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Nora war ihr Leben lang auf der Flucht vor ihrer Vergangenheit, Winston auf der Suche nach einer Zukunft. Als die beiden sich bei ihrer Arbeit am Grand Canyon über den Weg laufen, scheint es fast Schicksal zu sein. Doch gerade, als Nora zum ersten Mal seit langem wieder einen Sinn sieht, wird sie von ihrer Vergangenheit eingeholt und bringt damit nich nur sich selbst in Gefahr. Winston muss feststellen, dass sie nicht die ist, die sie zu sein scheint und findet sich bald in ihrem Gerüst aus Geheimnissen und Lügen wieder. Während Nora um ihr Leben kämpft, muss er sich fragen, ob sie es wert ist, alles zu riskieren… Im siebten Himmel oder doch im ewigen Fall in den Abgrund?
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Seitenzahl: 410
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Zwischen Himmel und Abgrund
Zwischen Himmel
und Abgrund
By Sophie Mielke
1. Auflage 2025
Für alle, die an Liebe
auf den ersten Blick glauben.
Und für Finja und Anna,
die dieses Glück verdienen.
Der kalte Nachtwind fegte über die kahle Wüstenlandschaft, als ein Pick-Up mit 120 Meilen pro Stunde über den Highway 93 in Richtung Phoenix in Arizona raste. Der Vollmond schien in dieser Julinacht hell vom Himmel und erleuchtete die Straße. Das Auto hatte keine Scheinwerfer eingeschaltet und die beiden Insassen saßen schweigend auf ihren Sitzen. Der Mann auf dem Beifahrersitz war ein 21jähriger junger Mann mit blonden Haaren und vernarbtem Gesicht. Neben ihm hinter dem Steuer saß sein Bruder. Er hatte ebenfalls blondes Haar und war nur wenige Jahre älter. Sommersprossen sprenkelten seine Nase und seine blauen Augen beobachteten konzentriert die Umgebung. Nach einer Weile kam den beiden ein anderes Auto, ein schwarzer Ford, entgegen. Der ältere warnte seinen Bruder: „Fahr langsamer, Josh, wir dürfen nicht auffallen!“ Der jüngere, Joshua, nickte nur genervt und trat von Gas. Schweigend sahen sie zu, wie das Auto an ihnen vorbeifuhr, wobei der Fahrer des Fords laut hupte. Immerhin hatten die Brüder ihre Scheinwerfer ausgeschaltet. Weitere Minuten vergingen, in denen niemand etwas sagte. Dann erschienen im Rückspiegel plötzlich helle Lichter, die auf und ab flackerten. „Matt, was ist das?“, fragte Joshua seinen älteren Bruder. Doch dieser fluchte nur laut und schlug frustriert auf das Armaturenbrett. „Ich habe dir gesagt, lass die Waffe stecken! Hättest du nicht wild um dich geschossen, wäre erst in zwanzig Minuten jemand aufgetaucht. Wir hatten alles geplant! Und dann fahren wir auch noch diesen alten Pick-Up, mit dem wir deutlich langsamer als die Polizei sind!“, schrie Matthew wütend. Joshua starrte ihn erschrocken und plötzlich verängstigt an. Er kannte seinen Bruder nur allzu gut und wusste, wozu er in der Lage war. Aber er war auch kein kleines Kind mehr. Also entgegnete Joshua aufgebracht: „Tut mir ja leid, aber ich hatte keine andere Wahl!“
Matthew seufzte nur und erwiderte etwas ruhiger: „Ist jetzt sowieso egal, wir haben das Geld und wir können nicht ungeschehen machen, was passiert ist. Also gib ein bisschen Gas!“ Joshua tat wie geheißen und trat das Gaspedal bis zum Anschlag durch. Das Auto beschleunigte, doch die Lichter hinter ihnen wurden nicht schwächer, ganz im Gegenteil. Das blaue und weiße Licht wurde immer heller und heller und bald waren sie nur noch wenige hundert Meter hinter ihnen. „Fahr schneller!“, schrie Matthew aufgebracht, aber der Wagen konnte nicht weiter beschleunigen. Joshua trat stärker auf das Gaspedal und antwortete panisch: „Es geht nicht! Wir können nicht schneller fahren! Der Motor schafft nicht mehr als 150 Meilen pro Stunde!“ Matthew fluchte und drehte sich nach hinten, um die Polizeiautos zu beobachten. Er zögerte nur wenige Sekunden, dann griff er unter den Sitz und zog ein Gewehr hervor. Während Joshua versuchte das Auto still zu halten, öffnete Matthew das Fenster, lehnte sich hinaus und feuerte auf die Autos hinter sich. Die Schüsse hallten durch die Nacht und zerrissen die Stille. Die meisten Patronen verfehlten die Verfolger, doch eine von Matthews Kugeln fand ihr Ziel und der Reifen des vordersten Polizeiautos platzte. Das Auto geriet ins Schlingern. Der Fahrer verlor die Kontrolle über sein Fahrzeug und kam von der Straße ab. Der Wagen überschlug sich dreimal und blieb dann auf dem Dach liegen. Nur eine Sekunde später folgte eine Explosion und das Auto ging in Flammen auf. Matthew entfuhr ein gehässiges Lachen, aber der Platz des Autos wurde sofort durch ein anderes Polizeiauto eingenommen. „Verdammt!“, fluchte Matthew und feuerte weiter Schüsse auf seine Verfolger ab.
Aber auch die Polizisten wollten sich das nicht gefallen lassen. Sie zogen ebenfalls ihre Pistolen und Gewehre und feuerten ihrerseits auf Matthew und Joshua. Plötzlich erklang aus der Ferne das Rattern eines Hubschraubers und Matthew starrte hoch zum Nachthimmel. Dort erschienen nun die hellen Scheinwerfer eines Hubschraubers, der sich ihnen mit rasanter Geschwindigkeit näherte. „Josh, wir müssen unsere Verfolger irgendwie loswerden“, meinte Matthew zu seinem Bruder und kam zurück in das Fahrzeug. Joshua nickte: „Du hast recht, aber wie? Wir sind hier auf völlig freiem Feld, die nächsten zwanzig Meilen kommt nicht mal eine Tankstelle. Wir können uns schlecht verstecken oder so.“ Matthew dachte nach, aber da hatte der Hubschrauber sie schon erreicht und schoss nun ebenfalls auf ihr Auto. Patronen schlugen in das harte Metall und verbeulten die Karosserie. Das hintere Fenster zersprang und Joshua schrie panisch auf. Fast hätte er das Lenkrad rumgerissen, konnte sich aber gerade noch rechtzeitig beruhigen. Erneut lehnte Matthew sich aus dem Fenster, stellte jedoch erschrocken fest, dass sein Magazin leer war. Er zögerte und sagte schließlich zu seinem Bruder: „Halt an! Wir haben keine Chance. Vielleicht vermindern sie unsere Strafe, wenn wir uns stellen.“ Zunächst starrte Joshua Matthew ungläubig an, aber Matthew machte keine Anstalten seine Aussage zu revidieren. Also trat Joshua vorsichtig auf das Bremspedal und das Auto wurde langsamer. Auch die Polizeiautos hinter ihnen traten vom Gas und kamen schließlich zum Stillstand.
