Zenjanische Asche - Raik Thorstad - E-Book

Zenjanische Asche E-Book

Raik Thorstad

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Beschreibung

Aus Sunda vertrieben begibt sich die Bruderschaft auf die Suche nach einem neuen Zuhause. Doch das ferne Land, von dem sie sich so viel versprochen haben, entpuppt sich als trügerisch und stellt sie vor ungeahnte Herausforderungen. Auch zwischen Sothorn und Geryim läuft es alles andere als gut, denn nicht nur Sothorns Schuldgefühle belasten ihre Beziehung, sondern auch Geryims Geheimnisse drohen, das Band zwischen ihnen endgültig zu zerreißen. Bis Geryims Leben auf einmal in Gefahr ist und Sothorn alles aufs Spiel setzen muss, um ihn zu retten. Als er jedoch von unerwarteten Verbündeten erfährt, wie schlimm es wirklich um Geryim steht, beschleicht ihn die Angst, dass jede Rettung zu spät kommen könnte. Für Geryim und für ihre gemeinsame Zukunft… Band 3 der "Zenja"-Serie.

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Seitenzahl: 594

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Deutsche Erstausgabe (ePub) April 2021

© 2021 by Raik Thorstad

Verlagsrechte © 2021 by Cursed Verlag

Inh. Julia Schwenk, Taufkirchen

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,

des öffentlichen Vortrags, sowie der Übertragung

durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile,

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit

Genehmigung des Verlages.

Satz & Layout: Cursed Verlag

Covergestaltung: Hannelore Nistor

Coverillustration: creationwarrior

Druckerei: CPI Deutschland

Lektorat: Anne Sommerfeld

ISBN-13: 978-3-95823-876-3

Besuchen Sie uns im Internet:

www.cursed-verlag.de

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Euer Cursed-Team

Klappentext:

Aus Sunda vertrieben begibt sich die Bruderschaft auf die Suche nach einem neuen Zuhause. Doch das ferne Land, von dem sie sich so viel versprochen haben, entpuppt sich als trügerisch und stellt sie vor ungeahnte Herausforderungen. Auch zwischen Sothorn und Geryim läuft es alles andere als gut, denn nicht nur Sothorns Schuldgefühle belasten ihre Beziehung, sondern auch Geryims Geheimnisse drohen, das Band zwischen ihnen endgültig zu zerreißen. Bis Geryims Leben auf einmal in Gefahr ist und Sothorn alles aufs Spiel setzen muss, um ihn zu retten. Als er jedoch von unerwarteten Verbündeten erfährt, wie schlimm es wirklich um Geryim steht, beschleicht ihn die Angst, dass jede Rettung zu spät kommen könnte. Für Geryim und für ihre gemeinsame Zukunft…

Prolog

Die Windböen jagten über Küste und Schäreninseln wie eine erschrockene Herde Wildpferde. Die meisten heulten ungebremst an den spärlich bewachsenen Klippen entlang, doch einige wenige brachen aus dem Reigen aus und verfingen sich heulend in den Nisthöhlen der Seemöwen. Der Stein stöhnte, als wollte er unter ihren Schreien brechen.

Von den winzigen Inseln tief unter den Klippen war außer wippenden Binsen über rauem Wellengang kaum etwas zu erkennen. Doch bald würden die Winterstürme nachlassen und die Eilande freigeben, die sich bis weit über den Horizont erstreckten. Mit dem Frühling würden sie sich mit ihren Salzwiesen dauerhaft aus dem Meer erheben, und schließlich auch die Flachwasserbereiche zwischen ihnen, in denen man bei Ebbe mit nackter Hand Fische und Seeigel fangen konnte.

Über allem stand eine blasse Sonne, die die ersten frischen Kräuter sprießen ließ und den steinigen Strand von der Feuchtigkeit des Winters befreite. Nicht mehr lange, und die Vögel würden über die Steine hüpfen, um für den Nestbau getrocknetes Seegras zu sammeln.

Eindeutig. Die karge Jahreszeit ging ihrem Ende entgegen, der Kreislauf des Lebens begann von Neuem. Und dennoch…

Feylanka verengte die Augen und betrachtete die Knochen zu ihren Füßen. Sie sprachen von Wandel und Krieg, von Hunger und Niedergang. Es waren dunkle Vorzeichen, die nur wenig Raum für Hoffnung ließen.

Ihr Blick fiel auf das verloren wirkende Knöchelchen, das im rechten Winkel zu den übrigen gefallen war. Die eingravierte Rune war kaum noch zu erkennen, so lange war dieser Knochen nicht durch einen neueren ersetzt worden.

Wachstum.

Die Runen für Wachstum und Wandel trafen häufig gemeinsam auf, standen für neue Wege, auf denen man sich frei entfalten konnte. Doch Hunger, Niedergang und Krieg? Jedes für sich war ein mächtiges Vorzeichen. Gemeinsam bildeten sie die Triade des Untergangs, galten als sicheres Zeichen für das Ende eines Zeitalters. Aber wer hätte je davon gehört, dass sie mit Wachstum und Wandel einhergegangen wären?

Feylanka fühlte sich all ihrer Erfahrung zum Trotz nicht in der Lage, das Rätsel zu ihren Füßen zu lösen. Seufzend schob sie die Knochen zusammen und verstaute sie im Lederbeutel unter dem Umhang. Anschließend verwischte sie mit der Stiefelspitze die Linien, die sie mit Sand auf den dunklen Stein der Klippe gezeichnet hatte. Es war nie gut, einen Runenkreis geöffnet zu halten; erst recht nicht in diesem wilden, kargen Land, in dem sich die Erd- und Windgeister wie junge Hunde balgten.

Als sie den Ritualplatz verließ, erahnte Feylanka eine Bewegung im Gestrüpp unterhalb ihres Ausgucks. Sie lächelte in sich hinein und zuckte nicht mit der Wimper, als einen Augenblick später ein lang gestreckter Körper neben ihr landete. Stattdessen streichelte sie den schweren Schädel, der sich nachdrücklich an ihrem Bein rieb. Das weiche Fell unter ihren Fingerspitzen war tröstlicher als manches gesprochene Wort.

»Wir gehen unruhigen Zeiten entgegen, alter Freund«, murmelte Feylanka in sich hinein. »Ich fürchte, es ist zum Umsturz gekommen, und so weit wir auch gereist sind, scheint es, als könnten wir ihm nicht entgehen.«

Eine alte Angst, die sie bereits seit Kindertagen begleitete, bäumte sich in ihr auf und legte sich bleiern um ihre Kehle.

Als kleines Mädchen hatte man Feylanka belächelt, sie als einfallsreich und wortgewandt bezeichnet, ihr eine Zukunft als Geschichtenerzählerin und mutige Jägerin prophezeit. Doch dann, als ihre Verbindung zu den Geistern enger geworden war und sie ihre Sorgen um das Wohl der Stämme nachdrücklicher zum Ausdruck gebracht hatte, hatte man ihr andere Bezeichnungen verliehen.

Unglücksbotin, Fluchhexe, Rabenaas.

Sie hatte auf unrühmliche Weise erfahren müssen, dass Menschen den Einblick ins Weltengefüge nur bis zu einem gewissen Punkt ertragen konnten. Zwang man sie darüber hinaus und in den Spiegel der Zukunft zu blicken, wandten sie sich gegen den Boten.

Schaudernd schloss Feylanka die Falten ihres weiten Umhangs. Die Knochen klimperten im Beutel, lockten sie, sie erneut zu werfen. Aber man konnte die Geister nicht betrügen, indem man wieder und wieder die Runen befragte und auf ein besseres Ergebnis hoffte. Die Runen änderten sich, aber die Deutung blieb dieselbe.

Als die Dämmerung über der fernen Steppe heraufzog, erreichte Feylanka das Nachtlager. Ihr Schatten hatte sich von ihr getrennt, um sich in die Büsche zu schlagen. Aber ein anderer treuer Begleiter hieß sie mit einem lodernden Feuer, sämigem Eintopf und Würzwein willkommen. Er kam ihr mit ausgestreckten Händen entgegen und küsste sie auf die Stirn, bevor er ihr einen Arm um die Taille legte und sie zum Feuer führte, als wäre sie eine alte, gebrechliche Frau.

Sie schmunzelte in sich hinein. Nun, sie war nicht mehr jung, aber alt war sie bestimmt nicht. Und für ihn galt dasselbe.

»Du bist bedrückt«, stellte Imrir fest, nachdem er sie mit leisem Nachdruck auf seine Decken gesetzt und ihr eine Schüssel dampfenden Eintopfs in die Hand gedrückt hatte. »Dieselben schlechten Vorzeichen wie beim letzten Mal?«

»Finsterer denn je«, erwiderte sie aufrichtig. Vor Imrir konnte sie ebenso wenig geheim halten wie vor sich selbst. »Ich fürchte um die Stämme der alten Welt.«

»Dann haben sie sich also erhoben?« Imrir gesellte sich zu ihr, auf dem Schoß die kleine Sammlung Feuersteine, die er während ihrer Wanderung die Küste entlang aufgelesen hatte.

Feylanka rückte dichter an ihn heran und legte ihm nach kurzem Zögern den Kopf auf die Schulter. »Ich fürchte ja.«

»Und obwohl du die anderen Jahr und Tag als blinde Narren beschimpft hast, trauerst du nun um sie.«

Sie schloss die Augen, nur um Gesichter aus ihrer Vergangenheit vor sich zu sehen; manche lächelten ihr entgegen, andere waren höhnisch oder vor Wut verzehrt.

