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War das Kaiserreich mit einem Geburtsfehler behaftet, weil es aus einer Serie von Kriegen hervorging? Befand sich die deutsche Politik nach 1871 auf einem nationalen »Sonderweg« oder lassen sich nicht doch viele Parallelen zur allgemeinen europäischen Entwicklung bis 1914 nachweisen? Gab es etwa in Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg nicht auch bemerkenswerte Modernisierungsprozesse und Ansätze zur Demokratisierung? Anlässlich des 150. »Geburtstags« streitet man heute wieder heftig und öffentlich um die Bedeutung und das Vermächtnis des Kaiserreichs. Die Beiträge dieses Bandes greifen die aktuellen divergierenden Deutungen auf und animieren dazu, neu nach den prägenden Charakteristika der Epoche – und ihren Nachwirkungen bis heute – zu fragen. Mit Beiträgen von Birgit Aschmann, Frank Becker, Robert Gerwarth, Heinz-Gerhard Haupt, Sandrine Kott, Ulrike Lindner, Thomas Mergel, Christina Morina, Frank L. Müller, Wilfried Nippel, Christoph Nonn, Werner Plumpe, Hedwig Richter, Wilfried Rudloff und Monika Wienfort
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Seitenzahl: 626
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Birgit Aschmann, Monika Wienfort (Hg.)
Zwischen Licht und Schatten
Das Kaiserreich (1871–1914) und seine neuen Kontroversen
Campus VerlagFrankfurt/New York
Über das Buch
War das Kaiserreich mit einem Geburtsfehler behaftet, weil es aus einer Serie von Kriegen hervorging? Befand sich die deutsche Politik nach 1871 auf einem nationalen »Sonderweg« oder lassen sich nicht doch viele Parallelen zur allgemeinen europäischen Entwicklung bis 1914 nachweisen? Gab es etwa in Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg nicht auch bemerkenswerte Modernisierungsprozesse und Ansätze zur Demokratisierung? Anlässlich des 150. »Geburtstags« streitet man heute wieder heftig und öffentlich um die Bedeutung und das Vermächtnis des Kaiserreichs. Die Beiträge dieses Bandes greifen die aktuellen divergierenden Deutungen auf und animieren dazu, neu nach den prägenden Charakteristika der Epoche – und ihren Nachwirkungen bis heute – zu fragen.Mit Beiträgen von Birgit Aschmann, Frank Becker, Robert Gerwarth, Heinz-Gerhard Haupt, Sandrine Kott, Ulrike Lindner, Thomas Mergel, Christina Morina, Frank L. Müller, Wilfried Nippel, Christoph Nonn, Werner Plumpe, Hedwig Richter, Wilfried Rudloff und Monika Wienfort
Vita
Birgit Aschmann ist Professorin für Europäische Geschichte des 19. Jahrhunderts an der Humboldt-Universität zu Berlin.
Monika Wienfort ist Professorin für Brandenburgisch-Preußische Geschichte an der Universität Potsdam.
Cover
Titel
Über das Buch
Vita
Inhalt
Impressum
Birgit Aschmann und Monika Wienfort: Zwischen Licht und Schatten. Das Kaiserreich und seine neuen Kontroversen. Eine Einleitung
1.
»Licht und Schatten« – die neuen Kontroversen anlässlich des 150. Jubiläums der Reichsgründung
2.
Der Wandel des Kaiserreich-Bildes seit 1945 und die Formel vom deutschen Sonderweg
3.
Zu diesem Sammelband – Genese, Beiträge, Ergebnisse
Literatur
Frank Becker: Das Kaiserreich als Kriegsgeburt? Anmerkungen zur aktuellen Kaiserreich-Debatte
1.
Einleitung
2.
Der Deutsch-Französische Krieg 1870/71
2.1
Vorgeschichte
2.2
Der Kriegsverlauf
2.3
Die Erinnerung an den Krieg
3.
Militarismus
4.
Die Flotte
5.
Die Kolonialkriege
6.
Fazit
Literatur
Robert Gerwarth: »Am Anfang war Bismarck«? Der Reichsgründer als Mann und Mythos
1.
Einleitung
2.
Bismarck als historische Figur
3.
Bismarck als Mythos
4.
Schluss
Literatur
Heinz-Gerhard Haupt: Staatsbildung und Gewalt. Das Kaiserreich im Vergleich
1.
Gewalt im Staats- und Nationsbildungsprozess
2.
Strukturen des modernen Staates
3.
Staatliche Konfliktregulierung
4.
Einsatz des Militärs
Literatur
Ulrike Lindner: Zwischen Weltgeltung, Rassismus und globalen Bezügen. Das Kaiserreich und seine Kolonien
1.
Einleitung
2.
Die Expansion in die überseeischen Gebiete
3.
Koloniale Herrschaft und ihre Auswirkung in der Metropole
3.1
Koloniale Bezüge im Alltag des Kaiserreichs
3.2
Kolonialkriege und ihre Rezeption im Kaiserreich
3.3
Rassismus in Kolonie und Metropole
4.
Die Kolonien in der Erinnerungskultur – das Beispiel des Humboldt Forums
5.
Das Kaiserreich und seine Kolonien im europäischen Hochimperialismus
Literatur
Christoph Nonn: Der Fluch der Retrospektive. Antisemitismus im Kaiserreich
Literatur
Hedwig Richter: Demokratisierung in der internationalen Reformära. Inklusion und Exklusion im Kaiserreich
1.
Staatsrechtliche Grundlagen der Massenpolitisierung
1.1
Revolution von oben: ein internationales Phänomen
1.2
Rückschläge und Exklusion
2.
Weitere Grundlagen der Inklusion
2.1
»Massen« als Subjekt denken
2.2
Wohlstands-Ressourcen für alle
3.
Die große Exklusion: Kolonialismus
Literatur
Monika Wienfort: Geschlechterfragen und Partizipationsdebatten. Frauen und Männer im Kaiserreich
1.
Wohltätigkeit von Frauen als Emanzipationsweg
2.
Frauenbewegungen als Kampf um Recht
3.
Homosexualität und Männerbünde
4.
Schluss
Literatur
Sandrine Kott und Wilfried Rudloff: Glanz und Elend des Kaiserreichs. Der Sozialstaat
1.
Einleitung
2.
Der Sozialstaat aus der Vogelperspektive: Entstehung eines neuen Politikfelds
3.
»Zwischenebenen«: Selbstverwaltung, Rechtsprechung und ärztliche Gatekeeper
3.1
Die Selbstverwaltung in der Sozialversicherung: »Demokratisierung« des Sozialstaats?
3.2
Gerichtliche Konfliktregelung – Verrechtlichung des Sozialstaats
3.3
Ärzte als intermediäre Schaltstellen des Sozialstaats – Experten im Sozialstaat
4.
Umkämpfte soziale Rechte
4.1
Die Allmacht der Arbeitgeber in der Unfallversicherung
4.2
Sozialhygiene und Bürokratisierung in der Krankenversicherung
4.3
Die Frauen in der Sozialpolitik: Ausgrenzung und Empowerment
5.
Schluss
Literatur
Werner Plumpe: Ein wilhelminisches Wirtschaftswunder. Wirtschaft und Gesellschaft des Kaiserreichs 1888–1914
1.
Das umstrittene Reich
2.
Wirtschaftliches Wachstum vor 1914
3.
Bevölkerungswachstum und Urbanisierung
4.
Der ökonomische Strukturwandel
5.
Technologischer Aufbruch
6.
Arbeitskräfte und Qualifikationsstruktur
7.
Die Rolle des Staates
8.
Die Belle Époque und der Krieg
Literatur
Thomas Mergel: Moderne als Heterogenität. Urbanisierung und Urbanität im Kaiserreich
1.
Städtewachstum, Industrialisierung, Migration
2.
Die Stadt als Ordnungsproblem
3.
Ungleichheiten, Ungleichzeitigkeiten, Konflikte
4.
Die Stadt als Ort der technologischen und kulturellen Moderne
5.
Abschließende Überlegungen
Literatur
Birgit Aschmann: Über den Umgang mit der Natur. Inkohärenzen in der Hochmoderne
1.
Die Natur fürchten – Seuchengefahr und Bakteriologie
2.
Natur erobern – der Nord-Ostsee-Kanal
3.
Natur verehren – Die Lebensreform
4.
Zusammenhänge mit heutigen Debatten und die Frage nach Kontinuitätslinien
Literatur
Frank Lorenz Müller: Die Hohenzollern-Legende. Dynastie und Geschichtspolitik im Kaiserreich
Literatur
Wilfried Nippel: Wissenschaft und Deutungsmacht. Berliner Historiker im Kaiserreich
1.
Engagierte Historie: Droysen gegen Ranke
2.
Mehr Politiker als Historiker: Treitschke
3.
Der Antisemitismusstreit – auch ein Historikerstreit
4.
Ein missglückter Angriff auf Treitschkes Deutsche Geschichte
5.
Nachspiele
Literatur
Christina Morina: Die Gegenwart des Kaiserreichs. Versuch einer Verortung
1.
Ein Erinnerungsort, der keiner ist
2.
»Wir sind Kaiserreich«? Thematisierung zwischen Annäherung und Abgrenzung
3.
Public Memory, Nationsdiskurs und die Herausforderung einer kritischen Geschichtsschreibung
Fazit
Literatur
Autorinnen und Autoren
Birgit Aschmann und Monika Wienfort
Ende Mai 2022 erregte eine Meldung vom Stuttgarter Katholikentag die Gemüter auch der nichtreligiösen Öffentlichkeit.1 Wie selbst in der überregionalen Presse zu lesen war, hatte ein Künstlerkollektiv im Auftrag der Veranstalter das überlebensgroße Reiterdenkmal Kaiser Wilhelms I. auf dem Karlsplatz verhüllt.2 »Wir verhüllen, weil wir darauf aufmerksam machen wollen. Das ist ein rotes Tuch«3, äußerte sich einer der Mitorganisatoren betont doppeldeutig. Eine erste Bezugsebene war evident: Es war ein knallrotes Tuch, das über Ross und Reiter geworfen worden war und jetzt die Aufmerksamkeit auf das Denkmal lenkte, wie es seinerzeit Christo mit seinen Verhüllungskünsten etwa beim Berliner Reichstag gelungen war.
