Zwischenzeiten - Armin Schmidt - E-Book

Zwischenzeiten E-Book

Armin Schmidt

0,0

Beschreibung

Kurzgeschichten in einem weiten Bogen von märchenhaften Szenen über geheimnisvolle Begebenheiten bis hin zu grauenvollen Erlebnissen. So wird der Leser auf verschlungene Pfade geführt, in denen Licht und Dunkelheit ihr Wechselspiel treiben.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 162

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



© 2019 Armin Schmidt

Verlag & Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44,

22359 Hamburg

ISBN

978-3-7482-9419-1 (Paperback)

978-3-7482-9421-4 (e-Book)

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Armin Schmidt

Zwischenzeiten

Erzählungen

Diese Anthologie ist meinen Enkeln Konstantin,

Lias und Lilly Carlotta gewidmet,

Evelyn Barenbrügge sei Dank für Ratschläge und Korrektur

Inhalt

1. Karierte Maiglöckchen

2. Ein Herz, zwei Namen

3. Fionas Ende

4. Elsa

5. Notbremse

6. Die Erntehelferin

7. Menschenopfer

8. Höllisches Inferno

9. Kreuzfahrt

10. Unwirklich

11. Wontria

12. Musik verbindet

13. Die beiden Töchter

14. Ein Griff in die Vergangenheit

15. Die Frau im Moor

16. Jenseits der Zeit 127

17. Süße Wasser

18. Das unheimliche Haus

19. Das Geheimnis des blauen Gartens

20. Die Tote am Fluss

21. Tod auf der Straße

22. Trudel, nach einer wahren Geschichte

23. Tödliche Verbindung 191

A. Traumschleifen

1. Karierte Maiglöckchen

Ein schneller Griff zu den Bestimmungsbüchern im Regal hinter mir. Versagen auf der ganzen Linie. Convallaria majalis, das zu den Liliengewächsen gehört, kennt keine karierten Formen. Auch im Lateinischen finde ich nur Scutulata, karierte Kleider. Punktum. Schottenkaro etwa? Aber gibt es Schotten, die auf Wiesen wachsen?

Barbara, meine Verlegerin, hat karierte Maiglöckchen bestellt. Sie hat bestellt und ich muss liefern. Einmal karierte Maiglöckchen, bitte. Kurz und bündig. Meine Spürnase bebt. Wo kann ich sie einsetzen? Wo duftet es nach diesen geheimnisvollen Pflänzchen?

Im Internet. Natürlich. Warum ich da nicht gleich drauf gekommen bin. Eine Firma ist zur Lieferung bereit, fordert mich aber zu Diskussionen mit Designern und Produktmanagern auf, damit sie das Projekt umsetzen kann. Geht es nicht billiger? An anderer Stelle fragen sie mich nach meinen Wunschartikeln. Suchen Sie karierte Maiglöckchen oder die Eier legende Wollmilchsau? Dumme Frage. Karierte Maiglöckchen natürlich. Was soll Barbara mit einer Sau anfangen? Soll sie das arme Tier etwa schlachten und mit ihren Freunden aufwendig tafeln? Aber selbst wenn ich mir ausdrücklich die Maiglöckchen wünsche, wird es nicht einfacher: Sie führen in ihrem Katalog mehr als eine halbe Million Produkte. Eines davon würde mir schon reichen, aber welches?

Wissen Sie, wer zu Ihnen passt oder suchen Sie wirklich karierte Maiglöckchen, heißt es an anderer Stelle. Ja, die suche ich und keinen geeigneten Kandidaten für meine Netzwerke. Den bietet mir eine weitere Website an und meint, ich könne dann endlich aufhören, karierte Maiglöckchen zu suchen. Aber wie soll ich das Barbara erklären? Da recherchiere ich schon lieber weiter und treffe auf Maiglöckchen mit Auslandserfahrung oder mit außergewöhnlichen Sprachkenntnissen. Mit denen kann ich genauso wenig anfangen wie mit peniblen Zahlenglöckchen, präzise und detailverliebt. Kariert sollen sie sein, das würde mir schon reichen. Doch der Schlusssatz auf dieser Homepage schlägt wie eine Bombe bei mir ein und raubt mir alle Hoffnungen: Karierte Maiglöckchen gibt es nicht.

