10 Minuten? Dit sind ja 20 Mark! - Felix Lobrecht - E-Book

10 Minuten? Dit sind ja 20 Mark! E-Book

Felix Lobrecht

4,4

Beschreibung

Zwei der umtriebigsten und erfolgreichsten Slam-Poeten Deutschlands haben ihre besten Texte genommen und in eine Geschichte eingeflochten, die davon handelt, wie sie im Kampf gegen Faulheit, Zeitnot und Prokrastination ein Buch zu schreiben versuchen. Ein pointierter Mix aus launischen Dialogen und schräger Prosa! Wie ist es, mit Mitte zwanzig in einer Berliner WG binnen vier Wochen ein Buch zu schreiben, von dem der eine Autor erst kurz vor der Deadline erfahren hat? Insgeheim hoffen Lobrecht und Rosskopf, sich das Buch als Masterarbeit anrechnen lassen zu können. Weil Felix Politik studiert und Malte Jura, ist das eine sehr dumme Hoffnung. Aber das Motto für die zwei ist sowieso immer: Klappt schon irgendwie, weil es muss! Eingestreut in diese Rahmenhandlung sind die besten Slam-Texte der beiden: Warum findet Malte einfach keine Freundin, die ihn cool findet, weil er cool ist, und nicht, weil er grad zufällig da ist? Und warum kauft Felix Gänse bei Ebay? Liegen bleiben vs. endlich anfangen zu schreiben, Kommodenvermessen vs. Bumerangwerfen, gestreifte T-Shirts vs. ausdefinierten Bizeps und Hochdeutsch vs. Berliner Schnauze sind nur einige der Konfliktlinien zwischen den beiden Storytellern. Das Ergebnis ist zu witzig für ein Lexikon und zu smart für reine Comedy. Dieses Buch ist wie Berlin: jung, random und gut aussehend.

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Felix Lobrecht & Malte Rosskopf

10 MINUTEN? DIT SIND JA 20 MARK!

Felix Lobrecht

1988 geboren, ist Berliner, der im temporären Exil in Marburg weilt. Er ist erfolgreicher Poetry-Slammer, Autor, Comedian und Stammautor bei den Lesebühnen »Late-Night-Lesen« in Marburg und »Wal fällt auf Boot« in Gießen sowie 50 Prozent des Slam-Teams »Slamdog Millionaire«. Mit seinen Texten bringt er vor allem sich selbst, aber auch mal das Publikum zum Lachen. Ferner zeichnen ihn sein ausgeprägter Bizeps und die Berliner Schnauze aus (ebenfalls ausgeprägt). Nach dem Studium wird er zurück in seine geliebte Heimat ziehen, um dort groß und noch stärker zu werden.

Malte Rosskopf

wurde 1988 geboren und ist Slam-Poet, Autor und Vorleser. Als zugezogener Berliner hat er es sich seit 2009 im Wedding bequem gemacht, ist aber ohnehin meist unterwegs, wenn er mit seinen Gedichten und Kurzgeschichten erfolgreich durch Deutschland, Österreich und die Schweiz tourt. Rosskopf ist Mitglied der Berliner Lesebühne »Schnaps & Würde« und zweier Poetry-Slam-Teams, von denen eines bekannt ist (»Slamdog Millionaire«) und das andere noch keinen Namen hat, weil es sehr geheim ist.

E-Book-Ausgabe September 2015

©Satyr Verlag Volker Surmann, Berlin 2015www.satyr-verlag.de

Cover, Satz und Lektorat: Marvin Ruppert Autorenfoto: Tobias Heyel

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über: http://dnb.d-nb.de

Die Marke »Satyr Verlag« ist eingetragen auf den Verlagsgründer Peter Maassen.

ISBN: 978-3-944035-61-1

INHALT

Prolog: Straße & Studium

Tag 1: Fische, die leuchten & der Anfang vom Rest des Lebens

Liegen bleiben (Malte)

Hobbys (Felix)

Tag 4: OSSIS & Antipasti

Meine Freunde (M)

Hunde (F)

Tag 8: Eine Trilogie & das Ding mit dem Nashorn

Eine neue Liebe ist wie ein neues Leben … Schalalalala (M)

Wenn ich eine Freundin hätte (M)

Nie mehr zweite Liga – nie mehr, nie mehr (M)

Humanbiologen (F)

Tag 14: Flugangst & der unterernährte Hund Blacky

Tag 22: Kombinierte Leidenschaften & ein halber Tag unter der Dusche

Gänse (F)

Schule (F)

Tag 23: Gärtnervergleich & die Frau in der Hüpfburg

Neid (M)

Tag 24: Das Kleiber-Kit & alte Pillen

Banane (F)

Tag 29: Motivationskaffee & eine saumäßige Arbeitsmoral

Wetter in der Wohnung (F)

Stühle-Denny (F)

Tag 30: Das neue Ende & Adam Sandler

Epilog: Der Klappentext & das Fundbüro

Anhang

PROLOG

STRASSE & STUDIUM

»Fick dich, Rosskopf, fick dich einfach!«, tobt Felix. In der Hand hält er drohend einen Nothammer aus einem Bus, vor ihm liegt eine leere Flasche Ouzo. »Wie zur Hölle soll dein beschissener Vorschlag funktionieren? Wie, frag ick dich!«

»Halt doch mal deine bekackte Scheißfresse, Felix!«, brüllt Malte zurück und nimmt noch einen großzügigen Schluck Whiskey. Neben ihm liegen griffbereit zwei Äxte. »Wir müssen bis morgen ein Scheißbuch bei unserem Scheißverleger abgeben und es war ein Scheißfehler, dir zu erlauben, das letzte Kapitel zu schreiben. Hast du dir deinen lieblos hingekackten Rotz mal selber durchgelesen? Schau mir in die Augen und sag mir, dass du das letzte Kapitel gelesen hast, ohne zu denken, dass das die verfickteste Fickscheiße ist, die je ein ›Mensch‹ geschrieben hat.«

»Ick schau dir in die Augen und sag dir, dass du schielst, dit sag ick dir, du Lappen. Dit letzte Kapitel vom Buch ist einsame Spitze und bevor du jetzt hier alles mit deinen lappigen, weichgespülten Scheißideen kaputtmaltest, zünd ick hier lieber den janzen Laden an. Den janzen verfickten Laden!« Felix zückt sein Feuerzeug. »Und hör auf, Mensch in Tüddelchen zu setzen, du arroganter Sack!« Beide schnauben sich wütend an.