Was aber war darüber hinaus mit dem »roten Tuch« gemeint? Begründet wurde die Verhüllung des Kaisers mit dessen Verbindungen zu Nationalismus und Kolonialismus. Das entsprach den Vorwürfen, mit denen schon im Sommer 2020 Farbattacken auf die Bismarck-Denkmäler in Berlin und Hamburg erklärt worden waren.4 Im Fahrwasser der globalen Bewegung des Postkolonialismus, die nicht nur die Aufmerksamkeit auf die koloniale Vergangenheit, sondern auch auf die Folgen für die Gegenwart lenken möchte und neben dem aufklärerischen ein aktionistisches Programm der Gesellschaftsveränderung vertritt, ist auch die Geschichte des deutschen Kolonialismus in den vergangenen Jahren in den Vordergrund der Erinnerungsdebatte gerückt. Waren die deutschen Kolonialverbrechen nun – wie in einem Buchtitel aus dem Jahr 2010 ebenso plakativ wie polemisch behauptet wurde – »The Kaiser’s Holocaust«5? Die Wissenschaft hat schnell darauf hingewiesen, dass nicht nur der »Holocaust«-Begriff problematisch ist, sondern auch, dass der Kaiser selbst keineswegs eine treibende Kraft des Kolonialismus gewesen war.6 Insofern spricht viel dafür, dass mit der Kaiserstatue in Stuttgart ein Symbol für das Kaiserreich als Ganzes in Haft genommen wurde.
Ist womöglich das gesamte Kaiserreich in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit inzwischen zum »roten Tuch« geworden? Und wenn ja, welche Informationen liegen einer solchen Deutung zugrunde?
Als sich im Januar 2021 die im Schloss von Versailles am 18. Januar 1871 vollzogene Kaiserproklamation zum 150. Mal jährte, lagen – pünktlich zum Jubiläum – umfangreiche und schmale Bände zum Kaiserreich auf den Verkaufstischen der Buchhandlungen. Historiker:innen meldeten sich in Zeitungen zu Wort und diskutierten mit dem Bundespräsidenten im Schloss Bellevue über das Kaiserreich.7 Dass aber »so heftig und so kontrovers wie schon lange nicht mehr«8 über das Kaiserreich diskutiert wurde, hatte seine Ursache darin, dass mit dem Geschichtsbild zugleich das Selbstverständnis der Gegenwartsgesellschaft verhandelt wurde. So lag den verschiedenen Positionierungen gegenüber dem Kaiserreich zuweilen weniger ein Blick auf die Vergangenheit als vielmehr divergierende Annahmen über Gegenwart und Zukunft zugrunde. Während der Marburger Historiker Eckart Conze im Jahr 2020 die »Berliner Republik« mit »einer Renationalisierung, ja einem neuen Nationalismus« ringen und dadurch eine Gefährdung der Demokratie aufziehen sah, blickte die Münchener Historikerin Hedwig Richter optimistisch in die Zukunft: »vermutlich ist sie hell«.9 Beide Haltungen standen im Zusammenhang mit der Frage nach dem Ort des Nationalsozialismus in der deutschen Geschichte. Während für Richter der »Zivilisationsbruch des Holocaust«10 nicht mit »langen Kausalketten von Untertanengeist und Pickelhauben«11 erklärt werden konnte, waren es für Conze eben Nationalismus, Militarismus und Autoritätshörigkeit im Kaiserreich, die in die Abgründe des 20. Jahrhunderts geführt hatten. Entsprechend hat kein anderer Forscher so akzentuiert die »Schatten des Kaiserreichs«12 hervorgehoben wie Conze. Dabei sah er sich durch das Zusammenwirken außerwissenschaftlicher und historiographischer Entwicklungen zu seiner »geschichtspolitische(n) Intervention«13 motiviert.
Eine entscheidende Rolle spielten die Bemühungen der Hohenzollernfamilie, Entschädigungsansprüche für die Enteignungen nach 1945 geltend zu machen. Doch diese Ansprüche würden gemäß dem Entschädigungs- und Ausgleichsleistungsgesetz von 1994 alle Erfolgsaussichten verlieren, wenn den Vorfahren nachgewiesen werden könnte, dem Nationalsozialismus »erheblichen Vorschub« geleistet zu haben. Entsprechend kreiste die von der Hohenzollernfamilie und politischen Gremien angestoßene Debatte stets um das Verhältnis des damaligen Kronprinzen Wilhelm von Preußen zum Nationalsozialismus. Angeheizt wurde die Auseinandersetzung dadurch, dass die Hohenzollernfamilie mit juristischen Mitteln gegen Historiker:innen vorzugehen begann, die mit Äußerungen an die Öffentlichkeit gegangen waren, die den Vorstellungen der Hohenzollern nicht entsprachen. Auch Eckart Conze war von Klagen betroffen. Juristisch sollten die Restitutionsansprüche vom Verwaltungsgericht Potsdam entschieden werden; in der Öffentlichkeit und der Historiographie hatte sich im Jahr 2022 die Waage längst zulasten der Hohenzollern geneigt: Der Verband deutscher Historikerinnen und Historiker positionierte sich eindeutig im Sinne einer »Vorschubleistung«,14 und Stephan Malinowski, der schon früh auf die Steigbügelhalterfunktionen des Hohenzollernprinzen verwiesen und mit Klagen der Hohenzollernfamilie zu kämpfen hatte, wurde für sein 2021 erschienenes Werk über die Kollaboration der Hohenzollern mit den Nazis mit dem Deutschen Sachbuchpreis 2022 ausgezeichnet.15
Allerdings hat Conze seine Positionierung gegenüber dem Kaiserreich auch deshalb für geboten gehalten, weil sich Gruppierungen am äußerst rechten Rand der Politik immer öfter auf das Kaiserreich beziehen. Als Reichsbürger und andere Rechtsextreme im August 2020 versuchten, den Reichstag zu stürmen, schwenkten sie demonstrativ die schwarzrotweiße Flagge des Kaiserreichs.16 Flankiert wurden solche Aktionen von Äußerungen aus dem Umfeld der AfD, deren revisionistische Geschichtspolitik sich auffällig auf das Kaiserreich verlagerte. Angesichts eines solchen »Kaiserreichsrevisionismus von weit rechts« kritisierte Conze auch Kolleg:innen, die durch »ein weiches Bild des Kaiserreichs«17 den rechten Vorstellungen entgegenkämen und dem allgemeinen Abdriften der Erinnerungskultur nach rechts zuarbeiteten. Die Kritik bezog sich nicht zuletzt auf jene Geschichte der deutschen Demokratie seit dem 18. Jahrhundert, die Hedwig Richter kurz zuvor veröffentlicht hatte.18 Deutschlands »ganz besondere Geschichte mit der Demokratie«19 wurde hier als »Modernisierungserzählung« konzipiert, bzw. als – trotz aller Fehler – »optimistische Chronologie«.20 Richter skizzierte das Kaiserreich nicht zuletzt als eine Zeit großer Reformen, in der die Menschen »im Gefühl« gelebt hätten, »aus der Dunkelheit ins Licht getreten zu sein«.21 Dieser »Lichtgeschichte« setzte Conze nun umso vehementer seine »Schattenerzählung« entgegen. Schon die Auftaktmotive konnten konträrer kaum sein: War für Conze das Kaiserreich eine »Kriegsgeburt«, hieß es bei Richter: »Am Anfang war die Verfassung«.22 Während Richter manche Brücken zwischen dem Kaiserreich mit seinen Demokratisierungs- und Pluralisierungsschüben einerseits und der Demokratiegeschichte der Bundesrepublik andererseits zu erkennen meint, sah Conze das Kaiserreich mit seinem Nationalismus, Militarismus und Antisemitismus recht gradlinig auf den Nationalsozialismus zusteuern. Dieser aber, so Conze, müsse weiterhin der Fluchtpunkt für jede Beschäftigung mit dem Kaiserreich bleiben.23 Waren Kaiserreich und NS gemäß dieser Sicht aufs engste verbunden, negierte Conze jede Verbindung der bundesdeutschen Demokratie mit dem Kaiserreich: Allein die Weimarer Republik könne »einen Platz im Demokratiegedächtnis der Bundesrepublik« beanspruchen, während alles, »was uns das Reich von 1871 heute noch zu sagen« habe, »Distanz und Diskontinuität« unterstreiche.24
Einen gewissen Resonanzraum gewann diese Sicht im Bundespräsidialamt. Als Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am 13. Januar 2021 mit vier Historiker:innen im Schloss Bellevue über den 150. Jahrestag der Reichsgründung diskutierte, nahm er indirekt Bezug auf Conzes »geschichtspolitische Intervention« und behauptete, dass es einen »ungetrübten Blick zurück auf das Kaiserreich« (also ohne die beiden Weltkriege, den NS und den Holocaust in Rechnung zu stellen) nicht geben könne.25 Als demokratische Vorgeschichte der Bundesrepublik wurden von Steinmeier die Befreiungskriege, der Vormärz und die Revolution von 1848 genannt; das Kaiserreich wurde hingegen zur Vorgeschichte des NS gezählt, eben weil Militarismus, Antiparlamentarismus und Antisemitismus (auch) hier ihre Wurzeln hätten. Zugleich erkannte Steinmeier allerdings auch Verbindungslinien zur Bundesrepublik, vor allem in deren rechtlicher Kontinuität zum Kaiserreich: Die Sozialgesetzgebung, das BGB, die Verwaltungsgerichtsbarkeit und selbst die Auslegung des Grundgesetzes stünden offenkundig in der Tradition des Kaiserreichs.26
Auch wenn der Bundespräsident das allgemeine und gleiche Männerwahlrecht als das »fortschrittlichste seiner Zeit« lobte und damit auf die »Ambivalenz der politischen Entwicklung« im Kaiserreich zu sprechen kam, dominierte wie bei Conze doch eine dezidiert negative Sicht. Mit Blick auf die unkritische Glorifizierung und Instrumentalisierung des Kaiserreichs von rechten Gruppierungen mag diese Distanzierung plausibel scheinen. Angesichts des historiographischen Forschungsstandes zum Kaiserreich erstaunt diese Haltung jedoch. Schließlich galt schon vor einigen Jahren das »düstere Bild vom Kaiserreich als einem rückwärtsgewandten, von sinistren Mächten beherrschten Gebilde«27 in der Geschichtswissenschaft als überwunden. Denn das Bild des Kaiserreichs hatte einen signifikanten Wandel durchlebt, der illustriert, wie sehr die Wahrnehmung dieser Epoche durchgängig von politischen und historiographischen Veränderungen der jeweiligen Gegenwart geprägt war.