Ich lasse selbst mit diesen schlimmen Aussichten nicht locker und lande bei den Kleinanzeigen. Da sucht jemand ein kariertes Maiglöckchen als Bräutigam für seine Maus, die sich bei weiterem Lesen als Hundedame entpuppt. Das glückliche Exemplar soll sofort, sobald es gefunden ist, auf gleicher Seite vorgestellt werden. Je länger ich surfe, umso näher komme ich anscheinend meinem Ziel. Ein Deltateam liefert die karierten Blümchen nicht nur im Mai. In der Stoffabteilung einer großen Warenhauskette werden Extrawünsche bis hin zu karierten Maiglöckchen erfüllt, wenn auch eine Partneragentur davon abrät, nach karierten Maiglöckchen zu suchen. Eine andere verspricht freilich, dergleichen umgehend zu besorgen.

Doch bevor mein Kopf endgültig Karussell fährt, treffe ich auf eine Firma, die Papierprodukte aller Art anbietet, darunter auch Druckmedien, die man als karierte Maiglöckchen bezeichnet. Sie liefert selbst kleine Mengen möglichst noch am Tag der Bestellung. Das eigentliche Highlight wartet aber auf der dritten Seite auf mich, abgebildet sind dort Maiglöckchen in zartgrünem Karo. Einfach wunderbar.

Ist das die Lösung oder sind es die Wochenendhäuser, die ich sogar selbst aufbauen könnte? So würde ich dem Alltag entfliehen und in einem karierten Maiglöckchen wohnen, der Spezialität der Hersteller dieser hübschen Blockhäuser. Ich müsste nur noch einen Platz finden, wo ich mein neues Heim errichten könnte. Die Firma verspricht mir, sie liefere per Helikopter auch auf eine Alm oder per Schiff sogar nach Kamerun.

Barbara hat bei mir einen Volltreffer gelandet, mitten ins Herz. Seitdem beherrschen karierte Maiglöckchen meinen Alltag und gebieten über mein Leben. Überall suche ich sie, finde ihre Spuren, die sich allzu oft wieder in Luft auflösen, bevor ich mein Ziel erreicht habe. Ich liege auf einer Wiese, umgeben von ihrem Duft, will nach ihnen greifen und erwache viel zu früh aus diesem faszinierenden Traum. Im ICE nach München rase ich an ihnen vorbei und wage nicht, die Notbremse zu ziehen. Ich begegne einer hübschen, jungen Frau, auf deren Rocksaum karierte Maiglöckchen eingestickt sind. Doch ehe ich mich von meinem Staunen erhole und sie ansprechen kann, ist sie hinter der nächsten Ecke verschwunden. Ich laufe hinterher, aber ich sehe sie nicht mehr, als hätte der graue Asphalt der Straße sie verschluckt. Bei einer Radtour lasse ich meine Augen über Wiesen und Felder schweifen und sehe überall karierte Maiglöckchen, bevor ich erschöpft vom Rad zu Boden sinke. Als ich wieder wach werde und mich aufrichte, blicke ich auf zahlreiche gelbe Tupfen in der grünen Wiese: Löwenzahn, soweit das Auge reicht.

Je länger ich darüber nachdenke, umso klarer wird mir, dass ich einem Phantom hinterherjage. Solange ich glaube, mich eines Tages über karierte Maiglöckchen beugen und einige von ihnen zu einem Strauß zusammenfügen zu können, solange ich versuche, via Internet bei einer Firma karierte Maiglöckchen zu bestellen, und auch noch von der umgehenden Lieferung überzeugt bin, ich also keine Zweifel an der Existenz karierter Maiglöckchen habe, werde ich scheitern. Es ist sinnlos, einen Königsweg zu suchen, der mich ans Ziel meiner Wünsche führt, weil es ihn nicht gibt. Ich sollte alles dem Zufall überlassen. Wenn diese vermaledeiten Glöckchen irgendwo auf mich warten, werde ich sie finden. So leicht gebe ich nicht auf. Barbara, ich liefere. Lass ihnen und mir nur genügend Zeit.

