Wildfang - Raik Thorstad - E-Book

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Raik Thorstad

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Beschreibung

Tierpfleger Mark ist zufrieden mit seinem zurückgezogenen Leben: Er liebt seine Arbeit in einem kleinen Wild- und Bärenpark, bei dem er wenig Kontakt zu Menschen hat und sein schweres Stottern kaum ein Problem im Alltag darstellt. Als er die Pflege eines neu angekommenen Kodiakbären übernimmt, ahnt er noch nicht, wie schnell und radikal sich sein Leben ändern wird, denn unter "Matunnos'" Fell schlummert weit mehr als ein normales Tier...

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Seitenzahl: 678

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Deutsche Erstausgabe (ePub) Oktober 2017

© 2017 by Raik Thorstad

Verlagsrechte © 2017 by Cursed Verlag

Inh. Julia Schwenk, Taufkirchen

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,

des öffentlichen Vortrags, sowie der Übertragung

durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile,

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit

Genehmigung des Verlages.

Bildrechte Umschlagillustration

vermittelt durch Shutterstock LLC; iStock

Satz & Layout: Cursed Verlag

Covergestaltung: Hannelore Nistor

Druckerei: CPI Deutschland

ISBN-13: 978-3-95823-660-8

Besuchen Sie uns im Internet:

www.cursed-verlag.de

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Klappentext:

Tierpfleger Mark ist zufrieden mit seinem zurückgezogenen Leben: Er liebt seine Arbeit in einem kleinen Wild- und Bärenpark, bei dem er wenig Kontakt zu Menschen hat und sein schweres Stottern kaum ein Problem im Alltag darstellt. Als er die Pflege eines neu angekommenen Kodiakbären übernimmt, ahnt er noch nicht, wie schnell und radikal sich sein Leben ändern wird, denn unter „Matunnos‘“ Fell schlummert weit mehr als ein normales Tier...

Für Anja und Babs.

In unseren Herzen wird dieses Buch immer unter dem Arbeitstitel »Fusselhintern« weiterleben.

Kapitel 1

Seine Krallen gruben sich in das modrige Holz. Ungeziefer bewegte sich zwischen seinen Pranken, während er einen Span nach dem nächsten aus dem Boden des Verschlags riss. Von Weitem ertönte ein Kreischen. Der Klang tobte durch seine Ohren, dröhnte darin, bis er in einer fast menschlichen Geste die Tatzen an den Kopf hob, um sich vor dem Lärm zu schützen.

Hinter einem der rollenden Kästen bewegte sich etwas. Wachsam hob das Raubtier den Schädel und kam langsam auf die schmerzenden Beine. Er versuchte, die Witterung des Eindringlings aufzunehmen, doch seine Nase, zerschunden von den Stockhieben vom Vortag, nahm nur den ekelerregend süßlichen Gestank des Lagers wahr. Verschwitzte Menschen, verdorbenes Rindfleisch im Käfig gegenüber, dazu die Gerüche der weißen Wolken, die die Jungtiere der Menschen von einem Stock fraßen.

Ein gebeugter Mann in bunten Kleidern trat an den Käfig, hielt jedoch wohlweislich einen Schritt Abstand. Tonlos murmelte er vor sich hin.

Das Raubtier ließ sich auf die Hinterbeine sinken. Hinter seiner gewölbten Stirn pochte es, schmerzhaft und erregend zugleich. Endlich roch er den Gegner, das welkende Fleisch und das Scharfe, Beißende, das ihn immer umgab. Wären die Gitter nicht gewesen, er hätte den Menschen angegriffen. Nicht, um zu fressen. Nein, er wollte ihn aus seinem Revier vertreiben. Wollte, dass er für immer verschwand. Er öffnete die Schnauze.

Der Mann zeigte ebenfalls die Zähne und murmelte erneut.