Aus einem Lautsprecher auf einem der Polizeiautos ertönte nun der Befehl: „Kommen sie langsam und mit erhobenen Händen aus ihrem Fahrzeug!“ Joshua stellte den Motor ab und tat es seinem Bruder gleich, der seine Tür öffnete und langsam und mit erhobenen Händen aus dem Fahrzeug ausstieg. „Hände hoch!“, schrie ein Polizist, der sich hinter seiner Autotür verschanzte und die Pistole auf die Brüder gerichtet hatte, nachdrücklich. Matthew hob seine Hände demonstrativ noch höher, aber Joshua war plötzlich unfähig sich zu bewegen. „Mach die Hände hoch!“, flüsterte Matthew ihm zu, doch Joshuas Knie wurden weich und er musste sich an dem Autodach festklammern. Er hatte nie gewollt, dass es so weit kam. Er war doch nur ein Junge, der nicht mehr an der Armutsgrenze leben wollte. Und jetzt starrte er in den Lauf einer Pistole und war unfähig sich zu bewegen. Er konnte nicht mehr atmen, ihm war heiß und kalt zugleich. „Ich warne sie ein letztes Mal, nehmen sie ihre Hände hoch!“, wiederholte nun ein anderer Polizist mit einem Megafon, der ebenfalls seine Waffe auf Joshua und Matthew richtete. „Josh!“, rief nun auch Matthew, aber Joshua war wie festgefroren. Er war erstarrt und konnte keinen Muskel bewegen. Es fühlte sich an, als würde er nur daneben stehen und sich selbst zusehen, unfähig zu handeln. Mindestens zehn Polizisten richteten nun ihre Waffe auf Joshua und warteten darauf, dass er endlich seine Hände hob. Stattdessen trat er jedoch aus Mangel an Gleichgewicht einen Schritt nach vorne…was ein gewaltiger Fehler war.
Einer der Polizisten dachte, er wolle irgendetwas versuchen und schoss. Es war eine einzige Patrone, die sich aus der Pistole des Polizisten löste. Der Knall hallte durch die Nacht und war noch meilenweit zu hören. Dann war alles still…und Joshua starrte erschrocken auf eine klaffende Wunde in seinem Bauch. Er sah zu Matthew, der ihn wiederum völlig überwältigt ansah. Dann brach Joshua zusammen und aus Matthews Kehle erklang ein herzzerreißender Schrei. Er stürzte nach vorne und um das Auto herum, um zu seinem Bruder zu gelangen. Doch dieser lag schon auf dem Boden, mit starrem und leerem Blick in den Himmel. „Nein! Nein, nicht Josh! Josh!“, schrie Matthew in die Nacht hinein, als mehrere starke Arme nach ihm griffen und ihn von seinem Bruder wegzerrten. Die Polizisten legten ihm Handschellen an und drückten ihn in eines der Polizeiautos. Doch Matthew nahm nichts davon wahr, denn vor seinen Augen sah er nur noch das Gesicht des Mannes, der seinen geliebten Bruder ermordet hatte…seinen geliebten Bruder…
10 Jahre später…
Die heiße Mittagssonne schien hell vom blauen Junihimmel auf die trockene Wüstenlandschaft des Grand Canyon Nationalpark herab. Ein metallic roter Dodge Ram fuhr über den glühenden Asphalt des Highways 93 in Richtung Phoenix und bog schließlich in die Pierce Ferry Road ab. Das Fahrzeug wurde langsamer und durchquerte mit knapp 30 Meilen pro Stunde die glühend heißen Sandebenen. Am Horizont flimmerte die Luft und trockener Staub wurde unter den Reifen aufgewirbelt. Am Steuer des Autos saß eine junge Frau mit hellbraunen Haaren, die sie sich zu einem lockeren Dutt gebunden hatte. Sie trug eine schwarze Sonnenbrille und trommelte mit den Fingerspitzen auf dem Lenkrad zu einem Lied, dass aus den Autolautsprechern erklang. Ihr Name war Nora Peterson und sie war 31 Jahre alt. Leise summte sie zu einem alten Song einer berühmten Band, während sie an dem Ortsschild einer kleinen Gemeinde namens Dolan Springs vorbeifuhr. Nach nur wenigen hundert Metern trat Nora erneut auf die Bremse und bog in eine kleine Seitenstraße ab. Hier standen mehrere Häuser dicht an dicht und schließlich blieb Nora vor einem kleinen Haus in der hintersten Wohnreihe stehen. Sie schaltete den Motor ab, griff nach ihrer schwarzen Handtasche und öffnete die Autotür.
Als sie ins Freie trat, entgegnete ihr die enorme Hitze Arizonas und Nora brauchte einen Moment, um sich zu akklimatisieren. Es raubte ihr jedes Mal wieder den Atem und sie wäre am liebsten sofort wieder in ihr Auto zu der kühlenden Klimaanlage gestiegen. Doch sie hatte kaum Zeit sich an die Hitze zu gewöhnen, denn schon rief ihr eine freundliche Männerstimme zu: „Hey, Nora! Bist du schon wieder da? Wieso bist du nicht arbeiten?“ Nora drehte sich etwas genervt um, setzte jedoch schnell ein freundliches Lächeln auf, als sie dem älteren Mann von nebenan antwortete: „Albus, schön dich zu sehen! Nein, ich habe heute Abend eine Sunset-Tour. Du weißt doch, wie gut das bei den Touristen ankommt. Ich wollte mich vorher nur nochmal frisch machen.“ Albus nickte verständnisvoll und meinte dann: „Stimmt, stimmt…sag mal, hättest du Lust am Wochenende zum Grillen vorbeizukommen? Patricia und ich wollen am vierten Juli ein paar Freunde einladen und du kannst gerne vorbeikommen. Natürlich nur, wenn du nichts anderes vorhast.“ Nora zögerte einen Moment. Heute war Dienstag, der 30. Juni, also war schon am Samstag der vierte Juli. Sie hatte in letzter Zeit irgendwie ihr Zeitgefühl verloren und wusste nie wirklich, welcher Tag war. Wie jedes Jahr hatte Nora keine Pläne für den Unabhängigkeitstag und Albus wusste das ganz genau, aber er wollte es nicht so offen sagen. Also antwortete Nora freundlich: „Danke, ich komme natürlich gerne. Soll ich irgendetwas mitbringen?“ „Nein, wir sorgen für alles. Dann bis Samstag!“, verabschiedete Albus sich, trat durch seine Haustür und verschwand im Haus.
Nora sah ihm noch eine Weile nach, bevor auch sie zu ihrer Haustür ging und eintrat. Sie legte ihre Handtasche auf die kleine, graue Kommode, die an der rechten Wand des Flurs stand. Gegenüber befand sich ein großer Spiegel und ein flacher Schuhschrank, vor dem sie nun ihre hohen, braunen Lederstiefel abstellte. Die Wände waren in einem angenehm hellen Beigeton gestrichen und die Möblierung des gesamten Hauses hatte den gleichen hellen Grauton. Müde nahm Nora auch ihre Sonnenbrille vom Kopf und legte sie zu ihrer Handtasche. Dann durchquerte sie langsam den Flur und ging in die schmale Küche, die nur aus zwei Herdplatten, einem Ofen, zwei Schränken und einer kleinen Arbeitsfläche mit Spüle bestand. Neben der Arbeitsfläche befand sich ein niedriger Kühlschrank, der jedoch meistens leer war. Sie hatte kaum Zeit und meistens auch keine Motivation einkaufen zu gehen, weshalb ihre Ernährung größtenteils aus bestelltem Essen vom Asiaten bestand.
