3517 Anno Domini: - Raik Thorstad - E-Book

3517 Anno Domini: E-Book

Raik Thorstad

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Beschreibung

1500 Jahre in der Zukunft: Die Erde hat sich verändert. Weite Teile sind unbewohnbar geworden, die Staatenverbände sind zusammengebrochen, die Bevölkerung ist durch Seuchen und Katastrophen dezimiert worden. Die Überlebenden haben sich zu neuen Gesellschaften zusammengeschlossen, und Demokratie und Humanismus sind längst verblasste Visionen. In dieser Zeit wird Aiden, ein Arbeiter auf den Schiffen der Festungsstadt, an den Herrschersohn Ragnar verschenkt. Gefangen zwischen Fasziniation für das luxuriöse Leben und Entsetzen über die Manipulationen, die man an seinem Körper vornimmt, verweigert er sich seinem Herrn. Aber Ragnar ist kein Mann, der leicht aufgibt. Wichtiger als das: Er kann es sich nicht leisten, Aidens Sympathie zu verspielen. Dafür steht er zu nah am Abgrund. Denn während die beiden um Zuneigung, Respekt, Sex und Freundschaft ringen und Ragnar versucht, sich seinem herrischen Vater Takir zu beweisen, findet hinter den Mauern der Festung ein anderer Kampf statt. Neuauflage des Titels, inhaltlich wurden keine Veränderungen vorgenommen.

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Seitenzahl: 847

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Neuauflage (ePub) Dezember 2017

© 2014 by Raik Thorstad

Verlagsrechte © 2017 by Cursed Verlag

Inh. Julia Schwenk, Taufkirchen

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,

des öffentlichen Vortrags, sowie der Übertragung

durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile,

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit

Genehmigung des Verlages.

Bildrechte Umschlagillustration

vermittelt durch Shutterstock LLC; iStock

Satz & Layout: Cursed Verlag

Covergestaltung: Hannelore Nistor

Druckerei: CPI Deutschland

ISBN-13: 978-3-95823-672-1

Besuchen Sie uns im Internet:

www.cursed-verlag.de

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Klappentext:

1500 Jahre in der Zukunft: Die Erde hat sich verändert. Weite Teile sind unbewohnbar geworden, die Staatenverbände sind zusammengebrochen, die Bevölkerung ist durch Seuchen und Katastrophen dezimiert worden. Die Überlebenden haben sich zu neuen Gesellschaften zusammengeschlossen, und Demokratie und Humanismus sind längst verblasste Visionen.

In dieser Zeit wird Aiden, ein Arbeiter auf den Schiffen der Festungsstadt, an den Herrschersohn Ragnar verschenkt. Gefangen zwischen Fasziniation für das luxuriöse Leben und Entsetzen über die Manipulationen, die man an seinem Körper vornimmt, verweigert er sich seinem Herrn. Aber Ragnar ist kein Mann, der leicht aufgibt. Wichtiger als das: Er kann es sich nicht leisten, Aidens Sympathie zu verspielen. Dafür steht er zu nah am Abgrund. 

Denn während die beiden um Zuneigung, Respekt, Sex und Freundschaft ringen und Ragnar versucht, sich seinem herrischen Vater Takir zu beweisen, findet hinter den Mauern der Festung ein anderer Kampf statt.

Für meine Mutter,

die Science-Fiction grauenvoll findet und immer mit Begeisterung in meinen Schulaufsätzen

herumgestrichen hat.

Bin immer noch schlampig, Mama, aber jetzt habe ich Leute, die meine Fehler suchen und dafür sogar bezahlt werden.

Das ist auch nicht so schlecht, oder?

»Die Frage, ob man an Gott glaubt, ist in unserer Zeit nicht länger von Bedeutung. Die richtige Frage lautet, ob man klug genug ist, sich mit den Göttern unserer Zeit gut zu stellen. In diesem Sinne schließen wir die letzte Versammlung unserer Vereinigung und übergeben diese Welt dem Chaos und der Barbarei, die wir hinter uns gebracht glaubten.«

Ruguru Sesay,

12. und letzter Präsident der Vereinten Nationen, 2841 ad

Prolog

»Ich bin deiner Ausreden überdrüssig, James. Ich war sehr geduldig mit dir. Aber nun ist es an der Zeit, dass du mir einen Ausgleich für dein Versagen anbietest.«

Die Worte schwebten kühl durch den Raum und erreichten den nervösen Bittsteller, der auf den synthetischen Marmorfliesen kauerte. Das Fauchen der Ventilatoren zerschnitt überlaut die Stille.

Takirs melodische Sprechweise passte nicht zur Bedeutung seiner Worte. Auch die engelsgleichen Züge des Oberhaupts der Merowinger-Familie schienen zu fein. Fast zu zart für die Brutalität, mit der es seinen Willen durchsetzte und seinen Besitz – sowohl finanziellen als auch menschlichen – verwaltete. Sein Führungsstil passte nicht zu seiner Erscheinung, der bei weicher Beleuchtung kaum das Geschlecht zu entnehmen war.

Takir war in jedem Wortsinn schön, verzauberte mit seinem seltenen Lächeln sowohl Frauen als auch Männer. Es war leicht, ansehnlich zu sein, wenn die Eltern den genetischen Code ihres Nachwuchses aus dem Katalog aussuchten. In den Familien, die ihren Status mit der Verwandtschaft zu längst vergangenen Königshäusern begründeten, war es selbstverständlich, das Russische Roulette der Zeugung zu umgehen.

»Herr, es tut mir leid. Der Sturm hat den Seetang fortgetrieben. Der Wellengang war zu hoch. Wir hätten das Schiff verloren, wenn wir...«

»Das interessiert mich nicht. Mich interessiert nur, dass du ein weiteres Mal dein Soll nicht erfüllt hast. Erspare mir dein klägliches Gewinsel und lass uns über meine Entschädigung, meine Zinsen, reden.«

Hoffnungsvoll wagte der Alte, den Blick zu heben, bis er die untere Kante des glänzenden Throns erkennen konnte, auf dem Takir Hof hielt. »Zinsen?«, flüsterte er. »Ihr... gewährt mir einen Aufschub?«

Man sah dem gedrungenen Mann mit der schuppigen Halbglatze an, wie erleichtert er war. Zinsen waren eine vergleichsweise milde Strafe für sein Vergehen. Wie viele Fässer Tang der Herr auch fordern mochte: Die Alternativen wären schlimmer.

»Natürlich«, seufzte Takir theatralisch und winkte einer Dienerin, die Rotation der Ventilatoren zu erhöhen. Es roch übel im Thronsaal, nach Fisch und moderigem Wasser. »Was nutzt es mir, dir dein Schiff zu nehmen oder dich einzusperren? Ich will deine Arbeitskraft.«

Natürlich war es im Grunde sein Schiff. Jede Schraube und jede Bodenplatte in der Festung war Takirs Eigentum. Er stellte es lediglich zur Verfügung.

Demütig verbeugte der Tangsammler sich, bis er mit der Stirn den Marmorboden berührte. »Danke, Herr, Ihr seid sehr großzügig.«

Ein böses Funkeln verdunkelte Takirs Blick, als er sich umständlich von seinem stählernen Thron erhob und in Richtung der Fensterfront schritt. Er musterte die trübe Weite des Ozeans. Das Wasser in diesen Gestaden litt unter der Verseuchung durch die Industrieanlagen der Stadt, die ihren Abfall in den Ozean leitete. Meeressäuger wie Wale oder Delfine gab es in dieser Region seit Jahrhunderten nicht mehr, und die Fischbestände waren kränklich und oft ungenießbar.

»Du hast Kinder, nicht wahr?« Takir lächelte sich selbst in der Spiegelung des Glases zu. Er sah den Leibeigenen hinter sich zusammenzucken und sonnte sich in der Macht, die als berauschender Strom durch seinen Körper floss.

»Ja, Herr.«

»Mädchen, Junge? Wie alt?«

»Bitte, Herr. Tut mir das nicht an. Ich gebe Euch alles, was...«

Takir fuhr auf dem Absatz herum. »Beantworte meine Frage!«

Seine Stimme donnerte an den Metallwänden entlang und ließ ahnen, dass seine Stimmbänder modifiziert worden waren. Kein normaler Mensch konnte Lautstärken erreichen, die das daumendicke Glas zum Summen und den Kunststoff der Türen zum Vi-brieren brachten.

Der Alte kauerte sich zusammen. »Ein Mädchen und ein Junge. Zwillinge. 26 Jahre alt. Aber bitte, Herr, habt Mitleid...«

Es war ungewöhnlich, dass ein Mann in seiner Situation es wagte, an die Menschlichkeit des Herrschers zu appellieren. Es sprach von Charakterstärke – und Dummheit.

Takir war hinter seinem Wall aus königlicher Arroganz milde beeindruckt. Mit einer Hand schnitt er dem Schuldner das Wort ab und trat an ein Terminal, das neben dem Fenster in die Wand eingelassen war. Mit wenigen Berührungen rief er die gesuchten Informationen ab und lächelte, als er innerhalb einer Nanosekunde aussagekräftige 3D-Bilder der Zwillinge fand. Die Datenbank der Merowinger-Familie war umfassend und wurde von den Technikern regelmäßig aktualisiert. Insofern hätte Takir den alten Tangsammler gar nicht erst nach seinen Kindern fragen müssen. Es hatte ihm lediglich gefallen, die Erkenntnis in dessen Gesicht aufleuchten zu sehen.

Er runzelte die Stirn. Für gemeines Volk waren die Zwillinge recht ansehnlich. Ein wenig ungeschliffen, die Nasen asymme-trisch, der Körperbau des Mädchens zu mager, ihre Brüste zu klein. Aber das war nicht weiter wichtig. Solche Kleinigkeiten ließen sich anpassen.