Die Ohren des Tiers spielten nervös. Manchmal schienen die fremden Lautäußerungen der Menschen einen Sinn zu ergeben. Dann wurden die Tonfolgen zu etwas anderem, zu etwas, dem er sich entgegenwerfen wollte. Aber die kurzen Blitze der Erkenntnis verschwanden jedes Mal, bevor sie weit genug aus der Dunkelheit treten konnten, um sie zu betrachten. Zurück blieb nur die Wut.

Er wusste, wie groß, schwer und stark er war. Das zweibeinige Wesen vor dem Gitter war ihm in allen Punkten unterlegen und sollte vor ihm zurückweichen. Aber es besaß das knallende Band und den Stock. Beide brachten Schmerzen.

Trotzdem richtete das Tier sich auf. Der Platz reichte nicht aus, um sich ganz auf die Hinterbeine zu stellen. Er wusste genau, wie hoch sein Gefängnis war, und vermied es, mit dem Kopf an die Holzdecke zu stoßen.

Nun lachte der Mann und fuhr mit dem Stock über die Eisenstangen.

Der Bär schlug zu, traf jedoch nur das rostige Metall. Der Schmerz in seiner Tatze schürte seinen Zorn. Er presste die Schnauze durch das Gitter und zuckte erst zurück, als er mit den empfindlichen Augen gegen das Eisen stieß. Sie taten weh, und sehen konnte er schon seit vielen Fütterungen nicht mehr richtig.

Ein Schlag traf ihn auf die Nase. Sofort brach die kaum verheilte Haut auf, sodass er sein eigenes Blut roch. Er wollte seine Qual und seinen Hass in die Nacht schreien, aber aus seiner Kehle kam nur ein grollendes Brummen, das zum Ende hin immer dünner wurde.

***

»Wir können es nicht länger aufschieben, oder?« Theo fuhr sich über den kahlen Schädel und spielte mit seinem Handy.

Mit einem knappen Nicken stimmte Mark ihm zu. Er trat näher an den Zaun und kniff die Augen zusammen.

Es war ein diesiger Morgen. Die Kühle tat gut nach den unerwartet heißen Frühlingstagen. Bodennebel kroch zwischen den Baumstämmen entlang und behinderte die Sicht auf die träge umhertrottenden Tiere. Plumpe Silhouetten bewegten sich durch das Laub vom Vorjahr. Von Zeit zu Zeit tauchten flinkere, wendigere Schatten auf und huschten über den Waldhang.

Marks Aufmerksamkeit galt jedoch nicht dem Wolfsrudel, sondern der Bärin, die in einiger Entfernung unruhige Kreise durch eine Sandgrube zog. Ihr goldbraunes Fell hing zottelig von ihrem Körper und verbarg noch, was sich an ihrem Kopf deutlich abzeichnete: Sie hatte Gewicht verloren.

»Wir sollten uns das genau überlegen«, bemerkte Theo wie schon so oft in den vergangenen Tagen. »Unsere Artemis...«, fügte er zärtlich hinzu.

Mark öffnete den Mund, um zu antworten, zuckte aber doch nur mit den Achseln. Sie wussten beide, was sie zu tun hatten.

Das prächtige Grizzly-Mädchen mit der kurzen Schnauze und den runden Augen, die jeden, der sie sah, sofort an einen Teddybären denken ließ, war einer ihrer ersten Bären gewesen. Es hatte lange gedauert, bevor sie mit ihren Artgenossen vergesellschaftet werden konnte. Die Jahre als Tanzbär hatten sie ihrer eigenen Art entfremdet und sie vergessen lassen, dass Bären sich entgegen vieler Gerüchte auch auf kleinerem Raum gut verstanden, solange alle genug zu fressen hatten.

Inzwischen war Artemis eine alte Lady. Sie hatte steife Gelenke und war lange nicht mehr so streitlustig wie früher. Und seit Kurzem fraß sie nicht mehr richtig.

Theo seufzte. »Ich rufe Heike an, ob sie heute noch vorbeischauen kann. Das können wir nicht so lassen.«

Obwohl Mark kein Wort gesagt hatte, schien Theo aus ihrem einseitigen Gespräch die Gewissheit zu ziehen, dass sie als Tierpfleger die richtige Entscheidung gefällt hatten.