»Ja«, gestand sie. »Es ist leicht, gehässig zu sein und sie zu verfluchen, solange man sie in Sicherheit weiß. Doch nun möchte ich jeden Einzelnen von ihnen schütteln und anschreien, sie fragen, warum sie mir nicht geglaubt haben.«

Imrir hielt prüfend einen Feuerstein in die Höhe, betrachtete einen weißen Einschluss längs der Bruchkante, roch daran und warf ihn schließlich mit einem abfälligen Grunzen über die Schulter. »Dir aufzubürden, was nicht dir gilt, war schon immer dein größter Fehler. Es ging nie darum, ob sie dir glauben oder nicht, sondern nur darum, ob sie genug Mut aufbringen, deinen Weg zu beschreiten. Die meisten waren zu feige.«

»Du nicht.« Feylanka dachte an den Tag der großen Abreise und daran, wie Imrir im letzten Augenblick mit finsterer Miene, hochgezogenen Schultern und einer Reihe ihn verfluchender Schwestern im Nacken zu ihr getreten war.

»Und die anderen, die uns begleitet haben, auch nicht. Wir sind nicht wenige, Fey.«

»Aber auch nicht viele.«

Nicht genug. Und das Leben, in das ich euch geführt habe, ist nicht besser als jenes, das wir unter uns gelassen haben.

»Wir sind genug«, widersprach Imrir ihr, als hätte er ihre Gedanken gelesen. »Und wir sind stärker denn je.«

Damit hatte er recht. Feylanka war in ihrer Jugend viel und weit gereist, aber sie hatte nie einen Stamm besucht, der sich so innig verbunden gewesen war wie der ihre.

In diesen Stunden war dies allerdings kein Grund zur Freude. Eine große Familie zu haben bedeutete auch, sich um viele Menschen zu sorgen.

»Die Runen haben von Krieg gesprochen.« Die Weissagung in all ihrer Eindringlichkeit in Worte zu fassen, fiel ihr schwer. Als würde sie dadurch greifbarer. Die Last der Vorzeichen krümmte Feylankas Schultern und sie fragte sich, wie lange sie sie erdulden konnte, ohne dass ihr Haar grau wurde.

Als Imrir leise lachte, klang es, als würde in der Ferne eine Horde Büffel über die Steppe galoppieren. »In diesem Land herrscht immer Krieg. Wenn die Runen das bisher nicht bemerkt haben, spricht das nicht eben für sie.«

Feylanka kniff ihm zur Strafe für seine lästerlichen Reden ins Knie, aber sie musste lächeln. Und damit hatte er sein Ziel erreicht.

So, wie es ihre Aufgabe war, die Vorsehung der Geister entgegenzunehmen, war es seine, sie zu stützen, wenn es ihr an Kraft, Zuspruch oder Glauben mangelte. Gemeinsam, Hand in Hand, würden sie sich allem stellen, was das Schicksal ihnen entgegenwarf.

Und wenn das Schicksal von ihnen verlangte, in einen Krieg zu ziehen, der nicht der ihre war, würden sie es tun. Mit hoch erhobenem Kopf, unermesslichem Zorn und allen Gaben, die Gor ihnen gewährt hatte.

Kapitel 1

Neue Ufer, alte Sorgen

Sothorn nahm die Fingerspitzen von den Schläfen und öffnete widerstrebend die Augen. Vor ihm breitete sich die Weite des Meeres mit seinen feinen Schaumkronen und darüber ein wolkenverhangener Himmel aus.

»Nein. Da ist nichts. Gar nichts.« Er senkte zähneknirschend den Kopf. »Und je entschlossener ich es versuche, desto weiter entgleitet es mir.«

Entfernt spürte er Gwanjas Beunruhigung, konnte aber kaum etwas dazu beitragen, dass sie sich entspannte. Wahrscheinlich war es nicht nett von ihm, in seiner inneren Leere herumzustochern, während Gwanja auf ihn angewiesen war. Wie sie alle hatte die Brandlöwin seit Wochen kein Land unter den Füßen gespürt und statt sich allmählich an das Schaukeln der Henkersbraut zu gewöhnen, wurde sie immer nervöser.

»Es tut mir leid«, murmelte Thalid. Ihr kurzes, grob mit dem Messer zurecht geschnittenes Haar stand ihr im Wind zu Berge wie bewegtes Schilfgras. »Ich würde dir gern helfen, aber ich fürchte…«

»Es ist hoffnungslos.«

Sothorn konnte die Frustration nicht aus seiner Stimme heraushalten. Sie war jedoch nicht gegen Thalid gerichtet.

Seit ihrem unrühmlichen Abenteuer im Hohetempel der Adelijar waren mehr als sechs Wochen vergangen und doch fühlte er sich zunehmend, als hätte man ihn als Zielscheibe verwendet. Wie eine grob zusammengebundene Strohpuppe, die für eine ganze Kompanie Wachsoldaten für ihre Bogenschießübungen herhalten musste. Er hatte Löcher, wo keine sein sollten, und wenn er versuchte, sie zusammenzuhalten, zerfaserten sie.

Manchmal ging es so weit, dass er kaum noch wusste, wer er war. Sicher, seinen Namen würde er wohl nie vergessen, auch nicht seine Profession. Seine Erinnerungen waren ebenfalls unangetastet, doch er hatte Schwierigkeiten, sie richtig zuzuordnen.

Wann hatten die Adelijar begonnen, ihn zu beeinflussen? Welche seiner Entscheidungen waren seine eigenen gewesen und wann hatte man ihn gelenkt? Welchen Gefühlen durfte er trauen? Fehlte ihm tatsächlich ein essenzieller Teil seines Selbst oder vermisste er nur das, was sie ihm als Leihgabe gelassen hatten?

Wie wichtig war es ihm vorgekommen, das verfluchte Feuer aus sich zu verbannen – und nun, da es verschwunden war, fehlte es ihm.

Ihm fehlte vieles.

Thalid strich ihm zum Trost über den Unterarm; zögernd, wie es ihrer Art entsprach. Sie hatte sich noch nicht an den berührungsbetonten Umgang der Bruderschaft untereinander gewöhnt. Als Kara ihr zum ersten Mal spielerisch den Arm um die Schulter gelegt und sie auf die Schläfe geküsst hatte, war sie zusammengefahren, als hätte man sie verbrüht.

Alles in allem passte sie sich jedoch gut an ihr neues Leben an. Jedenfalls seitdem sie erkannt hatte, dass die Assassinen ihren ungewöhnlichen Fähigkeiten nicht mit Skepsis, sondern mit Neugier und sogar Bewunderung begegneten. Besonders die Kinder stellten ihr häufig nach und bettelten darum, sehen zu dürfen, wie sie aus leerer Luft Feuer erschuf.

Sothorn verstand die Kleinen allzu gut.

»Zeig es mir«, bat er.

Thalid sah verlegen drein. »Sicher, dass es das nicht nur schlimmer macht?«

Er schüttelte den Kopf; getrieben von einer unbestimmten Sehnsucht und dem ständig an ihm nagenden Gefühl der Unvollständigkeit. »Bestimmt nicht. Bitte?«

Sie schob die weiten Hemdsärmel zurück. Längst hatte sie die Robe ihrer Zunft gegen die schlichte Bekleidung der Bruderschaft ausgetauscht. An Bord eines Schiffes, das den Eskapaden des Windes ausgesetzt war, waren weite Gewänder nicht eben von Vorteil.

Sothorn sah zu, wie Thalid an die Reling trat – sie standen ganz hinten an Deck bei den Ankerketten – und sich zu voller Größe aufrichtete. Ihr Blick war in die Ferne gerichtet, die Augen klar. Dann hob sie die Arme und warf mit gespreizten Fingern Feuer von sich. Es entsprang Fingern, Handflächen und Unterarmen gleichermaßen und raste als flammende Lohe in den trüben Himmel, um erst nach etlichen Schrittlängen zu zerfasern.

Sothorn spürte die Hitze über seine Haut kriechen. Wollte nach ihr greifen und sie umarmen. Aber auch dazu war er nicht länger in der Lage. Er musste sich von ihr fernhalten wie jeder andere auch.

Abstand zu halten, obwohl er es nicht wollte, bildete den Kehrreim seines Lebens. Feuer, Zenjanischer Lotus, Männer.

»Es ist ein herrlicher Anblick«, sagte er, um sich von seinem gefährlichen Gedankenpfad zu entfernen. »Und ich komme mir dumm vor. Als ich es besaß, wollte ich es nicht haben, und jetzt würde ich es dir am liebsten abspenstig machen.«

Thalid senkte unter einem fasstiefen Seufzen die Arme. »Ich weiß nicht, ob es dich tröstet, aber mir ging es früher ähnlich. Eine Begabung zu haben, die niemand zu schätzen weiß und für die man verachtet wird, bringt das mit sich.«

Sothorn grollte leise. Während ihrer langen Seereise hatte er sich oft mit Thalid unterhalten, sogar ihre Nähe gesucht. Er fühlte sich ihr in gewisser Hinsicht verbunden. Und was sie ihm von ihrem Leben an der Akademie berichtet hatte, weckte seinen Zorn.

Intrigen waren ihm nicht fremd. Bei allen Göttern, ihm war nichts fremd, was verdorben, dunkel oder schäbig war. Aber was er nie erlebt hatte, war, dass sich die Menschen einer Gemeinschaft gegenseitig gnadenlos bekriegten.

Früher war Sothorn allein gewesen, ein Werkzeug in der Hand eines gierigen und machtbesessenen Mannes. Aber sobald er zu einem Teil der Bruderschaft geworden war, hatte er Freundschaft kennengelernt. Zusammenhalt. Verbundenheit. Unterstützung.

