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Portugal nach fünfzig Jahren Diktatur: Rui S., missratener Sohn einer wohlhabenden Familie, findet keinen Platz für sich in diesem Land, weder bei den Reichen noch bei den Armen, weder bei den Intellektuellen noch bei den Kommunisten. Lobo Antunes’ bissiger und zugleich todtrauriger Roman erzählt mit verschiedenen Stimmen das Leben eines Gescheiterten, die Chronik eines Selbstmörders.
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Seitenzahl: 427
Buch
»Er hat es nie verstanden, geliebt zu werden«, sagt Ruis erste Frau, nachdem sie ihn weggeschickt hat. Rui S. hätte alle Chancen im Leben gehabt, doch er kehrt seiner wohlhabenden Industriellenfamilie den Rücken, studiert Geschichte, wendet sich dem Kommunismus zu. Auch seine zweite Ehe, mit einer Lehrerin, scheitert. Rui S., der melancholische Versager auf der Suche nach dem Sinn des Lebens, findet im Portugal der achtziger Jahre keinen Platz für sich. Abwechselnd kommentieren seine Eltern, seine Frauen, Nachbarn sowie er selbst das Geschehen, immer schneller und rauschhafter bewegt sich sein Leben auf das unvermeidliche Ende zu: Eines Nachts nimmt er sich am Strand das Leben, über ihm kreischen die Möwen.
Autor
Geboren 1942 in Lissabon, studierte Lobo Antunes Medizin und wurde Chirurg. Während des Kolonialkrieges war er 27 Monate lang als Militärarzt in Angola. Danach arbeitete er in der Psychiatrie und war lange Jahre Chefarzt in einer Psychiatrischen Klinik in Lissabon. Seine Werke sind in über dreißig Sprachen übersetzt und wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Die Vögel kommen zurück bildet mit Fado Alexandrino, Reigen der Verdammten und Die Rückkehr der Karavellen den Komplex der Portugal-Romane.
António Lobo Antunes bei btb
Elefantengedächtnis. Roman
Der Judaskuß. Roman
Reigen der Verdammten. Roman
Die Leidenschaften der Seele. Roman
Die natürliche Ordnung der Dinge. Roman
Geh nicht so schnell in diese dunkle Nacht. Roman
Was werd ich tun, wenn alles brennt? Roman
António Lobo Antunes
Die Vögelkommen zurück
Roman
Aus dem Portugiesischenvon Ray-Güde Mertin
Die Originalausgabe erschien 1983 unter dem Titel
»Explicação dos Pássaros« bei Publicações Dom Quixote, Lissabon.
Dieses Buch erschien 1989 zum erstenmal auf deutsch.
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Copyright © der Originalausgabe 1983 by António Lobo Antunes
und Publicações Dom Quixote, Lissabon
Copyright © 2006 btb, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München,
durch Vermittlung von The Colchie Agency, New York
Umschlaggestaltung: Design Team München
Umschlagfoto: Tina Deininger/Gerhard Jaugstetter
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN: 978-3-641-24993-9V001
www.btb-verlag.de
Für Marília und Dinis Machado,Freunde und Weggefährten
Donnerstag
Eines Tages werde ich hier am Strand angeschwemmt, von den Fischen zerfressen wie ein toter Wal – sagte er auf der Straße der Klinik zu mir und betrachtete dabei die verblichenen, trostlosen Gebäude von Campolide, die Serviettenmonogramme der erloschenen Leuchtreklamen, die glitzernden Reste von den Festtagen in den Schaufenstern, einen Hund, der an diesem Januarmorgen im Abfallhaufen eines abgerissenen Gebäudes herumschnüffelte: Schutt, Staub, Holzstücke, Scherben seelenloser Ziegel. Er kam zu Fuß von der Avenida der Straßenbahnen, sog mit dem neblig gierigen Appetit einer Möwe den Geruch der Obstkisten vor den Lebensmittelläden ein, wie damals als Kind auf dem Heimweg nach der Schule, er witterte den säuerlichen Duft der Drogerien oder den dunklen Schatten der Kneipen, dunkel wie geronnenes Blut, ein Blinder mit einem Glas in der Hand starrte ihm mit den aufgerissenen, unbeweglichen Augen eines Politikers auf einem Plakat hinterher, und er dachte, Sie bringen mich ins Krankenhaus, sie drücken die Klinke zum Windfang herunter (Lassen Sie nur, Lassen Sie nur, Lassen Sie nur), sie zwingen mich, in dem Raum voller Ledersessel mit großen gelben Polsternägeln zu warten (Sessel wie im Totenhaus, stelle ich fest), ein Tisch mit gedrehten Beinen, dazu Vorhänge, so gewichtig wie das Rülpsen eines Richters, und die unsichtbaren Besucher auf meiner Beerdigung flüstern bedeutungsvoll in den Ecken, während sie mit staubigen Dienstmädchen konferieren, die sich morgens wohl mit Federstaubwedeln reinigen, aus den Schubladen ihrer Bäuche alte Briefbündel hervorholen und Nähkästchen mit Intarsien. Das häßliche, magere Mädchen aus der Telefonzentrale hockte hinter der Theke der Medikamentenausgabe wie eine Eule in ihrer Höhle und malte verzückte Herzen auf einen Block: Sie war sicher schon zweimal hintereinander mit demselben kurzsichtigen Finanzbeamten im Kino gewesen, der zur Untermiete in einem billigen Zimmer im Viertel Penha de França wohnte und, vor einer leeren Kaffeetasse über ein Heft mit gezeichneten Figuren gebeugt (my garden, my uncle), in einem Fernkurs Englisch lernte. Ich gab den Namen meiner Mutter an, während das Mädchen mit hervorstehender Zungenspitze ein riesiges Herz anmalte, das so groß war wie die Schildchen auf den Scheuersandgläsern zur Zeit meiner Großmutter: Ein Bataillon grau uniformierter Dienstmädchen rieb energisch die Türklinken im unteren Stockwerk ab, Jetzt halt doch deine Hände still, Junge, sonst beschwere ich mich bei deinen Schwestern. Sie rochen nach Kernseife, nach ungebleichtem Zucker und Schwarzbrot, und abends kamen die Soldaten, ihre Vettern, die mit großen, klobigen Bauernoder Schäferfingern an der Gartenpforte verstohlen ihre Brüste berührten.
»Drittes Zimmer rechts«, teilte die Eule mit und zeichnete gerade mit sehnsuchtsvollem Postkartenlächeln einen Cupido-Pfeil: Die Ohren des Finanzbeamten wurden sicher gerade feuerrot über einer plötzlich unerklärlichen Summe, und er ging durch eine Kaffeeküche, in der zwei Krankenschwestern an einen Schrank gelehnt wie ein Taubenpärchen an einem Ufersaum gurrten; die eine aß ein Stück Kuchen, um die Krümel aufzufangen über der hohlen Hand, und die Sonne ließ die gestärkten Kittel in glattem Kreideweiß leuchten. Ein Mann in mittlerem Alter ging an ihm vorbei und besah prüfend, neugierig und nachdenklich ein Glas Urin, das er in Augenhöhe hielt wie einen toten Skorpion. Der Krankenhausgeruch nach Spiritus, Angst und Hoffnung schwappte im Korridor auf und ab wie ein schläfriges Meer, auf dem das tonlose Stöhnen der Kranken dahinglitt und in den besorgten Seufzern der Familienmitglieder ertrank. Wenn ich an der Reihe bin, will ich hier niemanden: Mit den Augenbrauen will ich sie fortpeitschen, so daß ich sie nicht mehr sehe, daß ich ihre unerträgliche, reueknirschende Freundlichkeit, ihre übertriebene Fürsorge, die von ihrer eigenen Todesangst gelblich gefärbten Pupillen nicht sehe. Allein bleiben, die Nase zur Decke, mich langsam meiner selbst entleeren, Name, Geburtsort, Alter, die grauhaarigen Kinder nennen im Flur die Einzelheiten.