Die Tierärztin kam gegen Mittag. Ihr Landrover, der unter der Schlammkruste vermutlich grün war, holperte über den unbefestigten Weg.

Mark sah durch das Fenster des alten Wachhauses, wie sie auf den Vorhof rollte, und joggte ihr entgegen, um das grauenvoll quietschende Rolltor für sie zu öffnen. Die äußere Umzäunung gehörte zu einer ehemaligen Militäranlage, die inzwischen den Schutzpark beheimatete, der für so viele Bären und Wölfe zur Heimat geworden war.

»Grüß dich!«, rief Heike, als sie aus dem Wagen sprang. Ohne eine Erwiderung abzuwarten, umarmte sie Mark. Sie musste sich strecken, um ihn an sich zu ziehen. »Artemis also, ja? Ihr habt ja schon vor zwei Tagen gemeint, dass sie euch nicht gefällt.«

Mark holte tief Luft und erwiderte kaum hörbar: »Ja.«

»Hm, dann wollen wir mal sehen, was mit ihr los ist.« Sie lächelte gewinnend. Von ihrem blassen Lippenstift war nur noch ein magerer Rest übrig. »Hilfst du mir tragen?«

Gemeinsam holten sie die Utensilien der Tierärztin aus dem mit allerlei Kisten bestückten Kofferraum. Mark fragte sich bei jedem ihrer Besuche, ob es nicht gefährlich war, ein solches Arsenal an Medikamenten im Wagen spazieren zu fahren.

Auf dem Weg zu Artemis straffte er die Schultern und warf der untersetzten, strohblonden Frau an seiner Seite einen raschen Blick zu. Eine kleine Falte auf ihrer Stirn verriet, dass sie in Gedanken längst bei ihrer Patientin war. Ihr Besuch war eine gute Gelegenheit, um zu üben. In letzter Zeit hatte er sich wieder zu sehr von anderen Menschen zurückgezogen.

Mark zwang sich, stur geradeaus zu sehen und versuchte, sich zu entspannen. Aber das klappte genauso wenig, wie man sich auf Kommando davon abhalten konnte, an rosa Elefanten zu denken. Nervös leckte er sich über die Lippen. Dann raunte er: »S-s-s-sie fr-fr-isst j-j-j-jetzt seit...« Er rang nach Atem. »... f-f-f-fünf T-t-tagen n-n-n-nicht r-richtig.«

Heike gab ihm einen freundschaftlichen Stoß in die Seite, sagte aber nichts zu seinem recht erfolgreichen Versuch, einen ganzen Satz herauszubringen.

Nachdem sie ihn am Anfang ihrer Bekanntschaft einmal gefragt hatte, was es mit seinem Stottern auf sich hatte, hatte sie es ihm immer leicht gemacht. Nie unterbrach sie ihn oder versuchte, seine Sätze für ihn zu beenden. Wenn alle Menschen wie sie wären, würde er sich vielleicht weniger unbehaglich unter ihnen fühlen.

»Gut, dann sehen wir uns das mal genauer an. Konntet ihr was von außen erkennen? Schläft sie auffallend viel?«, hakte Heike nach.

Mark schüttelte den Kopf und ärgerte sich sofort über sich selbst. Natürlich hatte er etwas beobachtet. Aber es war so viel leichter, Fragen mit einem Nicken oder Kopfschütteln zu beantworten, als zu sprechen.

»S-s-sie h-hat v-viel Speichel an der Sch-schnauze.« Oh, das war mal ein gelungener Versuch. Mark war mit sich zufrieden.

»Hm«, machte Heike erneut.

Ein Fremder hätte angesichts ihrer knappen Reaktion vermutet, dass sie eine bestimmte Befürchtung hatte. Mark kannte die Tierärztin jedoch besser. Heike war nicht der Typ, der aus der Ferne Diagnosen erstellte und herumphilosophierte, bevor sie ihren Patienten überhaupt gesehen hatte.