Thalid dagegen hatte Ablehnung, Widerwillen und – wie Sothorn vermutete – aus Furcht geborenen Spott erfahren. Umso mehr verwirrte sie die Offenheit der Bruderschaft. Aber allmählich lernte sie, sie zu genießen. Deshalb war sie an Bord geblieben, als sie nach Westen aufgebrochen waren.

»Bei uns wird dich niemand verachten«, betonte Sothorn nicht zum ersten Mal. »Im Gegenteil. Bei dem, was uns bevorsteht, werden wir froh sein, dich bei uns zu haben.«

Zugegebenermaßen dachte er nicht oft an das, was vor ihnen lag. Er war zu sehr mit sich selbst beschäftigt und damit, Gwanja einen Halt zu bieten.

Allerdings war er froh über den Aufbruch nach Ethanadar. Oder die Flucht. Je nachdem, wie man es nennen wollte.

Er hatte in Sunda verbrannte Erde hinterlassen und die Zukunft, die ihn und seine Freunde dort erwartet hätte, versetzte ihm nach wie vor eine Gänsehaut. Alles musste besser sein, als erneut versklavt zu werden.

Thalid lächelte schüchtern. »Hoffentlich. Ich wäre euch gern von Nutzen.«

»Das bist du bereits.«

»Wie kommst du darauf?«, fragte sie überrascht.

Sothorn sah sie von der Seite an. Er überlegte, ob er es ihr erklären sollte. Thalid hatte noch nicht ganz verstanden, was es bedeutete, ein Ausgestoßener zu sein – und dass jeder neue Freund eine ungeheure Kostbarkeit war.

Er entschied sich dagegen. Mit der Zeit würde sie begreifen, dass auch jemand wie sie, der sich seiner selbst nicht sicher war, für andere ein Geschenk sein konnte.

***

Geryim fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn. In der Kombüse war es warm und aus dem Kessel in der Aufhängung stieg Dampf auf. Mit verbissener Entschlossenheit trieb er das Messer in die verschrumpelte Rübe und schnitt eine weitere faulige Stelle heraus.

»Ich kann das Genörgel fast schon hören«, brummte Shahim, der seinerseits Gemüse putzte. »Schon wieder Rübeneintopf, jeden Tag dasselbe«, äffte er unbestimmbare Kritiker nach. »Ich kann es nicht ändern. Die Lagerräume sind so gut wie leer. Es ist nicht meine Schuld, dass uns die letzten beiden Säcke Mehl vergammelt sind.«

Geryim erwiderte nichts, dachte jedoch, dass Shahims Gezeter auch nicht eben angenehm war.

Die Stimmung an Bord ließ allgemein zu wünschen übrig. Die einen fragten sich allmählich, ob sie jemals wieder Land sehen würden. Die anderen sorgten sich um die schwindenden Vorräte. Dazu kam die Frage, was sie in Ethanadar erwartete.

Szaprey hatte sich zwar ungewöhnlich redselig gezeigt und sein Bestes gegeben, um sie auf die Ankunft vorzubereiten. Aber er war als Welpe nach Sunda verschifft worden, weshalb er nur mit den Erinnerungen eines Kindes dienen konnte.

Die Ungewissheit lag als graue Wolke über dem Schiff und schuf Ungerechtigkeiten. Manche hatten Schwierigkeiten mit dem, was in den Sümpfen geschehen war, und hinterfragten die Geschehnisse.

Auch Geryim dachte immer wieder schaudernd an das, was sie hinter sich zurückgelassen hatten. Für ihn ging es jedoch nicht um Verantwortung. In seinen Augen war es nicht Sothorns Schuld, dass die Adelijar erwacht waren. Man hatte ihn benutzt und das konnte ihm nur ein Narr vorwerfen.

Dennoch war es ein erschreckender Gedanke, dass die Adelijar just in diesem Moment dazu ansetzten, die Ordnung in den Städten und Gemeinschaften für immer zu zerstören. Selbst wenn Geryim nie Teil dieser bürgerlichen Ordnung gewesen war. Nicht als Wargssolja, nicht als Assassine.

Shahim zerteilte die geputzte Rübe mit groben Bewegungen zu breiten Stiften, dann warf er sie hinter sich in den Kessel. »Das Salz geht auch aus«, murrte er.

Geryim pfiff durch die Zähne. »Das gibt noch mehr Ärger am Tisch.«

»Dann sollen sie gefälligst selbst kochen.« Shahim rammte das Messer mit der Spitze voran in die Tischplatte, bevor er sich schwerfällig erhob, um ein Dutzend weiterer gelblicher Rüben zu holen. »Ich schlage mich nicht darum.«

»Und das, obwohl du nicht mehr kotzen musst, sobald die See nicht spiegelglatt ist«, zog Geryim ihn mit leiser Belustigung auf.

Shahim verdrehte die Augen. »Insa sei Dank. Ich hätte nicht gedacht, dass man die Seekrankheit loswerden kann. Aber ich bin froh, dass es so ist. Sonst wäre ich längst über Bord gesprungen.«

Es war selten geworden, dass Shahim behauptete, über etwas froh zu sein. Geryim wusste nicht, ob ihn nach wie vor sein verbranntes Bein schmerzte, oder ob es der Verlust der Beweglichkeit war, der ihm zu schaffen machte. Aber er verstand, warum Kara Shahim überredet hatte, die Kombüse zu übernehmen. Andere Mitglieder der Bruderschaft kochten besser als er, doch für Shahim war es wichtig, eine Aufgabe zu haben. Nützlich zu sein. Also lebten sie mit verkochten Rübenschnitzen und pappigem Getreidebrei.

»Gwanja hat sie immer noch nicht überwunden.« Geryim ärgerte sich, dass er es erwähnte, denn sofort stieg Unbehagen in ihm auf.

Er dachte nicht gern über die Brandlöwin nach. Von ihr war es nicht weit bis zu Sothorn und all dem, was zwischen ihnen im Argen lag. Aber er hatte Gwanja heute Morgen im Lagerraum vorgefunden; neben ihr eine Spur Erbrochenes. Den Fisch, den Sothorn ihr hingelegt hatte, hatte sie nicht angerührt, und unter ihrem Fell zeichneten sich die Rippen ab. Wie sollte er da nicht über sie nachdenken?

Er war erfahren genug, um zu wissen, dass Gwanja nicht nur unter dem Seegang litt. Es war auch die beschädigte Verbindung zu Sothorn, die ihr zu schaffen machte. Darin waren sie und Geryim sich sehr ähnlich.

Er hatte es versucht. Er hatte Sothorn gebeten, mit ihm auf dem Vorderdeck zu Abend zu essen, damit sie sich unterhalten konnten. Er hatte versucht, Wege zu bahnen, wo er zuvor keine gesehen hatte. Zweifelsohne war er ungeschickt und trampelte und stolperte eher, als dass er sicheren Schritts voranging. Doch er gab sich Mühe.

Das Problem war, dass das Tier in seinem Innern nur selten Ruhe gab. Je gewissenhafter er es und letztendlich sich selbst beobachtete, desto mehr fürchtete er, auf verlorenem Posten zu kämpfen. Hatte er früher in erster Linie sein inneres Stachelschwein und seine Sucht händeln müssen, kam nun hinzu, dass er Sothorn nicht erreichen konnte.

Geryim konnte mit ihm schlafen, es hart oder sanft angehen lassen, ihn küssen oder mit grobem Griff gegen die nächste Wand drängen. Aber ihr Miteinander betraf nur ihre Körper und das – Geryim hätte es nie für möglich gehalten – schmerzte eher als zu befriedigen.

Manchmal, wenn Sothorn nach gestillter Lust neben ihm lag und aus leeren Augen an die Decke starrte, dachte Geryim, dass er sich genauso gut ein Astloch hätte vornehmen können. Wahrscheinlich wäre es zugänglicher gewesen.

Ohne es zu wollen, wandte er sich innerlich Syv zu und lieh sich dessen Sinne. Sein treuer Freund saß im Krähennest und putzte sich das Gefieder, während er über die blaugraue Decke des Meeres in die Ferne spähte.

Mit einem sanften, geistigen Stoß bat er Syv, den Blick stattdessen über das Deck schweifen zu lassen. Kaum, dass der Blauschwanzadler ihm den Gefallen getan hatte, traf Geryim ein feiner Stich in die Brust.

Syv hatte Sothorn erspäht. Er stand hinten am Heck und er war nicht allein. Wie so oft in letzter Zeit war Thalid bei ihm. Die beiden unterhielten sich miteinander. Es sah nicht nach einem fröhlichen Gespräch aus, nicht nach Gelächter oder Frotzeleien. Geryim war trotzdem eifersüchtig.

Sothorn redete nur selten mit jemandem – und Geryim ertappte sich dabei, dass er rasch neidisch wurde, wenn er die wenigen Worte, die er sich abringen konnte, nicht ihm schenkte. Das war albern, wie ihm sehr wohl bewusst war. Dennoch gab es etwas in ihm, das Thalid am liebsten einen Tritt versetzt hätte.

Genauso war es ihm ergangen, als er vor ein paar Tagen in ein abendliches Gelage gestolpert war und Sothorn mit Varn in einer Ecke vorgefunden hatte. Sie waren beide betrunken gewesen und hatten sich gegenseitig in die Hose gegriffen, um sich mit ihrer Lust auszuhelfen.

Das an sich war nichts Besonderes. Geryim hatte selbst bei jedem Mann der Bruderschaft gelegen, der dem eigenen Geschlecht nicht abgeneigt war. Während der Überfahrt hatte er zweimal mit Shahim geschlafen, nachdem der sich mit Kara gestritten und Erleichterung gesucht hatte.