Bis zum Ende der 1950er Jahre dominierte in der weitgehend konservativ geprägten Historikerzunft ein positives Kaiserreichbild, trauerten viele doch dem verlorengegangenen Nationalstaat nach. Bismarck als dessen Gründer wurde Respekt für seine »realpolitische« Leistung gezollt. Erst in den folgenden Jahrzehnten rückte das Kaiserreich zum Streitthema auf.
Wegweisend für diesen Wahrnehmungswandel wurden die von dem Hamburger Historiker Fritz Fischer Anfang der 1960er Jahre aufgestellten Thesen, wonach Deutschland die Schuld nicht nur für den Zweiten, sondern auch für den Ersten Weltkrieg zukomme, weil die bürgerlichen und adeligen Eliten des Kaiserreichs über Jahrzehnte den »Griff nach der Weltmacht« erstrebt hätten. Hitler sei dementsprechend »kein Betriebsunfall«28, sondern in der deutschen Politik langfristig angelegt gewesen. Der »deutsche Sonderweg« habe folglich von den strukturellen politischen Defiziten des Kaiserreichs über den Ersten Weltkrieg bis in den Nationalsozialismus geführt. Wer diesen verstehen wolle, so lautete die damalige Überzeugung, müsse nach den Wurzeln im Kaiserreich suchen. Dieser Ansicht schlossen sich die Vertreter der Historischen Sozialwissenschaft wie Hans-Ulrich Wehler an, die fortan mit Nachdruck auf die Defizite einer politisch-sozialen Ordnung hinwiesen, in der die Reichsregierung bis kurz vor der Revolution 1918/19 nicht dem Parlament verantwortlich war – von den Problemen, die »Außenseiter« wie Katholiken, Sozialdemokraten oder Juden erlebten, zu schweigen.
Eine besondere Verantwortung wurde beim deutschen Bürgertum vermutet, das anders als in Großbritannien oder Frankreich obrigkeitshörig gewesen sei, zur Revolution unfähig geblieben und überhaupt mehr Interesse an wirtschaftlicher Prosperität als an parlamentarischer Mitbestimmung gehabt habe. Anstatt einem (west-)europäischen Pfad von Fortschritt und Modernisierung zu folgen, sei das deutsche Bürgertum autoritären Mustern verhaftet geblieben.
In den 1980er Jahren gingen jedoch einige prominente britische Historiker zu diesen Thesen auf Distanz. Unter dem Titel Mythen der deutschen Geschichtsschreibung veröffentlichten David Blackbourn und Geoff Eley 1980 ihre Kritik am »Sonderwegs«-Paradigma: Ihrer Ansicht nach setzte die Bezeichnung »Sonderweg« den falschen Glauben an einen »Normalweg« (als »Idealweg«) voraus, der implizit in England verortet wurde. Blackbourn und Eley wiesen nun darauf hin, dass die britische Geschichte nicht so glänzend und die deutsche des 19. Jahrhunderts nicht so dunkel gewesen sei. Zugleich rieten sie davon ab, die deutsche Geschichte ausschließlich aus der Perspektive des Nationalsozialismus zu betrachten. Richard Evans und andere schlossen sich an.29 Nach und nach verebbte die Debatte. »Der Rauch über den historiographischen Schlachten von gestern« hatte sich Anfang des 21. Jahrhunderts gelegt – so beobachteten die Historiker Cornelius Torp und Sven Oliver Müller im Jahr 2009.30
Zudem hatte plötzlich das allgemeine Interesse am Kaiserreich in der Historiographie signifikant nachgelassen. Die Ursachen dafür waren vielschichtig: Das Bürgertum galt als »ausgeforscht«, nachdem in verschiedenen Forschungsverbünden der 1980er und 1990er Jahren akribisch, wenn auch vergeblich nach seinen Deformationen im Kaiserreich gesucht worden war. Nach dem Mauerfall 1989 und dem Ende des sowjetischen Imperiums stand zudem in osteuropäischen und ostmitteleuropäischen Archiven neues Aktenmaterial zur Verfügung, dem sich eine jüngere Generation von Historiker:innen bevorzugt in ihren Qualifikationsschriften widmete. Die Überzeugung, dass das Kaiserreich noch etwas Neues zur Erklärung des Nationalsozialismus beitragen könne, verblasste immer mehr.
Auch der Methodenwechsel im Zuge des cultural turn begünstigte das Kaiserreich nicht. Schließlich schwand im Zeitalter der Postmoderne die Akzeptanz von langfristigen Deutungsmustern. Die sogenannten »Meisternarrative« wurden dekonstruiert. Dazu zählte auch die Sonderwegsthese. Nicht den großen Linien und säkularen Prozessen von Industrialisierung, Urbanisierung und Demokratisierung, sondern den lokalen Details, den ethnologischen Beobachtungen widmete sich nun eine kulturgeschichtlich geprägte Geschichtswissenschaft mit ihren neuen mikro- oder erfahrungsgeschichtlichen Ansätzen. Nicht der Nationalstaat, sondern das Lokale oder Globale faszinierten fortan. Allenfalls »transnational«, also die staatlichen Grenzen überschreitend, wurden die alten Nationalstaaten noch in den Blick genommen: Das Kaiserreich transnational – hieß entsprechend ein 2006 von Sebastian Conrad und Jürgen Osterhammel herausgegebener Sammelband.31 Indem die Autoren die Verbindungen des Kaiserreichs in die Welt hinein aufzeigen wollten, deutete sich schon die methodische Interessensverlagerung hin zur Globalgeschichte an. Diese brachte zwar – nicht zuletzt mit dem 2009 von Osterhammel vorgelegten Standardwerk – das 19. Jahrhundert als zentrale Epoche der Globalisierung zurück in die aktuelle Historiographie, aber die Konzentration auf die globalen Vernetzungen ging zulasten eines nationalstaatlichen Fokus: Das Kaiserreich verlor in der Geschichtsschreibung weiter an Attraktivität. Wenn Osterhammel jetzt noch von einem »Sonderweg« schrieb, dann war jener Sonderweg Europas gemeint, der die »Große Gabelung« (great divergence), also die Entwicklung Europas hin zur Dominanz gegenüber dem Rest der Welt, erklären sollte.32
Doch die Debatte über einen Sonderweg Deutschlands kam damit nicht zum Erliegen: Sie kehrte über die Gewalt- und Kolonialgeschichtsschreibung in die Historiographie zurück. Zum einen glaubte Isabel Hull einen spezifischen nationalen Weg in den deutschen Praktiken der Gewalt zu erkennen. Zum anderen postulierte der Hamburger Kolonialhistoriker Jürgen Zimmerer eine Kontinuitätslinie vom kolonialen Genozid an den Herero und Nama hin zum Holocaust.33
Parallel zum schwindenden historiographischen Interesse auf der einen Seite und der zunehmenden postkolonialen Kritik auf der anderen Seite bildete sich seit den 1990er Jahren eine dritte Wahrnehmung des Kaiserreichs in der bundesrepublikanischen Gesellschaft heraus. Diese war offenbar von einem neuen Bedürfnis nach Selbstvergewisserung im Anschluss an die Wiedervereinigung geprägt. Diese nationale Identitätssuche war nicht nur durch einen spezifisch nationalen, sondern auch durch einen allgemein europäischen Kontext beeinflusst. Nach dem Ende des Kalten Krieges kam es zu einem für viele ziemlich unerwarteten Wiederaufflammen des Nationalismus in Europa. Der europäische Integrationsprozess geriet ins Stocken, 2007/08 verblasste mit der Finanzkrise das positive Bild der Globalisierung. Zu einer Renationalisierung der Historiographie kam es zwar nicht, aber doch zu einer verstärkten Auseinandersetzung mit nationalen Fragen in der Öffentlichkeit. So initiierte die Süddeutsche Zeitung im November 2015 eine Serie »Was ist Deutsch?«34, und unter dem gleichen Titel erschien 2017 eine Monographie des Germanisten Dieter Borchmeyer: Was ist Deutsch. Die Suche einer Nation nach sich selbst.
In diesen – weiteren – Zusammenhang fügten sich die Debatten um den 100. Jahrestag des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs im Jahr 2014. Fritz Fischers Thesen vom »entscheidenden Teil der Verantwortung« hatten nie gänzlich überzeugt, die gleichen Quellen ließen sich auch anders interpretieren. Nun setzte der australische Historiker Christopher Clark dazu an, Fischers Ansichten von der vorrangigen deutschen Kriegsschuld vollends den Boden zu entziehen. In seinem vielbeachteten Buch über die »Schlafwandler« kam er zu dem Ergebnis, dass die Schuld für den Ausbruch des Krieges europäisch zu vergemeinschaften sei.35 Der Politologe Herfried Münkler sah das ähnlich.36 Wenn aber eine besondere Verantwortung deutscher Politiker für den Ersten Weltkrieg nicht nachzuweisen war, dann fehlte ein bedeutendes Element in jener Kausalkette, die den Nationalsozialismus als Folge des Kaiserreichs darstellte. Wie schnell das veränderte Geschichtsbild Rückwirkungen auf gegenwärtige politische Selbstverortung und Konzeptionen künftigen politischen Verhaltens haben konnte, zeigte sich an Zeitungsbeiträgen diverser Historiker:innen. Das vom Mühlstein der Sonderwegsthese befreite Deutschland möge, so lautete der Appell in den Jahren 2014 und wieder 2021, selbstbewusster auftreten, »Hysterisierung und Lähmung«37 durch ein veraltetes Geschichtsbild überwinden und eine aktivere Rolle in der Außenpolitik übernehmen.38 Es erklärt sich beinahe von selbst, dass derartige Verknüpfungen von Geschichte und Politik Meinungsverschiedenheiten auslösen. Insofern sind die aktuellen Kontroversen über das Kaiserreich auch durch diese Formen politischer Schlussfolgerungen geprägt.