Ohne dem Alten weitere Beachtung zu schenken, schritt Takir zu der Sitzgruppe am anderen Ende des Raumes, wo sein Sohn quer auf einem Sessel lag und mit den Beinen wippte. Über seine Augen spannte sich ein blauer Metallreif, der optische Signale an das Gehirn sandte und ihn an einem Abenteuer im Cyberspace teilhaben ließ.

Takir gestattete sich ein Lächeln. Ragnar hatte sich in den letzten Jahren gemausert. Sein Sohn war intelligent, gelehrig, humorvoll, geduldig und – es verstand sich von selbst – eine Augenweide. Ein wenig zu mitfühlend vielleicht, aber diesen Fehler würden die Jahre ausmerzen.

Ragnar sah und hörte ihn nicht, sodass er sich Zeit nahm, seinen Sprössling genauer in Augenschein zu nehmen. Er schüttelte belustigt den Kopf, als er die glatten, nahezu weißen Haare betrachtete, die ihm bis zu den Hüften reichten. Es war eine Form von Rebellion, die ihn dazu getrieben hatte, seine blonden Haaren aufhellen zu lassen und damit die Vorgaben seiner Eltern zu boykottieren. Gegen seine dunkelgrünen Augen, seine skandinavischen Gesichtszüge – sehr viel herber und männlicher als die seines Vaters – und seinen sehnig-schlanken Körperbau hatte Ragnar allerdings nichts unternommen.

Sie hatten damals eine gute Wahl getroffen. Ihr Sohn hob sich deutlich vom gemeinen Volk ab und war doch keine exotische Entgleisung, wie viele andere Herrscherpaare sie in ihrer Gier nach Einzigartigkeit schufen.

Rasch schaltete Takir den Sensor über Ragnars Augen aus, um seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Wie erwartet erschrak dieser, als er aus der virtuellen Welt in die Realität katapultiert wurde.

»Was zum Teufel... ah, du bist es.« Ragnar streckte sich und gähnte hemmungslos. »Du hast mich aus einem Konzert von Stringis X456 gerissen.«

»Du und deine Vorliebe für klassische Musik.«

»Sie ist etwas Besonderes, die Musik aus der Zeit vor dem Umsturz. Dieses Konzert wurde 2465 in Rio de Janeiro aufgezeichnet, bevor...«

Takir bat ihn mit einer knappen Geste, seine Ausführungen auf später zu verschieben. »Mann oder Frau?«, fragte er mit einem Zwinkern, das seiner Familie vorbehalten war und weder Diener noch Geschäftspartner je zu Gesicht bekommen hatten.

Ragnar zog eine Augenbraue hoch. »Wie bitte?« Falls er sich über die Unterbrechung ärgerte, ließ er es sich nicht anmerken.

»Möchtest du einen Mann oder eine Frau als Lustdiener haben? Du hast die Wahl. Sie sind ein paar Jahre jünger als du und werden dir viel Freude machen. Du musst dich nur entscheiden.«

Für eine Sekunde entgleisten Ragnars Züge, bevor er zu grinsen begann. Aufgeregt sprang er auf die Füße. »Ist das dein Ernst? Ich bekomme meinen eigenen Lustdiener? Endlich!«

»Du beklagst dich doch immer, dass du dich langweilst und jemanden brauchst, mit dem du spielen kannst. Es ist ohnehin an der Zeit, dass du jemanden an deiner Seite hast, der sich um deine Bedürfnisse kümmert.« Takir legte seinem Sohn einen Arm um die Schulter. »Ich weiß schließlich, was man als junger Mann braucht.«

Der Herr der Merowinger wusste ebenfalls, dass sein Sohn kein unbeschriebenes Blatt in Liebesdingen war. Ragnar hatte mit seinen Ausschweifungen in der Vergangenheit viel Verdruss über die Familie gebracht. Doch inzwischen war der 31-jährige Thronfolger reifer geworden und hatte die Wogen der späten Pubertät ihrer Zeit endlich abgestreift.

Ein eigener Lustdiener war ein Hochgenuss, eine Lebensversicherung und ein Geschenk, das Takir Ragnar gern machte. Es vereinfachte das Leben ungemein, zu jeder Zeit Zugriff auf einen willigen Körper zu haben, und er sah ein, dass er seinen Sohn nicht länger darben lassen konnte. Die Möglichkeiten, sich mit einem gesunden Partner zu vergnügen, waren zu begrenzt.

»Ich nehme den Mann. Das Mädchen kannst du für dich behalten. Mir ist nach einem Kerl in meinem Bett.« Er rollte das Wort auf seiner Zunge, als handele es sich um eine Delikatesse.

Die unverhohlene Begeisterung in Ragnars Blick brachte Takir zum Lachen. »Lass das nicht deine Mutter hören. Sie sieht sich seit Monaten nach einer guten Partie für dich um und dachte eigentlich, dass du inzwischen Damengesellschaft vorziehst. Jetzt kann sie wieder von vorn anfangen.« Er hieb seinem Sohn auf die Schulter. »Ich lasse alles in die Wege leiten. Ein paar Wochen wirst du dich allerdings noch gedulden müssen, bevor der Chip implantiert ist und Wirkung zeigt.«

»Ich kann es kaum erwarten.«

»Nun denn, James«, wandte Takir sich erneut an den Tangsammler. »Du hast gehört, welche Entscheidung der Thronfolger gefällt hat. Dein Sohn für unser Haus, und deine Nachlässigkeit sei dir verziehen. Du solltest mir dankbar sein, wenn dir etwas an ihm liegt. Unter unserer Obhut wird er ein langes Leben führen, wenn er sich zu benehmen weiß.«

Der kleine Mann am Boden machte nicht den Eindruck, als wisse er die Großmut von Takirs Entscheidung zu schätzen.

Kapitel 1

Die Übermacht der Familie, die ihn in seine Dienste zwang, war in jedem Detail der Festung zu erkennen.

Wie der Olymp selbst thronte der aus rötlichem Metall und Glas geschaffene Koloss über der Unterstadt. Aus silbernem Kunststoff gefertigte Rohrleitungen umsponnen das Gebilde, das umzingelt von seinen zahlreichen Anbauten weit über die See ragte; gegossen aus Stahl und dem unbeugsamen Willen, Sturm und Meer für Jahrhunderte zu trotzen.

Das Surren der Kraftwerke, die sowohl die Strömungen im Meer als auch Wind und Sonne zu nutzen wussten, war auf der Haut zu spüren. Wegen der Verbrennung von Seetang als zusätzlicher Energiequelle roch es nach Salz und feuchten Pflanzen. Kein Bewohner der schwimmenden Festung nahm diesen eigentümlichen Geruch als fremdartig wahr, wohl aber als Trägermaterial einer gesundheitlichen Bedrohung.

Als Kind hatte Aiden sich oft gewünscht, die Burg über ihren Köpfen besuchen zu dürfen. Besonders dann, wenn im Winter nur dünner Fischbrei auf den Tisch kam oder beißender Schneeregen durch das marode Dach ihrer Behausung auf seine Nase tropfte. Er hatte davon geträumt, seine Nächte in einem der Turmzimmer verbringen zu dürfen, wo ihm ein Diener das Frühstück ans Bett brachte und ihn schlafen ließ, solange er wollte.

Manche Wünsche erfüllten sich nicht so, wie man sie sich als Kind erträumt hatte.

In Aidens Kopf war es zu laut für einen einzigen Mann, als er durch einen Hintereingang in die Festung der Merowinger geführt wurde. Sie hatten seine Hände hinter dem Rücken mit Klammern fixiert, um »unpassendes Verhalten« zu unterbinden, wie seine gesichtslosen Begleiter es ausgedrückt hatten.

Hinter den bleigrauen Masken, die sie vor den zahlreichen Krankheitserregern der Unterstadt schützen sollten, konnte er nur ihre von Kunststoff verhüllten Augen ausmachen. Ihr Blick war desinteressiert, selbstverständlich. Sie hatten schon viele Menschen aus dem Schoß ihrer Familien gerissen.

Dem Befehl des Herrn Folge zu leisten war leicht. Spielraum für Diskussionen gab es nicht. Eine Sardine klagte nicht den Hai an, der sie fraß, und ein Diener nicht seinen Gott.

Aidens Begleiter lieferten ihn in einem kargen Raum ab, der abgesehen von einem sauberen Tisch und zwei aus Drahtgespinst geflochtenen Stühlen leer war. Allein die mit Muschelkalk verputzten Wände, die glatten, trockenen Böden und die stabile Konstruktion des Fensters stellten alles in den Schatten, was er gewohnt war. Seine Sinne fühlten sich von der unheimlichen Ruhe – das Gebäude war hervorragend isoliert − und dem Mangel an fauligen Gerüchen überfordert. Seine Kleidung dagegen gab einen muffigen Gestank ab, der ihm nie zuvor aufgefallen war.

Er war kaum zwei Minuten allein, als eine streng blickende Frau in einem weißen Schutzanzug bei ihm auftauchte.

»Stillhalten«, verlangte sie und richtete einen Schlauch auf ihn, der seitlich an einem Tank auf ihrem Rücken befestigt war.

Beißender Dampf stieg auf, hüllte ihn ein und ließ ihn nach Luft ringen. Kaum war die weiße Nebelwand vor ihm zu Boden gesunken, näherte sich ihm deren Verursacherin und erklärte steif: »Erste Desinfektion.« Dann löste sie ihm die Fesseln. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, winkte sie Aiden, mit ihr zu kommen. Er gehorchte.

Während er der hochmütig wirkenden Dienerin durch die verspiegelten Korridore folgte, wurde der Schock von Nervosität und zaghafter Verwunderung abgelöst.

Aidens Blick streifte Wände, die gänzlich frei von Kondenswasser und Algen waren. Seine vom Salz spröde Haut wollte sich der trockenen Wärme entgegen strecken, die von den Heizrohren ausging. An diesem Ort fror niemand, und klamme Decken gab es sicherlich auch nicht.

