Zwischen Bettlern und Bohème - Egon Erwin Kisch - E-Book

Zwischen Bettlern und Bohème E-Book

Egon Erwin Kisch

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Beschreibung

Egon Erwin Kisch (1885–1948) ist als "rasender Reporter" und Schriftsteller bis heute eine Legende. Über 30 Texte mit seinen Beobachtungen und Erlebnissen vor allem aus dem Berlin der Jahre 1921 bis 1933 sind für diesen Band ausgewählt worden.So begleitet er eine Polizeistreife, besucht Cafés und Tanzdielen, wundert sich über modische Eskapaden, geht ins Theater, zum Sechstagerennen, hört einen Boxkampf im Radio, streift durch Alteisenlager oder wirft einen Blick ins städtische Leichenschauhaus.

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Seitenzahl: 158

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Egon Erwin Kisch

Zwischen Bettlern und Bohème

Berliner Orteherausgegeben und mit einem Nachwortversehen von Gabi Wuttke

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten.

Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen, Verfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung auf DVDs, CD-ROMs, CDs, Videos, in weiteren elektronischen Systemen sowie für Internet-Plattformen.

© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin 1960, 2008 (für die Texte von Kisch)

© be.bra verlag GmbH

Berlin-Brandenburg, 2018

KulturBrauerei Haus 2

Schönhauser Allee 37, 10435 Berlin

[email protected]

Lektorat: Ingrid Kirschey-Feix, Berlin

Umschlag: Manja Hellpap, Berlin

ISBN 978-3-8393-2132-4 (epub)

ISBN 978-3-89809-151-0 (print)

www.bebraverlag.de

Inhalt

Polizeistreifung in Berlin

Der Mann mit dem blauen Band

Bacchanale gefällig

Die Einkäufe einer Berlinerin

Wie ich eine Frau suchte

Aus dem Notizbuch

Das Haus der veränderten Nasen

Wat koofe ick mir for een Groschen

Weihnachtsfreude

Geheimkabinett des Anatomischen Museums

Die Prager an der Ostsee

Brief an die Mutter

Literatur in Berlin

Die gerächte Bohème

Vier neue Theater in Berlin

Brief an Jarmila Haasová

Elliptische Tretmühle

Das Bedürfnis »Hurra« zu rufen

Boxkampf im Radio

Der, der das Radio sieht

Sensations- und Erpressungspresse

Das Ende der Berliner Volkshochschule

Café Kandelaber mit Büchern

Die Verarmung und Bereicherung der Berliner Straßen

Teueres Bedürfnis

Zum alten Eisen!

Die Untergrundbahn

Sprecherlaubnis

Dies ist das Haus der Opfer

Die Polizei und ihre Beute

Briefe an die Mutter

Gefangener No. 1067, Zelle No. 33

Nachwort

Anmerkungen

Abbildungsnachweis

Polizeistreifung in Berlin

Am Oranienburger Tor vorbei, wo in den schäbigen Singspielhallen zu dieser zeitlichen Abendstunde noch sehr »flauer Betrieb« vorherrscht, fährt die Razzia in drei Autodroschken durch Elsässer Straße, Lothringer Straße und Prenzlauer Allee nordwärts, an Arbeiterhäusern, Werkstätten und Fabriken entlang. An der Ecke der breiten Danziger Straße machen die Wagen halt, und zu Fuß zieht die Kriminalexpedition zur Frühstücksstube von Vater Nockentopf. Hier ist der Ralliierungsplatz lichtscheuen Gesindels zu einem Gewerbe, das sich gegen die armen Arbeiter dieses Viertels richtet. In der Mitte der Fahrbahn der Danziger Straße zieht sich ein langes Grasbeet, in dem Bänke stehen. Dort pflegen sich spätabends die Fabriksarbeiter und Handwerksgesellen niederzusetzen, die nach des Tages Lasten im Alkohol Erfrischung gesucht haben und nun doppelt müde und benebelt auf der Bank schlafen oder vor sich hin stieren. Das sind die Opfer. Sie werden bestohlen. Oder es beginnt einer der Wegelagerer ein Gespräch mit ihnen, lockt sie zu einer Partie Kümmelblättchen oder zu einem Nachtlager bei »Mutter Grün« in den nahen Friedrichshain, wo der Arme überfallen und beraubt wird. Nach einem solchen Vorfall sucht die Polizei den Täter fast immer unter den Gästen von Vater Nockentopf. Der Eintritt der »Polente« ist also hier nichts Ungewöhnliches und wird nur mit einem scheuen Seitenblick quittiert.