In diesem Band geht es nicht darum, die politische Debatte fortzuführen, sondern das wiedererweckte Interesse am Kaiserreich zu nutzen und nach Möglichkeit zu vertiefen. Ausgehend von den neu aufgeworfenen Fragen über die Beschaffenheit des Kaiserreichs gilt es, auf der Basis des aktuellen Forschungsstandes Wissenslücken zu schließen. Schließlich lassen manche öffentliche Einlassungen zum Kaiserreich annehmen, dass die Bereitschaft zum Streit nicht immer mit der Höhe des Kenntnisstandes korreliert. In allererster Linie geht es uns darum, Studierende, die interessierte Öffentlichkeit sowie Kolleg:innen in der akademischen Lehre auf die Vielfältigkeit des Kaiserreichs aufmerksam zu machen und ein Verständnis von dessen Komplexität zu vermitteln.
Dabei geht der Sammelband auf eine Ringvorlesung an der Humboldt-Universität im Sommersemester 2021 zurück. Bei der Vorbereitung für die Ringvorlesung wie auch der Drucklegung des Sammelbandes haben uns die Hilfskräfte am Lehrstuhl für Europäische Geschichte des 19. Jahrhunderts tatkräftig unterstützt. Unser Dank geht insbesondere an Teresa Schenk für die sorgsame redaktionelle Bearbeitung der Beiträge!
In der Ringvorlesung hatten wir gemeinsam mit Expert:innen und Studierenden ausloten und diskutieren wollen, ob bzw. inwiefern sich durch die neuen Kontroversen der Blick auf das Kaiserreich verändert hat. Wenn ohnehin jede historiographische Generation um ihr eigenes Bild vom Kaiserreich ringt, dann ist die Frage nach einer aktuellen Zwischenbilanz nur allzu gerechtfertigt. Entsprechend wurden die Autor:innen ermuntert, über diese Zusammenhänge nachzudenken. So standen Fragen nach der »Modernität« bzw. der Traditionalität und nach möglichen Kontinuitätslinien hin zum Ersten Weltkrieg, zum Nationalsozialismus und zum Holocaust, aber auch der bundesrepublikanischen Demokratie im Raum. Einige der Autor:innen nehmen explizit dazu Stellung, andere (wie Hedwig Richter oder Christina Morina) hatten sich in der Debatte bereits zu Wort gemeldet, wiederum andere hielten diese aktuelle geschichtspolitische Debatte für so unfruchtbar für die Fachwissenschaft, dass sie eine explizite Thematisierung zurückwiesen.
Als Herausgeberinnen war es uns wichtig, das Kaiserreich aus möglichst vielen Perspektiven zu beleuchten, um ein hinreichend komplexes, wenn auch sicher nicht vollständiges Bild zu erhalten. Neben politikgeschichtlichen Fragen sollte vor allem die sozial- und kulturgeschichtliche Dimension berücksichtigt werden, die in anderen in jüngerer Zeit vorgelegten Sammelbänden oftmals nicht so deutlich zur Geltung kam.39
Die ersten Beiträge kreisen um die wieder neu diskutierten Thesen, inwieweit das Kaiserreich nicht zuletzt vor dem Hintergrund seines Ursprungs im Krieg von Militarismus, Antisemitismus, Obrigkeitshörigkeit und einem Übermaß von Gewalt geprägt war. So geht Frank Becker der Frage nach, ob im Zusammenhang der Reichsgründung politische Entscheidungen militärischen Erwägungen untergeordnet wurden und militärische Einstellungen wie Autoritätshörigkeit und Gehorsam als »Sozialmilitarismus« in breitere Gesellschaftsschichten hineindiffundierten. Becker kommt zu dem Ergebnis, dass man zwar von einem weit verbreiteten Militarismus sprechen könne, dass dieser aber nicht mit Drill, Gehorsam und Untertanengeist gleichzusetzen sei. Vielmehr zeige sich im »synthetischen Militarismus« die Einbindung von Adel, Bürgertum und schließlich selbst der Arbeiterschaft.
Dabei gilt die Reichseinigung nicht zu Unrecht als Bismarcks Werk, so dass Nipperdeys These (»Am Anfang war Bismarck«) zum Ausgangspunkt der biographisch zugeschnittenen Untersuchung von Robert Gerwarth wird. Er spürt dabei zunächst der Bedeutung der »historischen Figur« nach, um herauszuarbeiten, welches Eigenleben der Bismarck-Mythos entwickelte. Deutlich wird erstens, wie umstritten das Bismarckbild immer schon war, zweitens, dass Bismarck für die verschiedensten politischen Legitimationsentwürfe in Dienst genommen wurde und drittens die Verehrung bis weit in die 1960er Jahre hinein reichte. Die Ambivalenz des Kaiserreichs spiegelte sich, so Gerwarth, in einem Kanzler, der sowohl ein bedeutender Staatsmann als auch ein kleinlicher Hasser gewesen sei.
Ob das Kaiserreich womöglich eine besondere Disposition zur Gewalt gezeigt hat, steht im Zentrum der Analyse von Heinz-Gerhard Haupt. Da derartige Aussagen nur im Vergleich möglich sind, zieht er für seinen Beitrag zu »Staatsbildung und Gewalt« neben dem Kaiserreich Beispiele aus Frankreich und Italien heran. Ausgelotet wird die Bereitschaft staatlicher Akteure, »innere Gewalt« auszuüben, um die nationalstaatliche Einheit zu erzwingen oder vermeintliche und tatsächliche Gefährdungspotentiale abzuwehren. Deutlich wird, dass die inneren Konflikte in Frankreich und Italien in signifikant höherem Maße mit physischer Gewalt ausgetragen wurden. Allerdings reagierte die Justiz im Kaiserreich mit rigiden Strafmaßnahmen, wenn die Untertanen ihrerseits zu Gewalt griffen. Bestanden die Maßnahmen im Kaiserreich in der Verhängung langer Haftstrafen, so kannte die Sanktionierung von gewaltsamem Widerstand in den Kolonien keinerlei Maß.
Entsprechend gilt die Diagnose einer unblutigen Repressionslogik nur für das Zentrum des Kaiserreichs. Dass die koloniale Dimension bei einer Gesamtbetrachtung des Kaiserreichs nicht unberücksichtigt bleiben kann, zeigt der Beitrag von Ulrike Lindner. Schließlich waren Kolonien und Metropole nicht nur durch Politik und Militär, sondern auch durch Wissenschaft und Konsum sowie Wirtschaft und Vorstellungswelten enger und länger miteinander verflochten als lange angenommen worden ist. Lindner skizziert die Dynamik hin zur Gewalteskalation gegen Herero und Nama, die sie einbettet in den allgemeinen Kontext europäischer Gewaltpraktiken vor allem in afrikanischen Kolonien; zugleich attestiert sie dem deutschen Völkermord eine besondere Intensität. Zu den Rückkoppelungsprozessen des Kolonialismus, die auch in der Metropole spürbar waren, gehört auch ein verschärfter Rassismus.
Dieser machte sich im Kaiserreich insbesondere als Antisemitismus bemerkbar. Da der Antisemitismus zum einen zu jenen Gegenwartsphänomenen zählt, die zu einer Suche nach Ursprüngen in der Geschichte motivieren und zum anderen als zentrale Disposition galt, die den Holocaust ermöglichte, steht er schon länger im Fokus von Studien zum Kaiserreich. In seinem Beitrag thematisiert Christoph Nonn die Fehlwahrnehmungen, die sich aus einer retrospektiven Sicht ergeben. Zwar lassen sich ohne Schwierigkeiten antisemitische Verhaltens- und Denkmuster finden, diese sollten aber nicht mit einem Beweis für eine lineare Kontinuität vom Kaiserreich in den NS verwechselt werden. Hingegen zeige eine akribische Analyse der im Kaiserreich relevanten Sozialmilieus, dass die Reichweite des Antisemitismus verhältnismäßig begrenzt geblieben sei und im Laufe der Zeit eher abgenommen habe. Die sich besonders lautstark antisemitisch gerierenden Vereine hatten zumeist keinen bedeutenden Zulauf. Darüber hinaus sei ein aus der Gesellschaft kommender Antisemitismus kein deutsches Alleinstellungsmerkmal – wie auch der »Bäderantisemitismus« belegt, der nicht nur in Borkum, sondern auch in Florida anzutreffen war.
Dieses Argument teilt Nonn mit Hedwig Richter, die in ihrem Beitrag die »Demokratisierung in der internationalen Reformära« als spannungsreichen Prozess von Integration und Exklusion betrachtet. Neben diversen »kleineren« In- und Exklusionsphänomenen widmet Richter ein Unterkapitel »der großen Exklusion«: dem Kolonialismus. Insgesamt wird hier das Kaiserreich eingebettet in allgemeine Reformentwicklungen im nordatlantischen Raum, die weithin durch demokratische Fortschritte geprägt seien, auf welche allerdings jeweils Rückschläge (backlashes) folgten. So wie den Schwarzen in den USA erst das Wahlrecht zugestanden wurde, um es ihnen am Ende des 19. Jahrhunderts wieder zu entziehen, so habe der Fortschritt der Frauenbewegung (auch im Kaiserreich) misogyne Abwehrreaktionen ausgelöst.
Die Überzeugung, dass den Frauen im Demokratisierungsprozess des Kaiserreichs mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden müsse, teilt auch Monika Wienfort. In ihrem wie auch in den folgenden Beiträgen geht es um eine Betrachtung des Kaiserreichs aus einer sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Perspektive. Dabei gehört die gendergeschichtliche Dimension zu jenen Aspekten, die in zumeist politikgeschichtlich ausgerichteten Darstellungen zu wenig beleuchtet werden. Deutlich arbeitet Wienfort zunächst die verschiedenen Wege heraus, über die sich Frauen in dieser Zeit einen allmählich sichtbarer werdenden Platz im Kaiserreich erkämpften. Während die einen über sozialkaritatives Engagement in die Administration der Kommunen Einzug hielten, setzten andere auf einen lautstarken Kampf für das Frauenwahlrecht. Auch wenn dieser Kampf erst nach der Revolution 1918 zum Erfolg führte, wurden im Kaiserreich die entscheidenden Schritte zur politischen Gleichstellung von Frauen unternommen. Schließlich kann die Entstehung einer sozialen Bewegung zur Entdiskriminierung von Homosexualität ebenfalls im Kaiserreich verortet werden.