»Alter, Felix, wach endlich auf.« Malte versucht, die Situation ein wenig zu beruhigen. »Wir müssen morgen ein Buch abgeben. Morgen. Verstehst du? Das ist der Tag nach heute. Und wir sind fast fertig, haben da so viel Arbeit reingesteckt, aber mit so einem Ende machen wir doch alles zunichte, was wir vorher mühsam aufgebaut haben.«

»Nischt wird hier zunichte jemacht. Dit ist ’ne runde Sache, so wie ick dit jeschrieben hab. ’ne runde Sache. So wie ein Ball. Oder ’n runder Kasten. Die von dir anjebotene Alternative is’ keene runde Sache. Die is’ eckig. Wie ’n normaler Kasten. Wenn wir jetzt deinem Vorschlag folgen, dann konterkarieren wir doch allet von vorher.«

Malte winkt herablassend ab. »Du weißt doch nicht mal, was ›konterkarieren‹ heißt, Felix. Deine ganze Familie weiß nicht, was ›konterkarieren‹ heißt.«

»Jut, ick wiederhole: Fick dich, Rosskopf, fick dich einfach!«

»Fick dich selber, Felix! Das ist doch alles für’n Arsch!«

Beide sind auf Hundertachtzig und warten ab, was passiert. Keiner senkt den Blick. Da zunächst aber niemand Anstalten macht, den anderen anzugreifen, regen sie sich ein bisschen ab.

»Du kannst doch gar nicht mehr klar denken, Felix«, sagt Malte. »Du bist doch rotzbesoffen von dem ganzen Ouzo!«

»Dit ist doch völlig sachfremd jetzt. Außerdem bist du mindestens noch besoffener als icke. Und überhaupt, wat macht’n dieser Lauch eigentlich hier?«, fragt Felix und nickt abfällig zu dem in der Ecke kauernden jungen Mann, der vor Angst zittert.

»Ja, was mach ich eigentlich hier?«, fragt der junge Mann.

»Kann der mal bitte sein Maul halten, Malte?«, mahnt Felix.

»Ja, halt dein Maul, mit dir spricht hier gerade niemand!«, blafft Malte ihn an, um dann an Felix gerichtet fortzufahren. »Das ist Troy, ein befreundeter Schriftsteller. Ich habe ihn gebeten, meine Einschätzung hinsichtlich deines Kapitels zu bestätigen.«

»Wir sind nicht befreundet, ich kenne Sie nicht«, stottert Troy. »Und ich wurde nicht gebeten, sondern erpresst. Ich möchte bitte schnell nach Hause gehen. Ich habe Angst.«

Malte schüttelt den Kopf und versperrt den Weg zur Tür.

»Kann der mal bitte sein Maul halten?«, mahnt Felix ein zweites Mal.

»Ja, halt dein Maul, Troy. Du gehst nirgendwo hin, bevor du Felix nicht erklärt hast, dass er beim letzten Kapitel versagt und sich bis auf die Knochen blamiert hat und nur mein Vorschlag unser Buch retten kann.«

»Spinnst du jetzt komplett, Rosskopf? Du hast ’nen Schriftsteller hierher zitiert, damit er deinen völlig abwegigen Vorschlag unterstützt?«

»Ja, das habe ich. Troy hat schon mehrere Bücher veröffentlicht. Und er als Experte wird dir meine Einschätzung bestätigen. Du Arschgeige!«

»Bitte, wir kennen uns nicht«, wimmert Troy. »Und ich bin kein Schriftsteller, ich arbeite im Callcenter eines kleinen Möbelhauses, bei dem nie jemand anruft. Ich schreibe nur privat kleine Geschichten und trete damit auf kleinen Poetry Slams im Großraum Zossen auf. Ich möchte jetzt bitte gehen. Ich habe Familie und Sie machen mir Angst.«

»Jetz’ reicht mir dit aber hier mit dir, Troy! Mir platzt gleich der Helm hier, ey. Mann!« Felix macht eine helmplatzende Armbewegung. Er bewirft Troy mit einer Gabel und dreht sich wieder zu Malte.

»Dit is’ doch allet albern, is’ dit doch allet. Und peinlich, Malte, peinlich! Es ist peinlich, dass du dir hier den hinterletzten Wannabe-Schriftsteller greifst, nur weil dein Vorschlag die größte Kackscheiße ist, die ick je lesen musste. Und ick musste nicht viel lesen bisher!«

Malte schüttelt den Kopf. »Tu doch nicht so, Felix, du hast dir doch selber Unterstützung geholt«, sagt er und deutet auf das Sofa, hinter dem eine blasse Gestalt hervorlugt, die im Wesentlichen genauso aussieht wie Troy.

»Ja, und? Hab ick«, gibt Felix zu. »Dit ist aber keen Schriftsteller, sondern Marcel.« Felix nickt abschließend, so als sei damit alles gesagt.

»Wer ist Marcel?«, fragt Malte.

»Ich bin Marcel«, sagt Marcel. »Und auch ich habe große Angst und würde wirklich gerne nach Hause gehen.«

»Sag mal, kann der mal bitte sein Maul halten und sich hier nicht so dummdreist einmischen?«, echauffiert sich Malte.