Nur dort rückwärts an dem kleinen Tisch zieht einer die Mütze aus dem Nacken über die Augenbrauen. Der Kommissarius aber hat ihn schon erkannt. »Grüß Gott, Medaillen-Willem! Wie war’s Sonnabend in Potsdam?«

»Ick war ja jar nich in Potsdam, Herr Klinghammer.«

»Ach, der Kaffer, den du begaunert hast, hat deine Photographie sehr genau erkannt. Mit wem warst du denn?«

»Ick war ja jar nich …«

Aber der Kommissar wendet sich zum Tischnachbar des Medaillen-Willem: »Wer sind denn Sie?«

»Ick heeße Maier, Herr Kommissar.«

»Zeigen Sie mal Ihre Papiere.«

»Ick habe keene.«

»Wo wohnen Sie denn?«

»Ick mache platt.« (Bin obdachlos.)

Ein Wink, und zwei der Geheimpolizisten fordern die Freunde zum Mitgehen aufs Revier auf – ein Auftrag, dem widerspruchslos Folge geleistet wird. Der Kommissar raunt den beiden arretierenden Beamten noch zu, daß sie Punkt halb zehn Ecke Wilhelmstraße und Kochstraße wieder zu ihm zu stoßen haben.

Im Garten vor dem Siechenhaus, an dem wir nun in der Fröbelstraße vorbeikommen, sitzen Greise in Flanell. Dann sind wir vor dem städtischen Asyl für Obdachlose, einem roten Riesenbau, der mit seinem schönen Zierturm wie ein Rathaus aussieht. Radial streben von allen Seiten schmerzliche Gestalten dem Gebäude zu, ein Gries auf eiligen Krücken, ein Ächzender, der nach jedem Schritte erschöpft innehält, zwei Burschen, kragenlos, die Hände in den Taschen, zerrissen, exzellent gescheitelt und »Das haben die Mädchen so gerne« pfeifend, ein Vierziger im Schnapsdusel, der kichernd ein Selbstgespräch führt: »Du wirst man gucken. Ick komme jar nicht nach Hause …« Ein ordentlich aussehender Bursche sucht aus seinen Taschen die Legitimationspapiere. Vor dem Asyltor verdichtet sich der Menschenkeil. Wir drängen mit, und so geschieht es, daß zwischen den Kommissar und mich einige Asylisten eingezwängt werden. Plötzlich höre ich neben mir eine entsetzte Flüsterstimme: »Ede, siehste Klinghammern? Mach’n wir fort.«

Mir tut es leid, daß die beiden Burschen neben mir ihr Obdach um unserer Expedition willen verlieren sollen, und ich beruhige sie: »Sie brauchen sich nicht zu fürchten, wir suchen einen andern.« Dann stelle ich mich zum Kommissar und spreche etwas Belangloses mit ihm, damit die zwei darauf meine Legitimation zu den Beruhigungsworten entnehmen können. Trotzdem schieben sie sich mit scheuem Blick möglichst weit aus unserer unheilvollen Nähe.

Im Versammlungslokal des Asyls, einem ungeheuren Saal (im Winter finden oft viertausend Personen im Asyl Obdach), schweift ein musternder Blick der Beamten längs der Wände, an denen, an die Leitungsrohe der Heizung gepreßt, die Bedauernswerten sitzen. Dann wird mir noch die Kartothek gezeigt, in der die Namen der Obdachsuchenden von der Polizei daraufhin kontrolliert werden, ob nicht gesuchte Verbrecher darunter sind.

Das nächste Ziel ist wieder ein gemeinnütziges Institut, das Volksspeisehaus in der Alten Schönhauser Straße, im Volksmund »Café Dalles« genannt. Dort werden täglich über tausend Tassen Kaffee, tausend Portionen Pellkartoffeln und zweitausend Suppenportionen, viele Hunderte von Butterschnitten zu fünf Pfennig verkauft. Die Volksspeisehäuser sind eine unendliche Wohltat für die Armen, aber sie werden auch oft als Operationsbasis für Verbrechen benützt, und manchmal, besonders in den Morgenstunden, wird die ganze Bude von der Polizei ausgehoben und zu Sicherstellungszwecken auf die Wachstube vorgeführt.