Inwiefern Frauen vom entstehenden Sozialstaat profitierten, geht aus dem Beitrag von Sandrine Kott und Winfried Rudloff hervor. Der Titel ihres Beitrags »Glanz und Elend des Kaiserreichs« ist wohl so zu deuten, dass der Sozialstaat zum Glanz des Kaiserreichs beitrug, indem er das Elend von Frauen, Männern und Kindern durch eine neue Dimension allgemeiner Risikoabsicherung bemerkenswert abmilderte. Anschaulich wird die immense Komplexität der verschiedenen Dimensionen des Sozialstaats vor Augen geführt. So ging die Rechnung Bismarcks, der sich eine soziale Disziplinierung der Arbeiterschaft versprochen hatte, zwar insofern auf, als dem Kaiserreich als nationalem Interventionsstaat erhebliche Eingriffsmöglichkeiten zukamen. Zugleich aber zeigte sich der Eigensinn der dynamischen Entwicklung des Sozialstaates. Gerade der Sozialdemokratie wuchs auf der Ebene der genossenschaftlichen Organisation der Krankenkassen eine erstaunliche Machtposition zu. Auch hier offenbarte sich letztlich die symptomatische Ambivalenz des Kaiserreichs: Einerseits wurden auf den verschiedenen Ebenen des Sozialstaats grundlegende Konflikte ausgetragen, andererseits entfaltete der Sozialstaat ein bedeutendes Integrationspotential für Bürgertum und Arbeiterschaft.
Dass dies nicht zuletzt der wirtschaftlichen Entwicklung zugutekam, geht aus dem Beitrag von Werner Plumpe über »Wirtschaft und Gesellschaft des Kaiserreichs« hervor. Deutlicher als in den anderen Beiträgen erweist sich das Kaiserreich hier als Erfolgsgeschichte. Als »wilhelminisches Wirtschaftswunder« bezeichnet Plumpe den rasanten Aufstieg Deutschlands aus einer eher marginalen Position zur wirtschaftlichen Vormacht in Europa. In bemerkenswertem Ausmaß glückte die Transformation von Industrie und Gesellschaft im Zuge der Hochindustrialisierung. Gerade in den »neuen« Industrien erlangte das Kaiserreich schließlich eine Weltmarktführerschaft. Dabei profitierte es nicht nur von einem günstigen konjunkturellen Zyklus nach 1895, sondern vor allem von einem breiten Bildungswesen und der Kooperation von Wirtschaft und Wissenschaft. Auch das Sozialversicherungswesen spielte eine Rolle, ebenso wie der wachsende Lebensstandard für die Arbeiterschaft in den Industriestädten.
Der »Urbanisierung und Urbanität im Kaiserreich« ist der Beitrag von Thomas Mergel gewidmet. Hier wie auch im folgenden Beitrag zur »Natur« zeigt sich die komplexe, widersprüchliche Vielfalt des Kaiserreichs bereits bei der Analyse nur eines Themenfeldes. Schon Mergels Untertitel »Moderne als Heterogenität« verdeutlicht, wie sehr in der Stadt des Kaiserreichs Gegensätzliches zusammenkam: »Ähnlichkeit« ging spannungsvoll mit »Pluralität« einher. So ließen sich zwar einerseits Homogenisierungstendenzen sowie ein Demokratisierungspotential beobachten, zugleich aber trafen doch scharfe soziale Gegensätze in enger räumlicher Nähe aufeinander, was immer wieder zu Konflikten führte. »Stadt« und »Land« waren schon deshalb eng verbunden, weil viele derjenigen, die in die Städte strömten, dem Dorf das Zugehörigkeitsgefühl bewahrten. Deutlich werden vor allem die vielfältigen Modernisierungsschübe, die einen Teil der Urbanisierungsgeschichte darstellten: vom Aufbau der stadthygienischen Infrastruktur über die kommunale Sozialtätigkeit von Frauen und die Stadtbeleuchtung bis zur Explosion des Zeitungswesens und dem Wachstum der Unterhaltungsindustrie. Keineswegs alles folgte einem einheitlichen Entwicklungstempo. Die Geschichte des kommunalen Wahlrechts illustriert: Das Reich war wesentlich fortschrittlicher als die Städte, in denen oftmals nur gestaffelt nach Einkommensklassen gewählt werden durfte.
Dass die ungebremste Urbanisierung vielfach auf Kritik stieß und dialektisch eine Gegenbewegung auslöste, wird im Beitrag von Birgit Aschmann über den Umgang mit der Natur im Kaiserreich vertieft. Ähnlich wie bei Mergel spiegelt sich die Vielfalt des Kaiserreichs bereits im Titel, der die »Inkohärenzen in der Hochmoderne« betont. Drei Zugänge zur Natur stehen im Mittelpunkt: Die Rubrik »die Natur fürchten« beschäftigt sich mit der Relevanz von Seuchen für das Kaiserreich und den Reaktionen von Staat, Wissenschaft und Gesellschaft. Konkret geht es um die Pockenepidemie im Kontext des Deutsch-Französischen Krieges 1870/71 und die Fortschritte von Robert Koch im Kampf um die Positionierung im militärmedizinischen Feld. Der zweite Teil handelt vom Nord-Ostsee-Kanal als einem charakteristischen Versuch, die »Natur zu erobern«. Der 1887 begonnene Kanalbau wurde in seinem Dominanzgestus gegenüber der Natur zu einem weiteren Integrationsprojekt des Kaiserreichs, das Stolz auf das Leistungsvermögen von Technik und Industrie generierte. Dass gerade ein Übermaß an Industrialisierung und Technik dialektisch zu einer Gegenbewegung führte, wird in einem dritten Teil am Beispiel der Lebensreform und ihrem Appell, »Treu der Natur« zu leben, ausgeführt. Angesichts dieser Vielfalt von Bezügen auf die Natur lässt sich auch kein eindeutiger Weg erkennen, der ausschließlich (über den Ersten Weltkrieg) in den NS oder in die Demokratiegeschichte der Bundesrepublik mündete.
Die Eröffnungsfeiern des Nord-Ostsee-Kanals 1895 nutzte Wilhelm II. zu einer großen symbolpolitischen Inszenierung der Hohenzollern. Im selben Jahr wurde der Grundstein für das große Nationaldenkmal vor dem Berliner Schloss gelegt, mit dem Frank Lorenz Müller seinen Beitrag »Dynastie und Geschichtspolitik im Kaiserreich« beginnt. Dieser und die beiden folgenden Beiträge sind der damaligen und heutigen Geschichtspolitik gewidmet. Müller geht zunächst darauf ein, mit welcher Intensität und welchen Mitteln die Hohenzollern, insbesondere die beiden Kaiser Friedrich III. und Wilhelm II., an der eigenen »Hohenzollern-Legende« strickten. Das erzeugte zwar Spott aus Bayern oder Kritik von Sozialdemokraten wie Katholiken, wurde aber zugleich von weiten Teilen der Bevölkerung begrüßt und nicht zuletzt von Historikern unterstützt, die mit ihrer borussophil gefärbten Geschichtsschreibung die Symbiose von Monarchie und intellektuellem Bürgertum besiegelten. Den »deutschen Beruf Preußens« konnte Wilhelm II. umso leichter behaupten, als die Historiker der borussischen Schule dieser Deutung längst den Weg gebahnt hatten.
Diesen Historikern geht Wilfried Nippel in seinem Beitrag über »Wissenschaft und Deutungsmacht« nach. Dabei zeigt er, wie sehr viele namhafte Historiker im Kaiserreich dem Einfluss außerwissenschaftlicher Faktoren unterlagen: Politik und Wissenschaft gingen diverse Verbindungen ein. Nach einer Darstellung der von Johann Gustav Droysen personifizierten »engagierten Historie«, die sich verpflichtet fühlte, den »deutschen Beruf« Preußens herauszustellen, kommt Nippel auf Heinrich von Treitschke zu sprechen, dem schon zeitgenössisch das Urteil anhaftete, »mehr Politiker als Historiker« gewesen zu sein. Nach der Rekapitulation von Treitschkes Rolle im Antisemitismusstreit tritt Theodor Mommsen in den Vordergrund, dessen persönliches Zerwürfnis mit Treitschke in einem Brief an Sybel vom 7. Mai 1895 gipfelte, mit dem Mommsen (vergeblich) die Aufnahme Treitschkes in die preußische Akademie zu verhindern suchte – motiviert, wie er selbst schrieb, durch »sittlich-politischen Haß«. Der Brief ist aus zwei Gründen bezeichnend. Zum einen zeigt er, dass nicht nur Bismarck, sondern auch Mommsen offenbar ein kleinlicher Hasser war. Zum anderen steht just in diesem Zusammenhang Mommsens berühmter Appell zur »politischen Pädagogik«. Vor diesem Hintergrund bleibe nur, so Nippel resümierend, die entschiedene Warnung vor solchen Versuchen.
Im Spannungsfeld politischer Pädagogik bewegt sich der letzte Beitrag des Bandes. Christina Morina möchte die »Gegenwart des Kaiserreichs« vermessen und fragt danach, inwiefern das Kaiserreich als »Erinnerungsort« gelten kann. Angesichts der Thematisierung des Kaiserreichs in außerwissenschaftlichen Zusammenhängen stehe man zunächst vor dem Paradox, dass das Kaiserreich »merkwürdig präsent und absent zugleich« erscheint. Während in der breiten Bevölkerung die Kenntnisse über das Kaiserreich geringer würden, sei gleichzeitig eine starke Polarisierung in den Kaiserreichdeutungen zu beobachten. Dabei geht sie ihrerseits zu Bestrebungen auf Distanz, die Modernität des Kaiserreichs zu betonen. Irritiert beobachtet Morina, wie zum Beispiel im Spiegel das »Pickelhaubenland relatable« geworden sei. Sodann arbeitet sie Positionen heraus, die die Distanz zum Kaiserreich betonen, formuliert unter anderem vom Bundespräsidenten Steinmeier oder Vertretern des Postkolonialismus. Dabei macht sie klar, dass es bei den Debatten über das Kaiserreich letztlich nicht um die Vergangenheit, sondern um die Gegenwart geht sowie um die Aushandlung von Grundlagen des heutigen gesellschaftlichen Miteinanders. Schließlich stellt sie die Frage in den Raum, inwiefern sich die Geschichtswissenschaft für die Verteidigung der Demokratie mobilisieren lassen solle. Am Ende der Überlegungen steht der Appell von Jörn Rüsen, wonach Geschichtswissenschaft eine »eigene Veranstaltung kognitiver Art« sei, die eben »kein Feld des Gesinnungskampfes« werden dürfe.