Er erwartete auch nicht von Sothorn, dass er sich ausschließlich an ihn hielt. Aber zuzusehen, hatte trotzdem wehgetan.

Weil Sothorn nicht aufgeblickt und ihn vielsagend angegrinst hatte. Weil er ihm nicht zugezwinkert hatte, damit er sich ihnen anschloss. Weil er während des ganzen Akts mit steinerner Miene auf der Seite gelegen hatte und Geryim bis zum Schluss nicht sicher gewesen war, ob er überhaupt gemerkt hatte, dass eine Hand um seinen Schwanz lag.

Sothorn hatte sich verändert – und das ausgerechnet in dem Augenblick, in dem Geryim zu dem Schluss gekommen war, dass er um ihn kämpfen wollte.

Nun hatte er es mit einem neuen Gegner zu tun bekommen. Nicht mit seinem Erbe, nicht mit der Sucht, nicht mit der Angst zu verletzen, was er liebte, sondern mit der steinernen Wand, hinter der Sothorn sich verkrochen hatte.

Noch war Geryim bei Kräften. Noch gelang es ihm, ein Gleichgewicht zu halten. Aber der Grat, auf dem er sich bewegte, war schmal und verlangte ihm mit jedem Tag mehr ab. Nicht mehr lange, und er würde fallen.

Syvs Kopf ruckte so plötzlich herum, dass Geryim schwindelig wurde. Für einen Augenblick hatte er Zeit, sich an den neuen Blickwinkel zu gewöhnen, dann wurde er von einer zweiten Welle des Schwindels überfallen, als Syv die Flügel ausbreitete. Rasend schnell gewann er an Höhe. Bald darauf wirkte die Henkersbraut nicht länger wie ein hochseetüchtiges Schiff, sondern wie eines jener winzigen Modelle, die geschickte Handwerker wie durch Zauberei in Flaschen bauten.

Syv schrie. Einmal, zweimal. Dann legte er sich in den Wind und ließ sich pfeilschnell nach Westen tragen.

Geryim rang nach Luft, denn er hatte das Gefühl, dass es seine Lungen waren, die von der Geschwindigkeit zerdrückt wurden. Rasch löste er die Verbindung zu Syv und wünschte ihm einen guten Flug. Gleichzeitig bedankte er sich bei ihm, denn mit dem letzten Bild hatte er entdeckt, worauf sie gewartet hatten.

»Wenn die anderen sich nachher über das Essen beschweren, kannst du ihnen sagen, dass sie bald etwas Besseres bekommen werden«, sagte er zu Shahim. »Syv hat Land entdeckt.«

Shahim hob die Faust in die Luft und zeigte sein selten gewordenes Lächeln. »Endlich.«

Und obwohl Geryim nicht wusste, was sie in Ethanadar erwartete, stimmte er ihm zu. Es konnte nicht schlimmer sein als das, was sie in Sunda zurückgelassen hatten.

Kapitel 2

Weiße Mauern, starre Blicke

Die Wachtürme zogen sich die Küste entlang; manche aus Holz, manche aus einem hellen, freundlich wirkenden Kalkstein, der über ihren Zweck hinwegtäuschte. Auf ihren Plattformen brannten Feuer, die selbst im hellen Licht des Nachmittags weithin zu sehen waren.

»Warum lassen sie tagsüber Feuer brennen? Warum entzünden sie sich nicht nur im Fall eines Angriffs, wie man es in Auralis oder Balfere hält?«, fragte Kara stirnrunzelnd. »Sie müssen eine Unmenge an Feuerholz verschwenden.«

»Um zu zeigen, dass sie immer Wache halten«, antwortete Szaprey zähnefletschend. »Wenn es wirklich zu einem Angriff kommt, gießen die Wachleute Öl in die Flammen, sodass sie in die Höhe schlagen. Dann sind die umliegenden Türme gewarnt und können die Nachricht weitergeben.«

Sothorn, der gemeinsam mit einem runden Dutzend seiner Kameraden backbord an der Reling der Henkersbraut lehnte, ließ seinen Blick musternd über die Küstenlinie wandern. Sie war flach und ging nach schmaler Uferzone ins offene Land über. In der Ferne zeigten sich dunkle Flecken, an denen sich Wälder erhoben, und endlose Grünflächen, die sich über geschwungene Hügel zogen. Die alle paar Hundert Schritt auftauchenden Türme wirkten wie lieblos aus dem Boden gestampfte Entweihungen eines makellosen grünen Seidenteppichs.

»Wen fürchten sie, dass sie ihre Küste so entschlossen abschirmen?«, erkundigte er sich und merkte erst mit Verspätung, dass er gar nicht genau wusste, wer sie waren.

Sothorn wusste nicht viel über Ethanadar. Nur, dass der ferne Kontinent angeblich die größte der drei bekannten Landmassen und ursprünglich die Heimat der Roaq gewesen war. Doch seit einigen Jahrhunderten fassten auch die Handelsherren in Ethanadar Fuß – und zwar nicht auf jene hintergründige Art, für die sie in Sunda berüchtigt waren, sondern auf die alte Weise: mit Stahl und Schild. Aber welcher Handelsherr die Vorherrschaft über welche Gebiete für sich beanspruchte, ob sie als geschlossene Front oder Einzelkämpfer auftraten, wusste Sothorn nicht.

Szaprey lachte heiser. »Entschlossen abschirmen? Ha, die paar Wachtürme sind nichts gegen das, was die Menschen dem Inland angetan haben. Sie dienen höchstens als Zeugnis ihrer Macht, sind praktisch ihre Pisse, mit dem sie das Land beanspruchen. Die feinen Menschen wissen sehr wohl, dass wir Roaq keine Schiffe bauen und niemals vom Meer aus angreifen würden.«

Sothorn nagte an seiner Unterlippe. Szaprey stand neben ihm und er konnte dessen Anspannung und Unruhe spüren. Ihnen allen war die Reise über das Meer lang geworden, doch niemandem so sehr wie Szaprey.

Theasa hatte ihn aus Prinzip noch eine Weile in Fesseln gehalten, bevor sie sein freches Angebot angenommen hatte. Wie hätte sie anders entscheiden können, wenn Sunda verloren war und man ihnen eine Freiheit anbot, auf die keiner von ihnen zu hoffen gewagt hatte?

Doch nach zwei Wochen war Szaprey aus dem Lagerraum befreit worden und in die Arme der Bruderschaft zurückgekehrt. Und genau, wie Sothorn vermutet hatte, gehörte Theasa zu den wenigen, die ihm seinen Alleingang noch übel nahmen. Die Begeisterung, in Zukunft in der Lage zu sein, eigenständig Zenjanischen Lotus herzustellen, hatte jeden Zweifel an Szapreys Gesinnung überstrahlt.

Und letztendlich, so dachte Sothorn, konnte er das sehr gut verstehen. Er selbst hatte der Bruderschaft eine Zukunft in Sunda gestohlen; ob Vorsatz oder nicht. Szaprey hingegen bot ihnen eine Heimat an, Unabhängigkeit von ihrem grausigen Tagwerk und mit etwas Glück in seinem Stamm und Volk sogar Verbündete. Er gab ihnen viel mehr, als er ihnen mit seiner Geheimniskrämerei gestohlen hatte.

Und für Janis' Opfer, so grausam es gewesen war, war er nicht verantwortlich.

Sothorn stieß sich von der Reling ab und schlenderte zum Vordeck. Er war des Wartens müde. Da sie über keine Seekarte verfügten, konnte keiner von ihnen sagen, wo sie auf die Küste Ethanadars gestoßen waren und wann sie die erste Siedlung erwarten durften.

Beim Anblick der ersten Wachtürme war seine Aufregung ähnlich groß wie die seiner Freunde gewesen. Doch nun – hundert oder mehr Türme später – ahnte er, dass ihre Anwesenheit nicht zwingend bedeutete, dass sie bald auf eine Stadt oder wenigstens ein Küstendorf treffen würden, in dem sie ihre Vorräte auffüllen konnten.

Auf welche Weise auch immer, fügte er gedanklich hinzu.

Um die Geldmittel der Bruderschaft stand es nach wie vor schlecht. Bevor sie zu ihrer langen Überfahrt aufgebrochen waren, hatten sie auf Namur haltgemacht und sich dort des ein oder anderen Taschendiebstahls und nicht ganz ehrlichen Glücksspiels bedienen müssen. Auch hatten sie ihre Vorräte nicht unbedingt auf redliche Weise erworben. Nun betraten sie neuen Boden und ein Teil von Sothorn wünschte, sie könnten mit Sunda auch alte Unarten hinter sich lassen.

Doch wie sollte man redlich werden, wenn die Nahrung knapp wurde und es eine Menge Bäuche zu füllen galt?

Es war nur eine von vielen Fragen, die in den vergangenen Wochen wiederholt diskutiert worden waren. Letztendlich waren sie übereingekommen, dass sie erst die Gegebenheiten vor Ort ergründen mussten, bevor sie weitere Pläne schmieden konnten.

Fest stand lediglich, dass Szaprey einen Preis für seine Dienste als Alchemist und die Beschaffung des kostbaren Rezepts verlangte: Er wollte in die Heimat, in die Steppe, zurückkehren und seine Familie wiederfinden. Es war nicht daran zu denken, dass sie ihn allein ziehen ließen – und soweit Sothorn es verstanden hatte, war es auch nicht das, was Szaprey im Sinn hatte. Wenn es nach ihm ging, würden sich nicht nur sein Heimweh, sondern auch die Sorgen der Bruderschaft in Wohlgefallen auflösen, sobald sie seinen Stamm gefunden hatten.