Dann: Auguststraße, Herberge mit Arbeitsnachweise »Zur Heimat«. Einen großen freundlichen Raum betreten wir zunächst, in dem an den Tischen die Pennergäste friedlich vor Suppennäpfen und Kaffeetassen sitzen. Nur ein Riesenkerl stellt sich frech vor den Kommissar hin und bläst ihm den Tabaksrauch ins Gesicht. »Wer sind Sie?« fragt ihn der Kommissar.

»Det jeht Sie jar nischt an«, bemerkt der Angeredete, der wohl imponieren will.

»Ich bin Kriminalkommissar. Kommen Sie mit mir hinaus.«

Der Hüne wendet sich verächtlich zu seinem Tisch, aber auf das energische Zureden eines Asylbediensteten begibt er sich auf den Hof.

»Wie heißen Sie?« wiederholt der Dezernent des Patrouillenkorps.

Die mürrische Antwort: »Enke.«

»Zeigen Sie Ihre Papiere.«

»Ick habe keene.«

»Sehen Sie, da blasen Sie mir den Rauch ins Gesicht, wollen nicht Folge leisten und haben doch alle Ursache, lieber nicht auf sich aufmerksam zu machen.«

Mensch, quatschen Se doch man keen Kintoppdrama.«

»Sie frecher Kerl.«

»Wer ist een frecher …« Er macht Miene, sich gegen den Kommissar zu wenden. Aber in dem Bruchteil einer Sekunde ist er von einem der Beamten, der sich auf ihn gestürzt hat, rücküber geworfen und beim Wurf auf den Bauch gedreht, im nächsten Bruchteil der Sekunde ist der Hüne wieder aufgesprungen, aber eine Eisenkette hält seine rechte Hand umklammert, daß der Überrumpelte stöhnt: »Lassen Se man los, das schmerzt.«

Ohne einen weiteren Befehl abzuwarten, führt der Beamte den Renitenten ab auf das Kommissariat. »Sie können dann nach Hause gehen«, ruft ihm der Kommissar nach.

Verkehrsposten der Schutzpolizei, 1924

Ein Asylbediensteter schiebt die Neugierigen, die erregt den Vorfall, ihren Genossen verurteilend, besprechen, wieder in den Saal.

Bei unserer Weiterfahrt wird mir der Jiu-Jitsu-Griff, den der Beamte gegen den Gewalttäter angewandt hat, und der rasant funktionierende Mechanismus der Eisenschließe erklärt. Dann kehren wir in einen Bouillonkeller ein, wo aber erst nach zwei Uhr nachts der große Verkehr beginnt. Hierauf in ein Ballokal, wo Damen der niedrigsten Schicht Berlins mit ihren Luden »Schieber« tanzen; der Kommissar macht mich unauffällig auf einen Burschen aufmerksam, der fröhlich mit paar gleichgesinnten Männern und Mädchen an einem Tische sitzt und sich durch die Invasion der Polizei in der angeregten Unterhaltung nicht stören läßt: Es ist ein Beamter der Kriminalpatrouille F. In der Kochstraße, Ecke Wilhelmstraße stoßen um halb zehn Uhr die beiden Beamten zu uns, die inzwischen den Medaillen-Willem und seinen Potsdamer Kompagnon am Revier abgeliefert haben. Dann werden noch drei Lokale besichtigt, die Sammelpunkte krankhaft veranlagter Männer sind: Ein sehr schäbiges Bierlokal, wo der Wirt in bayerischer Lodenweste in Hemdsärmeln die Honneurs macht; ein junger Mann singt mit Sopranstimme das Lied von »Puppchen, dem Augenstern«, einer trägt Frauenkleider und knickst vor den Eintretenden; an den Wänden hängen Athletenbilder. Eine hochelegante Bar in WW, die wir dann mit unserem Besuche beehren, besitzt geschminkte Kellner als »Barmädchen«, die glattrasierten Gäste tanzen miteinander.