Ein Tisch mit zwei Stühlen stand an der linken Wand der Küche und ein großes Fenster öffnete den Blick auf die Straße. Eine Vase mit etwas zu alten Blumen stand auf dem Tisch und mehrere Teller stapelten sich in der Spüle. Die Geschirrspülmaschine war vor einigen Wochen kaputtgegangen, doch Nora hatte weder das Geld noch die Zeit, um sie reparieren zu lassen, geschweige denn sich eine neue zu kaufen. Also ging sie nun zur Spüle, öffnete den Wasserhahn und begann die letzten Essensreste von den Tellern zu spülen. Als Nora schließlich das Geschirr geputzt hatte, stellte sie es zurück in die leeren Schränke, in denen sich sonst nichts befand. Sie besaß nicht mehr als vier Teller, vier Gläser und das Besteck dazu. Mehr brauchte sie nicht. Und auch die vier Exemplare besaß sie nur, um nicht jeden Tag abspülen zu müssen, denn sie aß stets allein.
Es war Jahre her, dass Nora Besuch von jemandem hatte. Ihre Schulfreunde wohnten alle in einem anderen Bundesstaat, manche in Kalifornien, andere sogar in New York oder Washington, am anderen Ende des Landes. Nora hatte es nie weiter als bis zu diesem Haus geschafft. Sie war stolz darauf, überhaupt aus ihrem Heimatort, Indian Springs, einem kleinen Ort kurz vor Las Vegas, herausgekommen zu sein und nun etwa 120 Meilen weiter am Rande Arizonas zu leben. Dort hatte sie sich ein neues Leben aufgebaut und arbeitete jetzt als Touristenführerin am Grand Canyon. Sie würde erst bei Sonnenuntergang zum Grand Canyon Skywalk fahren und dort ihre nächste Gruppe von neugierigen Touristen abholen müssen. Es war immer ein beliebter Treffpunkt, da die Touristen dort sowieso meist hinwollten und das ersparte Nora nervige Gespräche mit ihnen. Sie selbst war den Ausblick mittlerweile fast leid und freute sich jeden Tag, wenn sie endlich in ihrem Bett liegen und schlafen konnte. Ihre Menschenscheu war wohl auch ein großer Faktor, weshalb sie mit niemandem außer Albus von nebenan befreundet war. Sie hatte nichts gegen Menschen an sich, sie hasste nur die Fragen, die sie stellten und die banalen Gespräche über unwichtige Themen. Sie kam auch ganz gut allein zurecht.
Nun verließ Nora die Küche und ging stattdessen in das ebenso kleine Wohnzimmer, wo sich eine Couch, ein Fernseher und ein weiterer Tisch für vier Personen befand. Nicht, dass sie ihn je brauchen würde… Erschöpft ließ sie sich auf die Couch fallen und schaltete den Fernseher ein. Ein Sender zeigte gerade eine Tierdokumentation über Löwen in der Savanne Afrikas. Nora sah fasziniert zu, wie der Löwe eine Gazelle riss und sich dann gemütlich auf einen Stein legte, um zu essen. Schon seit sie ein kleines Mädchen war, hatte Nora immer davon geträumt einmal in Afrika zu sein und diese Tiere in freier Wildbahn zu erleben. Doch sie war niemals so weit gekommen und nun hatte sie sowieso nicht das Geld dazu. Also dachte Nora schnell an etwas anderes und ließ sich von irgendeiner Kochsendung berieseln, bis es schließlich Abend wurde. Um 17:00 Uhr erhob sie sich von der Couch und ging schnell ins Bad, um sich frisch zu machen. Bevor sie sich ein frisches T-Shirt überzog, zuckte sie beim Blick in den Spiegel wie immer zusammen, als sie die zwei feinen Narben an ihrer Hüfte und auf ihren unteren Rippen sah. Die Erinnerung daran bescherte ihr auch nach so vielen Jahren noch Albträume. Schnell verdrängte sie den Gedanken und zog sich an. Dann stieg sie wieder in ihre Lederstiefel und setzte ihre Sonnenbrille auf. Sie griff nach ihrer Handtasche, zog den Haustürschlüssel aus dem Schloss und verließ das Haus. Mit schnellen Schritten ging sie über die Auffahrt und zu ihrem Dodge Ram. Sie öffnete die Fahrertür, warf ihre Tasche auf den Beifahrersitz und stieg ein. Dann fuhr sie deutlich zu schnell von der Auffahrt und beschleunigte weiter. Sie schoss aus der kleinen Seitenstraße auf die Hauptstraße, die bis zum Grand Canyon führte und sah den Ort schon bald nur noch klein im Rückspiegel.
Die Fahrt dauerte etwa 50 Minuten und als Nora schließlich den Parkplatz des Grand Canyon Skywalks erreichte, war es bereits 18:00 Uhr. Die Führung würde in einer Viertelstunde beginnen, weshalb Nora aus ihrem Auto stieg und gemächlich in Richtung Skywalk ging. Es waren immer noch knapp 40 Grad und Schweißtropfen liefen ihren Rücken hinunter, als sie den leichten Anstieg zu dem Restaurant am Skywalk hinaufging. Vor dem Restaurant wartete bereits eine Gruppe von fünf Menschen, zwei Frauen, zwei Männer und ein kleiner Junge, auf Nora. „Guten Abend!“, begrüßte Nora ihre Gruppe. Einer der Männer trat einen Schritt auf sie zu und fragte: „Sind sie Miss Peterson?“ „Ja, genau die bin ich. Und sie sind vermutlich alle für die Sunset-Tour hier, nicht wahr?“, entgegnete Nora, obwohl sie die Antwort bereits kannte. Es gab keine anderen Führer, die am Dienstagabend eine Führung bei Sonnenuntergang machten, diesen Tag hatte sie sich extra vorbehalten. Die meisten machten diese Führungen nur am Wochenende, aber da es für Nora sowieso wenig Unterschied machte, bot sie diese auch mehrmals unter der Woche an. Der Mann nickte und die Frau, die neben ihm stand und vermutlich seine Ehefrau war, wollte weiter wissen: „Wie viele kommen denn noch? Da stand irgendetwas von exklusiv, deshalb dachten wir, es wäre eine kleine Gruppe.“ Nora hätte am liebsten laut gelacht, konnte es sich aber doch verkneifen. Das dachten viele Menschen und Nora konnte nicht leugnen, dass es in gewisser Weise ihre Absicht gewesen war. Es zog mehr Touristen an, wenn sie dachten, sie waren es etwas Besonderes.