Fragt man nach den Ergebnissen der Beiträge mit Blick auf unsere Ausgangsfragen, lassen sich drei Punkte festhalten:
1.Weder Licht noch Schatten
Das erste Ergebnis klingt banal, verdient aber in Anbetracht der neuen Kontroversen noch einmal explizit festgehalten zu werden: Das Kaiserreich lässt sich nicht einfach als »helle« oder »dunkle« Epoche verstehen, womit weiterhin das gilt, was Torp und Müller schon 2009 festgestellt haben: Ein Schwarz-Weiß-Gemälde hilft zum Verständnis auch dieser Epoche wenig.40 Das Kaiserreich solcherart zu »vereindeutigen«, wird daher von den Beiträger:innen implizit oder explizit als unangemessene Komplexitätsreduktion abgelehnt. Diese Epoche bot weder nur »Licht« noch nur »Schatten«, weder ausschließlich Glanz noch Elend. Vielmehr lassen sich je nach Perspektive oder Themengebiet positive und negative Effekte nachweisen, ebenso wie »unendliche Schattierungen« von Grau.41 Hier wird ein »höheres Maß an Differenzierung« bzw. ein Verzicht auf Schubladen mit moralischen Etiketten (Becker) gefordert. Eine Repolitisierung ist dem historiographischen Erkenntnisgewinn hinderlich, vielmehr gilt es, 150 Jahre nach der Reichsgründung »Widersprüche auszuhalten« (Gerwarth).
Dass Widersprüche zum konstitutiven Merkmal des Kaiserreichs zählen, machen so gut wie alle Beiträge deutlich. Ambivalenzen lassen sich selbst in Institutionen wie dem Militär nachweisen, das sowohl Aspekte des Autoritätsstaates als auch Phänomene der Demokratisierung umfasste. Frauen erfuhren im Kaiserreich »Ausgrenzung und empowerment« (Kott/Rudloff, ähnlich Wienfort), die Natur wurde unterworfen und sakralisiert (Aschmann), der Sozialstaat diente der Kontrolle und der eigensinnigen Ermächtigung der Arbeiterschaft; Demokratisierung ging nicht nur mit In-, sondern auch mit Exklusionen einher (Richter), es gab kulturelle und industrielle Höchstleistungen, aber auch den Völkermord in Afrika.
Dabei erschwert schon der Umstand, dass die mehr als vier Dekaden zwischen der Reichsgründung und dem Ersten Weltkrieg von erheblichen Veränderungen geprägt waren, ein eindimensionales Urteil. Neben der »Heterogenität« stellt die »Dynamik« ein zentrales Merkmal des Kaiserreichs dar. Das spiegeln die Beiträge, die transnationale Prozesse, dialektische Entwicklungen oder die Frauenbewegung in den Blick nehmen. Besonders prägnant wird dies im Beitrag zur Wirtschaftsgeschichte (Plumpe), in dem gerade die tiefgreifende Transformation als bemerkenswert hervorgehoben wird. Aber auch der Beitrag von Kott/Rudloff macht deutlich, dass mit den Sozialversicherungen ein dynamischer Mechanismus von stets wachsenden Erwartungen und Leistungen implementiert wurde, der Entwicklungen auslöste, die den Ursprungsintentionen entsprachen, diesen aber gleichzeitig auch konträr entgegenstanden. So kam es beispielsweise zum Einflussgewinn der Sozialdemokratie ganz gegen den Willen Bismarcks, ebenso wie auch die Frauenbewegung durch Initiativen forciert wurde, die keineswegs eine Emanzipation angestrebt hatten.
2.Kein Sonderweg in Sicht
Eine klare Richtung dieser dynamischen Bewegung ist nicht erkennbar. Ein eindeutiger Pfad, der vom Kaiserreich einigermaßen gradlinig oder gar zwangsläufig zum Ersten Weltkrieg und Nationalsozialismus hätte führen können, wird in keinem der Beiträge ausgemacht. Ein »Automatismus zum Krieg« (Plumpe) war durch die wirtschaftliche Situation bis 1914 nicht gegeben. »Die Entwicklung war offen und nichts determiniert«, so bringt es Nonn auf den Punkt: »Vom Kaiserreich führte kein gerader Weg in den Nationalsozialismus, von der Judenfeindschaft im Kaiserreich kein gerader Weg in die Shoah.« Auch ein synchroner Vergleich mit anderen Nationen lässt keinen derart signifikanten Unterschied erkennen, der den Weg in den NS erklärt. Von einem »Gewalt-Sonderweg im Kaiserreich […], der etwa schon in nuce die Gewaltsamkeit des Nationalsozialismus enthielt« könne, so Haupt, nicht gesprochen werden. Das gilt Lindner zufolge selbst für den Kolonialismus: Wie die neuere Forschung überzeugend dargelegt habe, lasse sich »kaum von einem deutschen Sonderweg ausgehen«.
Dabei ist evident, dass Gewalt, Repression, Antisemitismus und Militarismus im Kaiserreich vorhanden waren. Aber es gab eben nicht nur Konflikte, sondern auch soziale Kohäsion, es gab Reformaufbrüche und Entwicklungen zu mehr Partizipation und Demokratisierung. Das Kaiserreich erscheint so widersprüchlich, dass sich Verbindungslinien zum Nationalsozialismus ebenso wie zur Bundesrepublik (wie dem Bürger in Uniform oder den Hippies, vgl. Becker und Aschmann) herauspräparieren lassen. Gerade dies aber zeigt, dass eine unterkomplexe Verbindung von Kaiserreich und Nationalsozialismus für die wissenschaftliche Suche nach Erkenntnisgewinn kontraproduktiv ist. Schließlich lässt sich damit weder die Genese des Nationalsozialismus hinreichend erklären noch dient sie einem besseren Verständnis des Kaiserreichs. Beides bleibt eine Aufgabe der Geschichtswissenschaft.
3.Spezifika des Kaiserreichs?
Auch wenn die Beiträge das Deutsche Kaiserreich in das Zentrum der Untersuchung rücken, wendet sich der Blick in andere Regionen bzw. Staaten, um durch den Vergleich europäische Gemeinsamkeiten und nationale Spezifika auszuloten. Vielfach wird betont, dass es gerade bei den problematischen Aspekten keinen qualitativen Unterschied zwischen dem Kaiserreich und anderen Ländern gab. Gleichwohl lassen sich nationale Differenzen beobachten. So hebt Lindner mit Blick auf den Kolonialismus zwar einerseits die europäischen Übereinstimmungen hervor, weist aber darauf hin, dass man schon von »graduellen Unterschieden« ausgehen könne, zumal die Vernichtungspolitik Lothar von Trothas das »sonst übliche brutale Vorgehen« übertroffen habe. Erklärungen dafür stehen noch aus, diskutiert werden der vergleichsweise späte Beginn der Kolonialismus sowie die damit zusammenhängende Überzeugung, besonders effizient und gründlich durchgreifen zu müssen.
»Effizienz« und eine besondere Geschwindigkeit beim Aufbruch in die Moderne werden tatsächlich zur Charakterisierung verschiedener Teilbereiche des Kaiserreichs herangezogen. Dabei lagen offenbar Ordnungsmodelle zugrunde, die von einer besonderen Verschränkung bzw. Verbindung von top down und bottom up ausgingen. So hebt Frank Becker als Spezifikum für das Kaiserreich den »synthetischen Militarismus« hervor, der die Mitglieder der verschiedenen Gesellschaftsschichten in der Überzeugung zusammengebracht habe, jeweils am richtigen Platz zur Funktionalität des großen Ganzen einen wichtigen Beitrag zu leisten. Auch der Sozialstaat und die erfolgreiche Transformation der Wirtschaft funktionierten nur durch das Zusammenwirken von gesellschaftlichen Gruppen, deren Unterschiede zugleich durch die staatliche Risikoabsicherung weniger konfliktträchtig schienen. Zum geringen Ausmaß innerstaatlicher Gewalt insgesamt trug schließlich die Ablehnung von Gewalt durch die Sozialdemokratie bei, der angesichts der sozialstaatlichen und wirtschaftlichen Entwicklung die Neigung zur Revolution abhandengekommen war. Selbst an der »Hohenzollern-Legende« strickten die Monarchen gemeinsam mit den bürgerlichen Historikern.
An Konfliktlinien und Auseinandersetzungen mangelte es nicht, und der Hinweis auf solche kohäsiven Strukturen darf nicht mit einem verharmlosenden, romantisierenden Blick verwechselt werden. Aber womöglich bieten solche organologischen (und nicht demokratischen) Partizipationsmodelle Erklärungspotentiale für die »Effizienz« in diversen gesellschaftlichen Bereichen, die in den Beiträgen angesprochen werden.
Um die verschiedenen Bereiche und Ebenen in den Blick zu bekommen, ist ein multiperspektivischer Zugang von besonderem Wert – eines der Ziele dieses Sammelbandes. Schon die Häufigkeit, mit der in den Beiträgen auf einige Themen verwiesen wird, zeigt, dass gendergeschichtlichen und postkolonialen Perspektiven aktuell besondere Bedeutung zugemessen wird. Doch auch dies ist – so dokumentieren nicht zuletzt die Beiträge zur Erinnerungskultur – immer an Präferenzen und gesellschaftliche Leitfragen der Gegenwart gebunden. Insofern bleibt abzuwarten, inwiefern die nach dem Beginn des Ukraine-Kriegs am 24. Februar 2022 ausgerufene »Zeitenwende« zu Akzentverschiebungen innerhalb der Geschichtswissenschaft und damit auch in der Würdigung des Kaiserreichs beitragen wird. Womöglich werden militärische und außenpolitische Aspekte wieder stärker in den Vordergrund treten.42 Bei der großen Berliner Demonstration gegen den Krieg am 27. Februar 2022 füllten die Demonstranten die Straße des 17. Juni zwischen Brandenburger Tor und Siegessäule. Die junge Bevölkerung Berlins nimmt die mit vergoldeten Kanonen aus den Einigungskriegen geschmückte Siegessäule offensichtlich nach wie vor weniger als Symbol von Nationalismus und Militarismus wahr, sondern als Signum der Love-Parade. Farbattacken am Großen Stern galten nicht ihr, sondern dem eher in zweiter Reihe versteckten Bismarck. In erster Reihe, unmittelbar am Verkehrsknotenpunkt, steht eine Statue Helmuth von Moltkes, der als Generalstabschef während des Deutsch-Französischen Krieges die militärischen Voraussetzungen für die Reichseinigung geschaffen hatte. Es ist bezeichnend, dass die Demonstration ziviler Wehrhaftigkeit gegen die militärische Aggression Russlands gleichsam unter den Augen Moltkes stattfand. Aber irritiert hat das vermutlich deshalb nicht, weil kaum jemand gewusst haben dürfte, wer da auf dem Podest steht. Das Kaiserreich ist eben im Bewusstsein der bundesrepublikanischen Gegenwartsgesellschaft tatsächlich ebenso präsent wie fern.