»Du hast den Mann jehört, Marcel. Halt dein Maul!«

»Warum ist Marcel hier?«

»Weil ick ihn darum jebeten habe. Marcel war Streitschlichter an meiner alten Schule«, erklärt Felix, der sich nun überlegen fühlt, sehr sachlich. »Ick dachte mir: Jut, Malte und ick streiten, wer kann da helfen? ’n Streitschlichter. Et voilà, Marco, äh, Marcel oder wat weeß ick.«

»Bitte, Felix«, setzt Marcel an. »Ich, äh, ich war nur Streitschlichter, weil das die einzige Möglichkeit war, dem Pausenhof fernbleiben zu können. Dort wurde ich immer geärgert und hin und wieder angezündet. Dann bin ich Streitschlichter geworden und durfte in der großen Pause immer im Streitschlichterraum sitzen. Ich hab dann aber trotzdem schnell die Schule gewechselt, immer wenn ich was schlichten wollte, wurde ich danach von beiden Parteien gehauen, als die Lehrer nicht geguckt haben. Ich bin kein guter Streitschlichter und kann euch nicht helfen.«

»Da hörst du ihn, Felix!«, sagt Malte. »Dein kauziger Schulfreund kann uns nicht helfen. Also wieder zu dir, Schriftsteller.« Er wendet sich dem immer noch zitternden Troy zu. »Du liest jetzt das letzte Kapitel und sagst uns, was du davon hältst. Du kriegst dafür ’ne halbe Stunde Zeit.«

»Ich möchte das nicht lesen, ich schreibe, wie gesagt, nur ganz selten mal kleine, belanglose Kurzgeschichten«, sagt Troy eingeschüchtert.

»Wat für einen peinlichen Versager du dir da ins Haus jeholt hast, Malte. Lächerlich.«

»Troy, du weißt, was ich gegen dich in der Hand habe«, antwortet Malte knapp. »Ich habe den vierten August 2011 nicht vergessen, Troy. Die offene Bühne in Blankenfelde …«

»Du warst da?« Troy ist entsetzt.

»Ich war da, Troy, ich war da. Und auch Backstage, als du … du weißt schon. Da war ich auch da, Troy, auch da.«

»O… Okay, dann, äh, okay.« Er nickt wissend und schweigt.

»Kann ich dann jetzt gehen?«, fragt Marcel hoffnungsvoll.

»Klar, Marcel, klar, du kannst jehen. Soll ick dir noch ’n Zehner mit uff’n Weg jeben, als Dank? Oder darf ick dir direkt ’n Taxi spendieren?«, fragt Felix. »Nee, Marcel, du kannst mal überhaupt nicht jehen. Du hältst jetzt die Schnauze und liest dir mein letztet Kapitel durch. Dit kann nämlich nicht sein, dass Rosskopf hier seinen muchtigen Billo-Schriftsteller hat und ick hier alleene gegen die Kloppifraktion argumentieren muss. Du bist immer noch jenauso nutzlos wie früher, Marcel. Weeßte dit eigentlich? Dit fällt allet auf mich zurück, Marcel. Willst du dit? Willst du, dass ick mich vor dem da lächerlich mache?« Er nickt zu Malte.

»Nein, natürlich nicht«, antwortet Marcel.

»Dacht’ ick mir schon«, fährt Felix fort und steckt sein Feuerzeug wieder ein. »Du kriegst jetzt ’ne halbe Stunde, um dir ’ne Lösung für unser Problem zu überlegen. Malte will, dass am Ende vom Buch der Geist von Adolf Hitler auftaucht. Ick will, dass allet nur ein Traum war. Und denk ma nicht, dass ick mich nicht an früher erinner, Marcel. Ick weiß, wer damals gepetzt hat, dass Emre das Auto von Frau Müller kaputt jemacht hat. Du weißt schon, als Emre dann von der Schule jeflogen ist und in den Jugendknast musste. Wo er noch meinte, was er macht, wenn er rausfindet, wer gepetzt hat. Willst du, dass meine Infos ihren Weg in die Öffentlichkeit finden?«

Marcel schüttelt panisch den Kopf.

»Dacht’ ick mir, Marco, äh, Marcel. Dacht’ ick mir. Also, an die Arbeit!«

Malte und Felix verlassen das Zimmer und schließen ab. Dann stellen sie einen Wecker.

»Erpressen wir gerade zwei Menschen, nur weil wir uns auf kein Ende einigen können?«, fragt Malte.

»Wir betreiben Outsourcing, Malte. Entscheidungsoutsourcing. Dit macht man heutzutage so«, antwortet Felix.

»Wo hast du gelernt, Menschen mit Informationen zu erpressen?«, fragt Malte.

»Auf der Straße, Neukölln«, antwortet Felix. »Und du?«

»Drittes Semester, Jurastudium!«

Sie schweigen kurz.

»Ick find deinen Vorschlag für das letzte Kapitel übrigens immer noch richtig scheiße!«

»Ich deinen auch!«

»Fick dich, Rosskopf!«

»Fick dich selber, Lobrecht!«

30 TAGE ZUVOR – TAG 1

FISCHE, DIE LEUCHTEN & DER ANFANG VOM REST DES LEBENS

Felix geht den langen Flur der Wohnung entlang. Er macht vor Maltes Zimmer halt und klopft mit seinen durchtrainierten Armen laut gegen die Zimmertür. Die Tür wackelt, aber eine Antwort von Malte bleibt aus. Felix schlägt weitere zweihundertdreiundachtzigmal fest gegen die Tür, bis endlich eine Reaktion erfolgt.

»Wer immer das ist, jetzt nicht!«, ruft Malte. »Heute ist mein erster freier Tag seit einer gefühlten Ewigkeit und den möchte ich damit verbringen, im Bett zu liegen und mir Tiefseedokus anzugucken. Thema heute: ›Fische, die leuchten.‹ «

Felix öffnet die Tür und betritt das Zimmer.