»Guten Tag, Mutter«, sagte er und dachte gleich, Himmel, bist du dünn geworden, als er die Sehnen am Hals sah, die aschfahle Stirn, die hervorstehenden Venen an den Armen, die in das Kopfkissen gegrabenen grünen, runden Augen, die ihn beobachteten, der schleimige Schweiß aus der Nase. Ihr Ring spielte um ihren Finger: Wer von uns wird ihn dir bald abnehmen, ihn in deinem Zimmer auf den Porzellanteller legen, zu den Halsketten, Ohrringen und Ringen auf der Kommode? Ich habe keine schwarze Krawatte für die Beerdigung, nur die graue Strickkrawatte von irgendeinem Weihnachtsfest, als ich noch Jacketts trug und mich noch ernst nahm und miserable ellenlange Essays schrieb, die niemand las, weil sie aufgeplustert waren mit gestelzten Begriffen, verschwommenen Theorien und absurden Schlußfolgerungen. Der unsichtbare Finger des Lektors streifte seinen Arm:
»Vielleicht kann man von diesen Studien etwas verwenden.«
»Wie fühlst du dich?« fragte er mit niedergeschlagener Stimme, schaute die Mutter an und dachte, Die Tränen sind schon jenseits deiner Augen, gleiten durch deinen Kopf zur Kehle hin, brennen scharf wie Schnaps.
»Findest du nicht, daß sie schon besser aussieht?« wurde er plötzlich von links gefragt, und er sah auf dem einzigen, zwischen Bett und Fenster eingezwängten Sessel im Zimmer eine entfernte Kusine sitzen, mit einem aufgeschlagenen Buch auf den Knien. Ich möchte wetten, du bist die einzige in der Familie, die bereit ist, bei einem Sterbenden zu bleiben. Am Fenster klebten die häßlichen, verblichenen Häuser von Amoreiras: Ob die Kusine noch am Leben sein würde, wenn er selbst an der Reihe wäre?
»Nicht mehr so blaß«, bestätigte ich, »ein bißchen voller.« Und zu mir beschämt: Entschuldige, Mutter. Als ich klein war, da hast du mir Vaters altes Philips-Radio ins Zimmer gebracht, wenn ich Grippe hatte, und ich hörte die Plattenwünsche im lauen Fieberwahn. Ihr Musikwunsch per Postkarte. Ihr Musikwunsch: Rufen Sie uns an. Was möchten Sie hören? Wie dunkel dein Haar damals war, denkt er, und wie entschlossen deine Bewegungen. Du hättest nie zugelassen, ging es ihm durch den Kopf, daß uns etwas Schlimmes zustößt.
»Die Kinder?« fragte die Mutter aus der unendlichen Entfernung von zwei Metern. Am Kopfende standen rostige Sauerstoffflaschen, am Waschbecken ein Sekretionsabsaugapparat und ein Blumenstrauß in einem geschliffenen Glaskrug auf einem Deckchen.
»Sehr gut, Mutter, bestens. Keine Probleme.«
»Immer, wenn ich sie von der Schule abhole, fragen sie nach dir«, und plötzlich war er sicher, daß die Mutter die Pause wahrgenommen hatte, die Sekunde Abwarten, die Lüge. Sie stürzten ins Auto, schubsten sich wie kleine Hunde, um ihm einen Kuß zu geben. An der Schule die dicke Concierge mit dem Spitzmausgesicht lächelte, in der Boutique nebenan liebkoste eine große, rotblonde Frau mit langen, roten Fingernägeln eine schmale Parfümflasche: Du machst mich ganz scharf.
»Wo wolltet ihr Mittag essen?«
»Im Pony.«
»Nein, bei MacDonalds.«
Aber die rotblonde Frau trat an die Tür, und seine Zärtlichkeit zerschmolz unvermittelt zu einem wütenden Begehren nach diesem Porzellangesicht, dem engen Rock, der das fächerbreite, feste Fleisch ihrer Hüften gefangenhielt. Über die Jahre hinweg flüsterte sein Nebenmann aus der Schule ihm ins Ohr:
»Genau das wollen sie doch, Mensch: Du hältst dich an der Matratze fest, beißt die Zähne zusammen, und dann vor und zurück, vor und zurück, verstehst du, bis sich alles dreht.«
»Sie müssen schon ziemlich groß sein«, meinte die Kusine aus der Tiefe ihres Sessels und nahm ihr Strickzeug aus einem Plastikbeutel. Die Mutter atmete nun mühsam mit einem pfeifenden, leisen, kaum hörbaren Ton. Die bläulichen Finger strichen in langsamen Windungen über die Decke wie ein Insekt.
»Heute nachmittag fahre ich nach Tomar, Mutter, zum Kongreß, ich komme am Sonntagabend zurück. Verlieb dich in diesen drei Tagen nur nicht in den raffinierten indischen Arzt, ich will keine heiligen Kühe in der Familie.«
Wie humorlos, du Dummmkopf, nicht einmal einen guten Witz kriegst du hin, warf er sich vor, Scherze, die so schwer sind wie die bleiernen Tropfen in den Badewannen der Schlaflosigkeit, dumme Scherze aus Zeitschriften; ich muß dringend im Charlie Hebdo auftanken. Die Kusine legte sich sorgfältig die Wollfäden um den Hals:
»Sie sind doch so sympathisch, die Inder, so zuvorkommend. He, Fernanda, hast du mal seinen Bart betrachtet?«
»Riesige Metastasen in der Lunge«, teilte der Arzt mit, »ein ungeheurer Bluterguß im Rippenfell.« (Als spräche er über die Angina eines Eskimos, den niemand von ihnen kannte.) »Seien Sie besser auf alles gefaßt.«
Er zeigte Röntgenaufnahmen, brachte Laborergebnisse vor, gab umständliche Erklärungen ab. Der makellose Knoten in seiner Krawatte reizte mich bis aufs Messer: ihm einfach den Kragen aufreißen, die übertriebene Korrektheit seines Hemdes zerknautschen. Meine Mutter liegt im Sterben, und dieser Schuft schert sich nicht darum.
Die grünen Augen blickten ihn erbarmungslos vom Kopfkissen aus an.
»Ist dein Handbuch schon erschienen?« hauchte sie mit Mühe.
Ein Verbandswagen rollte quietschend über den Korridor, wie Milchkannen klapperten die verchromten Gefäße, gefüllt mit dem weichen Schweigen der Kompressen. Im Nebenzimmer ertönte rhythmisches Jammern, Seufzer wurden lauter, ebbten ab, die Auflehnung einer Frau: Haltet mir den Mund zu, damit ich nicht schreie. Widerwillig sagte er:
»Noch nicht, Mutter, lauter Ärger mit der Druckerei, die Fahnen sind nicht in Ordnung«, diese Zyniker von Kritikern, dachte er bei sich, fallen mit ihrer lächerlichen Ohnmachtswut über mich her, diese winzigen, nicht namentlich gezeichneten Rezensionen, spröde und ohne Foto in den Abendzeitungen. Wenn ich langsam verfaule, werden sie mich für erstrangig halten, mich interviewen, gelehrte Abhandlungen schreiben, mich für ihren Anthologienfriedhof vorsehen. Er ging einen Schritt nach vorn, streichelte die Hand der Mutter: Porös, blutleer, leicht und hart wie die hohlen Wurzeln eines Weinstocks lag sie da.
»Die Leute mögen Geschichte nicht mehr und auch keine Dichtung«, seufzt die Kusine hinter ihren Stricknadeln, sie strickt einen schrecklich bunten Pullover mit Rautenmuster, den keiner tragen wird. (Vielen Dank, aber ich brauche grade keinen, Francisco fände ihn sicher wunderbar.) »Sie mögen keine Romane ohne Skandale, ohne Schimpfwörter, ohne Sex: je schweinischer, desto besser.«
Dieser Krankenhausgeruch ist wie ein Gewicht auf meiner Stirn, dachte er, ein Unbehagen, ein seltsamer Schmerz: Als ich am Rücken operiert wurde, sah ich meinen Eiter in einem Eimer, ich lag auf dem Bauch auf der Bahre, und am liebsten hätte ich in Schüben den Hohlraum meiner Eingeweide erbrochen. Der Chirurg unterhielt sich mit dem Assistenten, während er sich an der Kapokfüllung des Körpers zu schaffen machte, und er bemerkte, daß der Chirurg Stoffstiefel trug, wie sie die unechten Esel im Zirkus anhatten, diese Esel, unter denen sich zwei Männer verbergen. Ein Mädchen in Rüschenröckchen und Schirm lief hoch oben über ein Drahtseil und wurde von einem violetten und einem gelben Scheinwerfer angestrahlt. Auf der verlassenen Tribüne versuchte sich ein Weißclown mit roten Lippen am Saxophon.