Dies alles schrieb ich auf, als ich alle Hebel in Bewegung setzte, diese geheimnisvollen Kräuter zu finden. Doch sie fielen mir nicht in den Schoß, so sehr ich mich auch abmühte. Geduldiges Abwarten liegt mir nicht, doch was blieb mir schon anderes übrig. Ich lenkte mich ab und besuchte ein Konzert des berühmten chinesischen Pianisten Lang Lang. Dieser Klaviervirtuose ist ganz einfach ein Siegertyp. Jeder Zoll an ihm ein Star, wenn er locker zum Steinway schreitet, rechts und links freundlich grüßt und dann am Instrument Platz nimmt. Während des Konzerts beherrscht er die leisen und die dynamischen Töne gleichermaßen, brachte mich bei Schuberts B-Dur-Sonate glatt zum Heulen. Ich saß da mit geschlossenen Augen, während mir die Tränen die Wangen herunterliefen, und dachte nicht mehr an karierte Maiglöckchen. Doch plötzlich sah ich sie. Karierte Maiglöckchen in allen Farben im März. Sie schwebten von der Decke der Konzerthalle anmutig herab auf die gebannt lauschenden Zuhörer. Sie brachen aus dem Bühnenlogen heraus und verwandelten ihn in einen blühenden Garten. Sie lagen verstreut auf dem Flügel und ihre Blütenblätter zitterten im Rhythmus der Klänge, die Lang Lang dem Instrument derart fein entlockte. Zeit zum Träumen während der grandiosen Interpretation von Chopins zweitem Etüden-Zyklus, zu dem die Maiglöckchen einen geradezu entfesselten Tanz aufführten. Als der letzte Ton verklang, öffnete ich die Augen und wurde abrupt in die Wirklichkeit zurückkatapultiert.

Lang Lang erhob sich, während der Beifall aufbrandete, aber er stand einsam und allein an seinem Flügel, keine karierten Maiglöckchen weit und breit. Der Traum ging zu Ende, während der Pianist unter Verbeugungen in alle Richtungen das Podium verließ. Meine Frau schüttelte nur den Kopf, als ich ihr von meinen heiß geliebten Pflänzchen erzählte, und klärte mich darüber auf, dass damit nichts weiter als ganz besonders extravagante Kundenwünsche gemeint sind. Wenn ich das nur von Anfang an gewusst hätte. Nein, besser nicht; so konnte ich zumindest von ihnen träumen.

2. Ein Herz, zwei Namen

I.

Als ich im Juni des Jahres 2004 mit ihr auf der Bank im Stadtpark saß und wir uns zuflüsterten, wie sehr wir uns liebten, ahnte ich nicht, dass sich mein Leben ändern und von ihr wegtreiben würde. Ich weiß nicht mehr, warum wir gerade auf dieser Bank saßen. Vielleicht stand sie an einer besonders romantischen Ecke des Parks, vielleicht hatten wir nur einen stillen Fleck gesucht, an dem wir allein waren.

Mein Blick fiel auf die zerkratzte, grün bemooste Lehne. Ganz links schimmerte eine seltsame Struktur durch. So schien es mir jedenfalls. Ich wischte mit der Hand darüber und stieß auf zwei eingravierte Namen, die in einem sorgfältig geschnitzten Herzen immer deutlicher zu lesen waren, je mehr ich mit meinem Fingernagel nachhalf. Gertrud und Friedrich las ich und eine Jahreszahl. 1906, nein 1908. Fragen Sie mich bitte nicht, warum ich damals Gertrud und Friedrich, umgeben von einem Herzen, geschnitzt in eine altersschwache Parkbank, so interessant fand. Warum mich ausgerechnet diese beiden Namen von meiner Freundin Katharina ablenkten. Erstaunlich war es schon, dass sie nach so langer Zeit noch so gut erhalten waren. Beide Namen traten klar hervor, während die Jahreszahl, nachlässiger eingraviert, von Flechten überwuchert und nur schwer lesbar war. Ich arbeitete vorsichtig mit dem rechten Zeigefingernagel weiter. Ja, 1908 musste es heißen. Sie hatten sich also vor dem Ersten Weltkrieg hier in dieser Bank verewigt.

„Was ist los mit dir?“

„Schau her.“

Verständnislos schaute meine Freundin auf die beiden Namen und wunderte sich wohl darüber, dass mein Interesse von ihr so plötzlich zu Gertrud und Friedrich gewechselt war.

