor der Dunkelheit die Dimension eines vom Bleistift der Cellos geschriebenen Rotkäppchens verlieh. Die Erwachsenen hatten damals eine nicht zu leugnende, von ihren Zigaretten und ihren Zipperlein doppelt abgesicherte Autorität, diese beunruhigenden Damen und Buben eines finsteren Kartenspiels, deren Plätze am Tisch anhand der Position der Arzneimittelschachteln erkennbar waren: Durch das subtile politische Manöver, daß sie mich badeten, während ich sie meinerseits nie nackt sah, von ihnen abgesondert, fand sich der Psychiater mit der Rolle des Beinahstatisten ab, die sie ihm zugedachten, saß am Fußboden des Zimmers mit den Bauklotzspielen, die sie ihren Vasallen als Zerstreuung zubilligten, während er sich nach der Grippe sehnte, die die kosmische Aufmerksamkeit dieser Titanen von der Zeitung zu ihm lenken und sie plötzlich in schlaflose Nächte mit Thermometern und Spritzen verwandeln würde. Der Vater, dem der Duft nach Brillantine und Pfeifentabak vorausging, eine Kombination, die für ihn viele Jahre lang das magische Symbol sicherer Männlichkeit war, trat mit gezückter Spritze ins Zimmer und drückte, nachdem er die Hinterbacken mit dem nassen Wattebauschrasierpinsel gekühlt hatte, eine Art flüssigen Schmerz in sein Fleisch, der sich zu einem stechenden Stein verdichtete: Als Entschädigung gaben sie ihm leere Penicillinfläschchen, denen die Spur eines therapeutischen Duftes entwich, so wie durch die Türritzen verschlossener Dachböden das Aroma von Schimmel und Lavendel vergangener Verstorbener drang.

Aber er, er, ER, wann hatte bei ihm die Scheiße angefangen? Er blätterte rasch die Kindheit seit dem fernen September der Geburtszange durch, die ihn aus dem uterinen Aquariumsfrieden herausgeholt hatte, wie jemand einen gesunden Zahn aus der Behaglichkeit des Gaumens reißt, er verweilte bei den langen, vom geblümten Morgenmantel der Großmutter beleuchteten Monaten in der Beira, Dämmerungen auf dem Balkon über dem Gebirge, wo er dem leisen, monotonen Fieber der Grillen lauschte, abschüssige Felder, die von Eisenbahnlinien durchzogen waren, die den herausstehenden Adern auf dem Handrücken glichen, er übersprang die langweiligen, dialoglosen Seiten einiger Sterbefälle alter, entfernter Cousinen, die, vom Rheuma zu Hufeisenverbeugungen gekrümmt, mit den weißen Haarsträhnen die Gichtbeulen der Knie berührten, und bereitete sich gerade darauf vor, mit psychoanalytischer Lupe in der Faust die angsterfüllten Wechselfälle seiner sexuellen Premiere zwischen einer Flasche Permanganat und einer zweifelhaften Bettdecke zu erforschen, die neben dem Kopfkissen noch den Yetiabdruck der Sohle seines Vorgängers aufwies, der zu sehr in Eile gewesen war, als daß er sich mit dem lächerlichen Detail der Schuhe aufhalten konnte, oder zu schamhaft, um auf diesem Altar des Trippers die Socken auszuziehen, als Charlotte Brontë ihn in die augenblickliche Wirklichkeit des Krankenhausmorgens zurückholte, indem sie ihn mit beiden Händen an den Jackenaufschlägen schüttelte und dabei mit den geschickten Nadeln eines unerwarteten Mezzosoprans den dicken freiheitlichen Wollfaden der Marseillaise mit der lokalpatriotischen Strickarbeit eines Fado Alexandrino verwob. Ihr Mund, rund wie ein Serviettenring, zeigte ganz hinten die zittrige Träne des Zäpfchens, das wie ein Pendel im Rhythmus ihrer Schreie ausschlug, ihre Augenlider gingen über den scharfsichtigen Pupillen wie Theatervorhänge zu, die aus Versehen mitten in einem kunstvoll ironischen Brecht herunterrauschen. Die Nylonfäden der Sehnen im Nacken spannten sich vor Anstrengung unter der Haut, und der Arzt dachte, es sei so, als wäre plötzlich Fellini in eines dieser schönen gelähmten Dramen von Tschechow hereingebrochen, in denen gasförmige Möwen vor zurückgehaltenem Schmerz hinter der zitternden Flamme eines Lächelns verendeten, und daß jenseits der Tür die Angestellten beginnen würden, sich dienstfertig zu beunruhigen, weil sie glaubten, er sei am schwarzen Gummi eines Strumpfbandes erhängt worden. Charlotte Brontë, die die Nase voll hatte, hockte sich auf den Thron der Krankenliege wie jemand, der aus eigenem Antrieb zum unnachgiebigen Stolz des Exils zurückkehrt.

– Sie riesengroßes Arschloch, artikulierte sie im zerstreuten Tonfall einer Fünfzigjährigen, die mit den Freundinnen redet und dabei die Strickmaschen zählt.