»Vater?« fragte er, und lange schwebte das Wort vor seinen Lippen wie eine Tonleiter.
Im Frack, mit nachgezogenen Augenbrauen, schritt sein Erzeuger wie ein Zeremonienmeister tänzelnd zum Mikrofon. Ein blauer Lichtkegel folgte ihm von oben:
»Wozu Wörter?« verkündete er, während er unter dem näselnden Pfeifen der Lautsprecher die spärlichen Haare auf seiner Glatze glattstrich. »Er ist ein portugiesischer Künstler.«
»Viel Arbeit im Büro«, erklärte die Mutter. »Er muß bald vorbeikommen.«
»Seine Sekretärin hat schon dreimal angerufen«, fügte die Kusine hinzu, »er hat diese Blumen da im Zellophan mit der rosa Schleife unten dran geschickt.«
Der Krug aus geschliffenem Glas wurde plötzlich größer: der Vater streckte die Hand nach einem verblichenen Vorhang aus, und er und die Schwestern kamen, als Tartaren verkleidet, mit Purzelbäumen und Sprüngen herausgewirbelt.
»Ruhe«, befahl der Vater, »ich lese Zeitung.«
Die strenge Glatze, das verschlossene Gesicht, der Duft von Kölnischwasser und amerikanischem Tabak in der Kleidung: und dann hin und wieder die Geschäftsreisen, Jahre habe ich gebraucht, um zu begreifen, warum, die Mutter in ihrem Zimmer eingesperrt, auf dem Bett ausgestreckt (Nur eine Migräne, ich komme gleich zum Abendessen), die Besuche beim Psychiater, Yoga, Makrobiotik, Kartenspiele, Gymnastik. Und meine stummen Augen fragen in deinem Rücken: Warum kommst du nicht früher nach Hause?
»Vielleicht ist er gleich da«, seufzte die Mutter, »vielleicht ist er gleich überall da.«
Die Krankheit hatte ihre kantige Stimme abgerundet, sie weicher und sanfter gemacht wie Muschelrauschen: Mozart, la mer ou l’écho de vos rêves: die Reklame irgendeiner französischen Plattenspielerfirma in einer Zeitschrift beim Zahnarzt. Er trat ans Fenster, blickte nach draußen: Eine Frau mit Schürze rupfte auf der Straße ein Huhn (der Kopf des Tieres hing herab und wackelte im Rhythmus ihres Rupfens hin und her), zwei Hunde sahen ihr auf den Hinterbeinen sitzend von weitem mit unterwürfiger Gier zu. Die Häuser von Amoreiras wankten ziellos und häßlich im Nebel auf und ab. Scheißstadt, warum haue ich nicht ab, solange noch Zeit ist?
»Hier kommt unser Essen«, rief ein fröhliches, junges Geschöpf mit einem Blechtablett in der Hand: Hühnersuppe, gekochter Fisch mit Weißrüben, eine Birne, eine umgestülpte Untertasse, die das Glas Wasser zudeckte. Die Schwestern verschwanden mit einem letzten Purzelbaum, der Vater testete das Mikrofon mit dem Fingernagel:
»Krankenessen«, rief er einem Publikum entfernter Kusinen zu, die um ihn herum auf den Holzbänken saßen und strickten.
»Vorsicht, Fernanda, nichts riskieren. Wir bitten das verehrte Publikum um absolutes Schweigen während dieser gefährlichen Mahlzeit.«
Das freundliche Geschöpf drehte nun mit der Kurbel das Kopfende des Bettes hoch wie die Männer in der blauen Uniform, wenn sie das Trampolin für die Sprungübungen aufbauen. Die steif gestärkte Schleife ihrer Schürze zitterte auf ihrem Hinterteil wie der Flügel eines gefangenen Schmetterlings.
»Na, und nun wollen wir mal schön essen, nicht?« sagte sie im aufreizend lustigen Ton einer Kindergartentante. »Süppchen, ein bißchen Fisch, die schöne Birne, ganz köstlich, und vorher unsere Kapsel, und die Tablette nehmen wir hinterher, und schon sind wir fertig.«
»Olé«, rief der Vater triumphierend mit einer schwungvollen Handbewegung zum Tusch der Kapelle.
»Deine Schwestern haben auch angerufen«, sagte die Mutter, während sie vorsichtig die wie Anführungszeichen geformten schneeweißen Gräten des Fisches herauspulte. »Mit all den Leuten, die versprochen haben zu kommen, wird es in diesem Zimmer heute abend wie im Freizeitverein am Fastnachtsdienstag zugehen. Ich werde mich wunderbar unterhalten.«
Vor dem Waschbecken spielte ein Orchester aus gealterten Verwandten in Jacketts mit silbernen Pailletten mit dem ungerührten oder leicht gelangweilten Gesichtsausdruck von Musikern in einer Bar einen langsamen Bolero. Das gedämpfte Licht der Nachttischlampe mit dem fleckigen Rüschenschirm, die Krankenschwestern, die Ärzte, die gewichtigen Onkel unterhielten sich leise, kauten auf Zahnstocher aufgespießte Kroketten, kamen mit ihren bleichen mondfahlen Gesichtern näher und wichen zurück. Der indische Arzt tanzte mit der strickenden Kusine sittsam wie in einem Thermalbad, wenn für den trostlosen Abend mit traurigen Celli im Speisesaal die Tische beiseite geräumt werden.
»Ruhe«, wiederholte der Vater, »ich lese Zeitung.«
Die Mutter lächelte unverhofft; ihre Kindheit rann langsam an ihrem Mund vorbei wie Wasser über schräge Bretter:
»Sei unbesorgt«, sagte sie, »ich werde hier sehr gut behandelt.«
Er verließ das Haus mit einem Koffer, auf dem lauter Etiketten ausländischer Hotels klebten, und du warst dann allein, Mutter, winzig in einem Winkel des riesigen Bettes, hast dicke, unverständliche englische Bücher, Romane, Geschichten über den Krieg gelesen, auf dem Umschlag küßten sich ein Mann und eine Frau ohne jede Scham. Er kehrte dann drei, vier Tage später zurück, sonnengebräunt, noch ein seltsames Leuchten im abwesenden Blick.
Ich ging zu ihm, wenn er sich morgens in der Pyjamahose mit nacktem Oberkörper rasierte, das Blinken des Messers faszinierte mich. Er benutzte Haarfestiger Formschön, Der Bevorzugte Festiger Für Den Erfolgreichen Mann, und gurgelte ungestüm mit erhobener Nase gegen Karies, Piorrhoe und Mundgeruch: Wenn ich groß bin, müssen alle Leute still sein, damit ich Zeitung lesen kann.
Vor der Klinik schnupperten im Nebel die Hunde von Amoreiras an den Hühnerfedern, einem Rest Blut und dem ekelhaften Glibber der Eingeweide. Mutter legte einen Straßenbahnfahrschein als Lesezeichen in das Buch, löschte das Licht, und ich war sicher, daß ihre Augen im Dunkeln offenblieben, glänzend und starr wie die Augen eines Toten auf einem Porträt. Ein Telefon auf einem niedrigen Tischchen begann wie ein Kind neben ihm zu weinen.
»Ja«, antwortete die Kusine, die sich rasch des Hörers bemächtigt hatte wie ein Elefant seines Mohrrübensaftes. »Ja, ja. Nein, sie hat eine gute Nacht gehabt, der Arzt kommt heute nachmittag zur Visite. Wenn etwas ist, sage ich dir Bescheid.«
Der Vater, das vage Schuldbewußtsein des Vaters, die zerstreute Besorgtheit des Vaters, die Geliebte, er kannte nur ihre Stimme, sie war heiser und eindringlich, als würde ihre Kehle ständig von einer Spirituslampe gewärmt. Einmal im Monat trafen sie sich zum Mittagessen neben seinem Büro, sprachen nicht, aßen schweigsam, eine wachsende Unbehaglichkeit war zu spüren. Die über den Teller gebeugte Glatze glänzte wie eine Kaffeekanne. Seine Wangen wölbten sich und fielen ein, wenn er kaute, und entfernte Kindheitstage im Landhaus kamen mir in Erinnerung (die beweglichen Schatten der Bäume auf dem Boden, der trockene Geruch nach Blättern und Erde), und ein junger, magerer, fröhlicher Mann, dessen Lachen sich über den friedlichen Nachmittag ausbreitet, der mich huckepack trägt und nach Hause galoppiert. Er denkt, Laß uns den Film zurückdrehen, noch einmal beginnen. Die Kusine hält den Hörer zu:
»Willst du deinem Mann noch etwas sagen?«
Das Fischbesteck erzittert, ohne zu antworten, ich nehme den Hörer in die Hand.