Sie passierten einen Korridor, dessen Wände mit großflächigen Malereien geschmückt waren. Die Farben hätten ausgereicht, um den Rumpf eines kleinen Schiffs ein Jahr lang gegen Rost zu schützen. Was für eine Verschwendung.

Aiden dämmerte, dass der Luxus der geheimnisvollen Merowinger weiter ging, als er bisher gedacht hatte. So weit, dass nicht länger Praktikabilität die Messlatte für eine Unterkunft war, sondern Optik. Unvorstellbar, aber ausgesprochen anregend für die Sinne.

Als sie ihn vor einigen Stunden holen kamen, hatte sich ein Schleier über seinen Geist gelegt. Der zerriss nun beim Anblick der spitzwinkligen Ornamente an den Wänden.

Er biss die Zähne aufeinander. Verflucht, sie hatten ihn eiskalt erwischt. Im einen Moment arbeitete er noch Seite an Seite mit seiner Zwillingsschwester Branka an Bord ihres Schiffes, und im nächsten wurde ihm eröffnet, dass er sofort zu gehen habe. Ohne persönliche Besitztümer, ohne Verabschiedung, ohne ihn zu fragen, ob er damit einverstanden war.

Seine Meinung war nicht von Belang. Aiden kannte die Regeln gut genug. Es gab keine Ware, mit der man nicht handeln konnte. Und wer seine Wochenpläne nicht erfüllte, musste damit rechnen, einen hohen Preis zu zahlen.

Er atmete harsch aus. Wut auf seinen Vater, der nicht richtig gewirtschaftet hatte, und Dankbarkeit, dass er anstelle Brankas die Illusion von Freiheit verloren hatte, brannten in seiner Brust. Er hasste es, wenn man ihm die Wahl nahm, und sie hatten ihm weit mehr gestohlen.

Trotz aufsteigendem Ärger bezähmte Aiden sich und verzichtete darauf, seine Meinung kundzutun. Der Fatalismus der Unterstadt war zu tief in ihm verankert. Man überlebte nicht, wenn man nicht wusste, wann man sich ducken musste. Ihm blieb nur, abzuwarten, die Welle auf sich zukommen zu lassen und zu versuchen, auf ihr zu reiten. Oder von ihr verschlungen werden.

Als sie sich einem Knick im Gang näherten und er seinem eigenen Spiegelbild auf dem polierten Stahl entgegen gehen musste, ballte er die Fäuste. Es war unmöglich, die Tatsache zu ignorieren, dass er nicht in diese Umgebung passte.

Motoröl hatte schwarze Striemen auf Gesicht und Hals hinterlassen und hob seine kantige Nase hervor. Das grobe Gewebe seines Arbeitsoveralls war unter den Armen aufgeplatzt, wo aggressiver Schweiß den Stoff über die Jahre verätzt hatte. Überhaupt war der Ausschnitt der Arme zu eng für ihn gewesen, sodass er kurzerhand das Messer angesetzt und ihn vergrößert hatte. Die zerschlissenen Schnittstellen standen von seiner Haut ab und ließen ihn noch schäbiger wirken, als er sich fühlte. Dass um die Augen trotz seiner jungen Jahre bereits winzige Fältchen lagen, störte ihn dagegen nicht. Es war der Preis, den man zu zahlen hatte, wenn man Tag für Tag im Seewind arbeitete und mit gesundheitsschädlichen Stoffen zu tun hatte.

Aiden war nicht eitel, aber mit dem weißen Desinfektionsschaum im brüchigen Haar, den eingedrückten Schutzstiefeln und dem verschwitzten Tuch um den Hals kam er sich wie ein wandelnder Schmutzfleck vor. Eine weitere Erniedrigung, die es zu schlucken galt.

Immer tiefer drangen sie in den Komplex ein, der sein Leben lang drohend über ihm gethront hatte. Die Flure mit den zahlreichen Türen und Treppenaufgängen wurden nach einer Weile in ihrer Eintönigkeit zu einem Labyrinth, in dem er sich ohne Begleitung fraglos verlaufen würde.

Die engen Gänge verursachten Aiden bereits fast Atemnot, als sie ihr Ziel erreichten. Mit sanfter Gewalt wurde er durch einen Türrahmen geschoben. Der eigenartig ausgestattete Raum dahinter besaß keine Fenster.

Verloren huschte sein Blick über ein Sammelsurium fremdartiger Apparate und elektronischer Gerätschaften mit komplizierten Anzeigen und einer Vielzahl an Bedienelementen. Er sah Terminals, an denen man Daten abrufen konnte, fremdartige Konsolen und einen von der Decke hängenden Metallhaken, über dessen Zweck er lieber nicht nachdenken wollte. In einem verglasten Schrank reihte sich eine Vielzahl winziger Fläschchen auf. Besonders unangenehm war ihm der Anblick einer Batterie glänzender Skalpelle, die neben einer Liege auf ihren Einsatz warteten.

Medizinische Versorgung war in der Unterstadt nur rudimentär vorhanden. Meistens beschränkte sie sich auf einen Eimer kalten Wassers bei Kreislaufproblemen und einen Brennofen, wenn man einer der heimtückischen Krankheiten, die in den schmutzigen Gassen kursierten, erlegen war. Entsprechend kannte Aiden sich nicht mit Arzneimitteln aus, aber er vermutete, dass die Fläschchen im Glasschrank genug Medizin enthielten, um Hunderte von Leben zu retten.

»Geh duschen«, verlangte seine Begleiterin kühl. Ihr schlanker Finger deutete auf eine weiße Tür am Ende des Zimmers. Unscheinbar war sie in eine Ecke der Wand eingelassen, kaum sichtbar neben einem Schrank, aus dessen offener Tür silberne Datenträger hervor lugten.

Duschen? Wie erfreulich. Sie hätten mich gern sauber, dachte Aiden und schob mit seinem Sarkasmus die aufkeimenden Ängste beiseite.

Er war kein Feigling, aber es war nicht leicht, sich in einer Umgebung zurechtzufinden, die für ihn so fern war wie der Himmel oder die grünen Landflächen vergangener Zeiten.

Dies war die Welt ihrer selbst ernannten Götter. Angeblich waren sie Menschen wie er, aber sie waren reich, skrupellos, einflussreich und in jeder Hinsicht überlegen. Fast unsterblich. Er war ihnen ausgeliefert, und das Wissen darum bremste seine Schritte.

Ein ungehaltener Laut trieb Aiden voran. Er war es gewohnt, Anweisungen entgegenzunehmen und zu gehorchen. Solange sie lediglich erwarteten, dass er duschte, konnte er mit der Situation umgehen, redete er sich ein.

Die enge Duschkabine aus Stahl und Kunststofffliesen roch nach Lauge. Er sah sich um und betrachtete die glänzenden Armaturen. Offensichtlich zu lange für den Geschmack seiner ungeduldigen Begleiterin, denn in dem Moment, in dem er seinen Overall öffnete, flog die Tür hinter ihm wieder auf und sie streckte die Hand in seine Richtung.

Fragend sah Aiden sie an.

Ungehalten seufzte sie. »Her mit deinen Sachen. Wir verbrennen sie. Wer weiß, welche Keime sich darin eingenistet haben. Du wirst nach der Untersuchung neue Kleidung erhalten.«

Untersuchung? Allmählich fand Aidens Magen, dass es an der Zeit war, den verwirrenden Ereignissen dieses Tages Rechnung zu tragen, und verkrampfte sich. Was zum Teufel hatten sie mit ihm vor?

»Beeil dich. Der Herr kommt bald. Du solltest dann bereit sein.« Sie zögerte kurz, betrachtete ihn von oben bis unten. Als sie fortfuhr, klang sie eine Spur freundlicher: »Du möchtest dich nicht weigern, glaub mir.«

»Ich...«, setzte Aiden zum Sprechen an. »Was wollt ihr von mir?«

»Ich für meinen Teil will, dass du dich ausziehst und duschst. Was der Herr von dir will, weiß ich nicht«, erwiderte sie nun wieder barsch. »Du wirst es schon erfahren. Falls es dich beruhigt: Es kann nur besser werden, oder?«

Ihre Worte trafen Aiden, als hätte sie ihn geohrfeigt. Fern von seiner Familie und seinen Freunden würde gar nichts besser werden. Sie hatten ihn aus dem Leben gerissen, das er kannte. Ein Leben zwischen harter Arbeit auf See, Nahrungsaufnahme und einer Partie Würfeln mit den Kumpels am Abend, bevor er in den Schlaf fiel. Wusste diese Frau überhaupt, wovon sie redete?

Mechanisch zog Aiden sich aus und warf ihr den Overall zusammen mit seinen schmutzigen Stiefeln vor die Füße. Sie schnaubte missbilligend, als er ihr den Rücken zuwandte und mit steifen Muskeln unter die Dusche trat. Ohne sein Zutun öffneten sich die Düsen. Warmes Wasser prasselte auf ihn herab. Der dichte Schaum ließ erkennen, dass es mit Seifenlauge versetzt worden war. Ein chemischer Geruch stieg in Aidens Nase und brannte in seinen Augen. Wahrscheinlich hatte man zur Reinigung des schmutzigen Unterstadtbastards ein weiteres Desinfektionsmittel in die Leitung geschleust.

Es kam ihm schrecklich falsch vor, wehrlos unter dem heißen Wasserstrahl zu stehen. Er sollte rebellieren, sich wehren. Etwas in ihm verlangte danach, obwohl er wusste, dass jedes Fehlverhalten bestraft wurde. Es würde nur seinem Ego dienen, wenn er sich querstellte.