»Ey! Was soll das?«, fragt Malte. Er liegt noch im Bett und guckt Tiefseedokus. Ein leuchtender Fisch schwimmt durch das ansonsten komplett schwarze Bild.

»Sorry, ick dachte, ick hätte ein ›Herein‹ gehört«, antwortet Felix.

Malte blickt auf und ist sichtlich überrascht, Felix zu sehen. »Was machst du denn hier, warum bist du nicht in Marburg?«

»Warum sollt’ ick in Marburg sein?«, fragt Felix.

»Weil du da wohnst?«

»Stimmt.« Felix wirkt unbeeindruckt.

»Und warum bist du dann jetzt in Berlin? In meiner Wohnung?«

»Ach so, darauf wolltest du hinaus. Na ja, um’s kurz zu machen: Ick wohn die nächsten vier Wochen hier. Nice, oder?« Er sieht Malte erwartungsvoll an.

»Bitte was?«

»Ick – wohn – die – nächsten – vier – Wochen – hier«, wiederholt Felix. Er betont dabei jedes Wort einzeln, als glaube er, Malte sei der deutschen Sprache nicht mächtig.

»Danke, akustisch hab ich das verstanden«, antwortet Malte. »Ich habe nur erhebliche Zweifel am Inhalt deiner Äußerung. Ich wüsste nicht, warum und wie du hier wohnen solltest.«

»Dit wie is’ ja nun keen Kunstwerk: Rinnjehen, da sein, zack – wohnen!«, sagt Felix. »Und warum ick hier wohnen werde? Na ja, wir müssen ja immerhin bis nächsten Monat ein Buch zusammen schreiben. Da hab ick mir jedacht, machste ma’ ’ne WG mit Malte, dann können wa besser zusammen arbeiten. Jut, oder?« Er sieht Malte noch erwartungsvoller als eben an.

»Wovon zur Hölle sprichst du?« Malte hat sich mittlerweile aufgesetzt, um eines seiner fünfzehn blau-weiß gestreiften T-Shirts anzuziehen, um seinen im Vergleich zu Felix sehr untrainierten Oberkörper zu bedecken.

»Dein Körper ist auch im Vergleich zu anderen Menschen untrainiert«, sagt Felix plötzlich.

»Wie bitte?«

»Ick hab doch jenau jesehen, wie du dachtest, dass dein Körper im Vergleich zu meinem sehr untrainiert ist.« Er flext völlig grundlos seinen Trizeps. »Aber bild dir mal nix ein, du bist generell ein Lauch. Nicht nur im Vergleich zu mir.«

»Äh, okay, was auch immer«, wundert sich Malte über Felix’ Fähigkeiten zum Gedankenlesen. »Aber viel wichtiger: Was meinst du damit, dass wir ein Buch schreiben müssen?«

»Ganz einfach«, sagt Felix. »Auch wenn du das wohl vergessen hast, du bist Poetry-Slammer. Dit heißt, du nimmst an Poetry Slams teil. Poetry Slams sind moderne Dichterwettkämpfe, bei denen …«

»Jaja, ich weiß, was Poetry Slams sind, ich bin zufällig Poetry-Slammer«, unterbricht Malte Felix sanft.

»Unterbrich mich nicht!«, unterbricht Felix Malte barsch.

»Aaalso: Poetry Slams sind moderne Dichterwettkämpfe, bei denen die Teilnehmer mit selbst geschriebenen Texten gegeneinander antreten. Auf Bühnen. Letztet Jahr hast du an einem Slam teilgenommen. Weil ick zufällig auch Poetry-Slammer bin, hab ick zufällig auch teilgenommen. Danach kam ein Mann zu mir, der sagte, er sei zufällig Verleger …«

»Zufällig Verleger? Wie wird man denn zufällig Verleger …«

»Hab ick ooch jefragt«, sagt Felix. »Der wollte ursprünglich Maurer werden, hat er erzählt. Hier mal ’ne Wand mauern, da mal ’n Haus, vielleicht auch ma’ ’ne kleene Brücke. Aber nee – Eltern tot, Verlag geerbt. Jetzt ist er zufällig Verleger.«

»Verrückt«, murmelt Malte. Er muss plötzlich drei Minuten lang niesen.

»Wie dem auch sei«, sagt Felix. »Der fand mich janz jut, weil ick so Berliner Schnauze hab und witzig bin, pipapo. Dich fand er janz jut, weil in deinen Texten Harry Potter und Hitler Vorkommen.« Er zwinkert Malte gönnerhaft zu. »Ist wie Salz und Pfeffer fürs Essen, meinte er. Jehört halt durchschnittlich dazu. Er meinte, wir sollten mal ’n Buch zusammen schreiben. Würde sich spitzenmäßig ergänzen.« Er macht eine Pause und überlegt. »Wie Salz und Pfeffer hat er gesagt. Oder Simon und Graf Onkel oder so.«

»Und hast du dann einfach zugesagt? Ohne mich vorher zu fragen?«, fragt Malte.

Felix schweigt. Er erkennt in Maltes Blick, dass dieser auf eine Antwort wartet. Dann geht er wortlos in die Küche und holt sich einen Kaffee.

Nach vier Minuten kommt er ins Zimmer zurück und sagt nach längerem Schweigen schließlich: »Ja. Theoretisch hab ick zujesagt.« Er nimmt einen Schluck Kaffee und ergänzt: »Ick dachte, vielleicht freuste dich ja. Hat sich dann aber eh zunächst zerschlagen, weil wir mehrere Deadlines verpasst haben, um ’ne Arbeitsprobe zu schicken.«

Malte echauffiert sich innerlich, hört aber wortlos zu.

»Immerhin hat er irgendwann wütend jeschrieben, dass wir nur noch eine Chance bekommen. Hab ick vergessen, drauf zu antworten. Fand er jar nicht lustig.« Felix grinst und schüttelt seine Hand, als ob er sie sich gerade verbrannt hat. »Der Verleger hat, glaub ick, ’ne Vorliebe für Deadlines, muss wat Persönlichet sein«, fügt er hinzu.