„1908. Die modern schon lange irgendwo vor sich hin.“

Mir gefiel diese flapsige Bemerkung nicht, auch wenn sie der Wahrheit natürlich nahekam. Und sie setzte noch einen drauf.

„Friede ihrer Asche.“

„Woher willst du wissen, dass sie verbrannt worden sind?“

„Weiß ich doch gar nicht. Das sagt man doch so. Aber was hast du mit diesen Toten am Hut? Beschäftige dich lieber mit den Lebenden.“

Können zwei vergilbte Namen von Menschen, die ich nicht kannte und auch nicht mehr kennenlernen konnte, ein Leben verändern? Wieso hatte ich das Gefühl, aus meiner Welt aussteigen und in die verblichene Wirklichkeit von Friedrich und Gertrud einsteigen zu müssen?

„Ich gehe.“

Meine Freundin stand abrupt auf und ging. Ich folgte ihr nicht. Ich ließ sie gehen, ließ sie einfach los. Geistesabwesend strich ich mit der Hand über die eingravierten Buchstaben, folgte mit den Fingern den Einkerbungen. Als ich wieder zu mir kam, war Katharina bereits hinter einer Hecke verschwunden, als wäre sie nie da gewesen. Hatte sie vor Kurzem noch auf dieser Bank neben mir gesessen? Es kam mir umso unwirklicher vor, je mehr Gertrud und Friedrich meine Gedanken beherrschten. Ich stand auf und ging langsam durch den Park nach Hause.

II.

Es war an einem Herbsttag etwa ein Jahr nach der Begegnung mit jenen Schatten der Vergangenheit. Ein ehemaliger Lehrer wurde beerdigt. Da ich ihn zu seinen Lebzeiten sehr verehrt hatte, nahm ich an seinem letzten Gang teil.

Katharina hat mich damals verlassen. Mit einem Menschen, der nur noch an Gertrud und Friedrich denke, könne sie nicht mehr zusammen sein. Ich vermute, dass sie schon länger vorgehabt hatte, mir den Rücken zu kehren. Gertrud und Friedrich kamen ihr gerade recht.

Bei der Beerdigung sah ich Katharina wieder. Wir waren uns fremd geworden.

Der Priester sprach von dem Verstorbenen. Von wem redete er? Es fiel mir schwer, mich auf die Rede zu konzentrieren. Meine Gedanken schweiften ab, flatterten davon wie Zugvögel im Herbst zu dem Herzen, das tief in die Parkbank hineingeschnitten war. Das Herz, das mich damals so sehr in seinen Bann gezogen hatte.

„Wie geht es Gertrud und Friedrich?“

Katharina stand neben mir. Ihre Worte klangen bitter, Katharinas Frage klang wie ein stiller Vorwurf. Und ich war mit einem Mal überzeugt davon, dass sie recht hatte, dass ich etwas versäumt hatte, was ich nicht hätte versäumen dürfen. Zutiefst verunsichert verabschiedete ich mich von ihr und schlenderte ziellos über den Friedhof.

Da blieb mein Blick an einem Grabstein hängen. Er war nicht größer als viele andere. Er war auch künstlerisch kaum von Bedeutung. Aber was ich da las, erschreckte mich und zog mich zugleich magisch an. Ich las mit wachsendem Erstaunen:

Hier ruhen, nachdem sie endlich Frieden gefunden haben, Friedrich und Gertrud Melzer.

Darunter der gemeinsame Todestag: 1. Mai 1944. Friedrich und Gertrud, Gertrud und Friedrich, gestorben am gleichen Tag. Ein Unfall, der Weltkrieg, Selbstmord? Ich ging ganz nah heran. Meine Füße berührten bereits die bröckelnde Umrahmung des Grabes, als ich bemerkte, dass unten am Fuß des Grabsteins noch ein Satz eingraviert war. Ich strich ein paar verwelkte Blumen beiseite und säuberte den Stein mit meinem Taschentuch.

Dann konnte ich lesen, was dort geschrieben stand: Sie starben, weil sie mit ihrem unendlichen Leid nicht fertig wurden.

Ob das Leid mit dem Krieg zusammenhing, der damals schon jahrelang in Europa tobte? Das schien mir wahrscheinlich. Opfer von Bomben waren sie wohl nicht geworden, nach diesem Satz hatten sie eher gemeinsam Selbstmord begangen. Ein Verkehrsunfall war im Jahre 1944 doch eher unwahrscheinlich.