Um ihren Irrtum aufzuklären, antwortete Nora: „Oh, nein, es ist eine Exklusivtour, weil niemand sonst die Sunset-Touren unter der Woche anbietet. Aber sie haben heute Glück, es haben sich tatsächlich nur wenige angemeldet. Wir müssten noch auf zwei Pärchen warten, dann können wir auch schon los.“ „Oh, okay…“, kam es von der Frau etwas enttäuscht zurück, sie beließ es aber dabei. Nach wenigen weiteren Minuten kamen auch die anderen Teilnehmer und Teilnehmerinnen der Führung und Nora sammelte das Geld von jedem ein. Sie wollte sich heute noch ein Abendessen leisten können. Dann konnte sie endlich die Führung starten und sie begannen den Abstieg am Grand Canyon entlang und immer tiefer, bis ins Flussbett hinunter. Nora kannte Wege, über die sie gehen konnten, ohne zu sterben, aber sie wiederholte immer wieder: „Ich möchte sie noch einmal daran erinnern, unbedingt bei der Gruppe zu bleiben! Wenn sie bei mir bleiben, ist die Wahrscheinlichkeit nicht zu sterben ziemlich hoch, kommen sie jedoch vom Weg ab, kann sich das sehr schnell ändern. Von überall können Steine abbrechen und sie können jederzeit von einem erschlagen werden.“ Nicht ohne eine gewisse Belustigung beobachtete Nora, wie sich der kleine Junge an seiner Mutter festklammerte und die Mutter zu Nora sagte: „Sagen sie doch sowas bitte nicht.“ „Verzeihung, aber ich muss sie auf die Gefahren hinweisen, das schreibt mein Arbeitgeber mir vor“, meinte Nora nur trocken und ging weiter. Die restliche Zeit ließ sie ihre Späße lieber, weil sie dringend das Trinkgeld brauchte. Sie arbeitete für das ansässige Tourismusunternehmen und ihr Gehalt reichte gerade so für die Miete und das Nötigste. Um 20:30 Uhr hatte sie dann endlich wieder alle verabschiedet und auch etwas Trinkgeld einsammelt, mit welchem sie nun in ein Restaurant wenige Meilen weiter gehen konnte. In ihrem Kühlschrank befand sich ja sowieso nichts…
Nur wenige Meilen vom Grand Canyon Skywalk befand sich der Serenity Hubschrauberlandeplatz. Hier herrschte den ganzen Tag über reger Betrieb, Touristen kamen und gingen und die Hubschrauber hoben jede Stunde ab, um Rundflüge und Rettungseinsätze zu machen. Fast jeden Tag mussten unwissende Besucher gerettet werden, weil sie vom Pfad abgekommen waren oder einen Sonnenstich erlitten hatten. In der heißen Mittagssonne stand ein junger Mann mit kurzen, dunkelbraunen Haaren, sonnengebräunter Haut und einer Pilotenbrille. Er trug eine kurze Hose mit einem weißen T-Shirt und lehnte an einem Klapptisch, von wo aus er eine Familie, die nah am Fluss ein Picknick machte, beobachtete. Sein Name war Winston Clark, er war 32 Jahre alt und seit einigen Jahren Hubschrauberpilot am Grand Canyon. In seiner Hand hielt er eine kalte Limonade und er lächelte, als das kleine Mädchen der Familie einen Radschlag versuchte. Er schloss seine Augen und richtete das Gesicht der Sonne entgegen, während Schweißperlen seine Stirn hinunter liefen. Es waren über 40 Grad, aber er liebte die Hitze und die Sonne Arizonas, weshalb es ihn nicht störte. Statt sich daran zu stören, nahm er jeden Sonnenstrahl in sich aufund atmete tief ein.
Neben ihm tauchte ein weiterer Mann auf, der sich nun ebenfalls an den Tisch lehnte. „Hey, Wins, kommst du heute Abend noch mit auf die Ranch?“, fragte der Mann und Winston drehte sich zu ihm. Mit der „Ranch“ war das kleine Restaurant im nächsten Ort gemeint, das seit langem ihr Stammlokal war. Aber eigentlich gingen sie nur dorthin, weil die nächste Bar knapp eine Stunde entfernt war. Also lächelte Winston und meinte: „Klar, wenn du bezahlst. Ich habe letztes Mal schon ausgegeben, Sam.“ „Na gut, hast ja recht. Wir sehen uns bei Schichtende“, damit ging Sam wieder davon, bevor Winston noch etwas sagen konnte. Sam war seit Winstons erstem Tag da und für die Touristeninformation vor Ort zuständig. Er hatte seit Jahren nicht mehr in einem Hubschrauber gesessen. Sam war Mitte 40 und wohnte mit seiner Frau und zwei kleinen Söhnen in einem Nachbarort, knapp 30 Minuten von dem Flugplatz entfernt.
Winston wollte gerade in das weiße Holzhaus hinter ihm gehen und sich ein neues Getränk holen, als plötzlich eine junge Frau mit Pilotenhelm und Funkgerät in der Hand auf ihn zu gerannt kam. Sie war seit einigen Monaten seine Copilotin und hieß Hazel Campbell. „Wins! Wo ist dein Funkgerät?“, rief Hazel aufgebracht im Näherkommen. „Mein…“, Winston sah sich verwirrt um, „Mist, ich muss es drinnen vergessen haben…Was ist los?“ „Wir müssen los. Zwei Wanderer sind in einem Felsspalt eingeklemmt“, erklärte Hazel schnell und rannte schon auf den weiß-orangenen Rettungshubschrauber zu. Winston folgte ihr so schnell er konnte und griff im Laufen noch nach seinem eigenen Helm, der auf dem Tisch lag. Er tauschte die Brille gegen den Helm und sprang ihr hinterher in den Hubschrauber. Hinter dem Cockpit saß bereits eine weitere Person mit Helm, die Winston nicht kannte. Ohne zu zögern betätigte er den Startknopf und griff nach den Steuerhebeln. „Wohin?“, war alles, was er fragen musste, während der Hubschrauber bereits vom Boden abhob. „Vier Meilen östlich von hier“, entgegnete Hazel sofort und konzentrierte sich auf die Landschaft. Winston hantierte mit den Steuerhebeln und brachte den Hubschrauber auf Kurs.
Es dauerte nur eine knappe Viertelstunde bis Hazel die Hand hob und Winston anwies langsamer zu fliegen. Er tat wie geheißen und lenkte den Hubschrauber ein Stück nach unten. Mit den Augen scannte er die Landschaft, auf der Suche nach jeder Auffälligkeit. Es war mittlerweile alles Routine. Jeder Handgriff, jeder Blick, jede Bewegung erfolgte wie völlig selbstverständlich. Er wusste, dass er seinem Blick vertrauen konnte, der gezielt jeden Millimeter des Bodens nach Auffälligkeiten absuchte. Seit über sieben Jahren machte er jetzt bereits diesen Job und er hatte genug Erfahrung, um mit dem meisten Situationen umzugehen. Außerdem kannte er den Canyon in und auswendig. Plötzlich rief Hazel neben ihm: „Da! Die rote Fahne!“ Winstons Blick folgte ihrem Finger und tatsächlich, zwischen den braunen und gelben Steinen lugte ein kleiner roter Punkt hervor. Die Notfallfahne, die jeder Wanderer dabeihaben sollte. Winston verlangsamte den Hubschrauber weiter und brachte ihn schließlich über der Fahne zum Stehen. „Der Boden ist zu uneben, wir können hier nicht landen. Es muss so gehen“, erklärte Winston und Hazel nickte zustimmend. „Dann halt ihn ruhig und ich gehe runter“, entgegnete Hazel. „Ist gut, aber pass mit den Felsen auf. Der Spalt sieht ziemlich instabil aus“, warnte Winston besorgt, doch Hazel verdrehte nur genervt die Augen: „Natürlich, Bob passt schon auf mich auf.“ Bob war anscheinend der Mann, der auf dem hinteren Sitz saß. Er musste erst seit kurzem dabei sein, da Winston ihn noch nie zuvor gesehen hatte. „Schaffst du das?“, fragte Winston daher, doch Bob antwortete nur ebenso genervt und mit überraschend tiefer Stimme: „Ja, ich bin kein Anfänger.“ Winston biss sich auf die Lippe, er hatte mit einem jungen Anfänger gerechnet, aber vermutlich war Bob nur versetzt worden. „Verzeihung, dann los!“, entschuldigte Winston sich knapp und Hazel hakte sich endlich in ein Seil ein und seilte sich hinab.