»Sorry, Felix«, bricht es aus Malte heraus. »Aber das ist ja wohl die Höhe! Du weißt genau, dass es eines der großen Ziele auf meiner großen Liste meiner großen Ziele ist, ein Buch zu schreiben!«

»Mir ist diese Liste gänzlich unbekannt«, antwortet Felix knapp.

Malte geht nicht darauf ein. »Und du hast mir nicht Bescheid gesagt, mir also die Chance geraubt, einen Traum zu verwirklichen. Und dann verpasst du auch noch mehrere Deadlines. Dabei hab ich Arbeitsproben der letzten zwölf Jahre für genau solche Fälle alphabetisch und chronologisch sortiert rumliegen. Ich fasse es nicht!«

»Wir ham Deadlines verpasst, Malte«, korrigiert Felix, »dit war’n wir janz alleene. Wir sind ein Team, Malte, ein Team. Wir jewinnen zusammen und verlieren zusammen. Und wir verpassen Deadlines zusammen. Denn wir sind ein Team!«

»Das ist doch ausgemachter Unfug!«, entrüstet sich Malte und klingt dabei wie eine alternde Deutschlehrerin, die einem zu spät kommenden Schüler die Ausrede nicht glaubt. »Du hast die Deadlines verpasst, du alleine. Und vor allen Dingen: Du hast nichts gesagt, nichts hast du gesagt! ›Da hat ein Verleger Interesse an dir und deinen Texten‹, das wäre mal ein Grund für einen Anruf gewesen. Stattdessen rufst du mich manchmal nachts an, um zu fragen, ob Enten die Kinder von Gänsen und Gänse die Kinder von Schwänen sind. Und ob dann Enten im Umkehrschluss die Enkel von Schwänen sind und was Falken damit zu tun haben. Wegen so was rufst du an. Ich bin richtig geladen, Felix, richtig geladen bin ich!«

»Jetzt reg dich mal wieder ab«, sagt Felix mit beschwichtigender Geste. »Wie du meiner Aussage, dass wir ein Buch schreiben müssen, entnehmen kannst, müssen wir ein Buch schreiben. Dit spricht doch dafür, dass in der Causa Buch dit letzte Wort noch nicht jesprochen ist. Deadline hin oder her.«

»Ich bin ganz Ohr«, sagt Malte und versucht, Zorn und Neugier in Einklang zu bringen, ohne Felix gleich wieder wohlgesonnen zu sein.

»Schön, dass de mir wieder wohlgesonnen bist«, sagt Felix lächelnd. »Na ja, also: Letzten Monat ruft mich der Verleger dann plötzlich an und berichtet, dass mehrere Autoren ihre Projekte zurückgezogen hätten. Dann gab’s da plötzlich Autorenbedarf. Aber es muss schnell gehen, hatta jesagt. Ergo: Zeitdruck! Einen Monat ham wa.«

»Bis nächsten Monat? Du verarschst mich doch!« Malte hofft, dass Felix ihn verarscht.

»Ist nicht ausjeschlossen, dass ick dem Verleger gegenüber behauptet hab, dass wir im Prinzip schon ’nen fertigen Roman rumliegen haben. Da war er ganz begeistert!«, gibt Felix zu.

»Oh Mann«, stöhnt Malte. Er weiß nicht, was er von all dem halten soll. Einerseits mag er Felix gerne und hatte schon immer den Wunsch, mal ein Buch zu schreiben. Andererseits findet er Felix mit seiner eigenartigen Art manchmal unerträglich, und vor allen Dingen: Wie sollen sie es schaffen, in so kurzer Zeit ein Buch zu schreiben? Außerdem will er doch eigentlich endlich mal seinen dringend benötigten Urlaub machen.

Janz schön bockig der Malte, denkt Felix, ohne zu hinterfragen, ob das von ihm selbst nicht gerade ganz schön dreist war. Der Junge sollte mal dankbar sein, ein Buch schreiben zu dürfen. Umstände hin oder her. So schwer wird dit schon nicht sein, ’n paar Sätze, ’n paar Seiten und fertig. Malte und seine nervige Malte-Art manchmal.

»Und wie kommst du darauf, dass du jetzt hier wohnst?«, geht Malte zum nächsten Thema über. »Hier ist kein freies Zimmer und meine bescheidenen Räumlichkeiten sind zu klein.«

»Ick wohn temporär bei deinem Mitbewohner, der ist doch den ganzen Sommer über weg«, sagt Felix.

»Und woher willst du das wissen?«

»Janz einfach, immer wenn wir telefonieren, sagst du, wie du dich auf deinen freien Sommer freust. Keene Uni, Mitbewohner im Urlaub, die Wohnung nur für dich alleene haben und überhaupt. Jut, da hab ick dit Wichtige vom Unwichtigen getrennt und als Kerninformation herausgefiltert: Freiet Zimmer bei Malte.«

»Du hast nicht etwa herausgefiltert: Malte freut sich auf einen freien Sommer mit leerer Wohnung?«, fragt Malte. »Weißt du, das wäre nämlich das Naheliegende gewesen.«

»Ick hör lieber zwischen den Zeilen«, erwidert Felix. »Et voilà, hier bin ick.«

»Und woher hast du einen Schlüssel?«

»Von deinem Mitbewohner. Ham vorhin noch ’nen Kaffee getrunken zusammen. Wir mögen uns. Ick würd ja auch nicht einfach in sein Zimmer ziehen, ohne ihn zu fragen. Für wie dreist hältst du mich?«

»Na, klasse«, sagt Malte. »Also willst du jetzt wirklich hier wohnen und binnen vier Wochen ein Buch schreiben. Ich denke, ich find das alles eher nicht so richtig cool.«

»Manchmal bist du eigenartig«, sagt Felix. »Aber da müssen wa jetz’ durch. Außerdem gloob ick, es ist gut, dass ick hier vorübergehend wohne. Offensichtlich fehlt dir eine Vaterfigur.«

»Wieso? Ich habe eine Vaterfigur«, antwortet Malte, »meinen Vater!«

»Ja«, erwidert Felix. Er sieht sich um. »Aber so wie ick die Sache sehe, ist dein Vater gerade nicht hier.« Er versucht, diesen Konter mit einer coolen Geste zu verstärken.