In der Yorckstraße verabschiedet Kommissar Klinghammer seine Beamten. Diese stellen sich in Habt-acht-Stellung in einer Reihe auf und ziehen tief den Hut: »Gute Nacht, Herr Kommissar.«

(1913)

Der Mann mit dem blauen Band

Natürlich, das kommt davon, wenn sich unser Literaturhistoriker nur um Shakespeare kümmern, um Schiller, um Kleist und andere Trotte, die längst erledigt und abgetan sind, statt lieber ihren Blick der Gegenwart zuzuwenden! Was nützt es, wenn in den germanistischen Seminaren den Literaturbeflissenen die Gedanken und Stimmungen gelehrt werden, die Goethe bei der Abfassung des »Faust« beseelten? He, was nützt das? Wenn sie dann ins Leben hinauswollen, um es Goethen gleichzutun, dann stehen sie vor der Literatur wie der Ochs vor dem kubistisch bemalten Haustor. Man sollte sie lieber lehren, wie sie es anstellen sollen, um heute die Klassiker von morgen zu sein. Aber was kann man von den Gelehrten erwarten? Nun, der Vortrag, der zu halten wäre, sei auf Grund wissenschaftlicher Forschungen hier publiziert:

Meine Herren! (Wir sind im Germanistenkolleg, wo Damen bekanntlich nicht zugelassen sind.) Meine Herren! Es wäre ganz verfehlt zu glauben, daß sich die jungen Dichter von heute damit begnügen, sich durch Schlapphüte, wehende Krawatten, wallendes Haar und die übrigen Embleme, die wir schon zu Ende des achtzehnten Jahrhunderts während der Sturm- und Drangperiode zu beobachten Gelegenheit hatten, von den Philistern zu unterscheiden. Mitnichten! Einerseits die fortschreiende Entwicklung der Kultur, andererseits die sich mächtig geltend machende Entwicklung des Geisteslebens, dritterseits die allgemein fühlbare Verfeinerung des Geschmackes haben es mit sich gebracht, daß auch die Verachtung der Mode von der Mode nicht verschont geblieben ist. Aber natürlich lag den jungen Männern von heute und morgen nichts ferne, als sich der Männermode zu unterwerfen, id est jenen drakonischen Gesetzen, die seit altersher für das männliche Geschlecht reserviert waren. Im Gegenteil! Sie haben die trennenden Schranken der Geschlechter durchbrochen uns sich mit männlichem Mute die Frauenmode zu eigen gemacht, während sich hinwiederum die Frauen der Poetengilde durch Herrenhüte, kurgeschorenes Haar, Sweater und Herrenröcke der Männermode anbequemen, was jedoch nicht Thema der heutigen Vorlesung ist.

Berlin, und zwar der westliche Teil dieser Großstadt, der seit langen in allen Fragen vornehmen Geschmacks fürwahr mit mächtiger Hand die Führung an sich gerissen hat, gebührt der Ruhm, die Wiege dieser goldenen Ära der deutschen Literatur geworden zu sein. Und dennoch hat es selbst in dieser für alles Edle begeisterten Stadt nicht an Mißtrauen gefehlt, als die Pioniere der männlichen Frauenmode das Blachfeld betraten. Und es kann leider durchaus nicht als ausgeschlossen gelten, daß der Poet, der zum erstenmal in ein Literaturcafé im alten Westen mit einem neckischen blauen Bande im Haar kam, statt Bewunderung nur Hohn geerntet hätte, wenn man nicht von Freunden und Verehrern des Genies die achtungsgebietende Kunde vernommen hätte, er glaube, daß sein Band angewachsen sei. Nur durch die Kenntnis dieser wahrhaft dichterischen Einbildung wurde er vor Mißdeutungen geschützt, obwohl jeder von dem Dichter dessen großzügigen Grundsatz kannte, daß er niemals ein Zeile niederschreiben, geschweige denn jemals publizieren werde, weil solche Tätigkeit nichts anderes sei den eine »prostituierende Emanation der Subjektivität«. Einen solchen Genius hätte man auch ohne Kenntnis seines Wahnes von der untrennbaren Zugehörigkeit des Bandes zum Kopfe um seines Kopfschmuckes willen bewundern müssen, um so mehr, als es noch niemand Herrn Goethe verübelt hat, daß dieser einst »mit einem bemalten Bande« nahte, obwohl dieser Dichter sich bekanntlich durch die Niederschrift vieler Gedanken dem eben angezogenen Verbrechen einer prostituierenden Emanation der Subjektivität schuldig gemacht hatte.