Sothorn fand die Vorstellung sowohl befremdlich als auch verlockend. Befremdlich, weil er zwar an Szaprey gewöhnt war, sich jedoch fragte, wie er sich inmitten eines Rudels Roaq fühlen würde. Verlockend, weil ihm das Bild, das Szaprey von ihrer Zukunft gezeichnet hatte, überraschend gut gefiel. Es versprach Beständigkeit und mit der Beständigkeit hoffentlich Ruhe und etwas Frieden.

Sothorn setzte sich auf die von der Sonne gewärmten Planken, verschränkte die Beine und stützte den Kopf in die Hände. Der Wind roch bereits nach Wachstum und Land. Nach einer Zukunft, die sich jenseits seiner Vorstellungskraft bewegte.

Wahrscheinlich waren aus eben diesem Grund anfangs so viele ihrer Mitstreiter nicht damit einverstanden gewesen, sesshaft zu werden.

»Wer sagt, dass wir in Ethanadar einen Flecken Erde finden, an dem wir willkommen sind?«, hatte Kara schon während der ersten Debatte eingeworfen.

»Sehen wir etwa aus wie Bauern?«, hatten Morkar und Cregh fast gleichzeitig gefragt, auch wenn Morkar entrüstet geklungen hatte und Cregh eher so, als bezweifelte er ihre Fähigkeiten, etwas wachsen zu lassen, statt zu töten.

Auch jetzt gab es nach wie vor Unstimmigkeiten und Verunsicherung unter den Assassinen – aber auch Ideen, Hoffnungen und kleine, fast scheue Träume von der Jagd, Viehzucht, selbst gebrautem Bier und einer Unabhängigkeit, wie sie bisher keiner von ihnen kennengelernt hatte.

Während Sothorn sich über die spannende Kopfhaut strich – er wachte oft mit Kopfschmerzen auf und ging auch wieder mit ihnen zu Bett –, fragte er sich, wo sein Platz in diesem neuen Gefüge sein würde. Wie üblich fand er keine Antwort. Es war, als hätten sie Schiffbruch erlitten, aber während die anderen nach dem ersten Schreck mit kräftigen Zügen auf das rettende Ufer zuschwammen, zappelte er hilflos im Wasser und drohte unterzugehen.

Wie konnte er sich den Menschen, die ihm vor nicht allzu langer Zeit fast wie eine Familie vorgekommen waren, auf einmal fremd fühlen? Waren es seine Schuldgefühle, die ihn von ihnen trennten? Aber wenn das der Fall war, wieso erging es ihm dann mit Gwanja genauso?

Nein, es waren nicht nur Schuldgefühle, die ihn von den anderen distanzierten. Es ging um mehr. Etwas in ihm war zerbrochen und er wusste nicht, wie er es reparieren sollte. Ob man es überhaupt reparieren konnte.

Er war einsam. Auf einem Schiff voller Menschen – und einem Roaq –, inmitten von Freunden, mit einer tierischen Begleiterin, die ihm durch den Kopf spukte, und sogar einem Liebhaber, der sich zuletzt erstaunlich zahm gezeigt hatte, war er einsam. Dass er seine Gefährten tagtäglich sehen, sie sogar berühren konnte, machte es nicht besser, sondern schlimmer.

Die Adelijar hatten ihn nicht nur benutzt, sondern auch bestohlen. Sie hatten…

Unten an der Reling wurden Stimmen laut. Sothorn hörte Theasas Krächzen heraus, gefolgt von vielstimmigem Gemurmel und schließlich einem deftigen Fluch.

»Nun sei nicht dämlich«, fuhr Varn Theasa an. »Nimm ihn schon. Du weißt, was eine Waffe dieser Kunstfertigkeit wert ist!«

Zustimmendes Wispern, ein Klopfen, als würde jemandem der Rücken getätschelt.

Sothorn reckte den Hals und sah gerade noch, wie Varn grob Theasas Finger öffnete und ihr seinen Gratschleifer – einen Langdolch mit Blutrinne – in die Hand legte. »Es ist mir ernst: Verkauf ihn. Es würde mich nicht wundern, wenn er hier noch mehr Silber einbringt als in Auralis. Wir haben alle die Rübenschnitzel satt…«

Shahim, der sich am Mast herumdrückte, zischte vernehmlich.

»… und wollen mal wieder Brot und Fleisch zwischen die Zähne bekommen.«

»Egal, wie schlecht es uns ging, wir haben noch nie unsere Klingen verkauft«, protestierte Theasa. »Sie sind unser Handwerkszeug. Du bist doch hoffentlich nicht so gutgläubig davon auszugehen, dass wir in Ethanadar keine Waffen mehr brauchen werden, oder?«

Varn warf die Hände in die Höhe. »Natürlich nicht.« Für Sothorn klang es nicht ganz überzeugend. »Hältst du mich für einen Narren? Ich habe noch einen zweiten Gratschleifer und ein Dutzend anderer Waffen in meinem Bündel. Sonst würde ich dir diesen kaum überlassen.«

Ihr Geplänkel dauerte an, aber Sothorn hörte nicht länger zu. Stattdessen tastete er nach seinen Klingen in den Unterarmscheiden. Er bewunderte Varns Freigiebigkeit. Ihre Waffen waren nicht nur wichtig für sie, sondern auch über ihren Materialwert hinaus kostbar. Sothorn hatte Zweifel, dass er sich ohne seine Klingen jemals wohl in seiner Haut fühlen würde.

Aber vielleicht war Varns Opfer ein Zeichen. Vielleicht gingen sie einer neuen Zeit entgegen, in der sie zwar nicht unbewaffnet sein, aber etwas weniger Metall am Körper tragen würden. Eine gleichermaßen grauenvolle wie aufregende Vorstellung.

Das Tapsen von Pfoten ließ Sothorn den Kopf wenden. Gwanja kam auf ihn zu, den Bauch dicht am Boden und die Ohren halb angelegt. Er wusste nicht, wo sie herkam, und das machte ihm zu schaffen. Früher hatte er stets geahnt, wo sie sich befand; selbst wenn er nicht an den geistigen Fäden zupfte, die sie verbanden. Nun war er auf seine Augen angewiesen – und sie zeigten ihm etwas, das ihm wehtat.

Er streckte die Hand aus, doch Gwanja zögerte. Ihre Augen waren stumpf und an den Vorderbeinen fehlte ihr das Fell. Die darunter hervortretende Haut war gerötet und wund, weil Gwanja sich stundenlang über Pfoten und Beine leckte. Sie litt und Sothorn konnte ihr nicht helfen.

»Tut mir leid«, flüsterte er ihr zu. »Tut mir leid, dass ich nichts für dich tun kann.«

Sie musterte ihn gequält, trat von einem Fuß auf den anderen, als hätte sie Schwierigkeiten, das Gleichgewicht zu halten, und setzte sich dann auf die Hinterbeine. Langsam senkte sie den Kopf und legte ihn auf sein Knie. Sothorn lächelte traurig und strich ihr über Stirn und Ohren, bis sie sich endgültig fallen lassen ließ. Ihr Schädel legte sich an seinen Oberschenkel und er hatte einen allzu guten Ausblick auf ihren ausgemergelten Brustkorb.

»Es ist fast vorbei«, sagte er laut. Seine innere Stimme erreichte sie nicht zuverlässig. »Du riechst das Land auch, nicht wahr? Bald gehen wir von Bord. Dann wird alles besser.«

Er hätte ihr lieber versprochen, dass mit ihrer Ankunft in Ethanadar alles gut werden würde. Aber das wagte er nicht. Nicht, wenn er selbst nicht daran glaubte.

***

Die Ausmaße der Stadt, auf die sie am Ende der langen, eng zulaufenden Bucht getroffen waren, waren gewaltig. Sie war nicht größer als Auralis oder eine der anderen Küstenstädte Sundas, aber sie wirkte trutziger, massiver, bedrohlicher.

Die schlanken Wachtürme waren auf den letzten Meilen ebenfalls breiter und standfester geworden, die Zinnen höher. Irgendwann war Mauerwerk zwischen ihnen aufgetaucht, das sich als strahlend weißer Wurm das Ufer entlang wand und schließlich in die fast turmhohen Wälle der Stadt überging.

»Das muss Qortonshall sein«, sagte Theasa. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass es eine größere Stadt an der Küste geben soll. Oder eine, die einen gewaltigeren Hafen besitzt.«

Von einem Hafen zu sprechen, traf es nicht ganz. Vielmehr sahen sie sich einem Geflecht aus Anlegern gegenüber, die mit wuchtigen Pfählen auf dem Grund der Bucht verankert waren. Die Schiffe, die sich daran aufreihten, ließen die Henkersbraut wie ein verlorenes Schaf inmitten einer Herde behornter und kampferprobter Rinder wirken.

»Ist es.« Szapreys Stimme war so hasserfüllt, dass sich alle zu ihm umwandten – auch Geryim, der sich halb in die Wanten hochgezogen hatte, um einen besseren Blick auf die fremde Stadt zu erhaschen. »Das ist Qortonshall, die Geißel von Ethanadar.«

Niemand erwiderte etwas, aber Geryim ließ sich aufs Deck hinab und gesellte sich zu seinem Freund, um ihm den Arm um die Seite zu legen. Er kannte nicht alle Einzelheiten von Szapreys Vorgeschichte, wusste jedoch, dass er als Kind – oder Welpe – in Gefangenschaft geraten und nach Sunda verschifft worden war. Erst dort war er verkauft und zum Meuchelmörder ausgebildet worden. Und da Qortonshall der größte Seehafen diesseits des Meeres war, war es sehr wahrscheinlich, dass Szapreys Reise an diesem Ort begonnen hatte. Er musste mit vielen dunklen Erinnerungen verbunden sein.