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Frank Becker
In der aktuellen Kontroverse um das Kaiserreich ist es bisher vor allem darum gegangen, »positive«, also »moderne«, »emanzipatorische« und »zukunftsweisende« Eigenschaften gegen »negative«, mithin »unmoderne«, »autoritäre« und »rückschrittliche« Merkmale abzuwägen. Kein Historiker leugnet das Vorhandensein beider Seiten; der Streit dreht sich darum, welche stärker zu gewichten ist. In der Titelmetaphorik des vorliegenden Bandes gesprochen: Auch diejenigen, die den Schatten akzentuieren, ja im langen Schatten des Kaiserreichs auch noch den Nationalsozialismus gedeihen sehen, konzedieren einige lichte Aspekte, die allerdings eher dem Schatten zum Trotz aufgeblitzt sind.43 Die Gegenposition negiert den Schatten nicht, sieht ihn aber im Zeitverlauf zunehmend vom Licht verdrängt.44
Nach dieser Logik von Gegenüberstellung und Gewichtung wird der Bereich von Krieg und Militär üblicherweise dem Schatten zugeordnet. Die Frage besteht dann nur noch darin, wie groß der Einfluss dieses Bereichs auf Politik und Gesellschaft des Kaiserreichs war. War der Nimbus des Militärs nach den drei siegreichen Einigungskriegen so groß, dass sich die Politik den Wünschen von Feldzugsplanern, Rüstungsstrategen und Flottenbauern bedingungslos unterwarf und die Gesellschaft militärische Normen komplett verinnerlichte? Oder entwickelte sich im Kaiserreich durch das allgemeine Wahlrecht und den Bedeutungsgewinn des Parlaments, durch ein blühendes Vereinsleben und die Entstehung einer urbanen Massenkultur so viel »Zivilität«, dass der militärische Bereich nur noch nebengeordnet, keineswegs übergeordnet war? Gar nicht in Betracht gezogen wird die Möglichkeit, dass Krieg und Militär ihrerseits ambivalent gewesen sein könnten, das heißt einerseits für Autorität, Drill und Rückwärtsgewandtheit standen, andererseits aber auch emanzipatorische Wirkungen entfalteten.
Offenbar nimmt die Art und Weise, in der die alte Sonderwegs-These den Einfluss von Krieg und Militär auf die politische Kultur des Kaiserreichs beurteilte, auch auf die aktuelle Debatte noch Einfluss. Die verspätete Nation, die ihre Entstehung letztlich den alten Militäreliten verdankte, so hieß es dort,45 verbeugte sich in den folgenden Jahrzehnten vor dieser Gruppe und ihren Werten; die Unterordnung eines schwachen Bürgertums spiegelte sich im Stolz des Bürgers auf sein Reserveoffizierspatent; als sich die Hoffnung auf eine kriegerische Durchsetzung der eigenen Hegemonie auf dem Kontinent 1914 bis 1918 zerschlug, musste eine kurze demokratisch-republikanische Phase hingenommen werden, bevor im Nationalsozialismus die Tradition von Wehrhaftigkeit und autoritärer Führung wiederaufgenommen wurde, ja ihre schärfste Zuspitzung erfuhr.
Die Sonderwegs-These erkannte in der Bejahung des Krieges und der Hochschätzung des Militärischen also ein regelrechtes Grundübel der deutschen Geschichte, das im Kaiserreich entstanden bzw. entscheidend gefestigt und weiter gefördert worden sei. Was in zwei Weltkriegen zu katastrophalen Folgen geführt hatte, konnte nur zu den Schattenseiten des Kaiserreichs gehören, und das Kaiserreich, das diesem Übel Raum gegeben hatte, fiel im Ganzen einem Verdammungsurteil anheim. Auch wenn sich die jüngeren Kaiserreich-kritischen Diskutanten gewiss nicht als Vertreter der Sonderwegs-These hinstellen lassen,46 wirken doch in ihrer Bewertung von Krieg und Militär einige der alten Zuschreibungen weiter. Hier scheinen eine Öffnung der Perspektive und ein höheres Maß an Differenzierung wünschenswert.
Beides soll erreicht werden, indem zunächst, dem cultural bzw. linguistic turn Rechnung tragend, auf die Historizität der Deutungen von Krieg und Militär abgehoben wird. Den Vertretern der Sonderwegs-These, um noch einmal auf dieses Beispiel zurückzukommen, stand ein völlig anderes Bild dieser Phänomene vor Augen als den meisten Zeitgenossen des Kaiserreichs. In den 1970er Jahren hatte sich in die einschlägigen Begriffe die Erfahrung zweier Weltkriege eingelagert. Überdies ist nicht zu Unrecht angemerkt worden, dass sich die Vertreter der Sonderwegs-These bei ihrer Beurteilung der Rolle des Militärischen im Kaiserreich gerne auch auf literarische Zeugnisse wie den Roman Der Untertan von Heinrich Mann47 oder das Bühnenstück Der Hauptmann von Köpenick von Carl Zuckmayer48 beriefen, also auf fiktionale Texte, wobei der letztere überdies mit großem zeitlichem Abstand verfasst wurde. Selbstverständlich gehört es zum Geschäft des Historikers, auch mit ex post gebildeten oder umdefinierten Begriffen zu arbeiten, die es erlauben sollen, Zusammenhänge zu erfassen, die den historischen Akteuren selbst verborgen geblieben sind. Wer aber den Stellenwert von Krieg und Militär in der politischen Kultur des Kaiserreichs bestimmen will, sollte in erster Linie die zeitgenössischen Deutungen untersuchen. Hierzu gehören Aushandlungsprozesse in der Öffentlichkeit genauso wie die Selbstvergewisserung in diversen Egodokumenten. Gerade für den Deutsch-Französischen Krieg, der die Reichsgründung ebenso ermöglichte, wie er ihren Hintergrund darstellte, sind seit den 1990er Jahren etliche Arbeiten vorgelegt worden, die hier eine fundierte Urteilsbildung erlauben.49
Eine weitere Öffnung der Perspektive soll dadurch erfolgen, dass der diachrone Blick, der sich vom weiteren Verlauf der deutschen Geschichte her auf das Kaiserreich richtet, durch synchrone Betrachtungen ergänzt wird. Wohlgemerkt: ergänzt wird; nicht: ersetzt wird. Auch die Frage nach der Kontinuität und Diskontinuität von Entwicklungen im Nationalstaat ist bedeutsam, weil dieser bis heute einen wichtigen, wahrscheinlich immer noch den wichtigsten politischen Handlungsrahmen bildet. Die vergleichende Einbeziehung der gleichzeitigen Entwicklung in anderen Ländern und die Beobachtung von Wechselwirkungen zwischen den Staaten können aber dazu beitragen, den Stellenwert von Krieg und Gewalt im Kaiserreich historisch genauer zu bestimmen – und einseitige Zuordnungen zu vermeintlich genuin deutschen Gegebenheiten zu vermeiden.
Drittens wird für einen reflektierten Umgang mit jenen Begriffen plädiert, die die Kaiserreich-Debatte prägen. Um eine Ordnung in die Vielfalt der beobachteten Phänomene zu bringen, werden häufig die oben genannten Begriffspaare wie modern oder unmodern, innovativ oder traditionell, fortschrittlich oder rückschrittlich verwendet. Aus solchen Begriffspaaren dürfen aber keine Schubladen werden, in die sich Beobachtungen füllen lassen, die entweder die freundlichere oder die kritischere Beurteilung des Kaiserreichs unterstützen. Noch weniger dürfen die Schubladen moralische Etiketten tragen, das heißt Gutes von Bösem unterscheiden – eine Tendenz, dem auch der Titel des vorliegenden Bandes mit der Gegenüberstellung von Licht und Schatten nicht ganz zu entgehen vermag. Um solche Zuordnungen und damit verbundenen Wertungen zu erschüttern, reicht die Erinnerung daran, dass Jeffrey Herf bereits 1984 den Begriff der »reaktionären Modernität« prägte, um die Neue Rechte der Weimarer Republik und den Nationalsozialismus zu charakterisieren.50 Es ist fast schon eine Binsenweisheit, dass die meisten geschichtlich wirksamen Phänomene je nach konkreter Ausgestaltung, situativer Rahmung oder politischer Nutzung zum Positiven oder Negativen ausschlagen können – wobei wiederum zu fragen wäre, wer zu welchem Zeitpunkt die eine oder andere Bewertung vornimmt. Dass auch Krieg und Militär in der Geschichte sowohl negativ, als auch positiv wahrgenommen worden sind, ist unstrittig; zuletzt hat Dieter Langewiesche eindringlich darauf hingewiesen, dass gerade fortschrittlich gesinnte politische Bewegungen in der Neuzeit immer wieder auf das Mittel des Krieges setzten, um damit den gesellschaftlichen Wandel anzuschieben.51 Und auch die westlichen Staaten der Gegenwart, die das mit dem Krieg verbundene Blutvergießen normalerweise aus guten Gründen zu vermeiden suchen, weichen doch von dieser Regel ab, wenn das mit militärischen Mitteln zu verhindernde Leid größer erscheint als das, was durch den Krieg selbst verursacht wird.