»Vater.« Die Silben dringen vom anderen Ende klar und deutlich an sein Ohr wie in eine Bronzeplakette gravierte Landschaften:
»Wie geht es ihr?«
Der junge, schlanke, fröhliche Mann hat einem älteren, zunehmend dickeren Herrn Platz gemacht, der ständig das schüttere Haar gegen die Schläfen drückt.
»Schon besser, Vater. Mach dir keine Sorgen.« Von deinen Schultern aus konnte ich fast die Kastanienzweige mit dem Kopf berühren, wir waren wie wundertätige Heilige von einem Lichtkreis umgeben, während die Ewigkeit der Fotografie mein Lächeln festhielt, das mir Jahre später im Spiegel meines Zimmers mit einer säuerlichen Grimasse wiederbegegnet: Herrjeh, wie bin ich groß geworden, und jetzt geht auch mir schon das Haar aus. Ich versuche in meiner Erinnerung das Alter meines Vaters damals auszurechnen (ob du jünger warst als ich heute?), und die Stimme bringt durch die Bakelit-Löcher sein Rechnen durcheinander:
»Ich habe gehört, daß du für ein paar Tage wegfährst.« Man konnte das Klappern der Schreibmaschinen im Büro hören, Menschen sehen, die über ihre Tische gebeugt waren, der Deo-Duft der Sekretärin verwandelte den freien Raum, Zimmer, Wände, Flure in eine riesige rasierte, lauwarme Achsel: Hast du sie schon vernascht, Alter?
»Wie bitte?« fragt der Vater.
»Nichts, ich sagte, ich fahre jetzt gleich los, nach Tomar. Ein Kongreß über das 19. Jahrhundert, du weißt schon.«
Meine Schwester hat mir erzählt, daß du noch ein Haus hast, mit anderen Kindern, noch einen Fernseher, mit anderen Ölgemälden, einem anderen Spieltisch, einem anderen Töpfchen mit Haarfestiger Formschön, Das Bevorzugte Produkt Für Den Erfolgreichen Mann, eine andere Zeitung. Schreiben ist etwas Blödsinniges, weißt du, wenn man nicht den Nobelpreis gewinnt: Lern lieber etwas Anständiges.
Es entstand eine Pause, und der Herr mit der Glatze antwortete zögernd:
»Also wirklich, man kann kaum etwas verstehen durch diese Apparate.«
»Schon gut, ich fahre jetzt gleich nach Tomar.«
»Hm«, brummte der Vater mißtrauisch.
Er konnte sich die dunklen Augen des Vaters hinter der Brille vorstellen, wie sie überlegten, ohne ihm zu glauben:
Ich mußte dich anlügen, immer mußte ich dich anlügen, du konntest es nicht ertragen, daß ich anders war als du, daß ich Verse kritzelte, daß ich lieber für ein elendes Gehalt Lehrer in einem miserablen Vorortgymnasium sein wollte, als in der Firma zu arbeiten, schön brav mit Schlips wie die anderen aus der Sippe. Manchmal tröstete ich mich damit, daß ich mir vorstellte, dieser junge, fröhliche Mann, der mit mir auf dem Gutshof spazierengegangen war, hätte mich verstanden: Wir gingen beide bis zu der mit Glasscherben bedeckten Mauer und sahen fasziniert dem Seidenaffen des Nachbarn zu, der an die Hundehütte angekettet war, sahen den Feigenbaum über dem Brunnen, die violette Ruhe des ausgehenden Nachmittags weit jenseits der Statuen im Garten und der über den Rasen verstreuten, ausgeblichenen Liegestühle der Familie. Die wilden Pfauen riefen ängstlich in der Ferne:
»Die haben Angst vor der Nacht«, erklärte der Vater, »die haben Angst, sie könnten träumen.«
Es ist gut möglich, denkt er, daß der Mann, der mich auf seinen Schultern trug, das wußte, ja sicher wußte er das: Wer die Pfauen kennt, erkennt einen schlechten Dichter von weitem. Herrjeh, was ich gern sagen würde, kann ich nicht sagen, denkt er. Mangel an Mut ist wirklich Scheiße, denkt er.
»Wann bist du zurück?« fragt der Vater, als stocherte er mit einem grausamen Stöckchen in einer entzündeten Wunde.
Und verärgert über sich selbst fügt er kategorisch hinzu (Siehst du, ich habe Angst vor dir, ich tauge nicht zur Leitung einer Firma): »Am Sonntag, ganz bestimmt.«
Sonntag, das war die öde Untätigkeit, das Zimmer mit dem herumliegenden Spielzeug, der zerschlagene Körper, der sich an den Wänden entlangschleppt. Die Mutter spielte im Wohnzimmer mit den Freundinnen Karten, Armbänder und Ohrringe glitzerten, die angemalten Münder unterhielten sich wie Wellensittiche über Kinder, Dienstpersonal, die Arbeit der Männer. Mutter. Und jetzt lag sie im Sterben, im Herbst von Campolide, in einem Klinikzimmer, vor dem Tablett mit den Gräten des Mittagessens, das die Kusine neben den Krug mit den Blumen stellte, bevor sie sich wieder gedankenverloren in ihr Strickzeug vertiefte.
»Man kann nie wissen, hinterlaß deine Telefonnummer«, befiehlt der Vater. »Du weißt doch, wie das geht: Es kann sein, daß ich dich unverhofft sprechen muß.«
Die Karten spielenden Freundinnen brechen in Gelächter aus, lehnen sich in den roten, samtbezogenen Sesseln zurück: eine Gruppe weißer Gesichter, denkt er, um die Leiche des Dummen August, dessen riesige Schuhe rührend und lächerlich zugleich auf die löcherige Zeltplane des Zirkus zeigen. Ein Esel aus zwei Onkeln trottet wiehernd durch das Rund der Arena und schüttelt die rosafarbene Mähne aus Putzwolle nach links und nach rechts. Der Verwalter stemmt in einer Plastiktigerhaut, mit angeklebtem Schnurrbart und mit einer Kugelschreibertätowierung auf dem Arm, unter stürmischem Applaus das Bett, in dem die Mutter mager und leicht wie ein Spatz im Herbst im Sterben liegt.
»Natürlich, Vater, in der Aufnahme«, verspricht er. Der Vater legt auf, ohne zu antworten, und ich stehe da mit dem stummen, reglosen Hörer am Ohr wie eine Muschel ohne Meer. Die gereizte Stimme der Telefonistin fragt:
»Haben Sie um eine Verbindung gebeten?«, und er betrachtet entsetzt den Apparat, wundert sich über die sprechende Grille, die ihn von da drinnen herrisch fragt: Der Finanzbeamte hätte ganz schön zu leiden, wenn sie ihn sich angeln würde.
»Danke, nein, ich bin gerade fertig«, stottere ich hastig und lege den Hörer auf (pling, singt eine lahme Klingel), und wieder steht er sich im Spiegel gegenüber mit diesem alternden Gesicht, der Brille, dem schütteren, trotz des vielen Waschens immer fettigen Haar, den noch jungen Falten seiner dreißig Jahre, die sich ihren Weg durch die Wangen und über die Stirn graben: Bald bin ich erledigt. Er muß an die älteren Männer in Badehose am Strand denken, mit schlaffen Brüsten und wabbligem Bauch über den dünnen, haarlosen Beinchen, wie sie mit aufgeplusterter Fröhlichkeit ins Wasser traben, sie, die mit jungen Mädchen teure Restaurants betreten und ihnen über dem Steak lächelnd Intimitäten zuflüstern, er denkt an den vergangenen Monat, an die junge blonde Frau, die mit Besitzerstolz den Wagen des Vaters fuhr, wie das Blut ihm in die Schläfen gestiegen war und wütend pochte: Er hat ihr eine Wohnung eingerichtet, und ich hause in zwei Zimmern in Campo de Ourique, vier Parteien pro Stock, immer die umgekippten Mülltonnen am Eingang, streunende Hunde, Zigeuner, Matsch, vor den Fenstern schlaffe, häßliche Wäsche, die den Morgen trostlos macht, überall Bücher und Zeitungen, volle Aschenbecher, Geruch von gebratenem Essen aus der Küche, scheiß drauf. Er setzt sich zu der Mutter auf das Bett, streichelt durch das Bettuch ihren Fuß, die schmalen Knochen, die Zehen, die hervorstehenden Knöchel. Ach, Mutter. Die hellen Augen der Kranken beobachten ihn wie von einem inneren Schleier verhangen von sehr weit her und zugleich von ganz nah wie ein im Zoologischen Garten gefangenes Tier. In ihrem Mundwinkel quillt kleiner, rosafarbener Schaum auf und ab. Wie weit doch die Canasta-Partien zurückliegen, denkt er, wie ungeahnt eindringlich dein Gesicht geworden ist und wie dein zerbrechlicher Hals zittert.