Am Ergebnis konnte jedoch kein Protest der Welt etwas ändern. Ihm waren die Hände gebunden. Sie würden seinen Vater bestrafen und den Rest der Familie dazu. Das war gängige Praxis. Und an das, was sie mit ihm anstellen mochten, durfte er nicht einmal denken.

Aiden lehnte sich gegen die Wand, als Übelkeit in ihm hochstieg und als schleimiger Klumpen in seinem Hals stecken blieb. Der Narr in ihm wollte sich auf den Boden der Dusche sinken lassen und abwarten, was geschah.

Was wollten sie schon unternehmen? Ihn an den Haaren in den Untersuchungsraum zerren? Wahrscheinlich. Sie akzeptierten kein Nein.

Mit einem Mal versiegte der Wasserstrahl und wurde durch einen heißen Luftstrom ersetzt, der ihm die Feuchtigkeit von der Haut fegte. Eine Minute später war er trocken und sauberer, als er in seinem ganzen Leben je gewesen war. Wohler fühlte er sich dadurch nicht.

Sie öffneten die Tür, bevor er bereit war. Es machte den Anschein, als wollten sie ihm nicht genug Zeit zum Nachdenken gönnen. In Wirklichkeit lief es aber darauf hinaus, dass es niemanden interessierte, wie es in Aiden aussah. Er war Fleisch. Einen Fisch fragte man auch nicht nach seinen Befindlichkeiten, bevor man ihn ausnahm.

Als er dieses Mal den Untersuchungsraum betrat, erwarteten ihn vier Personen. Sie alle waren in weiße Kleidung gehüllt und musterten ihn ungeniert. Seine Begleiterin im Schutzanzug war verschwunden.

»Auf die Liege«, verlangte ein älterer Mann, dessen Mund unter seinem grau melierten Vollbart kaum zu erkennen war. Herrisch schnippte er mit den Fingern. In seinen sturmgrauen Augen standen weder Wärme noch Mitleid.

Aidens Atmung stockte, als er sich umsah – war eine Flucht möglich? − und eine muskulöse Frau an der Tür bemerkte, die ihn streng musterte. Sie trug dasselbe rote Band um den Oberarm wie die Sicherheitsleute, die von Zeit zu Zeit in der Unterstadt patrouillierten.

In ihrer derben Hand hielt sie eine Spritze, die mit einer farblosen Flüssigkeit gefüllt war. Etwas Herausforderndes lag in ihrem Blick, als wollte sie sagen: »Versuch's doch. Ich jage dir das Ding hier mit Freuden in den Hintern.«

»Hinlegen!«, kommandierte der Bärtige erneut. »Wir erwarten hohen Besuch, und bis dahin möchte ich deinen Gesundheitszustand überprüfen.«

Langsam setzte Aiden sich in Bewegung, getrieben von der Ahnung, dass seine Weigerung unangenehme Folgen haben würde. Trotzdem wagte er zu fragen: »Wozu? Was hat man mit mir vor?«

»Das wird man dir mitteilen, wenn es soweit ist. Nur so viel: Du sollst ein Teil der Dienerschaft werden. Dazu musst du gesund sein. Unterstadt-Seuchen sind hier unerwünscht.«

Aiden fragte sich, ob er erleichtert sein sollte. Wenigstens sollte er nicht verkauft werden. Wenn er schon Teil der Dienerschaft einer hohen Familie werden musste, dann blieb er lieber hier bei den Merowingern, als in eine fremde Festungsstadt umgesiedelt zu werden, in der unter Umständen schreckliche Gebräuche vorherrschten.

Es gab Gerüchte von Adeligen, die ihre Leibeigenen zum Vergnügen der Gäste gegeneinander antreten ließen, damit sie bis zum Tod kämpften. Andere nutzten ihre Untergebenen angeblich als Organlieferanten und legten sie über Jahre in Tiefschlaf, um sie bei Bedarf wie ein Ersatzteillager auszuweiden. Er konnte nur hoffen, dass die Merowinger weniger finstere Absichten hatten.

Sich selbst Mut zusprechend setzte Aiden sich auf die Liege. Augenblicklich beugten sich die Anwesenden über seinen Körper, und sie beließen es nicht dabei, ihn zu betrachten. Viel mehr fielen sie über ihn her.

Sie öffneten die Vene in der Armbeuge und nahmen sein Blut, pressten ihm auf den Unterleib, bis er etwas Urin in einen Becher verlor. Ein kaum dem Kindesalter entwachsener Lehrling leuchtete ihm mit einer Taschenlampe in die Augen, während ein Diagnosegerät über seinen Oberkörper glitt und surrend Daten notierte.

Grob öffneten sie ihm den Mund, untersuchten seine Zähne und legten ihm einen Stoffstreifen auf die Zunge, der mit einer Elektrode verbunden war. Anschließend rammten sie ihm einen Schlauch in den Hals und verlangten, dass er gegen den Widerstand anatmete.

Jedes Mal, wenn Aiden hoffte, dass er den letzten Teil der Untersuchung hinter sich hatte, rollten sie ein neues, abscheuliches Gerät heran. Stachen ihn. Kniffen ihn. Nahmen Hautproben. Scannten sein Gehirn. Spritzten ihm unbekannte Stoffe und beobachteten die Reaktionen von Herz und Lunge.

Der Vorgang war erniedrigend und beängstigend zugleich. Zwischendurch vergaß Aiden fast, warum man ihn dieser Prozedur unterzog und ergab sich Sorgen anderer Art. Wie jeder Bewohner der Unterstadt lebte er mit der Furcht vor den zahlreichen Krankheiten, die unter dem gemeinen Volk wüteten und ganze Familien auslöschten, manchmal innerhalb einer einzigen Nacht.

Als zwei der Ärzte sich leise beratschlagten und nachdenklich in seine Richtung blickten, kochte die Angst in ihm hoch und schuf hässliche Visionen von nässender Haut und nekrotischen Gliedmaßen.

»Und?«, musste er fragen, als die Sorge ihm die Kehle zuzuschnüren drohte.

Er bekam keine Antwort. Natürlich nicht.

Piepsende und pfeifende Geräte untersuchten die genommenen Proben. Ab und an besprachen sich die Mediziner. Obwohl Aiden sich bemühte, sie zu belauschen, verstand er sie nicht. Sie verwendeten Worte, die er nie zuvor gehört hatte. Niemand nahm von ihm Notiz. Für sie schien er kaum mehr als eine Puppe zu sein, die nicht hören, nicht fühlen und schon gar nicht sprechen konnte.

Sein Eindruck von der kühlen Unerschütterlichkeit der Mediziner wurde gestört, nachdem sie ihn eine gute Stunde gepiesackt hatten. Ein quäkendes Kommunikationsgerät ließ die Ärzte wie eine Horde Hühner aufschrecken und hektisch durch den Raum eilen.

Tupfer und Blutröhrchen verschwanden im Müllschacht. Desinfektionsmittel wurden eilig versprüht. Der Scanner, mit dem man Aidens Torso durchleuchtet hatte, fuhr surrend an seinen Platz an der Decke.

»Er kommt«, raunte die Sicherheitsbeamte mit der Spritze. Für die Offensichtlichkeit ihrer Bemerkung erntete sie böse Blicke.

Aiden konnte die Anspannung, die das medizinische Team plötzlich ausdünstete, geradezu riechen. Die ängstliche Seite seiner Seele verfiel in Hysterie, wollte über das schreckhafte Volk lachen, während er innerlich und äußerlich entblößt darauf wartete, dass der Herr kam. Sein Herr. Der Mann, dem man vor jedem kargen Abendessen gute Gesundheit und einen wachen Verstand wünschte, weil Unruhen und Dummheit im Herrscherhaus ihnen allen schadeten.

Als statt des Oberhaupts der Merowinger ein junger Mann das Untersuchungszimmer betrat und behutsam die Tür hinter sich schloss, wunderte Aiden sich. Er hatte mit Takir gerechnet, dem Meister der Festung. Zwar hatte er seinen Herrn bisher selten gesehen und immer nur aus großer Entfernung, aber der langhaarige Mann, der sich ihnen näherte, hatte keinerlei Ähnlichkeit mit ihm.

»Geno, schön, dich zu sehen. Es ist eine Weile her, dass wir uns begegnet sind. Aber darüber sollte ich wohl froh sein, nicht?«, grüßte der Neuankömmling mit rauer Stimme und bot dem Arzt die offene Hand an. Die grazilen Chirurgen-Finger verschwanden darin vollständig.

»Zu viel der Ehre, Herr. Seid willkommen«, gab der Arzt steif zurück.

Das muss Ragnar sein, dachte Aiden. Der Sohn von Takir. Aber wa-rum ist er hier? Jeder weiß, dass Takir sich seine Geschäfte nicht aus der Hand nehmen lässt.

»Und hier haben wir ihn also, ja?«

Unsicher stierte Aiden ins kalte Licht der Röhrenlampen, als er den bohrenden Blick des anderen Mannes über seinen Körper wandern spürte. Schamhaftigkeit war eigentlich keine seiner Schwächen.

Er war niemand, der seinen Körper verstecken musste oder sich schämte, weil man ihm ansah, wie hart er arbeitete. Auch war ihm in der Vergangenheit von Männern und Frauen gleichermaßen versichert worden, dass er ein sinnlicher Anblick war. Aber die Begutachtung durch Ragnar, sein seltsames Schmunzeln, während er ihn betrachtete, schürte Aidens Unsicherheit. Er wünschte sich seinen Overall zurück.

»Was könnt Ihr mir berichten?«, wollte der Thronfolger wissen und sah Geno fragend an, während er unvermutet die Hand ausstreckte und abwesend die Finger über Aidens Brust gleiten ließ. Es war kaum mehr als der Schatten einer Berührung, doch Aiden schnappte hörbar nach Luft. In der Geste lag eine Selbstverständlichkeit, die ihm ungeheuerlich erschien.