Weil die Gründung des Kaiserreichs durch einen Krieg ermöglicht wurde und während eines Krieges erfolgte, liegt es nahe, diesen Staat als Kriegsgeburt zu bezeichnen. Der Begriff impliziert aber noch mehr: Als Produkt eines Krieges habe das Kaiserreich zeit seines Bestehens in besonderem Maße kriegerische Züge getragen; die Umstände der Geburt hätten sich gleichsam seinem Wesen aufgeprägt. Dieser Zusammenhang ist oft suggeriert worden, um den »militaristischen« Charakter des Kaiserreichs und die Dominanz der alten Adels- und Militärelite in seinem Verfassungs- und Sozialgefüge besonders evident erscheinen zu lassen. Eine solche Sichtweise basiert allerdings auf der Annahme, dass der Krieg von 1870/71 ein militärischer Konflikt gewesen sei, der von der alten Adels- und Militärelite entscheidend geprägt wurde, und der nicht nur den Soldaten, sondern der gesamten Bevölkerung Werte und Normen vermittelte, die einen Militarismus förderten, der vor allem auf Autoritätshörigkeit, Drill und Unterordnung beruhte. Ist diese Annahme richtig? Um hier zu einer Klärung zu kommen, ist eine gründliche Analyse nötig, die sich dem Deutsch-Französischen Krieg selbst, aber auch seiner Vorgeschichte sowie seinen Folgen und Nachwirkungen widmet.
Die Vorgeschichte des Deutsch-Französischen Krieges beginnt, so kann man pointiert formulieren, mit der Nationalisierung des Krieges überhaupt. Seit der Französischen Revolution waren Kriegsziele formuliert worden, die nicht nur den Machtinteressen von Staaten dienten, sondern auf Lebensordnungen Bezug nahmen, die von starken Kräften in den Bevölkerungen gewünscht waren und die durch den Kampf verteidigt oder verbreitet werden sollten. 1792 rief die Französische Republik ihre Bürger dazu auf, die Errungenschaften der Revolution zu verteidigen, zu deren Liquidierung preußische und österreichische Truppen in das Land eingedrungen waren.52 Militärische Siege machten es in der Folge möglich, revolutionäre Ideen auch über die Grenzen Frankreichs hinauszutragen. Der Soldatenstand, im Zeitalter der Kabinettskriege noch verachtet, wurde damit zu einem ehrenwerten Metier: Patriotische Kämpfer setzten sich für die Belange des Gemeinwesens ein. Regierungen, die diesen Einsatz forderten, standen nun aber unter Begründungszwang – »frivole« Kriegsgründe verboten sich, es musste um existenzielle Fragen gehen.
Hierzu gehörte die Herstellung oder Bewahrung der nationalen Einheit. Während die Franzosen einen präexistierenden Einheitsstaat in eine Nation verwandelten, standen andere Nationalbewegungen vor dem Problem, Teilstaaten zusammenfügen oder Bevölkerungsteile aus Imperien bzw. Vielvölkerstaaten herauslösen zu müssen, um das angestrebte Ideal der Staatsnation zu erreichen, die alle Mitglieder der Nation auf demselben Staatsgebiet zusammenführte. Oft war dies nur mit militärischer Gewalt zu erreichen. Im frühen 19. Jahrhundert erkämpften mehrere lateinamerikanische Staaten ihre nationale Unabhängigkeit gegen die Kolonialmächte Spanien und Portugal. In Europa löste sich Griechenland 1821–29 vom Osmanischen Reich, Belgien 1830 vom Vereinigten Königreich der Niederlande. Dagegen stand die additive Entstehung Italiens aus zahlreichen Teilstaaten in zwei Kriegen gegen Österreich (1859/60 und 1866) sowie einem Handstreich gegen das von französischen Truppen verteidigte Rom im Jahr 1870. Gerade die Vorgänge in Italien sind für Deutschland in mancher Hinsicht modellhaft geworden. Nicht von ungefähr ist Cavour, Ministerpräsident von Sardinien-Piemont und rechte Hand König Vittorio Emanueles II., häufig mit Bismarck verglichen worden.53
Zuvor waren in Deutschland allerdings schon zwei Versuche gescheitert, die nationale Einheit zu erreichen. Der erste Versuch war mit den Befreiungskriegen gegen die Herrschaft Napoleons I. 1813–1815 unternommen worden. Sie führten jedoch nur zur Gründung einer Staatenföderation, des Deutschen Bundes. Der Nationalstaat blieb den Deutschen aus verschiedenen Gründen verwehrt. Der wichtigste bestand darin, dass nicht die deutschen Sieger allein, sondern sämtliche Staaten der antifranzösischen Koalition gemeinsam die Nachkriegsordnung gestalteten. Und die Mehrheit dieser Staaten hatte kein Interesse an einer zu starken Machtkonzentration in Mitteleuropa. Außerdem sprachen auch die Deutschen nicht mit einer Stimme. Die Forderung nach einem Nationalstaat wurde nur von einer Minderheit erhoben; manche Fürsten befürchteten, der nationale Einheitsstaat mit seiner Zentralregierung werde ihre eigene Position schwächen.54 Was blieb, war allerdings eine Mythologie, die das Leitbild des patriotischen Soldaten, zumeist an Figuren wie dem Husarenmajor Ferdinand von Schill, dem Schwarzen Herzog von Braunschweig oder den Lützower Jägern festgemacht, auch in der deutschen Nationalkultur verankerte. Die Studentenverbindungen sorgten dafür, dass es sich vorrangig im akademischen Milieu verbreitete – und dort mit einem Männlichkeitsideal verband, das Kampfbereitschaft, körperliche Gewandtheit und ein ausgeprägtes Ehrgefühl zusammenführte.55
Als die Revolution von 1848/49 die Nationalstaatsgründung zum zweiten Mal auf die Agenda brachte, war die Verknüpfung dieses Ziels mit einem nationalen Krieg für das Frankfurter »Professorenparlament« eine durchaus realistische Option. Sie wurde durch die Schleswig-Holstein-Krise eröffnet, in der vorrangig die demokratische Linke die Chance erkannte, alle innenpolitischen Widerstände und gesellschaftlichen Gräben im Zeichen eines großen patriotischen Aufbruchs zu überwinden. Nicht einmal die Tatsache, dass sich England und Russland hinter Dänemark stellten, konnte manches erhitzte Gemüt abkühlen – je größer die Bedrohung für Deutschland, desto zwingender die Notwendigkeit, den allgemeinen nationalen Schulterschluss zu üben.56
Auch wenn es zu diesem Krieg nicht kam – eine weitere Förderung des nationalkriegerischen Gedankenguts war in der Revolution von 1848/49 durchaus zu verzeichnen. Sie betraf die Teilhabe der Bevölkerung an der bewaffneten Macht. Überall in Deutschland wurden während der Revolution Bürgerwehren gebildet. Sie zeigten an, dass das Gewaltmonopol des Staates nicht mehr in hergebrachter Form akzeptiert wurde. Männer aus den bürgerlichen Schichten beanspruchten, in ihrem Umfeld für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung zu sorgen – und zu diesem Zweck Waffen zu tragen.57 Die Verantwortung, die sie hierbei auf dem Feld der inneren Sicherheit übernahmen, war das Pendant zu der Verantwortung für nationale Interessen und Belange, die gegebenenfalls auch in der militärischen Auseinandersetzung mit auswärtigen Gegnern durchzusetzen waren. Hinzu kam der Aspekt der bewaffneten Verteidigung von revolutionären Errungenschaften. Insofern reicherten auch die Bürgerwehren und Freischaren der Revolutionszeit jene Erinnerungskultur an, in die zuvor die Patrioten und Kriegsfreiwilligen von 1813–15 Aufnahme gefunden hatten.58
Zudem begann die Paulskirche mit dem Aufbau einer Kriegsmarine. Solange Deutschland keine Kriegsschiffe besaß, waren seine Küsten und Hafenstädte jedem Gegner, sogar dem vergleichsweise kleinen Dänemark, schutzlos ausgeliefert – von der Unterlegenheit gegenüber England, Frankreich und Russland ganz zu schweigen. Eine Flotte schien geradezu der Garant für die Durchsetzung und Bewahrung nationaler Souveränität zu sein. Damit wurde sie zu einem nationalkriegerischen Identifikationsobjekt. Mehr noch: Das gesamte Projekt der nationalen Einigung wurde von der Flotte symbolisiert, indem sie anzeigte, was Deutschland auf die Beine zu stellen vermochte, wenn es seine jahrhundertelange Zersplitterung endlich überwand.59
In Preußen hatte das Engagement der bürgerlichen Schichten in den Befreiungskriegen sogar in den neuen Wehrverfassungen von 1814 und 1819 seinen Niederschlag gefunden. Dieses Engagement wurde gleichsam auf Dauer gestellt, indem eine milizartige Truppe wie die Landwehr und das Einjährig-Freiwilligen-Statut für junge Männer mit höherer Schulbildung entstanden. Darin sah das Bürgertum fortan seine Teilhabe an der bewaffneten Macht gesichert; einerseits im Sinne der Mitsprache in nationalen Angelegenheiten, andererseits als Schutz vor fürstlicher Willkür, die sich solcher Soldaten nicht hätte bedienen können. Folglich war der Widerstand vehement, den die preußischen Liberalen der Roonschen Heeresreform von 1859/60 entgegensetzten, die den Status der Landwehr verschlechterte.60 Bald darauf wuchs sich der Heereskonflikt zu einem Verfassungskonflikt aus, in dem sich Bismarck als der härteste Widersacher der Liberalen profilierte. Auch deshalb stieß der maßgeblich von Bismarck eingefädelte Krieg des Deutschen Bundes gegen Dänemark 1864 in der bürgerlichen Öffentlichkeit zunächst auf Skepsis, handelte es sich doch scheinbar um einen Konflikt, in dem es einerseits um dynastische Fragen, andererseits um Interessen der deutschen Großmächte Preußen und Österreich ging. Die Umdeutung zu einem Krieg von nationaler Tragweite – als dem ersten von drei Einigungskriegen – erfolgte erst in der Rückschau. 1866 war das Meinungsbild gespalten. Viele Anhänger der nationalen Idee sahen in diesem Konflikt einen verhängnisvollen Bruderkrieg; andere deuteten ihn positiv als die notwendige Voraussetzung für eine erfolgreiche Fortsetzung des Einigungsprojekts. Die Beilegung des Verfassungskonflikts durch die Indemnitätsvorlage von 1867 ließ die große Mehrheit der preußischen Liberalen in Bismarck fortan den Vorreiter deutsch-nationaler Interessen sehen; und auch außerhalb Preußens gewann diese Position schnell an Zuspruch.