»Also ich gehe jetzt, Mutter.«
Nie haben wir Zeit füreinander gehabt, nicht wahr, und jetzt ist es zu spät, blödsinnig spät, da schauen wir uns an, abwesend, fremd, mit überflüssigen Händen, ohne Taschen, in denen wir sie versenken könnten, im leeren Kopf suchen wir nach zärtlichen Worten, die wir nicht gelernt haben, nach liebevollen Gesten, deren wir uns schämen, nach der Vertrautheit, die uns angst macht. Ein Lastwagen füllt an diesem hinfälligen Morgen das Fenster des Zimmers vollständig aus, und das stumpfe, ausdruckslose Gesicht des Fahrers bleibt fast am gelblichen Weiß der Gardinen haften, an der gläsernen Haut der Spiegel, an den unpersönlichen, hellen Möbeln, an dem kraftlos und verdreht über dem Bett herunterhängenden Klingelknopf. Die blonde Frau, die das Auto des Vaters fuhr, überquert die Zimmerdecke, mit einem Stab in der Hand balanciert sie auf einem gespannten Draht:
Vorsicht Dolores, nicht übermütig sein. Kleine Kreide-wölkchen fallen mit jeder Pirouette von den goldenen Ballerinaschuhen.
»Bis Sonntag, Mutter«, sagte er und dachte, Nie ist es Jetzt zwischen uns, immer ist es bis Sonntag, bis Freitag, bis Dienstag, bis zum nächsten Monat, bis nächstes Jahr, aber wir vermeiden es sorgsam, einander gegenüberzutreten, wir haben Angst voreinander, Angst vor dem, was wir füreinander empfinden, Angst zu sagen, Ich habe dich lieb. Der Lastwagen war verschwunden, und statt dessen tauchte wieder der abblätternde Putz der melancholischen Fassaden von Amoreiras auf, die langweiligen Balkons, die aufgedunsene, ockerfarbene Blässe des Himmels, der blinkende Zunftteller eines Barbiers: Salon Gomes. Die Kusine folgte ihm auf den Korridor, vertraulich:
»Der Arzt gibt ihr noch höchstens eine Woche, mein Lieber.«
»Der Infarkt hat fast das ganze Herz erfaßt«, erklärte der Inder in der Mitte der Arena der aus den Sitzreihen enthusiastisch applaudierenden Familie.
Aus der Tasche zog er ein rotes, rundes, blutendes Etwas hervor und zeigte es langsam herum:
»Ich bitte um Ihre werte Aufmerksamkeit.«
Der Stoffesel mit den Onkeln kam herangetrottet und schnupperte an dem Herzen, und der Doktor gab dem Vieh mit seinen riesigen Tolpatschschuhen einen Tritt. Unter der zu weiten, zu kurzen Hose konnte man die rot gestreiften Strümpfe und die künstlichen Borsten auf den Beinen erkennen. Der Krankenträger, der die Mutter in die Klinik gebracht hatte, drängte sich, verkleidet als Luftballonverkäufer, mit seinen bunten Luftkugeln durch die Zuschauerreihen. Eine Krankenschwester kam mit gezückter Injektionsspritze gelaufen und verschwand wieder hinten in einem Zimmer, und die Kusine und er mußten sich gegen die Wand im düsteren Korridor pressen, an dessen Decke blasse Sonnenflecken auf und ab tanzten.
»Höchstens eine Woche«, wiederholte die Kusine. »Hast du gesehen, wie sie von Stunde zu Stunde schmaler wird?«
»Dieses Herz taugt nichts«, brüllte der Inder wie ein Marktschreier in das Gelächter des Publikums hinein, das über den Esel lachte, der auf dem Bauch ausgestreckt auf dem Boden mit den Beinen strampelte, »dieses Herz taugt nichts, aber was soll’s, meine Damen und Herren? Wozu auch? Jetzt achten Sie freundlicherweise auf das meinige.«
Aus seinem Hemd zog er einen zerknitterten, roten Filzball hervor, der, durch irgendeinen Mechanismus in Bewegung gesetzt, rhythmisch auf- und abschwoll, und hob ihn in die Höhe, damit das verehrte Publikum ihn sehen konnte, wenn ihn jemand berühren möchte, möge er in die Arena kommen, und in diesem Augenblick stolperte ein in Sackleinen gehülltes Geschöpf hinter einem Vorhang hervor, nahm ihm mit einem Klaps den Ball weg und trottete auf spindeldürren Beinen durch eine winzige Tür davon.
Der Tod, dachte er. Ich hatte immer gedacht, er sei ein Engel. Oder eine blondhaarige Frau. Oder ein sehr alter Mann mit einer Sense in der Hand.
»Ich hinterlasse an der Aufnahme meine Telefonnummer, falls etwas ist«, sagte er zu der Kusine, die ihn mit trüben, schroffen, grauen Augen anblickte: Ich muß vor dem Mittagessen in Tomar sein. Er horchte noch einmal an der Tür, hörte aber nichts: Die Mutter mußte zwischen ihren sinnlosen Krankenbettzeitschriften in einen leichten, schreckhaften Schlaf gefallen sein, wie ein Eichhörnchen. Höchstens eine Woche. Im Korridor sahen die Wände ihn voller Haß an: Du gehst fort. Doktor Oliveira Nunes, Doktor Oliveira Nunes, rief eine Stimme hinter ihm. In der Kaffeeküche saß die Krankenschwester mit dem Kuchenteller auf einem Drehstuhl, lackierte sich die Fingernägel und pustete mit spitzen Lippen auf die schon angemalten Finger.