Ragnar entging der kleine Laut nicht. Lächelnd sah er auf Aiden herab und zwinkerte ihm fast unmerklich zu. Sein kantiges, mit einem blonden Bartschatten verziertes Kinn, die gerade Nase, der glatte, sacht geschwungene Mund und das dunkle Grün seiner Augen erweckten Aidens Widerwillen. Nicht, weil Ragnar eine hässliche Erscheinung gewesen wäre. Ganz im Gegenteil: Kein Mensch, dessen DNA unangetastet geblieben war, hatte eine solche Augenfarbe, war so gut aussehend.

»Nun, es sieht recht ordentlich aus.« Fordernd hielt Geno die Hand auf. Ein Kollege reichte ihm ein tragbares Display. »Er hat einige Parasiten, aber nichts, was wir nicht innerhalb von ein paar Tagen in den Griff bekommen werden. Herz, Magen, Nieren und Leber sind in gutem Zustand. Das Gedärm und die Bauchspeicheldrüse arbeiten einwandfrei, soweit wir es zu diesem Zeitpunkt sagen können. Es werden Langzeittests nötig sein, um herauszufinden, wie er auf die Nahrungsumstellung reagiert. Nur die Lungenwerte sind grenzwertig. Wir warten noch auf die Ergebnisse, von welcher Art die Schädigung ist. Ich gehe aber von der üblichen Toxinbelastung aus.«

Aiden riss die Augen auf. Er war lungenkrank? Sofort begann er, schwerer zu atmen.

Die frechen Finger Ragnars wanderten höher und tätschelten seine Wange.

»Krankheiten?«

»Nein, er ist sauber«, erklärte Geno und legte das Display ab. »Keine Infektionen, keine Tumore, nicht einmal Allergien. Eine leichte Überempfindlichkeit gegen Eiweiße und ein paar Pigmentstörungen an den Beinen. Mehr nicht. Für jemanden, der in der Unterstadt aufgewachsen ist, sieht er gut aus. Natürlich wird er dennoch für einige Tage separiert werden müssen, um schleichende Krankheitserreger auszuschließen.«

Er klang gelassen und auch Aiden entspannte sich, fast gegen den eigenen Willen.

Gesund zu sein, war viel wert. Aber wie schwer war der Schaden an seiner Lunge? Konnte man ihn beheben? Was für eine Frage. Natürlich konnte man. Die richtige Frage lautete, ob er die medizinische Versorgung wert war.

Ragnar strich mit der Außenseite seiner geschmeidigen Hand über Aidens Kinn und Wange, berührte seinen Haarschopf und verzog das Gesicht. »Fühlt sich an wie getrockneter Seeigel. Er braucht Öle und Balsam, beides aus den hydroponischen Anlagen. Keine synthetischen Ersatzstoffe für ihn. Einen anständigen Haarschnitt könnte er auch vertragen. Und die Körperbehaarung muss natürlich eingedämmt werden.«

»Überall?«, fragte Geno eifrig und warf seinen Mitarbeitern bedeutungsvolle Blicke zu, die begonnen hatten, die Wünsche ihres Herrn zu protokollieren.

Überfordert sah Aiden vom einen zum anderen. Er zuckte zusammen, als Ragnars Hand zwischen seinen Beinen verschwand und sacht über seine Hoden strich.

Nachdenklich legte Ragnar die Stirn in Falten. »Ich denke nicht. Nur im Schambereich und an den Hoden. Das hier...«, er strich über die feine Linie dunkler Haare auf Aidens Bauch, »... lasst ihm. Und die Behaarung über dem Penis auch. Nur trimmen.«

»Und unter den Armen?«

»Nein, auf keinen Fall«, grinste Ragnar wölfisch. »Gewisse Dinge haben ihre Berechtigung.«

An dieser Stelle richtete Aiden sich wider besseren Wissens auf und öffnete den Mund, um zu protestieren. Sofort legten sich Hände auf seine Schultern und drückten ihn wieder nach unten. Aus den Augenwinkeln sah er die Sicherheitsbeamte mit der Spritze neben sich auftauchen.

Die Kanüle kitzelte ihn bereits am Hals, als Ragnar leise lachte und abwinkte. »Nein, betäubt ihn nicht. Ich glaube nicht, dass das nötig sein wird.« Lächelnd wandte er sich an Aiden. »Nicht wahr? Du wirst dich benehmen. Wir wollen uns schließlich gut verstehen.«

Davon konnte aus Aidens Sicht gar keine Rede sein. Was dachte sich dieser langhaarige Bastard eigentlich? Reicher Herr hin oder her. Sie beide sich gut verstehen? Körperhaare trimmen? Und wann nahm dieser Flegel die Hand von seinen Eiern, verdammt noch mal?

Aiden hatte wahrlich nichts gegen die Berührung eines anderes Mannes einzuwenden, allerdings bitte nur mit seinem Einverständnis.

»Möchtet Ihr weitere Änderungen vornehmen? Sollen wir seine Nase richten?«

Der Arzt sprach von Aiden, als befände er sich gar nicht im Raum. Über seinen Körper hinweg unterhielt er sich mit Ragnar, der das Objekt seines Interesses kaum eine Sekunde aus den Augen ließ, süffisant lächelte und ekelhaft gut gelaunt schien.

»Nein. Sein Gesicht gefällt mir. Es ist auf imperfekte Weise perfekt.«

»Verstehe. Was ist mit seinem Geschlechtsteil? Sollen wir es vergrößern? Oder ihn beschneiden?«

»Wie bitte?«, fauchte Aiden entrüstet.

Er erntete einen strengen Blick des Arztes und ein raues Auflachen von Ragnars Seite. »Nein, lasst es fürs Erste so. Anscheinend ist er stolz darauf. Wir können später noch einmal daran gehen, falls es Probleme gibt. Was ist mit seinen Zähnen?«

»Ein zertrümmerter Backenzahn hinten links. Sollen wir ihn ziehen oder ersetzen? Oder alles lassen, wie es ist?«

»Ersetzen selbstverständlich«, gab Ragnar ungeduldig zurück und verengte die Augenbrauen. »Mein Schöner soll keine Schmerzen haben.« Er bediente sich des Tonfalls, den andere Leute für ihre Haustiere reservierten.

In Aidens Brust baute sich ein unerträglicher Druck auf, der unbedingt ins Freie wollte. Er musste sich auf die Zunge beißen, um nichts Unüberlegtes zu tun oder zu sagen. Ragnars freundlich-gönnerhafter Art war nicht zu trauen. Er wusste genug über Takir, um sich sicher zu sein, dass die aufgesetzte Art seines Sohns eine Scharade war.

»Und du bist schön«, murmelte Ragnar so leise, dass nur Aiden es hören konnte. Federleicht strich er ihm über den Bauch.

Aiden fühlte sich hilflos, als er zu begreifen begann, zu welchem Dienst er in der Festung herangezogen werden sollte. Sein erster Gedanke war: »Gott sei Dank ist es nur das und kein Dienst als Kanonenfutter auf einem der beiden Militärschiffe.«

Dann stieg der Ärger in ihm auf. Sie dokterten, gestalteten, planten, manipulierten, optimierten an ihm herum, und wozu? Damit er einem Mann, den er nicht kannte, das Bett wärmte. War er zu einem Diener des Herrschersohnes aufgestiegen, oder hatte man ihn zur Edelhure degradiert? Aiden gelang es nicht, die Qualitäten seines bisherigen Lebens gegen die seiner Zukunft abzuwägen, und das war vielleicht das Schlimmste.

»Wie lange werde ich warten müssen, bis er bereit ist?«, fragte Ragnar begierig.

»Drei Wochen mindestens, Herr«, gab Geno entschuldigend zurück. »Ihr wisst, dass es dauert, bis er die Impfungen verkraftet hat und wir uns sicher sein können, dass er Euch nicht schaden kann.« Er kratzte sich am Arm. »Euer Vater wird jetzt schon nicht erfreut sein, dass Ihr hier unten wart und ihn besucht habt.«

Ragnars lange Finger wedelten den Einwand beiseite. »Das Risiko ist vertretbar. Weiter.«

»Wie Ihr meint. Nun, wo war ich? Die Narbe wird eine Weile brauchen, um zu heilen. Mit einer Operation am Gehirn ist nicht zu spaßen.«

Betrübt nickte Ragnar, als wäre er Atlas persönlich, der die Last der Welt auf seinen Schultern trug. »Ich weiß. Kümmere dich gut um ihn, ja? Ich möchte ihn so schnell wie möglich bei mir haben. Und jetzt lasst mich einen Augenblick mit ihm allein.«

»Seid Ihr sicher, dass das eine gute Idee ist?«, protestierte der Arzt. »Was, wenn er...«

Aiden sollte nicht erfahren, ob Zweifel an seinem Charakter oder an seiner Ungefährlichkeit bezogen auf Krankheiten vorlagen.

»Geno«, zischte Ragnar dazwischen. Seine freundliche Art schwand. »Das war keine Bitte.«

Augenblicklich fügten die Ärzte sich. Nacheinander schlichen sie aus dem Untersuchungszimmer.

Mit Argusaugen und verschränkten Armen wartete Ragnar, bis sich die Tür hinter ihnen schloss. Erst dann setzte er sich neben Aiden auf die Liege und musterte ihn prüfend. »Hast du Angst?«

Aidens Kopf ruckte verneinend, obwohl das nicht ganz der Wahrheit entsprach.

»Wie ist dein Name?«

Bockig wollte er eine Antwort verweigern und kam sich dumm dabei vor. Was nutzte es schon? Die Würfel waren gefallen. Sein Gehirn wollte sich nur noch nicht damit abfinden.

»Aiden«, murmelte er schließlich und reckte kampflustig das Kinn.

»Gut, Aiden.« Ragnar nickte und beugte sich zu ihm herab.