Friedrich und Gertrud Melzer. Unbekannte Namen auf einem Grabstein. Unbekannte Schicksale. Noch unbekannt. Aber je länger ich über sie nachdachte, umso drängender wurde mein Verlangen, vom Schicksal der beiden mehr zu erfahren. Mich mit ihrem Leben, ihrem Sterben auseinanderzusetzen, als wolle ich die Toten zum Leben erwecken.

III.

Mai 1944. Der Zweite Weltkrieg zog in Europa eine grauenhafte Spur der Vernichtung. In Russland und anderswo ließen junge Menschen ihr Leben in einem sinnlosen Krieg. Das Schicksal von Friedrich und Gertrud Melzer war wohl untrennbar damit verbunden. Aber was verband sie mit dem Morden und Sterben auf den Schlachtfeldern? Wie konnte ich herausfinden, warum sie am 1. Mai 1944 gemeinsam in den Tod gegangen waren? Ich dachte fieberhaft darüber nach. Als ich schon aufgeben wollte, fiel mir ein Freund ein, der Familienforschung betrieb. Er riet mir, mit den Kirchenbüchern anzufangen. Ich besuchte den zuständigen Pfarrer und erfuhr, dass die Bücher der damaligen Zeit im Zentralregister des Erzbistums auf Mikrofilm aufbewahrt werden. Es dauerte lange, mir viel zu lange, bis ich von dort einen Termin erhielt.

IV

Friedrich Melzer wurde am 1. Mai 1880 geboren. Als er am 1. Mai 1910 Gertrud Vornweg heiratete, arbeitete er als Buchhändler in seiner Heimatstadt. Gertrud Vornweg war vier Jahre jünger und die Tochter von Gerd und Heidemarie Vornweg. Sie stammte aus einem kleinen Dorf in der Nähe. Wieder dieses Datum, wieder der 1. Mai. Ein Mitarbeiter des Zentralregisters riet mir, auch die nächsten Jahre des Kirchenbuchs intensiv durchzugehen.

„Die beiden hatten doch sicher Kinder.“

Ein wichtiger Hinweis. Er sollte mich zur Lösung des Rätsels führen. Ich ging die nächsten Jahre durch, fühlte mich wie ein Agent des Nachrichtendienstes auf der Suche nach brauchbaren Indizien. Ich verglich mich mit James Bond, doch mein Fall war nicht annähernd so cool wie die des Geheimagenten seiner Majestät.

Aber durfte ich so einfach im Leben zweier Menschen herumwühlen, die ich überhaupt nicht kannte? Störte ich nicht den Frieden, den die beiden gesucht und hoffentlich auch gefunden hatten?

Was ging mich das Schicksal von Friedrich und Gertrud Melzer eigentlich an? Ich vertrieb diese Gedanken wie lästige Fliegen und las weiter. Und ich wurde fündig. Am 28. Juni 1913 gebar Gertrud einen Sohn. Sie nannten ihn Wilhelm. Kaiser Wilhelm II. trieb Deutschland in den Krieg. Warum hatten sie ausgerechnet diesen Namen gewählt?

Jetzt war ich in meinem Element. Ich suchte aufgeregt weiter. Wie ein Spürhund blieb ich auf der Fährte und brauchte nicht lange zu warten. Am 8. Juli 1915 kam der zweite Sohn zur Welt. Er hieß Friedrich, wie sein Vater.

Inzwischen hatte ich mich immer besser an die Arbeit mit den Kirchenbüchern auf Mikrofilm gewöhnt und ließ nicht mehr locker. Der älteste Sohn heiratete 1939 Irmgard Weber. Schon 1940 kam Sohn Robert zur Welt.

Das war der letzte Eintrag, den ich fand. Robert Melzer hatte seine Heimatstadt vermutlich verlassen, denn sein Name tauchte in den Büchern nicht mehr auf. War ich am Ende? Wo sollte ich weitersuchen?

V.