Winston hielt den Hubschrauber so still es ging und blickte aus dem Fenster nach unten zu Hazel. Sie hatten Glück, dass es ein besonders ruhiger Tag war und kaum eine Windböe den Hubschrauber ins Wanken brachte. Man konnte die beiden Verunglückten von oben nicht sehen, aber sie mussten irgendwo in dem etwa einen Meter breiten Spalt sein, der sich über die spitze Ebene zog. Hazel erreichte nun den Spalt und Bob stoppte das Seil. Über Funk meldete Hazel: „Die beiden sind ungefähr fünf Meter tief in dem Spalt. Der Mann scheint ein verletztes Bein zu haben, die Frau hat eine Kopfverletzung. Ich glaube, sie ist bewusstlos. Ich muss weiter rein, um sie zu erreichen und mit der Trage herausholen.“ Ohne zu antworten sicherte Bob die Trage, die neben ihm lag, mit einem weiteren Seil und schickte sie zu Hazel herunter. Winston konzentrierte sich auf die hohen Felsen, die sich um den Spalt herum befanden. Es war ihm ein Rätsel, wie die beiden überhaupt dort hinein gelangt waren, aber das würde man später klären können. Nun konnte er nur hoffen, dass nichts gegen die Felsen kam, da sie sonst einstürzen könnten. Bob ließ Hazel vorsichtig weiter herunter, die daraufhin im Spalt verschwand.
Winston hielt die ganze Zeit über die Luft an. So sehr er seinen Beruf auch liebte, so sehr brachte es ihn jedes Mal wieder um den Verstand, wenn einer seiner Kollegen runtergeschickt wurde. Jedem war bewusst, wie gefährlich jeder Abgang war und man kannte genügend Geschichten von Einsatzkräften, die es nicht geschafft hatten. Außerdem hatte Winston das Kommando, was ihn in gewisser Weise verantwortlich für alles machte… Und am schlimmsten war es bei Hazel. Sie war mittlerweile wie eine kleine Schwester für Winston und er hasste es, sie dort unten zu sehen, weil er nicht wusste, wie er ohne sie weitermachen sollte. Sie war seine beste Freundin und er würde es sich nie verzeihen, wenn ihr etwas passieren würde.
Er konnte erst wieder aufatmen, als Hazel sich nach einigen qualvollen Momenten wieder über Funk meldete: „Okay, ich bin jetzt bei den beiden. Sie sind ansprechbar und scheinen in einem guten Zustand zu sein. Ich nehme jetzt die Trage und…verdammt!“ Winstons Herz blieb stehen. „Was?“, schrie er plötzlich panisch. Im gleichen Moment sah er, wie sich ein Steinbrocken aus seiner Position löste und große Brocken in den Spalt hinabstürzten. „Hazel!“, brüllte Winston atemlos, „Hazel, bist du noch da?“ Doch es kam keine Antwort mehr. Seine größte Angst war wahr geworden…
Erschrocken und frustriert zugleich drehte Winston sich zu Bob um und sagte in Befehlston: „Komm nach vorne, du musst das Steuer übernehmen!“ „Aber-“, wollte Bob widersprechen, aber Winston ließ keine Widerworte zu: „Nein, ich habe das Kommando und Hazel ist in Lebensgefahr. Ich will nicht, dass dir auch noch etwas passiert. Also komm jetzt nach vorne und steuere diesen Vogel für mich!“ Bob widersprach nicht mehr und kletterte stattdessen nach vorne auf den Sitz neben Winston, der seinerseits nach hinten kletterte. Er hakte sich in ein weiteres Seil ein und sprang ohne zu zögern aus dem Hubschrauber. Er fiel etwa sieben Meter in die Tiefe, bis das Seil ihn fing und Bob ihn über den automatischen Schalter hinunterlassen konnte. Der Boden näherte sich ihm rasant und schon nach einigen weiteren Metern konnte er das Unglück sehen. Die Brocken waren die Felswand hinuntergerollt und hatten die Sicht auf Hazel und das Ehepaar versperrt. Vorsichtig näherte Winston sich dem Spalt und zwängte sich durch die Öffnung. „Hazel!“, schrie er besorgt, erhielt jedoch keine Antwort. Sein Herz raste, während Winston sich seinen Weg den Spalt hinunter bahnte. Die Angst schnürte ihm die Kehle zu. Was würde er gleich sehen? In seinem Kopf sah er schon die schlimmsten Bilder.
Die Steinbrocken waren auf dem Boden zersplittert und als Winston noch einen halben Meter weiter herabgelassen wurde, konnte er den Körper des Mannes erkennen, der halb von einem Steinbrocken verdeckt wurde. Neben ihm lag seine Frau, bewusstlos, aber noch am Leben. Ein Brocken quetschte ihr Bein ein, doch Winston konnte sehen, dass sich ihre Brust hob und senkte, was Winston zumindest etwas beruhigte. Und nun endlich entdeckte Winston auch Hazel. Sie lag mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden, ein Brocken musste ihren Kopf getroffen haben. Panisch näherte Winston sich ihr und drehte sie vorsichtig auf den Rücken: „Hazel? Hazel, kannst du mich hören?“ Sie reagierte nicht, aber Winston konnte ihren Atem in seinem Gesicht spüren. Etwas erleichtert atmete Winston aus. „Sie sind alle noch am Leben“, teilte Winston über das Funkgerät an seinem Helm mit. „Gott sei Dank“, kam es von Bob zurück und Winston ging wieder zu dem Mann. „Mister?“, fragte Winston, aber auch hier erhielt er keine Antwort. Also versuchte er mit aller Kraft, den Stein auf seiner Brust anzuheben. Nichts. Er versuchte es erneut und stemmte seine Füße dabei gegen die Felswand neben ihm. Seine Muskeln brannten und er stöhnte vor Anstrengung. Dieses Mal bewegte der Stein sich ein Stück und Winston versuchte es erneut. Mit all seiner Kraft drückte er sich gegen den Stein und schaffte es tatsächlich ihn von sich wegzudrücken.
Der Stein schlug mit einem lauten Knall auf den Boden auf und die Wände vibrierten. Panisch blickte Winston nach oben, aber es fielen nur kleine Kieselsteinchen von oben herunter. Er atmete tief ein und griff dann nach der Trage, die nach wie vor auf dem Boden des Spalts lag. Er hievte den Mann in das Metallgestell und befestigte ihn mit Gurten an allen Seiten. Dann gab er Bob ein Zeichen über Funk: „Okay, der Mann ist gesichert, zieh die Trage hoch. Lass sie wieder runter, wenn der Mann in Sicherheit ist.“ „Verstanden“, war alles, was zurückkam und Winston wandte sich der Frau zu. Sie schien sich nun zu rühren und er rannte schnell zu ihr: „Ma’am? Können sie mich hören? Ich bin Winston und ich hole sie hier raus.“ Die Frau öffnete ihre Augen einen Spalt weit und nickte schwach. Das reichte Winston für den Moment. Er wandte sich dem Brocken auf ihrem Bein zu und packte ihn mit beiden Händen. Er war kleiner als der zuvor und Winston schaffte es bereits beim ersten Versuch, den Brocken anzuheben und auf den Boden zulegen. Die Frau heulte auf, als sich der Druck von ihrem Bein löste und Winston eilte schnell wieder zu ihr. „Ganz ruhig, ich stabilisiere jetzt ihr Bein und dann bringen wir sie hier raus“, erklärte Winston, während Bob sich über Funk meldete: „Achtung, die Trage kommt wieder runter.“ In diesem Moment kam die Trage durch den Spalt nach unten und Winston griff augenblicklich nach ihr. Er zog sie näher zu sich und hob vorsichtig die Frau in die Trage. Er versuchte ihr Bein mit einem Gurt zu fixieren, der gleichzeitig die Blutung stoppen sollte. „Sie ist drin, zieh sie hoch und lass die Trage dann ein letztes Mal für Hazel runter“, meinte Winston in sein Funkgerät und die Trage wurde sogleich nach oben gezogen.