Wieder strich er ihm vertraulich mit den Fingerspitzen über das Gesicht, streichelte seinen Hals und glitt tiefer, als könne er sich nicht von ihm losreißen. Sein Zeigefinger zeichnete Kreise und Dreiecke um Aidens linke Brustwarze. Er biss sich auf die Unterlippe und kam ihm mit dem Gesicht sehr nah, als er flüsterte: »In ein paar Wochen bist du bei mir. Von jetzt an wirst du ein sorgenfreies Leben führen. Es wird dir gut gehen, richtig gut. Und wir werden viel Spaß miteinander haben.« Er machte eine kleine Pause, bevor er atemlos raunte: »Du ahnst nicht, wie sehr ich mich auf dich freue.«

Aiden erschienen sowohl die kleine Ansprache als auch die körperliche Nähe zu diesem mächtigen Mann surreal. Ragnar strahlte ein untergründiges, über Leidenschaft hinausgehendes Begehren aus, das Aiden keinesfalls fremd war, aber das ihn über alle Maßen verwunderte. Sie kannten sich doch gar nicht, sahen sich zum ersten Mal. Es war nicht logisch, davon auszugehen, dass sie sich gut verstehen würden – oder wollten.

Gleichzeitig wurde Aiden das Gefühl nicht los, dass Ragnar jedes seiner Worte ehrlich meinte. Nur der Begriff Freuen ließ sich weit interpretieren und zog nicht zwingend nach sich, dass er für alle Beteiligten galt.

Bevor Aiden die Möglichkeit hatte, die eigenartige Eröffnung zu verdauen, befeuchtete Ragnar seine Lippen und küsste ihn sacht. Sein Mund war kühl, sein Atem roch angenehm frisch. Der Kuss war nicht fordernd. Nur eine Berührung ihrer Lippen, die sich nach ein paar Sekunden wieder löste und davon gekrönt wurde, dass Ragnars Zungenspitze Aidens Mundwinkel streichelte.

Der Merowinger seufzte unterdrückt, als er sacht in Aidens Brustwarze kniff. »Bis bald, Süßer. Mach keinen Unsinn, ja? Es würde mir leidtun, dich bestrafen zu müssen.«

Mit diesen Worten richtete er sich auf und verließ ohne einen Blick zurück den Untersuchungsraum. Sein bodenlanger Umhang fegte hinter ihm her. Auf dem Flur angekommen hörte Aiden ihn herrisch fordern: »Setzt ihm den Chip ein und bringt seine Libido auf Vordermann.«

Kapitel 2

Sie drängten sich auf der unteren Landebahn, Schulter an Schulter, Fuß an Fuß. Das Menschenmeer war gewaltig. Es schien unvorstellbar, dass sie alle auf der schwimmenden Plattform unter der Festung leben sollten. Doch wie Ratten hatten sie sich ihre Tunnel, Unterkünfte und Zufluchtsorte geschaffen, etliche untereinander verbunden, sodass man nicht mehr ausmachen konnte, wie viele von ihnen es wirklich gab.

Ein armseliges Heer waren sie in ihren vor Dreck starrenden Kleidern, auf denen das Meersalz helle Krusten hinterlassen hatte.

Ragnar stand mit vor dem Körper gekreuzten Armen unter dem Baldachin. Sein Gesicht lag ebenso im Schatten wie das seiner Mutter auf der anderen Seite des Throns. Die silbergraue Ausgehuniform saß an ihm wie eine zweite Haut. Die Schnallen, die sich über Brust und Außenseiten der Beine zogen, drückten sich ins Fleisch. Ein Umstand, den er sich nicht anmerken lassen durfte. Ein Gott zupfte nicht an seiner Kleidung, wenn er in die Öffentlichkeit trat. Er kratzte sich auch nicht an der Nase oder ließ sich zu Albernheiten hinreißen. Er funktionierte.

Ragnars Blick ruhte auf dem mit rotem Gewebe ausgelegten Gang, der über die stählerne Landebahn führte. Die Wachen in ihren dunkelgrünen Festtagsuniformen bildeten sowohl Spalier als auch Schutzwall. Sie standen zwischen dem Volk der Unterstadt und dessen Herrscher.

200 Wachleute gegen 10000 oder mehr. Ein ungleiches Verhältnis, wären nicht die Waffen gewesen, die mattschwarz in den Händen der Wachen lagen.

Ungeachtet der vielen Menschen herrschte eine geradezu gespenstische Stille. Ohne den Wind, der Ragnar von Zeit zu Zeit ein Flüstern zu seinem erhöhten Standort zutrug, hätte man meinen können, dass er von Toten umgeben war.

Ein Trommelwirbel in der Ferne kündigte den Beginn der Zeremonien an. Gleich darauf blitzte etwas am fernen Zugang zum Hauptturm. Jubel brandete auf, ausgelöst von den Wachen, die mit drohenden Blicken zu erkennen gaben, was sie von einer Verweigerung der Ehrbekundung halten würden.

Gemessen schritt Takir auf den eigens für diesen Anlass errichteten Baldachin zu, vorbei an dem Zugang zur Unterstadt, der nur zu diesem Zweck geöffnet worden war. Es war eine Ausnahme, dass das Volk in die Anlagen der Festung eingelassen wurde.

Der Anblick seines Vaters ließ Ragnar zwischen Belustigung und Verlegenheit schwanken.

Takir trug die Rüstung. Der Legende zufolge entstammte sie den Schätzen ihrer Vorfahren und war einst von den Königen der Merowinger in die Schlacht getragen worden. Sie war aus hellem Eisen geschlagen und so sorgfältig aufpoliert, dass sich das Licht in ihr fing.

Ragnar erinnerte sich an seine Enttäuschung, als er nach einer Kindheit voller Bewunderung für dieses Artefakt herausfand, dass die Rüstung allenfalls 70 Jahre alt und von seinem Vater für festliche Begebenheiten in Auftrag gegeben worden war. Im Nachhinein glaubte er auch nicht mehr, dass ein frühmittelalterlicher König so feingliedrig und schmal wie sein Vater gebaut gewesen war.

Was er mit diesem Kleinod der Reproduktionskammern im Bauch der Festung anfangen sollte, wenn er einst den Thron übernahm, war ihm schleierhaft. Nie würde er seine lange Gestalt und seine breiten Schultern darin unterbringen, selbst wenn er Kleinigkeiten wie das Bedürfnis zu atmen, außen vor ließ.

Eine Schnalle an seinem Oberschenkel saß quer und drängte sich zunehmend tiefer ins Fleisch. Ragnar zwang sich zum Stillhalten. Ohne die Miene zu verziehen, beobachtete er ungeduldig den langsamen Marsch seines Vaters durch das Volk.

Er mochte diesen Tag nicht und wusste, dass es seiner Mutter Alexis nicht anders erging.

Takir ließ sich dieses Mal viel Zeit. Gemessen schritt er den roten Teppich entlang und zertrat die synthetischen Blütenblätter, die für ihn ausgestreut worden waren. Seinem Gesicht unter dem offenen Helmvisier war nichts als feierlicher Ernst zu entnehmen.

Endlich erreichte er die Stufen vor dem Baldachin und nahm seinen Platz vor dem Thron ein. Ein weiteres Mal wurde halbherziger Jubel laut, als er sich von Ehefrau und Sohn flankiert den Menschen zuwandte. Auf Rüstung und Gesicht sammelten sich Sonnenstrahlen und ließen ihn noch ätherischer wirken als unter normalen Umständen. Ragnar dagegen stand im Schatten und fror.

»Volk der Unterstadt!«, rief Takir. »Seid gesegnet an diesem freudenreichen Tag.«

Ragnar hatte Mühe, nicht den Mund zu verziehen. Die Menschen, die mit teils verängstigten, teils angespannten Gesichtern zu ihnen aufsahen, gingen ihm nicht sonderlich nah. Aber er bezweifelte, dass sie diesen Feiertag als besonders erfreulich wahrnahmen. Dafür war er zu einschneidend.

»Es ist der Tag, an dem wir unserer Freiheit und unserer Sicherheit gedenken und Dank sagen. Dank für das Meer, das uns schützt, für die Winde, die uns segnen, und für die Arbeit, die uns stärkt. Es ist auch der Tag des Tributs und des Austausches.«

Den Rest der Rede blendete Ragnar aus. Er kannte sie nur zu gut. Die Dankesfeierlichkeiten fanden jährlich statt, wenn auch nicht zu einem festen Datum. Der Termin wurde von profanen Gegebenheiten bestimmt, die sich kaum mit dem quasi-religiösen Anklang des Festes vereinbaren ließen. Unter anderem davon, wann ein bestimmtes Schiff aus einer der befreundeten Festungsstädte sie erreichte.

Gelangweilt glitt sein Blick über die Menge. Inzwischen knieten viele. Bis Takir geendet hatte, würden noch mehr von ihnen zu Boden gesunken sein. Sie beteten für Gnade, Glück oder schlicht da-rum, dass sie und ihre Lieben von Takirs Willkür verschont blieben.

Ragnar wäre lieber in der medizinischen Abteilung gewesen. In diesem Augenblick öffneten sie das Gehirn seines Begleiters und setzten ihm die Technologie ein, die so vieles ermöglichte.

Auch, wenn er den Mann noch nicht gut kannte, hatte er doch das Bedürfnis, jeden Schritt seiner Eingliederung zu begleiten und zu beobachten. Aiden war sein erster eigener Diener, und der Übergang von der schmutzigen Welt zu ihren Füßen in die Höhen ihrer Heimstatt faszinierte ihn.

Raunend hoben die Gebete an, als Takirs Rede endete. Zwei in weiß gekleidete Dienerinnen näherten sich ihm und reichten ihm zwei kristallene Stäbe. Wie Ragnar vorhergesehen hatte, lagen inzwischen alle Untergebenen auf den Knien.