»Wie viele andere Menschen wohne auch ich im Alter von sechsundzwanzig nicht mehr bei meinen Eltern und meine Eltern wohnen auch nicht bei mir«, antwortet Malte gestenlos und seine Gestenlosigkeit direkt bereuend.

»Dit bekommt dir vielleicht nicht so gut«, sagt Felix. »Du scheinst die Kontrolle über dein Leben verloren zu haben. Es ist 16:09 Uhr und du liegst noch im Bett. An einem Wochentag.«

»Erstens«, erwidert Malte, »ist heute Samstag. Und zweitens waren die letzten drei Wochen so voll mit Uni, Arbeit, Renovierungsscheiße in der Wohnung, Auftritten bei Poetry Slams, Familienbesuchen und so weiter, dass ich einfach nur sehr froh bin, heute mal freizuhaben, nichts zu tun zu haben und abschalten zu können.«

»Also«, erklärt Felix, »erstens ist Samstag auch ’n Wochentag. So wie ick dit jelernt hab, hat ’ne Woche sieben Tage. Samstag jehört dazu. Zweitens: Es ist 16:10 Uhr und du liegst noch im Bett. Bist du krank?«

»Ganz im Gegenteil, mir ging es richtig gut, bis du kamst. Ich hatte das Gefühl, alles erledigt zu haben, was zu erledigen war. Ich war richtig entspannt und stand über den Dingen, bis du aus dem Nichts beziehungsweise Marburg aufgetaucht bist. Alles war toll, bis du mir gesagt hast, dass wir ab sofort Mitbewohner und Co-Autoren eines Buches seien, das wir nie fertig kriegen werden, weil wir nicht ausreichend Zeit dafür haben.« Maltes Stimme überschlägt sich vor Aufregung. »Und wenn wir es doch schaffen sollten – und ich betone erneut meine ausgewachsenen Zweifel –, dann wird es schlecht und unwürdig. Wir werden grausame oder gar keine Kritiken ernten und unser aufgehender Stern wird verbrannt sein, bevor der Zenit überhaupt in Sichtweite war. Das ist doch alles bescheuert!«

Felix kratzt sich den Bizeps, zieht sein Muskelshirt aus und zupft das noch engere Muskelshirt darunter zurecht. Er überlegt. »Also, wenn’s dir richtig gut geht, dann liegste nur im Bett, ja?«, fragt er ungläubig. »Während andere vor Freude on se Sunshine walken, in se Rain singen oder in se Moonlight dancen, liegst du einfach nur im Bett und guckst vor lauter Euphorie Tiefseedokus?«

»Alter, da sind Fische, die leuchten. Leuchten!«

»Scheiß auf leuchtende Fische! Dit ist bedenklich, Rosskopf. Geh raus, mach Party, räum das Zimmer deines Mitbewohners auf oder schreib ’n Buch! Apropos Buch schreiben, wir müssen ein Buch schreiben. Hopp hopp, raus aus ’n Federn!« Felix greift sich einen Besen und deutet an, Malte damit aus dem Bett zu kehren. »Komm, wir schaffen dit. Ein Monat ist viel Zeit. Ick sag ja immer: ›’n Monat ist wie dit Soloprogramm von Dieter Nuhr – länger, als man denkt‹, nur is’ dit in unserem Fall wat Jutet!«

Malte atmet tief durch, verschränkt die Hände hinter dem Kopf und sagt: »Das sagst du nie. Das hast du dir gerade ausgedacht. Und jetzt leg den Besen weg und hör auf, dich wie Karlsson vom Dach aufzuführen, Felix!«

Felix hört nicht auf.

»Du sollst den Besen weglegen!«

»Dann steh endlich uff! Der Tag wartet auf uns!« Felix reißt demonstrativ die Vorhänge auf und dabei versehentlich ab.

»Nein, auf mich wartet der Tag nicht. Auf dich wahrscheinlich auch nicht. Ich zum Beispiel habe auch nicht auf dich gewartet. Und jetzt, wo du trotzdem da bist, finde ich das eher so mittel irgendwie. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es dem Tag anders gehen wird, wenn ich aufstehe, ohne dass er auf mich gewartet hat. Alleine aus Gründen des Trotzes muss ich jetzt liegen bleiben! Um dir eine Lektion zu erteilen, du verstehst?«

Felix atmet tief durch, verschränkt die breiten Arme und sagt wie einer der Streitschlichter seiner alten Schule, die von beiden Streitparteien verprügelt wurden, sobald die Lehrer weg waren: »Na jut, Dornröschen, dann folgender Vorschlag zur Güte: Ick mach uns Kaffee, rauch noch eine und du erklärst mir noch mal, warum du partout nicht aufstehen willst. Dann nicke ick, sag, ick könnte dit verstehen, obwohl’s nicht stimmt, und dann stehst du auf, okay?« Cool steckt er sich zu diesen Worten eine Zigarette an.

»Das ist eine Nichtraucher-WG«, sagt Malte knapp.

»Wir sollten eh mal zeitnah ’n ernstet WG-Gespräch anpeilen«, entgegnet Felix trocken. Er zieht lässig an der Zigarette und geht.

Fünf Minuten später kommt er mit Kaffee zurück ins Zimmer. Malte ist in der Zwischenzeit aufgestanden und hat sich ein neues, anderes blau-weiß gestreiftes T-Shirt angezogen und sich wieder hingelegt, ohne zu wissen, warum er sich umgezogen hat. Was für ein komischer Tag.