Der nächste große Dichter, der den Geist der Zeit wahrhaft erfaßte, war jener, der mit Ohrringen behängt in der Literatur erschien. Er war schon ein unsterblicher Mann gewesen, denn er hatte im »Orthozentrich-hydrotherapeutischen Kabarett Moschus« ein Fragment aus seinem elfzeiligen Epos »Der hohle Zahn und seine feiste Stiefmutter« vorgelesen, und wir wissen auch, daß er seit Jahren mit enormem Fleiße an dem Titel für eine Novelle arbeitet. Dieser Mann scheute sich nicht, offen zu erklären, daß er mit seinen Ohrringen einen realen Zweck verbinde: Er sehe nicht ein, warum dieser herrliche und gesunde Schmuck des Ohres nur den Frauen reserviert bleiben solle. Leider vermochte er es nicht, durch Ausdauer die staunenden Philister an den Anblick von männlichen Ohrringen zu gewöhnen, denn schon am nächsten Tage trug Heloise Lanormand – so heißt bekanntlich Fräulein Johanna Kubinke in den Kreisen der Berliner Bohème – die Ohrringe in ihren Ohren, was natürlich ihren Freund mit einigem Mißtrauen gegen sie erfüllte und gewiß nicht ganz ohne Einfluß auf die Tatsache war, daß er am Tage aus dem Kabarett »Moschus« austrat und die »Neohysterische Dichtergemeinschaft der freien Fischottern« gründete. So hatten die männlichen Ohrringe zu einer tiefgreifenden Spaltung in der deutschen Dichtkunst, aber auch zur Schaffung einer neuen, begrüßenswerten Literaturrichtung geführt.

Die nächste Errungenschaft auf dem Gebiet des modernen Skytentums war der Mann mit der Ponyfrisur. Man merke die tiefere Bedeutung dieser Haartracht, während die Talente von gestern nervös die Haare aus dem Gesicht streichen, wodurch die breite Denkerstirn (Gerhart Hauptmann, Richard Strauss usw.) noch stärker zur Geltung kam, versinnbildlichte der Pionier der Ponyfrisur das rein Sensitive der Modernen, die einer Krücke der Geistigkeit nicht mehr bedürfen. Das war wohl der Grund, weshalb er seine Haare in die Stirn kämmte und oberhalb des Zwickers in gerader Linie abschneiden ließ. Wenn er nicht die Beachtung fand, die er verdiente, so liegt das daran, daß man ihn des Plagiats beschuldigte – in Wien habe schon jemand durch die gleiche Behandlung seines Kraushaares endlich die heiß ersehnte Beachtung der Kaffeehauswelt errungen.

Das Neueste auf dem Gebiete der Dichtung ist das »Korallenkettlin«. Das ist ein etwa das gleichnamige Drama von Dülberg, und es wäre auch ein unvergleichlich ärgeres Verbrechen, wenn das Korallenkettlin, von dem hier die Rede ist, etwa samt seinem Träger konfisziert würde, wie es dem Dülbergschen Drama geschehen ist. Unser Korallenkettlin wird um den Hals getragen (selbstredend von einem Herren), auf der Brust in einen Knoten geschlungen und hebt die Persönlichkeit des jungen Mannes, der sich dem staunenden Kaffeehausphilistertum auf dem Kurfürstendamm allabendlich zeigt und den altmodischen Dichtern stolz dartut, daß sie mit dem sattsam bekannten Sänger kleinlaut die Verleihung einer solchen Ehrenkette ablehnen mußten: »… die Kette gib den Rittern, vor deren kühnem Angesicht der Feinde Lanzen splittern.«

Und vor unserem prophetischen Auge sehen wir nun die Zeit nicht mehr ferne, da die Männer der deutschen Dichtung in geschlitztem Frauenrock, das Pompadourtäschen in der Hand und einen flachen Hut mit Mairosengarnierung auf dem Haupte vor den staunenden Blicken des Philisters neue Gipfel des Parnasses erklimmen werden.

(1914)

Bacchanale gefällig?