»Geißel oder nicht, wir werden an Land gehen«, verkündete Theasa. »Nicht alle auf einmal, aber genug, um ein paar Sack Getreide und andere Vorräte zu besorgen.« Sie fingerte missmutig an dem Dolch, den Varn ihr überlassen hatte. »Aily, du übernimmst die Führung an Bord. Cregh, Kara und Szaprey, ihr begleitet mich.« Sie zögerte. »Thalid, du solltest besser auch mitkommen.«

»Nein«, antworteten Szaprey und Thalid gleichzeitig.

Theasa schob das Kinn vor. Eine Geste, die Geryim in letzter Zeit oft bei ihr bemerkt hatte. Jedes Mal, wenn sie sich Widerstand aus den eigenen Reihen gegenübersah, genau genommen.

»Das war keine Bitte«, schnarrte sie. »Ich brauche eine Gruppe, die nicht zu bedrohlich wirkt…« Geryim hätte beinahe aufgelacht. »… und will trotzdem diejenigen dabeihaben, die mehr über diesen Ort wissen als ich.«

Das ergab Sinn. Cregh und Kara gehörten zu denen unter ihnen, die schnell mit einer fremden Menschenmenge verschmolzen. Cregh, weil ihm Alter und gutes Essen eine gewisse Milde verliehen hatten, Kara, weil sie mit ihrem sonnigen Gemüt Fremde für sich einnahm. Bei Thalid war es ähnlich: Sie wirkte unscheinbar und gesittet, eine harmlose Städterin, der man kaum zutraute, dass sie mit einem Wimpernschlag Häuser in Brand aufgehen lassen konnte. Und genau wie Szaprey wusste sie vielleicht nicht viel über Qortonshall, aber immer noch mehr als die anderen.

»Ich würde gern helfen, aber ich halte das wirklich für keine gute Idee.« Thalids Stimme überschlug sich und ihre Nase wurde vor Aufregung rot. »In Qortonshall gibt es ein Schwesterhaus der Akademie. Es heißt, die Großmeister stünden nicht nur über Briefe untereinander in Verbindung. Es könnte also sein, dass sie von mir wissen. Von dem, was wir angerichtet haben…«

»Und ich bin ein Roaq«, fuhr Szaprey fort, als wäre es einem von ihnen entfallen, dass er über eine Schnauze und ein behaartes Gesicht verfügte. »Die menschlichen Eindringlinge liegen mit meinem Volk im Krieg, wie ihr sehr wohl wisst. Keiner von uns kann sagen, ob derzeit Waffenstillstand herrscht und du verlangst von mir, dass ich den Brückenkopf des Feinds betrete?«

Theasa rieb sich den Nasenrücken. Zweifelsohne war sie sich der Gefahr für Thalid nicht bewusst gewesen, aber Szapreys Lage hätte sie vorhersehen müssen. Sie machte in letzter Zeit viele Fehler. Nicht nur ihr war das bewusst, sondern auch der Bruderschaft.

»Von mir aus«, giftete sie schließlich. »Dann eben…« Ihr Blick huschte zu Geryim, blieb an ihm hängen und wanderte zum Vordeck, wo Sothorn saß. »Sothorn! Du begleitest mich!«

Geryim sah, wie sein Gefährte zusammenzuckte und mit ihm Gwanja, die zwischen seinen Beinen gelegen und gedöst hatte. Schwerfällig kam Sothorn auf die Beine – der Widerwillen war ihm anzusehen – und die Treppe hinunter.

»Kann ich Gwanja mitnehmen? Sie hält es nicht mehr länger auf dem Wasser aus.«

Seine stumpfe, irgendwie hohle Sprechweise versetzte Geryim eine Gänsehaut.

Theasa grollte. »Sonst noch Wünsche? Natürlich kannst du nicht mit einem verdammten Löwen in einer Stadt herumlaufen, in der man wahrscheinlich noch nie von den Wargssolja und ihren Viechern gehört hat! Ich bitte dich! Wie stellst du dir das vor?«

Sothorn senkte den Blick. »Schon gut. Es ist nur…«

Geryim konnte ihn verstehen. Jedes Mal, wenn Syv verletzt war oder sich den Magen verdorben hatte, kam es ihm vor, als wäre er selbst krank. Und dass Sothorns und Gwanjas Verbindung beschädigt war, machte es schlimmer. Vielleicht fühlte Sothorn ihren Schmerz nicht so tief wie unter anderen Umständen, aber das bedeutete nicht, dass er weniger an ihr hing oder weniger mit ihr litt.

»Ich gehe mit ihr an Land«, bot Geryim an. »Ich nehme eines der Beiboote und setze ans Ufer über, irgendwo jenseits der Anleger.« Er deutete vage in die Richtung, in der sie zuvor einen in die Bucht mündenden Flusslauf passiert hatten.

Der Blick, mit dem Sothorn ihn bedachte, sprach von reiner Dankbarkeit. Aber als er antwortete, mangelte es ihm an der Begeisterung, die er früher für einen Landgang aufgebracht hätte. »Dann soll es mir recht sein.«

Theasa zog ein Gesicht, als wollte sie ihn daran erinnern, dass es nicht nach seinen Wünschen, sondern nach ihren Befehlen ging.

Doch bevor sie dazu kam, humpelte Shahim auf Sothorn zu. »Da ich offensichtlich nicht gebraucht werde, gebe ich dir eine Liste mit Kräutern, die mir fehlen«, sagte er dumpf. »Du wirst wahrscheinlich nicht alles bekommen, aber denk daran: Jedes Gewürz, das du findest, erspart uns zukünftiges Gemäkel am Essen.«

»Ich gebe mein Bestes«, versprach Sothorn in demselben lustlosen, abwesenden Tonfall wie zuvor. Dann schob er die Wachstafel, die Shahim ihm reichte, unter sein Lederwams.

Geryim musste sich zwingen, ihn nicht am Handgelenk zu packen, in eine ruhige Ecke zu zerren und durchzuschütteln, bis ihm die Zähne klapperten. Manchmal wollte er Sothorn sogar schlagen. Nicht, um ihn zu bestrafen, sondern um dessen altes Ich an die Oberfläche zu prügeln. Er vermisste nicht nur Sothorns Leidenschaft, sondern auch seine Geduld, seine Weitsicht, seine Neugier, sogar seine stumme Sehnsucht, wenn sie sich des Nachts voneinander verabschiedeten, statt nebeneinander einzuschlafen. Er vermisste es, mit ihm zusammen zu sein, statt mit dem Schatten, der jetzt manchmal mit ihm das Lager teilte.

Zu spät, hallte jene hässliche, nach Alter und Siechtum klingende Stimme in Geryim wider, die er zu hassen gelernt hatte. Als du ihn erreichen konntest, warst du zu feige. Als er dir noch zuhören wollte, warst du stumm. Und jetzt, wo du zu kämpfen bereit bist, hat er das Schlachtfeld verlassen.

Und das Schlimmste war, dass Geryim befürchtete, dass Sothorns schlechte Verfassung zumindest zum Teil seine Schuld war. Oder anders gesagt: Er fragte sich, ob Sothorn besser mit den Nachwehen der Manipulationen der Adelijar zurechtgekommen wäre, wenn er einen Gefährten gehabt hätte, der ihm darüber hinweghalf.

»Biete ihr bitte etwas zu fressen an«, sprach Sothorn ihn plötzlich an. Er nestelte an seinen Unterarmklingen und sah Geryim nicht an. »Sie hat Hunger, aber sie konnte in den letzten Tagen kaum etwas bei sich behalten.«

»Gut. Mach ich.«

Geryim wollte viel mehr sagen. Dass er für Gwanja jagen und auch Syv bitten würde, für sie Beute zu schlagen. Dass er für Gwanja nackt in den eiskalten Fluss springen würde, um ihr Fisch zu bringen. Dass er bereit war, sie zu verhätscheln wie ein krankes Kind.

Im Grunde war sie das auch: eine junge, kranke Brandlöwin, die ihm auf drei Arten kostbar war. Als schützenswertes und von Gor gesegnetes Tier, als Begleiterin eines Wargssolja und als Teil von Sothorns Seele.

Geryim verließ die Henkersbraut, bevor sie einen freien Anleger erreichten. Gwanja war so sehr darauf erpicht, festen Boden unter den Füßen zu spüren, dass sie sich nur kurz nach Sothorn umsah, bevor sie ins Boot sprang. Vielleicht half es ihr, dass Syv sich einen Platz auf der freien Ruderbank gesucht hatte, statt die kurze Strecke fliegend zu überwinden.

Morkar und Liliane kurbelten, um das Boot auf Wasserhöhe abzusenken, und bald ruderte Geryim mit kräftigen Schlägen auf das Ufer zu. Die Bucht lag spiegelglatt vor ihm und er war froh um jede Welle, die Gwanja erspart blieb.

Kaum, dass unter dem Kiel Sand knirschte, sprang sie ins flache Wasser und stürmte in langen Sprüngen an den Strand. Doch statt von dort ins weite Land zu flüchten, wie Geryim für einen Moment befürchtete, sackte sie im Schatten der Böschung in sich zusammen. Hektisch grub sie die Pfoten in den Sand, knetete ihn durch, als könnte sie es nicht fassen, dem Meer entronnen zu sein.