Felix reicht Malte einen Kaffee.

»Nun denn«, sagt Malte. »Da du mir nun offensichtlich zugelaufen bist und ich mich deiner annehme, habe ich einen Bildungsauftrag, mein wissensbelückter Freund. Ergo werde ich nun erläutern, warum ich liegen bleibe und warum das auch richtig und im Einklang mit der Alltagsästhetik ist. Pass auf!«

 

LIEGEN BLEIBEN

Wenn ich als Kind ein Buch las und dieses dann an einer Stelle wunderschön zu werden begann, dann las ich weiter bis zum Zenit der Perfektion, hielt dort inne, legte das Buch beiseite und genoss den vom Autor kreierten Moment, bevor ich weiterlas.

So auch im wahren Leben. Wenn alles läuft, dann mache ich eine Pause und sauge das auf. Dann ist ein grenzdebiles Dauergrinsen die Überschrift meines Gesichtes. Dann schweigt der Kopf. Dann habe ich das Gefühl, auf jede Es-ist-jetzt-oder-nie-Situation antworten zu können: »Ja, aber nicht jetzt! Mal gucken, vielleicht morgen, ich möchte nichts versprechen, denn meine Uhren sind kaputt, die Wecker nicht gestellt, ich habe alle Zeit der Welt, sitze am längeren Hebel, habe den längeren Hebel und bin so cool: Wäre ich ein Kühlschrank, dann wäre ich zwei Kühlschränke. «

Normalerweise hätte ich jetzt Angst, draußen in der Welt irgendetwas sehr Krasses zu verpassen. Denn wenn man zu Hause sitzt und sich sorgt, etwas zu verpassen, dann ist die Realität immer vergessen. So wie eine Tupperdose im Schulranzen eines Grundschülers, der sie erst nach den großen Ferien wiederentdeckt und sich denkt: Aha, es gab damals Banane!

Aber heute gibt es keine Banane und auch nichts zu verpassen, weil Banane zu gesund ist und ich mich nicht in Kämpfen und Vergleichen aufreiben will, die ich nicht mal dann gewinnen würde, wenn der andere verliert. Denn irgendwer ist immer krasser. Bis in die kleinsten Kreise zieht sich der Konkurrenzkampf, beherrscht den Alltag, fängt schon in der Familie an. Wenn Wilson Gonzales Ochsenknecht auffälliger sein will als sein Bruder Jimi Blue und sich die Haare »blue« färbt. Wenn sich dann Jimi Blue, zum Konter entschlossen, die Haare »gonzales« färbt. Wenn Vater Uwe Ochsenknecht dann daran erinnert, dass man Haare nicht mehr färben kann, wenn man keine mehr hat. Und dass er sowieso das dickste Snickers in der Minibar ist und die Söhne sowieso nie seinem Schatten entfliehen werden, obwohl es gleichzeitig das väterliche Lichte der Berühmtheit erst war, welches die Söhne überhaupt aus dem Schatten geholt hat. Irgendwer ist immer krasser!

Und wieso, weshalb, warum, wird man eh nicht verstehen. Wie man vieles eh nicht versteht, bei all den Widersprüchen überall: Hillary Clinton bekommt von einer Eliteuniversität zweihundertfünzigtausend US-Dollar dafür, an ebenjener Eliteuniversität einen Vortrag darüber zu halten, warum Eliteuniversitäten so teuer sind. Meine Klausuren werden suboptimal bewertet, weil der Korrektor meine Schrift nicht lesen kann, was er unter die Klausuren schreibt, vermute ich zumindest, weil ich seine Schrift nicht lesen kann. Und mein Vater schreibt mir SMS, in denen steht: »Sohn, mach dein Handy an!«

Mein Handy bleibt heute aus! Das ist eine der wenigen Entscheidungen, die ich heute treffe, denn es ist nicht der Zeitpunkt für Entscheidungen zwischen richtig und falsch. Nichts ist schwarz und weiß, nicht mal schwarz und weiß. Und dazwischen gibt es mindestens fifty shades of grey.

Nur muss ich versuchen, nicht jede Schattierung erkennen zu wollen. Muss mal runterkommen, mal abschalten, und zwar nicht nur das Handy. Ich muss versuchen, nicht zu übertreiben, Balance finden. Niemand geht nach dem All-you-can-eat-Büfett nach Hause und sagt: »Mensch, toll, ich habe genau richtig gegessen! Nicht zu viel, nicht zu wenig, sondern genau richtig, super!« Nein, jeder sagt: »Boah, ich bin so vollgefressen, ey, ich hab Bauchschmerzen, aber das ist gut, weil ich ja dafür bezahlt habe. «

Noch mehr ist immer irgendwann zu viel. Es gibt ja derart dominante Boxer, die nicht mehr nur vorher vorhersagen, dass sie gewinnen werden. Sondern vorher auch vorhersagen, wann und wie sie gewinnen werden. Dominanten Schachspielern könnte es nach diesem Motto irgendwann darum gehen, nicht mehr nur zu gewinnen, sondern so zu dominieren, dass ihre Bauern die Dame des Gegners nach spätestens sechs Zügen schänden. Und der König muss zugucken. Denn alles, was man macht, kann man noch krasser machen, noch faster, harder, scooter, hyper hyper, hyper hyper, über über, bis in die Sinnlosigkeit des Selbstzwecks.