Die polizeiliche Sperrstunde wird in Berlin sehr streng gehandhabt. Punkt ein Uhr werden alle die vielen Hunderte von Cafés, Bars, Tanzdielen, Likörstuben, Weinlokale und Destillationen (so heißt hier der »Ausschank«) unnachsichtlich geschlossen. Im Westen gibt es noch zwei bis drei Klubs, wo zumeist Schauspieler nach ihrem Bühnenabgang einkehren, ein Fläschchen Wein trinken und eine Partie Poker machen; aber sie müssen Mitglieder sein, ihr Mitgliedsbeitrag für den laufenden Monat wird auf ihrer Legitimationskarte quittiert und im Kassabuch des Vereines eingetragen. Im dunklen Osten nehmen zwei bis drei Wirte das Risiko auf sich, für drei Stunden (bis um vier die Marktcafés öffnen) die Straßenmädchen, deren berufsmäßigen Freunde und andere des Nachtschlafs entwöhnte Gesellen hinter geschlossenen Rouleaus und bei gedämpften Licht illegal zu beherbergen; aber auch diese Wirte lassen sich die »Hockersteuer«, das ist die für Gesellschaften, Vereinsveranstaltungen, Bälle usw. vorgeschriebene Steuer auf verspätetes Wachbleiben, bezahlen und quittieren sie ordnungsgemäß mit gedruckten Zetteln, damit sie im Falle des Erwischtwerdens nur wegen Übertretung der Sperrstunde, nicht aber auch wegen Steuerhinterziehung belangt werden können. Manchmal läßt auch ein Wirt eine Champagnergesellschaft im Hinterzimmer seines Weinlokales noch über die Zeit sitzen, aber das alles sind kleine Ausnahmen, und im großen ganzen muß man sagen, daß das Nachtleben um ein Uhr nachts zu Ende ist. Tausend von Leuten sehen sich um diese Stunde aufs Pflaster gesetzt und müssen nach Hause gehen, obwohl sie dazu gar keine Lust haben.

Hier setzt nun die Tätigkeit der wandernden Nachtlokale und ein neuer geheimer Beruf ein, der in Berlin heute schon weit mehr als tausend Angehörige zählt, der Beruf des Schleppers oder Spanners. Die Unternehmer der wandernden Nachtlokale bilden eine Gruppe, die sogenannte »Partie«, die von Zeit zu Zeit Privatwohnungen mieten, diese mit Sandwiches, Champagner, Kaviar, Wein und Schnäpsen beliefern, eine oder zwei Nackttänzerinnen, die Musikkapelle, aus einem Violinisten bestehen, einen Kellner und vor allem – die Schlepper engagieren. Denn diese Schlepper haben die Hauptarbeit zu verrichten und bekommen auch den Löwenanteil am Ergebnis dieser riesigen Wurzerei. Sie bekommen außer dem Fixum von fünfhundert Mark pro Nacht noch zehn Prozent von der Zeche jedes Gastes, den sie akquiriert haben. Sie können also an einem einzigen Gast mehr verdienen, als die Mieter der Wohnung für diese Nacht, das ist mindestens fünfzigtausend Mark, betragen hat. Aber es muß gesagt werden, daß ihr Beruf vor allem drei Eigenschaften erfordert: Ausdauer, Raffinement und Intelligenz. Die Ausdauer erprobt sich daran, wie sie an den Straßenkreuzungen, insbesondere in der Friedrichstraße, Motzstraße und Lutherstraße alle Passanten ansprechen, Hunderte in einer Nacht, alle Wagen anhalten oder wenigsten den Insassen zuschreien: »Elegantes Nachtlokal gefällig mit prachtvollen Nackttänzerinnen?« – »Bacchanale gefällig?« Ihr Raffinement hat sich hauptsächlich bei der Führung des Opfers zu bewähren – dieses darf nämlich nicht ahnen, wo es sich befindet, damit es die Polizei nicht nachträglich dorthin hetzen kann. Sie führen es daher auf verschiedenen Umwegen bis zu dem Lokal und lassen, wenn der Transport des Gastes im Autotaxi vollzogen wird, dieses lange vorher mitten auf einer anderen Straße halten. Vor der Polizei haben nämlich Unternehmer, Partie und Schlepper den größten Spundus und haben deshalb ein ganzes Signalsystem ausgebrütet, um das Eindringen der Streifung zu verhindern. Würden zum Beispiel Detektive einen Schlepper erwischen und mit vorgehaltenem Dienstrevolver zwingen, sie zu dem heutigen Tätigkeitsgebiet des wandernden Nachtklubs zu führen, so braucht der geschleppte Schlepper bloß diese Signale zu unterlassen, und die Polizei findet nichts mehr als eine leere Wohnung oder eine harmlose Gesellschaft von Freunden des Hausherren. Das Signal eines vor kurzem ausgehobenen Spielklubs im Westen war zum Beispiel ein grünrotes Batisttaschentuch der Hausfrau, das jeder Schlepper nach dem Klopfen in die Öffnung des Briefkastens zu werfen hatte; wurde geklopft oder geläutet, ohne daß das Taschentuch erschien, so wurde nicht bloß geöffnet, sondern es verschwanden auch die Spielkarten und das Roulette.