So schnell er konnte rannte Winston nun zu Hazel und kniete sich neben ihr hin. „Hazel?“, fragte er sanft und nahm den Helm vorsichtig von ihrem Kopf, darauf bedacht ihren Hals so wenig wie möglich zu bewegen. Er konnte sich nicht sicher sein, ob ihre Wirbelsäule oder ihr Genick getroffen war. Hazel bewegte sich nach wie vor nicht, aber Winston konnte immer noch ihren flachen Atem auf seiner Haut spüren. „Ich schicke die Trage jetzt wieder runter“, erklärte Bob über Funk und Winston sah nach oben, um die Trage zu sehen. Sie glitt gerade durch den Spalt, als plötzlich ein Windstoß aufkam. Die Trage schwenkte zu Seite und prallte gegen die Felswand. Ein Stein kam ins Rollen und ein weiterer Steinregen hagelte in den Spalt. Winston sprang nach vorne, um Hazel zu schützen, als schwere Steine auf seinen Rücken prallten. Er spürte den Schmerz, als ein spitzer Stein seinen Arm aufschnitt. Ein Brocken traf seine Hüfte. Ein Stein schlug auf seine Schulter. Doch Winston gab nicht nach. Ohne sich zu rühren ließ er jeden Schlag über sich ergehen. Die Zeit schien nur noch mit halber Geschwindigkeit zu laufen. Mit jedem weiteren Schlag sackte sein Körper ein Stück weiter nach unten, aber er hielt ihn dennoch oben, um Hazel nicht zu verletzen. Die ganze Zeit über hielt er schützend seinen Kopf über ihren und blickte in ihr unschuldiges, schmerzverzerrtes Gesicht, auch wenn ihre Augen geschlossen waren.
Es schien eine Ewigkeit zu vergehen, bis schließlich auch der letzte Stein gefallen war. Sofort meldete Bob sich über Funk: „Winston? Geht es dir gut?“ Winston brauchte einen Moment, um wieder zu Atem zu kommen, doch dann antwortete er: „Ja…es geht schon. Die Brocken waren zum Glück nur klein, wir kommen gleich.“ Winston atmete tief durch und kontrollierte schnell, ob Hazel getroffen worden war. Das war jedoch nicht der Fall. Aufatmend hob er nun auch sie in die Trage. Dann bedeutete er Bob, die Trage mitsamt Winston hochzuziehen. Langsam setzte sich das Seil in Bewegung und die Trage wurde durch den engen Spalt gezogen. Einen Augenblick hatte Winston Sorge, der Spalt könnte nicht breit genug sein oder es könnte ein weiterer Windstoß aufkommen, doch nichts dergleichen geschah. Endlich kamen sie aus dem Spalt heraus. Winston atmete tief ein und dankte Gott dafür noch am Leben zu sein. Er war lange nicht so froh gewesen, die Sonnenstrahlen wieder in seinem Gesicht zu spüren. Einen Moment hielt Winston inne und genoss es. Dann wandte er sich Hazel zu und suchte ihren Körper nach weiteren Wunden ab, während sie durch die Luft schwebten.
Nach etwa einer Minute erreichten sie wieder den Hubschrauber, wo Bob sie bereits erwartete. Er zog die Trage mit Hazel herein und half dann auch Winston in den Hubschrauber. „Winston, sicher, dass es dir gut geht? Du blutest“, stellte Bob besorgt fest. Auch Winston musterte nun seine Wunden, die er zuvor dank des Adrenalins nicht gespürt hatte. Ein tiefer Schnitt zog sich über seinen rechten Oberarm, doch er war dünn und hörte bereits auf zu bluten. Auch seine Schulter musste einen starken Schlag abbekommen haben, denn er konnte sie kaum noch bewegen. Außerdem hatte er weitere Schnitte an seinen Beinen und er würde sicher einige schwere Blutergüsse davontragen, aber er würde es überleben. „Schon gut, es sind nur kleine Schnitte. Es wird wohl ein paar schöne Hämatome geben, aber mehr auch nicht. Es tut auch schon fast gar nicht mehr weh. Dann flieg uns mal zurück, die drei müssen versorgt werden“, erklärte Winston, obwohl Bob ihm das wohl nicht ganz abkaufte. Winston wusste selbst, wie unglaubwürdig er klang, aber er sorgte sich jetzt mehr um Hazel. Bob schien es ähnlich zu gehen, denn er kletterte ohne zu zögern nach vorne.
Winston schloss die Tür und der Hubschrauber setzte sich wieder in Bewegung. Bob flog ihn in Richtung Las Vegas und kontaktierte das nächstgelegene Krankenhaus. Währenddessen versorgte Winston die Wunden der Verletzten und setzte sich zu Hazel, die nach wie vor bewusstlos war. Ihre Haut war aschfahl und hätte Winston nicht ihren Atem gespürt, hätte er sie wohl für tot gehalten. „Hazel?“, flüsterte Winston erneut und strich ihr behutsam eine Strähne aus dem Gesicht. Bei der Berührung zuckte ihr Gesicht plötzlich zusammen und Winston zog erschrocken die Hand zurück. „Hazel, kannst du mich hören?“, wiederholte Winston und tatsächlich, Hazels Augenlider flackerten und öffneten sich schließlich. „Wins…was…? Wo…bin ich?…Was ist passiert?“, fragte Hazel schwach. Ihre Stimme war brüchig und jedes Wort schien ihr Schmerzen zu bereiten. „Ganz ruhig, alles ist gut. Du bist im Hubschrauber, wir bringen dich ins Krankenhaus“, erklärte Winston schnell und spürte, wie ihm ein Stein vom Herzen fiel.
Er hätte es sich nie verzeihen können, wenn Hazel heute gestorben wäre. Auch wenn sie noch nicht allzu lange dabei war, gehörte sie zu den wichtigsten Menschen in seinem Leben. Sie kannte ihn und er kannte sie, all ihren Schmerz und auch alles, was sie glücklich machte. Er brauchte ihr Lächeln jeden Tag, um weiterzumachen und nicht selbst aufzugeben. Sie war die kleine Schwester, die er nie gehabt hatte und ohne sie wüsste er nicht, wie er den Beruf weiterhin schaffen sollte. Auch wenn es schöne Tage gab, an denen sie die Menschen retten konnten, so gab es ebenso viele Tage, an denen sie nur dem Tod begegneten. Zu viele Menschen waren schon in Winstons Armen gestorben und Hazel an seiner Seite zu haben machte das ein kleines bisschen erträglicher. Das wollte er auf keinen Fall verlieren. Hazel schloss erneut die Augen, um sich auszuruhen und Winston beobachtete sie aufmerksam.