Mit großer Geste richtete der Herrscher sich auf und kreuzte die Stäbe vor seiner Brust einem pharaonischen Gottkönig von der versunkenen Nordküste Afrikas gleich.

»Lasst euch von meinem Ratschluss leiten«, donnerte er über die Menge hinweg. »Opfer braucht es, und Opfer werde ich finden. Dreizehn für den Wandel des Monds in einem Jahr und noch einmal drei für jeden Jahrtausendwechsel, den die Familie der Merowinger gesehen hat.«

Nur 22? Ragnar wunderte sich.

Normalerweise wurden mehr Menschen in das Geschäft zwischen den Städten einbezogen. Denn was Takir den Seinen als Opfer verkaufte, war nichts anderes als ein Austausch genetischen Materials zwischen den einzelnen Stadtstaaten im Atlantik. Es hätte keinen Sinn gehabt, dem ungebildeten Volk zu erklären, dass sie von Zeit zu Zeit frisches Blut brauchten, das auf keinem anderen Wege eingeschleust worden konnte. Die einzelnen Festungen lag viel zu weit auseinander, um einen natürlichen Austausch zu gewährleisten – und daran hatte auch kein Herrscher ein Interesse. Anlegende Schiffe wurden streng überwacht, da man weder Arbeiter verlieren noch Flüchtlinge aufnehmen wollte. Es reichte, wenn sie nicht verhindern konnten, dass Seuchen von einem Schiff zum nächsten übersprangen.

Die Menschen aus der Unterstadt wussten, dass die Auserwählten nicht zum Tode verurteilt wurden. Daran hatte Ragnar keinen Zweifel. Schließlich fiel es auf, dass nach der Auswahl jedes Mal fremde Bewohner auftauchten. Ein Opfer blieb es dennoch, und das lag an der Art der Auswahl.

Reglos beobachtete er, wie Takir die Kristallstäbe zum Himmel erhob. Licht flammte in ihnen auf, das schnell zu einem gleißenden Inferno heranwuchs. Für schlichte Gemüter musste es wirken, als hielte ihr Herrscher Blitze in den Händen.

Unter lauten Beschwörungen riss Takir die Stäbe in die Höhe und rief den Himmel an. Gleich darauf zuckte der erste Blitzstrahl aus den Wolken und traf einen der Untergebenen. Wehgeschrei brach aus, als die Wachen vorwärtsdrängten und den Unglücklichen aus der Menge rissen. Ein zweiter Strahl traf eine junge Frau weit vorn, die weinend zusammenbrach.

Ragnar beobachtete, wie eine Wache ihr einen Säugling abnahm und ihn einem der Umstehenden, vielleicht dem Vater, in den Arm drückte. Prompt begann das Kind zu schreien. Sein Weinen mischte sich in das seiner Mutter, die rückwärts weggezerrt werden musste.

Ein kaum hörbares Ausatmen in seiner Nähe ließ Ragnar wissen, wie schwer es Alexis auch dieses Mal fiel, dem Schauspiel beizuwohnen. Es war immer schlimm für sie, wenn Familien auseinandergerissen wurden und Paare sich weinend ihre letzten Versprechungen und Schwüre nachriefen.

Nach und nach wählte die göttliche Macht der Blitze ihre Opfer aus. Der Anblick des hoch aufgerichteten Herrschers in seiner schimmernden Rüstung, der den Ratschlag des Himmels beschwor, war beeindruckend, solange man nicht wusste, dass die Wahl weder göttlicher Natur noch zufällig war. Wer gehen musste, wurde vorher abgesprochen. Takirs große Gebärden wiesen lediglich die Techniker auf dem höchsten Turm an, die Lichtmaschine auf den nächsten Betroffenen zu richten, um einen harmlosen Blitz in die Tiefe zu schleudern. Die Stäbe waren nur schmückendes Beiwerk.

Während der Zeremonie wurde Ragnar zunehmend unbehaglicher zumute. Er erkannte die Notwendigkeit der Feierlichkeiten, aber er genoss sie nicht. Vielleicht würde er anders empfinden, wenn er eines Tages an Takirs Stelle war. Bis dahin würden jedoch Jahrzehnte vergehen, in denen er hinter seinem Vater stand und dessen Arbeit beobachtete.

Die Länge des Zeitraums ließ Ragnars Kehle eng werden, sodass er sich eine Blöße gab und mit dem Finger unter dem Kragen seiner Uniform entlang fuhr.

***

Der beißende Wind zerrte an ihm, als er kopfüber in die Tiefe fiel. Gewaltsam drang die salzige Luft in seine Lungen und machte ihm das Atmen fast unmöglich. Brachiale Kräfte rissen an seinem Körper und taten ihr Möglichstes, um ihm die dünne Kleidung von der Haut zu fetzen.

Aus tränenden Augen sah er das Meer auf sich zustürzen. Weiße Flecken, die zu Schaumkronen wurden, je näher er kam, tanzten durch sein Sichtfeld und erzeugten Schwindelgefühle. Sein Herz raste und das Gehirn gab den Befehl, augenblicklich Unmengen Adrenalin auszuschütten, das seine Wahrnehmung bis an die Belastungsgrenze ausreizte. Ihn mehr erleben ließ, als der menschliche Körper ertragen konnte.

Einer Ohnmacht nahe drehte er sich um die eigene Achse wie eine Katze, die sich im Sturz instinktiv darum bemüht, auf den Pfoten zu landen. Die Stahlkonstruktion des Befestigungsturmes jagte als grauer Schatten an ihm vorbei, während der Druck in seinem Schädel unerträglich wurde. Aus seiner Nase rann Blut, benetzte seine Oberlippe.

Ragnar schrie erst, als er die Wasseroberfläche auf sich zurasen sah. Auch, wenn sein Verstand keinen klaren Gedanken fassen konnte, wusste sein Körper, dass ihn das Meer bei einem Sturz aus dieser Höhe nicht willkommen heißen, sondern ihm jeden Knochen im Leib zertrümmern würde.

Todesangst erfasste ihn und brach sich in einem Rausch zwischen Wahnsinn und Panik Bahn. Die letzten Meter schwanden in Sekundenbruchteilen dahin. Ihm wurde schwarz vor Augen. Zeitgleich hörte er das Aufheulen des Motors, das Knallen der Flügel, die sich aus ihren Halterungen lösten.

Die Welt der Physik stand Kopf, als er aus dem freien Fall gerissen und mit Hilfe von gewaltigen Düsen in Richtung Himmel katapultiert wurde, während die Kunststoffschwingen seinen Flug stabilisierten.

Jubelnd flog Ragnar der matten Sonnenscheibe entgegen, spürte, wie ihm Tränenflüssigkeit und Blut gleichermaßen aus dem Gesicht gestrichen wurden. Er segelte auf den Aufwinden, die die höchsten Türme der Festung umgaben. Verloren in der Endlosigkeit des Horizonts und in Trance versetzt von körpereigenen Drogen, die ihm vermittelten, lebendig zu sein.

Die Kommunikationseinheit hinter seinem Ohr gab schrille Laute von sich, die Ragnar trotz aller Bemühungen nicht lange ignorieren konnte.

Verflucht, was wollten sie von ihm?

Mit ihren hochauflösenden Ferngläsern war es ein Leichtes, seinen Flug zu verfolgen und sich zu versichern, dass es ihm gut ging. Wenn er das Bewusstsein verloren hätte, würde er wie ein nasser Sack an seinen Flügeln hängen, statt mit ausgebreiteten Armen durch niedrige Wolkenausläufer zu sausen.

Aber es gehörte es zur Routine, dass er sich nach dem Sturz vom Turm meldete.

Seine Mutter bestand darauf, seitdem er vor einigen Jahren im Sprung ohnmächtig geworden war. Damals hatten die Schwingen ihn weit über das Wasser Richtung Westen getragen. Sein störrisches Navigationssystem hatte es ihm schwer gemacht, zurück nach Hause zu finden. Aber selbst das war kein Grund zur Sorge gewesen, denn der Sender in seinem Schutzanzug hatte Signale über das Meer geschickt, sodass man ihn fand, bevor ihm die Energie ausging.

Seufzend aktivierte Ragnar die Kommunikationseinheit, da ihm das hohe Piepsen im Ohr das Trommelfell massakrierte, und schrie gegen den Wind an: »Alles in Ordnung. Es geht mir gut.«

Selbst durch das Rauschen und Knistern hörte er die Erleichterung seines Sportbegleiters. »Verstanden! Wir hatten den Eindruck, die Schwingen gingen zu spät auf.«

»Negativ!«, rief Ragnar und grinste in sich hinein. Der Eindruck des technischen Personals war korrekt. Er hatte seine Ausrüstung manipuliert, damit sie ihn erst im letzten Augenblick abfing. Wo blieb der Spaß, wenn ihm jeder noch so kleine Nervenkitzel verboten war?

»Wollt Ihr noch länger draußen bleiben?«

Die Idee war verführerisch, doch Ragnar gab der Sehnsucht nach dem uralten Menschheitstraum vom Fliegen nicht länger nach. Nicht heute, wo ihn ausnahmsweise etwas erwartete, das ihn mehr faszinierte als der Rausch der Geschwindigkeit. »Nein, ich komme jetzt zurück. Räumt die Plattform!«

Keine zehn Minuten später näherte Ragnar sich der Nordseite der Festung. Das Plateau auf halber Höhe des Turms diente als Landefläche für Privatflugzeuge und Gleiter. Mit der Landebahn, auf der vor wenigen Tagen die Feierlichkeiten stattgefunden hatten, war es nicht zu vergleichen.

Ein halbes Dutzend Personen – unter anderem der Leibarzt Geno – beobachteten, wie er tiefer ging und in weiten Kreisen die weiße Markierung auf dem Stahl ansteuerte. Ein letztes Mal griff der Wind unter seine Schwingen. Dann setzte Ragnar auf und ließ sich auf ein Knie sinken, damit sich die Flügel glatt um ihn herum auf den Grund legten.