Eine Angestellte in brauner Uniform schob nach vorn gebeugt eine Bohnermaschine vor sich her wie einen Rasenmäher ohne Motor; wie blödsinnig, diese morgendliche Agonie beim Milchkaffee und dem verschlafenen häuslichen Aufräumen, wenn das Universum das harmlose Format einer leeren Kaffeetasse annimmt, wie greulich, vor dem Mittagsläuten mit dem Atmen aufzuhören, wenn auf den Balkons Teppiche ausgeschüttelt werden und Straßenverkäufer den Fisch und das Obst abwiegen, dabei mit großartigen Gesten ihre Ehrlichkeit demonstrieren im feuchten Herbst von Campolide. Er hinterließ bei der mageren Angestellten an der Telefonzentrale einen Zettel mit einer Notiz (Wenn nötig, bin ich hier zu erreichen), stieß die Tür auf, die in den Angeln knarrte wie ein steifes Knie, und trat unter dem zinkgrauen Himmel auf die graue Straße. In dem geöffneten Barbierladen blitzten, vervielfältigt in den Spiegeln, Metalle auf, Scheren schwebten über Köpfen, öffneten und schlossen ihre großen, spitzen Schnäbel. Mit den Augen suchte er das Fenster, hinter dem die Mutter lag, und fand eine Reihe sich gleichender Fensterbrüstungen mit abblätternder Farbe, schiefen Rouleaus, taubenlosen Dächern und einem schwarzen, hustenden Schornstein: Sie wollte wenigstens zu Hause sterben, in dem großen Ehebett, in das ich mich immer so gerne gelegt habe, als ich klein war, wenn ich Grippe hatte und meinen winzigen Körper der Kuhle von Vaters Körper angleichen wollte, während du vor der Kommode standest und Zahlen in einem quadratischen Buch mit schwarzen Deckeln zusammenzähltest. Die auseinanderfallende Glut im Kamin flackerte hin und wieder orange zitternd auf. Im Wohnzimmer die Bilder in den geschnitzten Rahmen stellten Landschaften, Flußläufe und Bäume mit Kirchen im Hintergrund dar. Jetzt geht es mit dir zu Ende, weit weg von dem grünen Tuch des Canasta-Tisches, von den Porzellanhunden, den rund gerahmten Fotos der Kinder, die an einer Art silbernem Bäumchen aufgehängt waren, weit weg von den Dienstmädchen, den Dakkeln, dem Ölgemälde mit Johannes dem Täufer im Eßzimmer. Die Krankenschwester mit dem Kuchen blies, an den Schreibtisch in Vaters Büro gelehnt, auf ihre lackierten Fingernägel, der unangenehme Geruch nach Medikamenten verseuchte das Essen. Er stieg langsam die steile Straße zur Avenida mit den Straßenbahnen hinauf: Ich habe das Auto im Parkverbot halb auf dem Bürgersteig stehenlassen, mein Gott, hoffentlich habe ich keinen Strafzettel. Die Trostlosigkeit des Morgens tropfte von den Gesichtern der Menschen auf ihre Kleider, der Verkehr zog geräuschlos neben ihm vorbei wie ein großes, vielgliedriges, sanftes Tier; von hier zur Wohnung in Campo de Ourique, Marília abholen, und dann die endlose Straße nach Tomar, immer mit all den Traktoren, Lastwagen, Motorrädern und Hunden: zwei oder drei Autostunden neben ihr, was soll ich die ganze Zeit über nur reden? Ich nehme dich mit nach Tomar, um dir zu sagen, daß ich dich nicht mehr liebe. Dann denken sie gleich, es ist wegen einer anderen Frau: Es gibt keine andere Frau, ich will für ein paar Monate alleine sein, nachdenken, dann wird man sehen, versuch das zu verstehen. Und ihr schweigendes, gespanntes, hartes Profil, voller stiller Vorwürfe über vier Jahre unerfüllter Erwartungen; es ist immer so einfach, anzufangen, und so schwer, Schluß zu machen; und dann die endlosen Telefongespräche, die Vorwürfe, Bitten, Schreie, dieses ewige, indirekte Erpressen: Fühl dich nicht schuldig, wenn mir etwas zustößt. Er kam oben auf der Straße an neben einer Zeitungsbude, sie war bemannt mit einem schmutzigen Kerl auf Krücken, er trug das Abzeichen von Benfica, die Finger an der linken Hand fehlten ihm, so hopste er auf seinem einzigen Bein umher wie ein hinkender Grashüpfer. Vor ihm blätterte ein gepflegter Herr in einer Zeitschrift mit Aktfotos, hielt vor der Mittelseite inne, und er mußte an die Schwestern denken, alle gut verheiratet und vernünftig, wie sie strickten, schon das Vorbild der Mutter nachahmten (ebensolche Freundinnen hatten, ebensolche Interessen, Kartenspielen, Algarve in den Ferien, die Kinder); er linste dem gepflegten Herrn über die Schulter, Donnerwetter, riesige Brustwarzen, und er dachte, wie sie wohl mit ihren Männern im Bett sind, wenn sie ergeben abwarten, daß die Gatten die Uhr abstreifen, die Taschen leeren, sich langsam ausziehen, die Hose in die Bügelfalten legen, sich schließlich mit dem Bauch nach oben hinlegen, über das finanzielle Auf und Ab der Firma grübeln: Wenig-stens weiß ich immer, wann du mit mir schlafen willst, Marília, ich spüre am Hals dein ängstliches Atmen, treffe auf das sehnsüchtige Drängen deines Körpers in meinem Blut, ich sehe die zerfließende Agonie deiner Augen, lösch das Licht, verschwommene Formen in der blauen Dunkelheit, ein Arm winkt, ein Ellbogen, das Zittern deiner Füße, ich bin in dir wie ein Parker-Kugelschreiber im Etui, jetzt jetzt jetzt jetzt jetzt jetzt jetzt noch schneller komm wie gut. Und das ist alles? denkt er. Nach dem Unterricht, denkt er, verspüre ich nie Lust, nach Hause zu gehen, die Treppe hinaufzusteigen, den Schlüssel in die Tür zu stecken, dann tauchst du im Türrahmen zur Küche auf, rührst irgend etwas in einem Topf um, Hallo, Liebes, da sind die Möbel wie immer, die Gegenstände wie immer, der Fernseher ist eingeschaltet, ohne Ton, irgendein Kerl mit Glupschaugen schwingt da drin lautlos seine Reden, Ich gehe fort, adieu, oder ich bleibe, welche Alternative gibt es denn, gehen wohin, ich werde allein glücklicher sein, werde irgendwann einmal glücklich sein mit dieser ständigen Unruhe im Bauch, dieser Art Seelenkolik, diesem Unfrieden in den Eingeweiden, ich drehe an der Lautstärke, Portugals Beitritt zum Europäischen Markt, ich drehe wieder zurück, die Buchrücken irritieren mich, die Kommode irritiert mich, die Stoffpuppen irritieren mich, das zu weiche Sofa irritiert mich, ich trete ans Fenster, die Ruhe auf der Straße beobachten, die reglosen Autos unter den Straßenlaternen, die mondgleiche Haut der Gebäude, wie machen die anderen das, daß sie das aushalten, die Paare, die ich kenne, leben sicher höchst zufrieden mit sich selbst, können sich morgens relativ hoffnungsfroh die Zähne putzen, was soll man da noch tun, wenn es nichts mehr kennenzulernen gibt, zu entdecken, zu erfinden, es waren vier sehr angenehme Jahre, entschuldige, aber ich glaube, es ist besser, wenn wir uns trennen, und dein Gesicht, du hast den Topf in der Hand, vor Entsetzen erst mit offenem Mund, zweifelnd zieht es sich zusammen, dann ungläubig, Du hast wohl getrunken, sagt sie, Nein, ich habe nicht getrunken, sage ich.
Jedenfalls heb dir dein Gespräch für später auf, ich habe jetzt keinen Nerv dafür, Ich meine es ernst, sage ich, und meine Stimme bebt, Geh zum Kuckuck, sagt sie aus der Küche, während sie die Gasflamme einstellt, die Kacheln verstärken ihren Schrei, zersplittern ihn in tausend scharfe Stückchen, setzen ihn zu einem kleinen Mosaik aus Wut zusammen, ich lasse mich auf das Sofa fallen und denke, Wie scheußlich dieses Wohnzimmer, diese trostlose Picasso-Reproduktion aus der rosa Epoche an der Wand, wie häßlich ist dein Schreibtisch mit den Schubladen, der gepflegte Herr macht die Zeitschrift zu, legt sie wieder auf den Zeitungsstand, hinter dem ein kleines Mädchen von acht oder neun Jahren an einem Brot mit gekochtem Schinken kaut und mich mit großen, starren, dunklen Augen mißt. Es wird regnen, denkt er, diese Feuchtigkeit in der Luft kündigt Regen an, die Gebäude in Amoreiras werden noch mehr ihre Farbe verlieren, noch blasser, noch häßlicher, älter und trostloser sein, er findet sein Auto, ohne Strafzettel an der Windschutzscheibe, zwischen einem Motorrad und einem amerikanischen Wagen aus den fünfziger Jahren mit grünen Scheiben und einem Männchen mit Hut darin, der trägt bestimmt ein Armband, eine