Geryim vertäute das Boot, dann gesellte er sich zu ihr. Er setzte sich ein Stück von ihr entfernt hin und lächelte, als sie den Kopf an einem trockenen Büschel Strandhafer rieb. Er würde ihr etwas Zeit lassen, aber dann wollte er sie auf den Fluss zutreiben. Sie musste trinken und das kühle Flusswasser würde ihr besser bekommen als das, was sie an Bord gehabt hatten.

In der Ferne sah er die Henkersbraut beidrehen und auf einen der Anleger zusteuern. Bald würde Theasa mit ihren Auserwählten in die Stadt aufbrechen. Ihn hatte sie übergangen und Geryim wusste, warum. Doch anders als früher störte es ihn kaum, dass sie ihn für zu launisch und unwirsch hielt, um ein guter Händler zu sein. Es gab Wichtigeres.

Gedanklich wandte er sich an Syv. Steig auf, mein Freund. Und wenn du einen Hasen entdeckst, schlag ihn für uns. Gwanja ist krank. Sie braucht uns.

Wenn er Sothorn schon nicht helfen konnte, dann wenigstens Gwanja.

Kapitel 3

Weite Plätze, scharfe Stimmen

»Name und Grund eures Besuchs oder euren Passierschein.«

Ungläubig starrte Sothorn die auf einen Speer gestützte Wachfrau an. Seinen Begleitern erging es nicht anders. Die Frage war eine von mehreren Absonderlichkeiten, mit denen sie es seit dem Anlegen zu tun bekamen, und allmählich reichte seine Verwunderung so weit, dass sie die Dunkelheit in seinem Kopf nach hinten drängte.

»Wie bitte?«, erkundigte sich Kara höflich. Nachdem sich Theasa mit dem Hafenmeister angelegt hatte, weil er mit Kreide ein paar unverständliche Zahlen an den Rumpf der Henkersbraut gemalt hatte, hatten sie gemeinsam entschieden, Kara für sie sprechen zu lassen, solange sie in der Stadt unterwegs waren.

Die Wachfrau verzog den Mund und verdrehte die eng stehenden Augen. »Name und Zweck eures Besuchs oder euren Passierschein. Je nachdem«, wiederholte sie. »Und ein bisschen plötzlich, wenn ich bitten darf. Sonst bekommt ihr den Unmut der anderen zu spüren.«

Sie bezog sich auf die Warteschlange, in der sie sich im Verlauf der vergangenen Stunde auf das Stadttor zugearbeitet hatten. Sothorn hatte sich gewundert, warum sie so langsam vorankamen, nun verstand er den Grund: Offenbar wurde der Zutritt nach Qortonshall streng reguliert.

»Einen Passierschein haben wir nicht«, erklärte Kara bemüht lächelnd. »Wir… Wir sind gerade erst übers Meer gekommen und waren noch nie in Qortonshall. Oh, und wir möchten unsere Vorräte auffüllen.«

Die Wachfrau seufzte theatralisch, rief einem Wachmann zu, dass er ihren Platz einnehmen solle, und bedeutete ihnen anschließend, ihr zu einem Schreibpult im Schatten der hellen Mauern zu folgen.

»Also noch grün hinter den Ohren. Dann will ich euch mal die Regeln erklären«, begann sie eine Spur freundlicher. Sie legte ihren schweren Panzerhandschuh ab und nahm einen bereitliegenden Griffel zur Hand. »Qortonshall steht derzeit unter Kriegsrecht. Das bedeutet, dass der Zugang beschränkt ist. Jeder, der die Stadt betreten will, muss seinen Namen hinterlegen, angeben, welchen Geschäften er nachgehen will, und auch, wie lange er bleiben wird. Eine Ausnahme gilt für die Besucher, die vom Stadtrat, der Akademie oder der Garnison einen Passierschein ausgestellt bekommen haben.«

Sothorn dachte an Thalids Weigerung, die Stadt zu betreten, und war froh, sie auf der Henkersbraut in Sicherheit zu wissen. Offenbar stellte die Ikir-Akademie auch hier eine machtvolle Größe dar.

»Unter Kriegsrecht? Was bedeutet das für uns?«, fragte Kara nach einem Seitenblick zu Theasa und Cregh. »Dass wir keine Vorräte bekommen können, weil alle Nahrung für Feldzüge oder Ähnliches gebraucht wird?«

Die Wachfrau feixte. »Unfug. An Vorräten mangelt es uns nun wirklich nicht. Die verdammten Roaq kommen nicht mal in die Nähe unserer Höfe und Jagdgründe. Nein.« Ihre Miene wurde eindringlich. »Es bedeutet, dass wir keine Zeit und Muße haben, uns mit Taschendieben und anderem Gesindel herumzuschlagen. Wer die Hand in fremde Beutel steckt, verliert sie. Den Anweisungen der Wachen sind immer und überall Folge zu leisten. Trunkenheit ist strengstens verboten und wer nach der Sperrstunde zum zehnten Stundenschlag auf der Straße angetroffen wird, landet im Gefängnis oder am Pranger. Außerdem gibt es keine bürgerlichen Gerichtsverhandlungen. Strafen fallen in das Ermessen unseres Kriegsherrn und werden ohne Möglichkeit auf Widerruf vollstreckt. Ihr tut also gut daran, euch vorbildlich zu benehmen.«

Sothorn lauschte den Erläuterungen, ohne mit der Wimper zu zucken. Er war sich sicher, dass auch die anderen Meuchelmörder keine Miene verzogen. Keiner von ihnen wäre noch am Leben, wenn sie sich in der Vergangenheit von ein paar harschen Worten hätten verunsichern lassen.

Dennoch war er besorgt. Die Verkündung des Kriegsrechts schien zu bedeuten, dass man sich vor der Willkür bewaffneter Soldaten hüten musste und dass Verbrechen nicht nur schnell geahndet, sondern auch böswillig zugeschoben werden konnten. Und Sothorn konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass die Kommandanten zimperlich waren. Der Platz in den Verliesen musste begrenzt sein, was im Umkehrschluss bedeutete, dass Fallbeil und Henkersseil recht locker sitzen dürften.

Kara strich sich eine Strähne hinters Ohr. »Nun denn, nichts davon dürfte uns betreffen. Wie gesagt: Wir haben gerade erst die Überfahrt hinter uns gebracht und möchten gern Getreide, Trockenfleisch und Wasser laden, bevor wir weiter nach Westen segeln«, log sie, ohne rot zu werden. »Die Namen meiner Begleiter lauten Janis, Caros und Mina. Und ich bin Ranaia.«

Sothorn musste sich auf die Zunge beißen. Nicht nur, dass sie mit Janis und der Behauptung, Ranaia zu heißen, die Namen zweier Gefallener ins Spiel gebracht hatte. Er befürchtete auch, dass die Wachfrau Cregh oder ihn mit seinem vermeintlichen Namen ansprechen könnte. Was, wenn sie beide reagierten? Oder gar keiner?

Vielleicht hatte er sich durch einen zu tiefen Atemzug oder ein Zucken verraten, denn plötzlich musterte die Wachfrau ihn scharf. Er bereitete sich innerlich darauf vor, angesprochen zu werden, doch dann glitt ihr Blick weiter zu Kara, um schließlich an Theasa hängen zu bleiben.

Schließlich zuckte sie die Schultern und notierte etwas auf ihrer Schriftrolle. Leise wiederholte sie die Namen und fragte schließlich, wie lange sie bleiben wollten.

»Nur heute. Über Nacht würden wir gern im Hafen bleiben, falls wir dürfen. Morgen früh segeln wir weiter.«

Sie hatten nichts dergleichen abgesprochen, aber Sothorn war froh über Karas spontanen Entschluss. Obwohl sie die Stadt noch gar nicht betreten hatten, war ihm unbehaglich zumute.

»Hm.« Die Wachfrau zog einen Schnörkel auf dem Pergament und holte dann eine Schachtel aus dem Pult, in der sich eine Reihe geprägter Wachssiegel an Lederbändern befanden. Sie reichte Kara vier von ihnen. »Tragt sie offen an der Kleidung. Sie haben nur heute Gültigkeit. Wenn ihr morgen mit diesem Siegel gesehen werdet oder erst gar keines tragt, lernt ihr das Verlies kennen.«

»Keine Sorge, morgen sind wir schon lange verschwunden. Vielen Dank für die freundlichen Erläuterungen«, erwiderte Kara, während sie Cregh die Siegel gab, damit er sie verteilte.

»Schon recht.« Die Wachfrau streckte sich, zog mit merklichem Widerwillen ihren Handschuh wieder an und machte Anstalten, zurück an das Tor zu treten. Doch bevor sie es erreicht hatte und noch während Sothorn sich sein Siegel um den Hals band, drehte sie sich noch einmal zu ihnen um. Nacheinander deutete sie auf ihn, Kara und Theasa. »Übrigens, falls ihr doch darüber nachdenken solltet zu bleiben: Wir rekrutieren neue Soldaten und ihr drei seht aus, als könnte man euch gebrauchen.«

Sothorn war von sich selbst überrascht, als er antwortete. »Wir werden es uns merken, aber wir sind Seeleute. Ich fürchte, mit einer Waffe in der Hand sind wir nicht zu gebrauchen.«

»Oh, es erwartet niemand, dass ihr an der Klinge etwas zustande bringt.« Ein hässliches, verbittertes Grinsen legte sich auf die Züge der Wachfrau. »Es reicht, wenn ihr für die, die wirklich kämpfen können, die erste Pfeilsalve abfangt.« Damit wandte sie sich endgültig von ihnen ab und kehrte auf ihren Platz zurück.