Der Flug zum Krankenhaus dauerte knapp dreißig Minuten und als sie schließlich landeten, wurden sie bereits von mehreren Ärzten erwartet. Sie brachten das Ehepaar und Hazel rein und wollten auch Winston behandeln, aber dieser lehnte ab: „Nein, ist schon gut. Kümmern sie sich um die drei, ich komme klar.“ Winston nahm sich nur einige Tücher aus den Händen eines Arzthelfers. Dann drehte er sich um und ging davon. Ohne auf die Ärzte zu hören, die ihm widersprachen, stieg er wieder nach vorne in den Hubschrauber. Bob sah ihn zunächst überrascht an, zuckte dann jedoch mit den Schulten. Winston meinte zu ihm: „Na komm, bring uns zurück zum Landeplatz. Bald ist Feierabend und ich bin noch verabredet.“ Bob sah aus, als wolle er etwas entgegnen, beließ es dann jedoch dabei und starte stattdessen den Motor.
Auf dem Rückflug sagte Bob nach einer Weile schließlich: „Was du heute getan hast, war übrigens beeindruckend. Ich muss sagen, ich mochte dich vor all dem hier wirklich nicht, ich hielt dich für einen Angeber, große Klappe, nichts dahinter, du weißt schon. Du hast mich ja nicht mal richtig angeschaut, als wir uns vorhin kennengelernt haben. Ich mag dich immer noch nicht, bilde dir ja nichts ein, aber du hast dir heute zumindest meinen Respekt verdient. Du hättest dich für diese Menschen ohne zu zögern geopfert. Ich weiß nicht, was da zwischen dir und Hazel ist, aber ich glaube, du hättest das gleiche für mich getan, auch wenn du mich nicht kennst. Manche würden das einfach als leichtsinnig bezeichnen, aber ich bewundere das, es ist das, was uns für diesen Job qualifiziert, was uns ausmacht. Also wie gesagt, du hast dir meinen Respekt verdient…“ Winston wusste nicht, was er dazu sagen sollte, aber das musste er auch gar nicht. Bob reichte ihm seine Hand und ohne zu zögern griff Winston danach. Er schüttelte sie lächelnd und meinte: „Du bist auch nicht so schlecht. Ich glaube, wir können uns schon arrangieren.“ Den restlichen Flug schwiegen sie und als sie schließlich landeten, ging die Sonne bereits unter. Winston verabschiedete sich von Bob und ging schnell in das kleine Gebäude auf dem Platz. Er holte sich einen Verband aus dem Erste-Hilfe-Schrank und verband damit seine Wunden. Dann stieg er in seinen schwarzen Chevrolet Silverado und fuhr der untergehenden Sonne entgegen zur Ranch…
Ihr Magen knurrte laut, als Nora sich endlich an einem Tisch in der Hualapai Ranch niederließ. Unter den Einheimischen wurde sie nur „Die Ranch“ genannt und war jeden Abend gut besucht. Eine Kellnerin kam an Noras Tisch und fragte freundlich: „Guten Abend, wissen sie schon, was sie zu trinken möchten?“ „Bitte eine große Coke und einen BBQ Bacon Haystack Cheeseburger“, bestellte Nora, wie sie es immer tat. Seit fast fünf Jahren kam sie mindestens einmal die Woche her und bestellte jedes Mal das gleiche Essen. Leider wechselte die Bedienung fast wöchentlich, weshalb sie sich nie ihre Bestellung merken konnten. Nora fragte sich schon seit Ewigkeiten, wie der Inhaber es schaffte, fast jede Woche neue Mitarbeiter zu haben. Aber am Ende war ihr das relativ egal, solange sie ihre Bestellung bekam. Die Kellnerin nahm ihre Bestellung auf und verschwand dann in der Küche. Das Restaurant war wie eine alte Cowboyranch eingerichtet und gab Nora immer ein heimisches Gefühl. Die Tische waren von Touristen besetzt, aber da es unter der Woche war, waren nicht allzu viele Touristen im Ort. Daher waren die anderen Plätze von Einheimischen belegt, Mitarbeiter im Tourismusbüro und auch einige aus der Stadt. Am Ende des großen Saals befand sich eine kleine Tanzfläche und die Bar, an der Nora vermutlich den Rest des Abends verbringen würde. Zumindest der Barkeeper blieb immer der selbe und mittlerweile kannten sich die beiden ganz gut.
Nach nur wenigen Minuten kam die Kellnerin zurück und brachte Nora ihre Coke. Durstig trank sie das halbe Glas leer und wartete dann auf ihren Burger. Dieser brauchte sehr viel länger als das Getränk, doch schließlich wurde auch er gebracht und Nora biss genüsslich hinein. Genau in diesem Moment ging die Eingangstür auf und eine Gruppe von sechs Männern kam herein. Nora hatte sie alle schon mehrfach gesehen, entweder arbeiteten sie beim Skywalk, im Touristenbüro oder bei dem Hubschrauberlandeplatz wenige Meilen entfernt. Als letztes kam ein junger Mann mit kurzen schwarzen Haaren in einem weißen T-Shirt, dass von Staub und Erde und etwas Rotem, das verdächtig nach Blut aussah, verschmutzt war, und einer eingerissenen kurzen Hose herein. Er hatte einen frischen Verband um den Arm und Nora schloss für sich, dass er einer der Rettungspiloten sein musste. Sie hatte schon gehört, dass es manchmal zu gefährlichen Situationen im Canyon kommen konnte. Die Touristen brachten sich in erstaunlich hoffnungslose Lagen und die Rettungskräfte mussten dann die Konsequenzen tragen. Nora hatte den Mann höchstens zwei Mal zuvor gesehen und es erstaunte sie, ihn nun mit den anderen Männern zu sehen. Als er die Tür hinter sich geschlossen hatte, wanderte sein Blick in Noras Richtung und ihre Blicke trafen sich. Noras Herz stoppte. Einige Sekunden hielt sie dem Blick stand, bevor sie schnell nach unten auf ihren Burger sah. Sie hatte ganz vergessen zu kauen und musste sich nun bemühen, um sich nicht zu verschlucken.
Die Männer setzten sich an einen Tisch ein kleines Stück entfernt und Nora bemerkte, wie einer von ihnen dem jungen Mann ein T-Shirt in die Hand drückte und der Mann im Bad verschwand. Das war vermutlich besser. Er kam nur wenige Minuten später in einem frischen, grauen T-Shirt zurück und setzte sich auf seinen Platz mit dem Rücken zu Nora. Sie versuchte sich wieder auf ihr Essen zu konzentrieren, doch es gelang ihr nur bedingt. Zu sehr wurde sie von diesem Mann abgelenkt, der so selbstsicher und unberührt durch den Raum lief, während sein halbes T-Shirt in Blut getränkt war. Nora verbrachte noch einige Minuten damit, den Mann von hinten anzusehen und ihren Burger kaum anzurühren, weshalb sie eine halbe Ewigkeit brauchte, um ihn aufzuessen. Doch schließlich hatte sie es geschafft und stand endlich auf.