Kette, fünf Ringe und auf dem Armaturenbrett das Foto von Frau und Kindern, Denk an uns, er wartet sicher auf seine Freundin, die sich beim Friseur im zweiten Stock links die Haare bleichen läßt, das Männchen mit Hut fingerte am Autoradio herum, ein Schwall Musik, Pfeifen und verzerrte Stimmen drangen gedämpft heraus, du öffnetest die Tür auf deiner Seite, setztest dich vor das Lenkrad, Wie unbequem dieser Sitz ist, und jetzt nach Campo de Ourique und Marília holen, die Koffer, und du ohne jede Lust, in Begleitung zu fahren, das Hotel in Tomar, die bekannten und unbekannten Gesichter, das Durcheinander bei der Ankunft, die entsetzlich lange Nacht an deiner Seite, am schlafenden Felsen deiner Nieren. Er fuhr den Arco do Carvalhão hinunter, ständig den Fuß auf der Bremse (Irgend etwas an diesem Monstrum funktioniert nicht, irgendwann renn ich mir die Hörner an einer Mauer ein, und dann ist Schluß mit der Sauferei, all dem Zaudern, dem Unterrichten, den Essays, den ekligen Rülpsern dieser blöden Kritiker), und bog bei einer Leuchtreklame ab, hinter dem Block der Polizei, wo ein harmloser Zinnsoldat mit Maschinengewehr den Eingang bewachte, Richtung Rua Azedo Gneco durch die langweilige Geometrie des Viertels, seine Kurzwarengeschäfte und schäbigen Imbißläden, die nach Schulheften und verdorbenem Gebirgskäse rochen. Vor seinem Block spielte eine Gruppe Jungen auf dem Asphalt Ball. Eine alte Frau mit dickem Hund und einem Meßbuch betrat die Konditorei zu einem eucharistischen Toast. Jenseits des Flusses hellte der Himmel sich zwischen rußigen Wolkenfetzen auf: Der Dreck aus den Schornsteinen von Barreiro, dachte er, es lebe das industrielle Portugal. Vom Haus eines Freundes aus konnte man den Kai und die Fabriken am gegenüberliegenden Ufer sehen, und ich lehnte mich abends aus dem Fenster, wenn die Kollegen über Literatur, Politik und Musik redeten, vollgepumpt mit billigem Kognak und widerlichen französischen Zigaretten ohne Filter, und betrachtete den rußigen Schieferhimmel, es war im ersten Jahr unseres Zusammenlebens, und ich hatte solches Verlangen nach deinem Körper in diesem Augenblick, daß ich im Wohnzimmer stehenblieb, dich verwundert betrachtete, deine Gesten, dein Lächeln, die schmale Rundung deiner Schultern. Verdammt, wie oft schrieb ich deinen Namen mit dem Zeigefinger auf die Winterfenster, und die Buchstaben zerflossen an den Fensterrahmen, als weinten sie langsam langbeinige Tränen. Er schloß den Wagen ab und überquerte die Straße, hielt auf das Eckgebäude zu, das er verabscheute, und dachte: Campo de Ourique bewohnt unabänderlich meine Knochen, ich glaube, ich könnte gar nicht woanders als in diesen langweiligen, öden Blocks leben, diesem trostlosen Gefängnis von sich ewig gleichenden Fassaden, erbaut auf der schäbigen Pappe eines Szenariums aus resignierter Melancholie. Der Vater, verkleidet als unrasierter Cicerone in ungeputzten Schuhen, wies, gefolgt von einem Schwarm lächelnder, kurzsichtiger Japaner, mit dem Zeigefinger hastig auf das Haus:
»Dort wohnte er vier Jahre lang, bevor er sich mit dreiunddreißig von der zweiten Frau trennte. Sie hatten keine Kinder, und es gab keine Szenen: die Nachbarn bemerkten nichts, die Hausmeisterin erfuhr erst eine Woche später davon. Die Frau ging mit dem, was sie auf dem Leib hatte, und einer Zahnbürste fort, mietete eine Wohnung in São Sebastião und hörte auf mit dem Unterrichten. Sie hat offenbar die Absicht, nach Angola auszuwandern. Der Kommunismus hat ihr Gehirn aufgeweicht.«
»Du bist schon da?« fragte Marília überrascht. Ein offener Koffer lag auf dem Bett (das Bett, auf dem ich dich kennengelernt habe, wie wenig die Dinge sich verändern), ihr Rumpf verschwand im Kleiderschrank, an dessen Tür mit Spiegel die Krawatten und Gürtel hingen, die ich nie benutzte, sondern nur karierte Hemden, Jeans und Windjacke, die Uniform der Linken: Der Alte ist reich, das verleiht meiner Klassenwahl Würde. Ein leichter, süßlicher Geruch stieg aus den Schubladen auf, weil dein Eau de Cologne an allem haftet, auch an deiner Abwesenheit, wenn ich an dich denke. Ich unterhalte mich zum Beispiel mit einem Schüler, und der Geruch trifft mich mit solcher Intensität, daß ich nach deiner Hand auf meinem Arm suche, und du bist nicht da, ich taste die Luft um mich her ab, und du existierst nicht, und dann, wenn du dich allmählich von mir in meinem Inneren entfernst, stolpere ich auch nicht mehr über dein Parfüm, denke nicht mehr an deine Falten beim Arbeiten, sehne mich nicht nach dir, wenn ich allein in der Kantine esse. Die Mutter verteilte nun die Canasta-Karten, wandte den Kopf zu mir und sagte:
»Wir sind immer gegen diese Verbindung gewesen.«
»Wie geht es der Heiligen?« fragte Marília und ordnete einen Stapel Hemden ein. »Ich hatte dich nicht so früh erwartet.«
Meine Mutter weigerte sich, dich zu empfangen, und du begegnetest ihr mit hochnäsiger Grimasse: Ich brauche diese Scheißfaschos nicht, aber wenn ich Weihnachten und zu Silvester hinging, machtest du bei meiner Rückkehr anzügliche Scherze. Du bist doch nur ein bürgerlicher Sentimentalist, ein unausstehlicher Konservativer, ich werde mich in der Partei beschweren. Eines Abends schloß sie sich weinend auf der Toilette ein, er schaute durch das Schlüsselloch, und da saß sie und wischte sich mit Toilettenpapier die geschwollenen Schläfen: Ich wollte dich so gern umarmen, Ich mag dich, Ich mag dich, Ich mag dich, ich will gleich hier mit dir schlafen, an den Kacheln stehend, über das Leben diskutieren, wie kompliziert es ist, und ich verstand es nicht.
»Der Arzt sagt, eine Woche«, antwortete er. »Das Dumme ist nur, daß bei den Ärzten eine Woche immer drei Tage dauert.«
»Ich hätte nie gedacht, daß ich so enden würde«, versicherte die Mutter, während sie den Freundinnen aus der silbernen Teekanne der Großmutter Tee einschenkte. »Ich hatte mir etwas Angenehmeres darunter vorgestellt, etwas Zivilisierteres, alles eben anders, nicht diese gräßlichen Krankenschwestern mit schmutzigen Fingernägeln und diesen schwarzen Arzt, der aussieht wie der Mann von Mahalia Jackson.«
»Habt ihr schon bemerkt, daß ihm nur der hohe Hut fehlt?« fragt meine älteste Schwester mit einem grausamen Kichern. »Laßt uns alle im Chor ein Spiritual singen.«
»Such dir in der Schublade deine Pullis selber raus«, sagt Marília. »Deine Pullis und ich, wir haben uns nie gut verstanden: als würde ich unweigerlich immer die raussuchen, die dich irritieren.«
»Ihr fehlte jeder Sinn für Farben«, beschwert sich die Kusine in der Klinik, als sie die tote Mutter wie eine große Stoffpuppe in einen schwarzgrünen Rock kleidet. »Die Ärmste, sie war die Tochter eines Wachtmeisters, der schlechte Geschmack lag ihr im Blut.«
Als erstes fielen mir bei deinen Eltern (man mußte mit dem Bus fast bis ans Ende der Welt fahren) die Farben der Wände auf und der viele Schnickschnack, die Porzellanfeen und Sancho Pansas aus Bronze, keine Bücher, Marília, und der kleine, ungepflegte Vorgarten, den die Katzen mit ihren Samtpfoten zertraten. Zutiefst beschämt setzte ich mich auf einen Sessel, dessen Rückenlehne mit einem Häkeldeckchen geschützt war, mit einem Glas Portwein in der Hand unterhielt ich mich mit ihrem Alten, du und deine Mutter, ihr decktet den Tisch für das Abendessen, eine Spitzendecke, glitzerndes Besteck, Tellerchen mit Mandeln und Pralinen. Die riesigen Hände des Wachtmeisters waren langsam, verhedderten sich an den Hemdknöpfen, Wollt ihr nicht essen kommen: Suppe, geschmortes Fleisch, Instant-Pudding, der wie ein Doppelkinn beim Lachen bebte, dein kleiner Bruder beobachtete mich mißtrauisch von der Seite, die schmiedeeiserne Lampe unter dem Vordach am Ausgang, Gute Nacht, vielen Dank, und dann wieder der Bus, jetzt leer, Richtung Stadtzentrum, und da unten der reglose Fluß, bevölkert von den Pupillen der Schiffe.