Sothorn fiel auf, dass sie kaum merklich das linke Bein nachzog. Offenbar wusste sie, wovon sie redete.

Hinter dem schmalen Torweg erwartete sie nicht sofort die Stadt. Stattdessen fanden sie sich auf einer breiten Steinbrücke wieder, die sich über einen streng riechenden Wassergraben spannte. Dahinter erhob sich ein zweites Tor. Auch dieses wurde bewacht und das hochgezogene Gitter im Torhaus wirkte auf Sothorn sogar noch massiger als jenes, das sie bereits hinter sich gelassen hatten.

Da mit ihnen zahlreiche Besucher in die Stadt drängten oder sie bereits wieder verließen, wagten sie es nicht, über die jüngsten Erkenntnisse zu reden. Doch Theasa knirschte beim Gehen mit den Zähnen und Sothorn fiel auf, dass sowohl Cregh als auch Kara ab und zu nach ihren Siegeln griffen, als wäre es ihnen unangenehm, sie an der Kleidung zu tragen.

Hinter dem zweiten Tor wurde die Straße breiter und lief schließlich in einen weiten Platz aus, auf dem eine Gruppe Soldaten unter den scharfen Rufen eines Befehlshabers Kampfformationen probte. Schwerter wurden gezogen und zurück in die Scheiden gestoßen, Kettenwerk klirrte, genagelte Schuhsohlen quälten den Stein, wenn die Soldaten salutierten.

Die ersten Passanten verteilten sich. Einige eilten auf ein gedrungenes, mit roten Bannern geschmücktes Gebäude am Ende des Platzes zu, andere schlüpften durch weitere, kleinere Tore in den allgegenwärtigen Mauern und verschwanden außer Sicht.

Theasa blieb im Schatten eines schmalen Bruchsteinhauses stehen und sah sich sichernd um. Erst, als sie überzeugt war, genug Abstand zu etwaigen Lauschern aufgebaut zu haben, richtete sie das Wort an ihre Begleiter. »Als Szaprey Qortonshall als Brückenkopf bezeichnet hat, war mir nicht klar, wie ernst es ihm damit war.«

»Was zum Henker ist ein Brückenkopf überhaupt?«, murrte Cregh ungehalten. Sein Blick war auf die Soldaten gerichtet. »Ein Ort, an dem Narren leben, die einen Kämpfer nicht erkennen, wenn sie ihn vor der Nase haben?«

Sothorn lächelte schwach. Er hatte schon vermutet, dass es Cregh nicht gefallen hatte, von der Wachfrau von der Liste möglicher Rekruten verbannt worden zu sein.

»Eine Uferbefestigung, die man anlegt, um in einem fremden Land Fuß zu fassen.« Theasa deutete verstohlen auf die der Bucht zugewandten Wachtürme und die Wehrgänge, die sich über die Mauern zogen. Überall fing sich das Sonnenlicht auf den glänzenden Rüstungen der Soldaten. »Und so, wie es hier zugeht, ist Qortonshall nach wie vor mehr Garnison als Stadt.«

Sothorn stimmte ihr schweigend zu. Nicht nur der beschränkte Zugang oder die Erwähnung des Kriegsherrn verrieten ihm viel über Qortonshall. Es ging nicht einmal um die Soldaten und Wachen, von denen er seit ihrer Ankunft bereits mehr gesehen hatte als während einer ganzen Woche in Auralis. Es war insbesondere der Aufbau der Stadt, der ihre Natur verriet.

Qortonshall schien in Waben angelegt zu sein: zahlreiche Abschnitte, die durch Mauern voneinander getrennt waren und im Fall eines Angriffs einzeln mit Toren gesichert und sogar aufgegeben werden konnten, ohne dass der Rest der Stadt fiel. Ein Ort, an dem ein Gegner gefangen genommen werden konnte, indem man an zwei Stellen gezielt Gitter herunterließ.

Instinktiv sah Sothorn zu den strahlend weißen Mauern auf. Er suchte nach Unebenheiten, an denen man sich festklammern konnte. Doch im Grunde wusste er bereits, dass selbst ein geschickter Kletterer auf Wurfanker und Seile angewiesen sein würde.

»Es gefällt mir hier nicht«, flüsterte Kara. Das leutselige Lächeln, das sie während des Gesprächs mit der Wachfrau gezeigt hatte, war von ihrem Gesicht gewichen und hatte einem Ausdruck tiefen Widerwillens Platz gemacht.

»Wir bleiben nicht lange. Dafür hast du ja gesorgt.« Theasa klang nicht gereizt oder verärgert. Eher danach, als würde sie Kara von Herzen zustimmen. »Ich möchte wirklich nichts mit dem Krieg zu tun haben, von dem die alte Heuschrecke am Tor gesprochen hat.«

»Es würde allerdings nicht schaden, etwas mehr darüber zu wissen«, bemerkte Sothorn unbehaglich.

»Stimmt. Ich möchte nicht das eine Schlachtfeld verlassen haben, nur um mich auf einmal auf dem nächsten wiederzufinden.« Theasa lockerte die Schultern und schlug sich mit der Faust in die Handfläche. »Nun gut. Gehen wir. Cregh, ich überlasse dir die Verhandlungen. Offenbar wirkst du – entschuldige – harmloser als wir anderen. Dir nimmt man vielleicht eher ab, dass Varns Gratschleifer ein Erbstück ist oder in Zahlung genommen wurde. Wir halten uns inzwischen zurück.« Sie klopfte dem alten Meuchelmörder auf die Schulter. »Nun schau nicht so grimmig drein. Wir wissen, wer du bist und was du kannst. Sie nicht.«

Für Theasa war das eine erstaunlich feinfühlige Reaktion, fand Sothorn. Aber er war froh, dass sie diesen Weg beschritten hatte, um Creghs Laune aufzubessern. Es reichte, dass sich einer von ihnen unwohl in seiner Haut fühlte.

Zu hohe Mauern, zu viele Menschen und viel zu viel Stein.

Die Stadt zu erkunden, war, als würde man sich durch ein Labyrinth bewegen. Zwar waren sämtliche Straßen schnurgerade angelegt und eine Vielzahl offener Plätze sorgte für eine gewisse Übersicht, die gut für wachhabende Soldaten und schlecht für Schattenvolk war. Aber es gab kaum bis gar keine Wegweiser und dass sich sämtliche Gebäude von den schmucklosen Fassaden bis zu den schlichten Ziegeldächern aufs Haar glichen, machte es schwer, den Überblick zu behalten.

Bald stießen sie auf ein weiteres Problem. Alle Geschäfte und Werkstätten lagen über die Stadt verteilt. Ein ausgewiesenes Handelsviertel gab es nicht. Es existierte nicht einmal ein Marktplatz, der der Größe der Stadt angemessen gewesen wäre. Hier und da schmiegte sich ein Verkaufsstand in eine Lücke zwischen zwei Gebäuden. Andere verbargen sich in Hinterhöfen und waren darauf angewiesen, dass der Duft von kräftigem Eintopf oder frischem Brot Besucher anlockte.

Sothorn kam es vor, als wäre der Handel in Qortonshall nur eine Randerscheinung. Etwas, das dringend benötigt wurde, aber letztendlich einem höheren Zweck untergeordnet war. Diese Erkenntnis half nicht, das nagende Gefühl von Sichtbarkeit abzustreifen, mit dem er sich zunehmend herumschlug.

Schließlich sprachen sie einen Wachsoldaten an einem der inneren Tore an und erkundigten sich nach einem Schmied oder Waffenhändler, der Ware ankaufte. Es war ein eigenartiges Gefühl. Keiner von ihnen war es gewöhnt, sich an die Obrigkeit zu wenden, und nachdem man ihnen den Weg gewiesen hatte, gingen sie schneller weiter, als sie es unter anderen Umständen getan hätten.

Die Schmiede befand sich in einem höhergelegenen Teil der Stadt und lag einem gewaltigen freien Platz gegenüber, der nicht mit dem schlichten dunklen Stein der Straßen ausgelegt war, sondern mit einem strahlend weißen Sandstein. Sothorn kam sich darauf vor wie eine verdammte Moosflechte, die einst glücklich ihr Leben im Schatten tiefer Äste gefristet hatte und plötzlich von einem brutalen Holzfäller ins Licht gezerrt worden war.

Am Nordende des Platzes erhob sich eine Bronzestatue, die sie alle um mehr als das Doppelte überragte. Sie stellte einen Krieger dar, der gerade im Begriff war, einem liegenden Gegner den Todesstoß zu versetzen.

Kara zog die Luft durch die Zähne. »Oh. Das hätte Szaprey gar nicht gefallen.«

Im ersten Moment wusste Sothorn nicht, was sie meinte. Doch dann erkannte auch er, dass es sich bei dem Gefallenen um einen Roaq handelte.

»Und mir gefällt das nicht.« Theasa berührte Sothorn am Arm, um ihn auf eine Bewegung jenseits der Statue aufmerksam zu machen. »Verdammt, ich dachte, es gäbe sie nicht mehr.«

Vier Gestalten marschierten auf den Platz. Sie trugen dunkelrote, eng geschnittene Roben, die auf Schritthöhe aufklafften und kniehohe Stiefel freigaben. Am Oberkörper verschwand der Stoff unter doppelt beringten Kettenhemden.

Am augenfälligsten aber waren das sowohl bei den drei Männern als auch bei der einzigen Frau fast bis auf die Kopfhaut abgeschorene Haar, die schwarzen Manschetten um den Hals und das aufgerissene Maul des Wargen auf ihren Rundschildern.