Noras Glas war mittlerweile ebenfalls leer, weshalb sie nun an die Bar ging, an der Gruppe vorbei. Sie merkte, wie hinter ihr getuschelt wurde, doch es war Nora egal. Sie gab sich alle Mühe die Männer zu ignorieren und setze sich auf einen der Barhocker. Bewusst kehrte sie dem Mann, dessen Namen sie nicht kannte, ihrerseits den Rücken zu. Der altbekannte Barkeeper, mit dem Nora schon so oft über ihren Tag geredet hatte, begrüßte sie. „Ah, Nora. Ich habe dich schon vermisst. Wie waren die letzten Tage?“, fragte der Mann freundlich. „Ach Barney“, entgegnete Nora müde, „was soll ich sagen? Du kennst mich doch. Ich liebe es hier, die Landschaft, die Menschen, aber das war nie mein Traum… Jeden Tag die gleiche Tour, die gleichen Fragen, die gleichen dummen Antworten von nervigen Touristen… So habe ich mir mein Leben nie vorgestellt. Bald bin ich dreißig und lebe immer noch von der Hand in den Mund…“ Nora wusste, wie traurig und selbstmitleidend sie klang, aber sie war gerade in der Stimmung. An den meisten Tagen ging es ihr gut, aber manchmal…da konnte sie einfach nicht anders.
Barney stellte ein rotes Getränk mit einem Schirmchen drin vor Nora ab und lächelte aufmunternd. Dankbar nahm Nora einen Schluck von dem Cocktail, während Barney meinte: „Ach komm, so alt bist du noch nicht. Außerdem hast du ja noch mich. Du weißt doch, ich bin immer für dich da, falls du etwas brauchst. Und ich werde hier auch nie weggehen, also von daher…“ „Danke, ich glaube du bist neben meinem alten Nachbarn Albus und seiner Frau so ziemlich der netteste Mensch, den ich hier kenne“, erklärte Nora nachdenklich und nahm noch einen Schluck. Darauf wusste Barney nichts zu erwidern, also nickte er nur mitfühlend. Dann rief ein anderer Gast nach ihm und er ließ Nora allein mit ihren Gedanken sitzen.
Sie musste fast eine halbe Stunde dort gesessen haben, als plötzlich jemand neben ihr auftauchte. „Darf ich ihnen ein neues Getränk bestellen?“, fragte eine Stimme hinter ihr und Nora schreckte hoch. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass ihr Glas mittlerweile leer war. Erschrocken drehte sie sich um und stellte erstaunt fest, dass es der junge Mann mit dem blutigen T-Shirt war, der nun hinter ihr stand. Naja, jetzt hatte er ja ein anderes T-Shirt an und es ließ in kein bisschen weniger gut aussehen. Das blutige Shirt befand sich in einem Müllbeutel in seiner einen Hand, die andere mit dem Verband steckte in seiner Hosentasche. „Äh, wie bitte?“, fragte Nora nach, obwohl sie ihn eigentlich verstanden hatte. Sie war nur irgendwie von seiner ganzen Erscheinung abgelenkt. „Verzeihung, ich wollte sie nicht erschrecken. Ich wollte sie nur fragen, ob ich ihnen ein neues Getränk bestellen darf“, wiederholte der Mann freundlich. Nora war etwas überwältigt. Es war eine halbe Ewigkeit her, dass sie jemand angesprochen und ihr einen Drink ausgegeben hatte. Und wenn, dann nicht hier, sondern in der großen Stadt. Sie brauchte einen Moment, um sich zu sammeln, doch schließlich antwortete Nora krächzend: „Ja, gerne.“ Der Mann lächelte und wandte sich an Barney, um Nora noch ein Getränk zu bestellen.
Danach legte er das Shirt auf den Boden, setzte er sich neben Nora auf einen Barhocker und reichte ihr die unverletzte Hand: „Ich bin übrigens Winston, aber meine Freunde nennen mich nur Wins.“ Nora lächelte und nahm seine Hand: „Freut mich, ich bin Nora, einfach nur Nora.“ Winston lachte und schob Nora den neuen Cocktail zu, den Barney auf den Tresen gestellt hatte. „Vielen Dank“, bedankte Nora sich und stieß mit Winston an. „Also, Wins…Wieso war dein T-Shirt bis gerade noch voller Blut?“,wollte Nora ohne Umschweife wissenund Winston zog überrascht eine Augenbraue hoch. Schnell fügte Nora hinzu, „ich habe dich beim Reinkommen gesehen. Du hast dich scheinbar umgezogen. Außerdem hattest du es gerade noch in der Hand. Aber entschuldige, falls das zu persönlich ist!“ „Achso, ja, alles gut, ich fand es etwas unangemessen, so herum zu laufen. Ich bin Pilot beim Hubschrauberlandeplatz. Ich mache Rundflüge, aber eben auch Rettungseinsätze. Heute gab es einen sehr heiklen, bei dem ich fast meine Kollegin verloren hätte…“, er blickte betreten zu Boden und Nora schluckte. Sie hatte nicht gleich mit so viel Ehrlichkeit gerechnet und meinte betreten: „Das tut mir leid, das wusste ich nicht…Wie geht es ihr denn?“ „Der Arzt sagt, sie wird wohl durchkommen und kann nächste Woche wieder aus dem Krankenhaus. Also alles gut“, meinte Winston schnell und Nora atmete erleichtert aus. Sie wollte nicht direkt mit ihrer ersten Frage in ein Fettnäpfchen treten.
Doch Winston schien es nicht weiter zu stören und war mehr auf den Beutel auf dem Boden fokussiert, den er nun weiter wegschob, sodass Nora ihn und das T-Shirt nicht mehr sehen konnte. „Und was machst du so?“, wollte Winston nun wissen. Nora nahm noch einen schnellen Schluck von ihrem Cocktail und antwortete: „Ich bin Touristenführerin im Grand Canyon. Heute Abend hatte ich eine Sunset-Tour und habe leider einem kleinen Jungen schreckliche Angst gemacht, weshalb seine Eltern mir kein Trinkgeld gegeben haben…“ Winston schenkte Nora ein mitleidiges Lächeln: „Das tut mir natürlich leid…Aber man erschreckt doch keine kleinen Kinder.“ Er lachte und Nora konnte nicht anders, als ebenfalls zu grinsen.
Sie erzählte ihm die ganze Geschichte und nun mussten beide laut lachen. Die beiden redeten noch eine Weile und Nora fühlte sich so wohl wie schon lange nicht mehr. Irgendetwas an seiner Art ließ ihr Herz ein kleines bisschen lauter schlagen und ihr Lächeln ein kleines bisschen echter sein. Aus einem Getränk wurden zwei und schließlich war es fast Mitternacht und Barney kam zu ihnen: „Hey ihr zwei. Es tut mir ja wirklich leid euch stören zu müssen, aber wir würden dann jetzt gerne schließen. Also wäre es schön, wenn ihr euer Gespräch an einen anderen Ort verlegen würdet…“ Nora hatte gar nicht bemerkt, dass es schon so spät war. Sie wusste, dass Barney Familie hatte und fühlte sich schlecht, ihn so lange festgehalten zu haben. Also leerte sie schnell ihr Glas und stand dann lächelnd auf: „Kein Problem, Barney. Du sollst ja auch deinen Schönheitsschlaf bekommen!“ Barney lachte und auch Winston verabschiedete sich: „Vielen Dank dafür, dass wir überhaupt so lange bleiben durften.“ Erst jetzt fiel Nora auf, dass außer ihnen niemand mehr da war und sie musste lachen: „Das habe ich gar nicht mitgekriegt…Gute Nacht Barney.“