Sofort kamen ihm die Bediensteten entgegen und befreiten ihn von seiner Ausrüstung, während Geno mit mürrischer Miene das vergossene Blut von seinem Gesicht tupfte. Als Mediziner hielt der bärtige Veteran im Dienste Takirs nicht viel von Ragnars Leidenschaft für lebensgefährliche Sportarten. Verständlich, wenn man bedachte, wer den Spross der Familie zusammenflicken durfte, wenn er sich verletzte.

Verletzungen waren ein gutes Stichwort.

»Irgendwelche Veränderungen?«, fragte Ragnar an Geno gewandt, während er den Schutzanzug öffnete und seine Haare befreite, die er hinten unter den Kragen geklemmt hatte. Auch weiche Strähnen taten weh, wenn sie einem im Aufstieg von einer Sturmböe ins Gesicht gepeitscht wurden.

Ein kühler Luftzug fuhr über seine bloße Haut und trocknete den Schweiß. Erleichtert atmete Ragnar auf. Im Schutzanzug fühlte er sich stets etwas beengt, sobald er festen Boden unter den Füßen hatte.

»Wie meinen, Herr?«, hakte Geno nach, der Ragnars innerlichem Gedankensprung nicht folgen konnte.

»Mein Lustdiener.«

Das Gesicht des Arztes hellte sich auf, nur um gleich darauf einem Ausdruck unbestimmter Sorge zu weichen. »Nein, bisher nicht. Wir können nur abwarten.«

»Es ist mehr als eine Woche her.«

»Ich weiß, aber man kann den menschlichen Körper nicht zwingen, Herr. Und was bedeutet schon eine Woche mehr oder weniger? Ihr solltet Euch gedulden.«

Kühl sah Ragnar auf Geno herab und zog eine Augenbraue hoch. Leibarzt oder nicht, es stand dem alten Mann nicht zu, ihm Empfehlungen zu geben. Außerdem ging es nicht darum, dass Ragnar etwas länger auf sein Vergnügen warten musste. Es ging darum, dass sich sein neuer Gespiele nicht von der Operation erholt hatte und unklar war, warum. Er schätzte es nicht, wenn schlampig mit seinem Eigentum umgegangen wurde.

»Du vergisst dich, Geno«, ermahnte Ragnar den Arzt gereizt. »Ich sehe jetzt nach ihm. Und ich rate dir, diese Sache nicht auf die leichte Schulter zu nehmen, nur weil mein Vater nicht persönlich involviert ist.«

»Das würde ich nie wagen«, protestierte Geno und verbeugte sich rasch, aber eindeutig nicht tief genug für Ragnars Geschmack.

Viele Bedienstete nahmen ihn nicht ernst. Sie waren Takirs Härte gewohnt. Ragnar begegneten sie mit Respekt, aber nicht mit der Angst, die sein Vater ihnen eingebläut hatte.

In dem Wissen, dass die Diener hinter ihm aufräumen und seine Ausrüstung gewissenhaft einlagern würden, machte Ragnar sich auf den Weg zur Krankenstation. Vor der mit Kontrollmechanismen geschützten Tür blieb er stehen und ließ seine Iris scannen.

Leider war es nötig, alle Räumlichkeiten zu sichern, in denen wertvolle Gerätschaften eingelagert wurden. Immer wieder fanden kriminelle Subjekte ihren Weg durch die zahlreichen Luftschächte und regulären Zugänge ins Innere ihres Heims und stahlen alles, was nicht angeschraubt war – und manchmal selbst das.

Ein Pfleger kam ihm auf dem Flur entgegen und nickte grüßend. Ragnar lächelte ihm verwegen zu. Er kannte den errötenden Jungen in jedem Wortsinn. Er hatte ihm ein königliches Vergnügen bereitet; unten, in den Kellern, in denen sich die sportlichen Anlagen der Festung verbargen.

Ragnars Weg führte ihn in einen medizinischen Überwachungsraum. Neben einer Sitzgruppe, die für längere Wartezeiten vorgesehen war, erwartete ihn eine Vielzahl blinkender Terminals sowie eine mannshohe Glasscheibe, die den Blick auf ein kühl-praktikables Krankenzimmer im Nebenraum freigab.

Er näherte sich der durchsichtigen Wand und betrachtete seinen Spielgefährten, der regungslos im Bett lag. Die leichte Decke reichte ihm lediglich bis zu den Hüften, sodass seine haarlose Brust gut zu sehen war. Ob sie sich in diesen Tagen kühl anfühlte? Wenn ja, hätte Ragnar nichts dagegen gehabt, sie zu reiben und zu kneten, bis sich die Haut unter seinen Fingern erhitzte.

»Er hat eine Art rauen Charme, nicht wahr?«

Aufgeschreckt wandte Ragnar den Kopf und sah sich zu seiner Mutter um, die auf leisen Sohlen den Überwachungsraum betreten hatte.

Alexis lächelte ihrem Sohn liebevoll zu und stellte sich neben ihn. Die weiten Ärmel ihres sonnengelben Kleides streiften seinen Unterarm. Der synthetische Stoff war hauchdünn und einzeln verwendet nicht blickdicht, sodass der Haus- und Hofschneider seiner Mutter ein strahlendes Durcheinander aus sich überlappenden, zipfeligen Bahnen entworfen hatte, die den Körper der Herrin sacht umspielten. Dass Alexis mit ihrer kastanienbraunen Lockenpracht, die wie bei Ragnar bis auf ihre runden Hüften fiel, den ebenmäßigen Zähnen und von dichten Wimpern umgebenen Augen eine Schönheit war, verstand sich von selbst.

Trotzdem bewunderte Ragnar seine Mutter für ihren Sinn für Perfektion und ihre natürliche Anmut. In seinem ganzen Leben hatte er sie noch nie mit wirren Haaren oder abgebrochenen Fingernägeln gesehen. Selbst wenn sie in einem legeren Morgenmantel an den Frühstückstisch kam, ging von ihr eine Frische und Leichtigkeit aus, die sie bezaubernd machte.

Sein Blick kehrte zur Glasscheibe zurück. Ragnar verbrachte viel Zeit bei seinem Lustdiener. Er lauerte. Er konnte es kaum erwarten, dass der Mann aus der Unterstadt zu sich kam und ihm Gesellschaft leistete. Ihm die Langeweile vertrieb.

Aiden war ein Geschenk, dessen Kostbarkeit Ragnar zu schätzen wusste. Mehr als ein Spielzeug, sondern ein menschliches Abenteuer, das es zu erleben galt. Takir hatte ihm ein Leben in die Hände gelegt, zur freien Verfügung.

Doch Ragnar war nicht dumm. Er wusste, dass es seinem Vater um mehr ging, als ihm einen Gefallen zu tun. Takir wollte sehen, wie er mit Aiden zurechtkam. Und Ragnar war fest entschlossen, dieser ihm schweigend auferlegten Prüfung gerecht zu werden.

Mehr als das: Er freute sich darauf. Aiden übertraf seine kühnsten Erwartungen, und sein Mut während der ärztlichen Untersuchungen hatte Ragnar imponiert.

Ein Grund mehr, ungeduldig auf Aidens Erwachen zu warten.

»Wie macht er sich?«, erkundigte Alexis sich interessiert. »Ist Geno mit seiner Wundheilung zufrieden?«

Auf Ragnars Stirn bildeten sich zwei schwach ausgeprägte Linien, als er unstet den Kopf wiegte. »Nicht ganz. Seine Entzündungswerte sind erhöht. Und er hat eine der Impfungen nicht gut vertragen. Seine Leber ist in Aufruhr.«

Falls seine Mutter von diesen Neuigkeiten überrascht war, ließ sie es sich nicht anmerken. Wortlos schwebte sie – ihr graziler Körperbau verlieh ihr die Leichtfüßigkeit einer Tänzerin – zu einem nahen Pult und erweckte den Computer mit wenigen Handgriffen zum Leben. In Windeseile forderte sie die Patientendaten an. Während sie sorgfältig las, bewegten sich ihre Lippen.

Ragnar legte die Fingerspitzen auf die Gummierung der Glasscheibe. In dem mit hellem Stoff ausgekleideten Krankenbett wirkte Aiden sehr bleich und krank. Die zahlreichen Sensoren, die jede seiner Körperfunktionen überwachten, taten ihr Übriges, um den Eindruck zu vermitteln, einen sterbenskranken Mann zu beobachten. Daran konnte auch die Tatsache nichts ändern, dass Ragnar technologische Spielereien jeder Art gewohnt war und der Eingriff in den menschlichen Körper aus Gründen der Ästhetik selbstverständlich für ihn war.

»Ich glaube nicht, dass du dir Sorgen machen musst«, drang die Stimme seiner Mutter an sein Ohr. »Seine Werte sind leicht verschoben, aber nicht außergewöhnlich schlecht.«

»Aber warum will Geno ihn dann nicht aufwecken?«, fragte Ragnar. »Er sagt, es ist zu früh. Und was löst diese Verschiebungen aus? Ich dachte, er wäre gründlich untersucht worden.«

»Sicherlich, aber sein Organismus ist keine Maschine. Und wir wissen nicht genau, unter welchen Umständen er in der Unterstadt gelebt hat. Oder ob er als Kind häufig krank war. Ob er in letzter Zeit gut gegessen hat. Ob er hart arbeiten musste oder ob ihn die neue Situation starkem Stress aussetzt.« Sie schlang Ragnar den Arm um die Seite. An seine Schulter kam sie schon lange nicht mehr heran, ohne einen Stuhl zu Hilfe zu nehmen. »Wie gesagt, mach dir keine Sorgen.«

»Wer sagt, dass ich das tue? Ich meine, er ist schließlich nur...«