Aber ich muss auf Pause drücken, darüber heute nicht nachdenken, nicht alles zerdenken, mich nicht in jede Position und Perspektive hineindenken. Der träge Schüler würde beispielsweise denken: »Mutter, ich bin krank, ich bleib heute zu Hause, ich habe 36,8 Grad Fieber!« Die strenge Mutter würde denken: »Natürlich gehst du in die Schule, stell dich nicht so an! Nichts ist Fieber unter 45 Grad!« Der Mathematiker würde denken: »45 Grad Fieber mal zwei und wir hätten einen rechten Winkel. «Der oder die Gleichberechtigungsbeauftragte für Gedichte würde denken: »Und was ist dann ein linker Winkel?« Der Jurist würde denken: »Solange es kein unrechter Winkel ist, ist alles kein Problem!« Und LaFee würde antworten: »Heul doch!« Denn alles kommt immer auf den Augenblick, den Blickwinkel, den Augenblickwinkel an, der, je nachdem, wo man wann steht, ein rechter oder unrechter Winkel ist. Auch in Abhängigkeit davon, wie subjektiv das eigene Objektiv ist.

Aber mein Blickwinkel heute stimmt, der Augenblick auch. Heute bin ich entspannt wie ein kaputtes Katapult und so selbstsicher wie der wirre, schicke Mann im Anzug, der mir neulich nachts eine Dose Sparkling Eistee Peach aus der Hand gerissen und gesagt hat: »Nice! Dreißig Pfennig Pfand für mich, Bitch!«

Ach, wie gut, dass ich heute liegen bleibe, ausnahmsweise keine wirren Leute treffe. Keine aufgedrängten Bekannten wie Lars, den man nur kennt, weil Jens diesen Lars in der S-Bahn vorstellt und sofort danach selber aussteigt. Man deswegen mit Lars reden muss, sodass man Lars jetzt »kennt«. Obwohl man ja schon Jens nur kennt, weil man irgendwann in einer Bar mit Nils über Sven gesprochen hat, den der vorbeigehende Jens über Lars auch kannte und sich daher mit den Worten eingemischt hat: »Die Welt ist schon klein, Wahnsinn, oder?« Das sind Menschen, von denen man sich immer sofort wieder verabschiedet, um dann festzustellen: »Nein, wie unangenehm, wir müssen noch weiter in dieselbe Richtung laufen – acht Kilometer!« Menschen, die scheinbar immer unterwegs sind, weil sie immer Angst haben, irgendwo irgendwas oder irgendwen irgendwie zu verpassen und deswegen nicht mehr das bosshafteste Bounty im Candystore zu sein.

»Bei Angst hilft sowieso nur ein Patronus«, würde ein Harry-Potter-Fan dann vielleicht dazu sagen. »Halt’s Maul!«, würde ein Nicht-Harry-Potter-Fan antworten. Ein Literaturkritiker würde entgegnen: »Aha, ein Patronus! Man denkt ganz doll an was Schönes, nimmt seinen Zauberstab ganz fest in die Hand und dann kommt da vorne was Weißes raus. Happiness is a warm gun, bang bang shoot!«

Und irgendein Harry-Potter-Fan würde widersprechen und irgendein Beatles-Fan würde zustimmen und irgendein Lars, Nils, Jens oder Sven fände die Rolling Stones und Herr der Ringe besser. Und Uwe Ochsenknecht fände sich besser, irgendein Patronus dagegen wäre ein Ochsenknecht, während Jimi Blue und Wilson Gonzales Harry Potter und Fifty Shades Of Grey lesend die Beatles covern, worüber Hillary Clinton vielleicht einen Vortrag hielte, wenn man ihr genügend Geld böte.

Aber ich würde sie alle nicht hören können, denn ich hätte auf lautlos gestellt und Pause gedrückt. Ein grenzdebiles Dauergrinsen zierte mein Gesicht. Das, was ich wissen muss, weiß ich Das, was ich meine zu brauchen, habe ich. Der Kopf schweigt, jeder Kampf ist gewonnen, Zeit und Glück gehören mir. Für den Moment.

»Dit war mal ’ne ausführliche Antwort!«, sagt Felix. »Also wenn’s dir jut jeht, dann bleibste liegen, weil du Angst hast, dass es dir nicht mehr jut jeht, wenn du aufstehst, richtig?«

»Ja, so ungefähr«, sagt Malte. »Aber ich bleibe nicht direkt liegen, weil ich Angst habe. Wenn ich akut Angst hätte, dann ginge es mir ja nicht gut, sodass ich nicht liegen bliebe, weil es mir gut ginge. Aber das ist jetzt ohnehin egal, der Plan mit dem Nichtaufstehen ist sowieso nicht aufgegangen, weil du reingekommen bist und alles kaputtgemacht hast. Statt süßem Nichtstun soll ich jetzt ein Buch schreiben. Mittlerweile liege ich wie gesagt nur noch aus bloßem Trotz im Bett. So wie Yoko Ono und John Lennon oder Joko und Klaas oder wer immer das mal gemacht hat.«

»Jaja.« Felix guckt nachdenklich. »Momente des Glücks sind einfach meist sehr, sehr kurz. Manchmal zu kurz.«

»Ich weiß. Der Schriftsteller Robert Frost sagte dazu mal, Glück mache durch Höhe wett, was ihm an der Länge fehlt.«

»Dit is’ ’n schöner Satz, Malte. Aber hat dit nicht irgend’n drittklassiger Rapper schon mal in einem viertklassigen Track gesagt? Dieser Dendemann?«

»Also erstens«, sagt Malte und zeigt aus Versehen neun Finger, »ist Dendemann erstklassig. Ich weiß, dir und deinem Stamm aus Südneukölln sind die Texte nicht blutig und brutal genug und vermutlich auch zu intelligent, aber unter gebildeten Leuten gilt: Dendemann ist herausragend.« Malte guckt Felix herausfordernd an. »Zweitens«, fährt er fort und zeigt entsprechend zwei Finger, »reime ich mir zusammen, dass du die Zeile ›Jedermann ist seines Glückes Schmied‹aus dem Lied ›Ich so, er so‹meinst? Das ist übrigens kein Lied von Dendemann als Solo-Künstler, sondern von seiner Band Eins Zwo.«