»Wir werden furchtbar spät in Tomar ankommen«, sagte er. Sonntags ging ich also immer zu ihren Eltern, bescheidene, uneitle Leute, die mich freundlich empfingen, wir hockten in dem kleinen Hinterhof auf der Steintreppe und lernten, du hattest ein geblümtes Kleid an, das eng anlag über deinen Hüften, wir sahen deine Mutter hinter der Milchglasscheibe der Küchentür mit der Bratpfanne herumwirtschaften unter der elektrischen, runden Uhr, deren Zeiger sich lautlos bewegten und die Dämmerung herbeidrängten, der Vater erschien in Pantoffeln und Schlafanzug im Fenster, Kommt doch rein, ihr Studiker, er war in seiner Jugend Weichensteller bei der Straßenbahngesellschaft gewesen, sein Großvater arbeitete auf dem Feld, und jetzt die Tochter, ganz bedeutend, machte den Doktor, unterrichtete die Reichen an der Universität, gab ohne Murren zu Hause Geld ab, öffnete das Portemonnaie und sagte, Hier, nehmt euch. Und doch warst du ganz und gar aus dem Milieu, aus dem du kamst, dachte er, ich habe nie so große Füße gesehen, so große, flache, rauhe Nägel, die Füße eines Wasservogels am anderen Ende des Bettlakens, oder sie spornten mich auf dem Rücken an, wenn ich mich auf dich legte, Ja, komm, ja, Lieber, wie weich deine Haut ist, und dein Schwanz ist so wunderbar.
»Bring deine Rasiersachen, dann kann ich den Koffer zumachen«, antwortete Marília.
»Eine Verbindung zwischen Menschen unterschiedlicher Klassen geht immer schief«, behauptete die Schwester, während sie dem Kleinsten mit einem Mickymaus-Lätzchen den Mund abwischte.
Nun ja, aber vor fünf Jahren war ich ein Idealist und begeisterungsfähig, ein bißchen dämlich, ich war ziemlich angeschlagen von der Ehe mit Tucha und glaubte an die Revolution, dachte er im Badezimmer, während er die Rasierklinge in einen Plastikbeutel steckte, den Rasierschaum, die Zahnbürste, den abgefressenen Kamm, der mich seit ich weiß nicht wann begleitet, das Shampoo, das mir wenigstens ein bißchen Glanz auf der Glatze verleihen wird. Sein besorgtes, ernstes Gesicht tauchte im Spiegel auf. Die Patentante, die gekleidet ist wie die Damen mit den gezähmten Hündchen, klimpert gewichtig mit den langen Ohrringen und zeigt dem Publikum einen samtenen Rahmen:
»Ob ihr es glaubt oder nicht, er war ein hübsches Baby.« Ihr Mann tauchte als Weißclown hinter ihr auf, drückte unter den karierten Hosen auf einen Gummiballon, und aus seinen Augen spritzten im Bogen zwei Wasserstrahlen:
»Wer konnte denn ahnen, daß er sich so das Leben nehmen würde?«
Das Gesicht im Spiegel versuchte das welke Lächeln einer Blume im Herbarium, ich fuhr mit meinen kraftlosen, matten Fingern über die beginnende Glatze. Er denkt, Was anfangen mit dreiunddreißig? Er hatte einen Freund, der ihn zu Hause aufnehmen würde, der ihm für die ersten Wochen ein Bett auf der Küchenveranda (Entschuldige, aber wegen der Kinder haben wir keinen anderen Platz, verstehst du?) versprochen hatte, und danach? Die Studenten, ein Zimmer in Untermiete, hin und wieder ins Kino, Leere.
»Es gibt immer eine Hoffnung«, brüllte der Vater in Geh-rock und verbeulter Melone, während er aus den Nasen der Kinder in der ersten Reihe einen Münzregen hervorholte.
»Ist das für heute?« fragte Marília aus dem Zimmer. Du ahnst nicht im Traum, was ich mit dir vorhabe, denkt er. Vielleicht macht es dir nichts, die Menschen sind so unberechenbar, wer weiß. Als Tucha mir sagte, Es ist besser wenn wir uns trennen, sahen wir uns gerade ein Stück im Fernsehen an, wir saßen Hand in Hand im Wohnzimmer, und plötzlich machte ein alter, bärtiger Mann den Mund auf, und ich hörte deine Stimme statt seiner, die ruhig, wohlerzogen und glatt sagte:
»Ich möchte gern, daß du bis zum Monatsende gehst.«
Die Gesichtszüge im Spiegel wurden vor Schreck rund, dann heiter: Sei doch nicht so bürgerlich, vielleicht kannst du nach der Scheidung endlich den Essay über Sidonismus schreiben, den du schon so lange planst.
»Ich empfinde nichts als Freundschaft«, sagt Tucha, »und wenn man nichts empfindet, pffffffff.«
Sie ließ seine Hand los, steckte sich eine Zigarette an.
Und jetzt? denkt er.
»Das Schlimme an dem Jungen war«, berichtet die Mutter, während sie lächelnd die Spielpunkte zusammenzählt, »daß er es nie verstanden hat, geliebt zu werden.«
Er erhob sich, um den Fernseher auszuschalten (das Bild wurde immer kleiner und kleiner, bis es sich als leuchtender Punkt auf dem Bildschirm verflüchtigte), und ging nun zwischen dem Sofa und der Kommode auf und ab. Ich bin nicht in der Lage nachzudenken, ich werde auch nicht dazu in der Lage sein, denkt er, man kann einem Menschen nach so langer Zeit nicht einfach befehlen, geh fort, mich wie Abfall behandeln, wie ein Stück Scheiße, das man auf die Straße kehrt. Ungeheurer Haß schwoll in seinem Bauch an, Wenn du denkst, daß du mir die Kinder wegnimmst, dann bist du auf dem falschen Dampfer. Verdammte Kuh, denkt er, das hast du sicher seit Monaten mit deinen Freundinnen ausgeheckt, hin und her beredet und geflüstert und mit einem bekannten Anwalt telefoniert, eine widerliche Verschwörung von Klatschweibern, allein hättest du das nicht eingefädelt. Er fegte mit dem Arm alles, was auf einer Empire-Kommode stand, herunter, Bilder und Porzellan zerschmetterten mit Getöse auf dem Boden:
»Was soll denn dieser Scheiß?«
Er schloß den Plastikbeutel, kehrte ins Zimmer zurück. Marília hatte schon den Koffer zugemacht und beobachtete, auf dem Bett sitzend, in dem Röhrchen im Aquarium den Rosenkranz aus Blasen und den durchsichtigen Fisch, der wie ein Blatt zitterte:
»Er hat sicher Fieber«, sagte sie.
»Dieser Fisch sah immer so aus, als hätte er Sinusitis«, antwortete ich und steckte den Plastikbeutel in den Koffer. »Lös ihm alle sechs Stunden eine Kapsel Tetracyclin in Wasser auf.«
Der Fahrstuhl mit doppelter Stahltür bebte wie ein Boot. In der senkrechten Reihe schwarzer Knöpfe auf einer verchromten Platte gab es einen roten, auf dem Alarm stand: Immer, wenn er dieses unsichere, kartesianische Teufelchen betrat, reizte es ihn ungemein, mit dem Finger darauf zu drücken, um das Geräusch zu hören, das er sich vorstellte als eine entsetzliche Feuerwehrsirene, die das Haus unter ihrem Heulen begrub. Die ungekämmte, dicke Hausmeisterin würde aus ihrem Kabuff auftauchen, mit dem kämpferischen Besen großer Ereignisse bewaffnet. Er schleppte das Gepäck zum Fahrstuhl, schloß die Türen und drückte auf Erdgeschoß, Marília und er eingezwängt in diese blödsinnige Urne, die zur Straße hinunterholperte.
»Hast du getankt?« fragte sie.
»Nun mach doch keine Szene«, sagte Tucha und leerte einen kleinen Aschenbecher in einen silbernen Kippensammler. »Und zerschlag nicht die ganzen Möbel. Denk doch an die Nachbarn.«
»Was hast du denn erwartet, so wie du aussiehst?« fragte die jüngste Schwester in Turban und Pumphosen und lief barfuß über einen Teppich aus Flaschenscherben. Einer der Neffen begleitete sie mit entblößtem Bauchnabel auf der Trommel.
Die Mutter strich mit den sehr weißen Handgelenken über das Klinikbettuch.
»Der Ärmste«, murmelte sie, »er wurde ohne Kompaß geboren.«