Es lag eigentlich nahe, das Internet mit meiner Suche zu beschäftigen. Aber es dauerte lange, bis ich auf diese Idee kam. Dann gab ich, ohne länger nachzudenken, den Namen Robert Melzer ein und fand sehr schnell eine Reihe einschlägiger Seiten. Ich kann hier nicht in allen Einzelheiten schildern, wie ich dann weiter vorging, wie viele Telefongespräche ich führte, wie viele Menschen, die zufällig Robert Melzer hießen, belustigt bis verärgert auf meine Anrufe reagierten.

Bis ich eines Tages den richtigen Robert Melzer an der Strippe hatte. Er war sofort bereit, sich mit mir zu treffen. Er wunderte sich zu meinem Erstaunen kaum darüber, dass ich etwas über seine Urgroßeltern erfahren wollte, obwohl ich seine Familie überhaupt nicht kannte. Meine kurzen Erklärungen am Telefon reichten ihm wohl. Er wohnte nicht allzu weit weg. Ich traf mich mit ihm in einem Café in der Innenstadt. Ich sah ihn sofort, denn er hatte mir seine Kleidung sehr genau beschrieben. Sein knallig rotes Hemd unter einem gelben, kurzärmeligen Pullover fiel mir schon beim Betreten des Raums auf.

„Herzlichen Dank, dass Sie bereit waren, sich mit mir zu treffen.“

Er nickte kurz und wies mit der Hand auf einen Stuhl an seinem Tisch.

„Setzen Sie sich doch.“

Ich saß ihm gegenüber. Er war um die 30 Jahre alt, hatte blondes kurz geschnittenes Haar und trug einen Ring im rechten Ohrläppchen. Er schaute mich an und lächelte.

„Ein Herz, in eine alte Parkbank geschnitzt, ein Grabstein, zwei Namen, zwei Schicksale aus längst vergangener Zeit. Was hat sie daran so fasziniert?“

„Ich weiß es nicht. Ist es pure Neugier oder steckt mehr dahinter? Als ich neulich den Grabstein entdeckte, empfand ich das als einen handfesten Wink, woher auch immer, mich wieder mit dem Schicksal der beiden zu beschäftigen. Ich wollte wissen, wie es war, in ihrer Haut zu stecken. Und als ich mit den Kirchenbüchern nicht weiterkam, habe ich halt im Internet gesucht.“

Die Kellnerin kam und nahm mürrisch meine Bestellung auf. Mein Gegenüber musterte mich eingehend. Er hatte lebhafte blaue Augen, die unter kräftigen Augenbrauen hervorschauten. Seine Nase war etwas zu groß geraten. Als er sprach, wurden zwei Reihen makelloser Zähne sichtbar.

„Ich habe nach Ihrem Anruf in den alten Fotoalben geblättert.“

Er erzählte mir, wie sehr ihn die alten Bilder berührt hatten, wie nahe ihm die Menschen, wie nah ihm seine Vorfahren plötzlich wieder waren.

„Mein Urgroßvater hat Verdun überlebt. Gertrud und Friedrich haben sich sehr geliebt, aber sie erlebten zwei Weltkriege, lebten in einer schlimmen Zeit. Sie hätten miteinander glücklich sein können, konnten aber nicht wirklich glücklich sein.“

Ich schaute ihn fragend an.

„Sie wissen, dass die beiden zwei Söhne hatten. Meinen Großvater Friedrich und seinen jüngeren Bruder Wilhelm. Beide sind kurz hintereinander in Russland gefallen.“

„Und das war der Grund …“

„Für den gemeinsamen Selbstmord, meinen Sie? Ja, das war der Grund. Sie liebten sich, konnten aber dennoch nicht weiterleben.“

Wir schwiegen lange.

VI.

14 Tage später stand ich am Eingang des Parks. Ich wartete auf Robert Melzer, der unbedingt das Herz auf der Bank sehen wollte. Es war ja gewissermaßen ein Stück Familiengeschichte. Zehn Minuten nach der vereinbarten Zeit, als ich schon zurück in die Stadt gehen wollte, bog eine junge Frau um die Ecke und kam auf mich zu.

„Ich bin Inge, Roberts Schwester. Er kann leider nicht kommen.“

Da stand eine junge Frau von klassischer Schönheit vor mir, wie man so zu sagen pflegt. Ihre dunklen Haare fielen in Locken um das fein geschnittene Gesicht, aus dem zwei große, braune Augen mich geradezu unverhohlen musterten. Ich hätte mich am liebsten versteckt, doch wohin.