Um sie herum wurde der Wald dichter und der selten befahrene Weg vor ihnen enger. Unter Unkraut und altem Laub blitzte hier und da rissiger Asphalt durch. Nachdem die amerikanischen Soldaten das Gelände verlassen hatten, hatte sich niemand die Mühe gemacht, die Wege in Schuss zu halten. Und als die Stiftung das Areal übernahm, hatte sie ebenfalls keinen Sinn darin gesehen, das ewig knappe Geld ausgerechnet auf die Pfade zu verwenden.

Sie marschierten inzwischen durch eine lang gezogene, nach oben geschlossene Röhre aus massiven Gittern. Fast wirkte es, als wären sie diejenigen, die im Käfig waren, während um sie herum die Wildnis herrschte. Ganz in ihrer Nähe knackte es im Gebüsch. Eine dunkle Bärenschnauze zeigte sich, nur um sofort wieder zwischen den jungen Blättern zu verschwinden.

Schließlich erreichten sie eins der kleineren Gehege am Rand der Hauptanlage. Theo erwartete sie bereits und deutete mit erhobenem Daumen an, dass er Erfolg gehabt hatte.

»Sie ist problemlos ins Absperrgehege gegangen«, rief er ihnen entgegen. »Aber ihr Futter nimmt sie trotzdem nicht.« Bekümmert deutete er auf das Obst, das er für Artemis im Gras verteilt hatte. »Servus, Heike.«

Die Bärin saß unter einem Baum und schubberte ihren Pelz an der Rinde. Japsen und Hecheln hinter ihm ließ Mark wissen, dass auch einige der Wölfe, die sich mit den Bären die Hauptanlage teilten, wissen wollten, was es mit dem vielen Besuch auf sich hatte. Dank ihrer Vorgeschichte waren sie viel zu zutraulich für Wildtiere.

»Hi, Theo.« Heike stellte ihre Sachen an den Zaun. »Hat sie sich gar nicht dafür interessiert? Oder hat sie wenigstens mal geschaut?«

»Sie ist ein paar Mal drumherum geschlichen. Mehr aber auch nicht.« Der durchtrainierte Tierpfleger blickte hoffnungsvoll. »Vielleicht hat sie ja nur Probleme beim Kauen.«

»Möglich.«

Mark nickte. Er hatte ebenfalls an diese Möglichkeit gedacht, wollte sich aber nicht zu große Hoffnungen machen. Den Fehler hatte er am Anfang viel zu oft begangen. Nach beinahe dreizehn Jahren als Tierpfleger war er inzwischen etwas pessimistischer. Wehmütig betrachtete er die Bärin und ihm kam der Gedanke, dass der Park ohne sie viel leerer wäre. Sie war fast genauso lange hier wie er.

Heike ließ die Finger knacken. »Gut, Jungs. Ihr kennt das Problem. Ich kann sie in Narkose legen und versuchen herauszufinden, was los ist. Ich hätte auf jeden Fall gern Blut von ihr, will Herz und Lunge abhören und mir ihre Zähne ansehen.« Sie zögerte. »Aber ihr kennt das Risiko und ihr wisst auch, was das kostet.« Letzteres sagte sie mit einer Miene, die ihren Zwiespalt zwischen Tierliebe, Idealismus und dem Problem, den eigenen Kühlschrank zu füllen, verriet.

Die Narkotika für einen Bären waren teuer. Zwar war der Park Teil einer großen Tierschutz-Stiftung, an die außerdem ein Verein mit mehr oder weniger zuverlässigen Mitteln angeschlossen war, aber unterm Strich ging es immer ums Geld.

»W-w-w-w-w-ir...« Mark brach ab, ärgerlich, weil er dieses Mal nicht über das erste Wort hinauskam.

Bevor er neu ansetzen konnte, sprang Theo für ihn ein: »Wir können sie ja nicht verhungern lassen. Sie hat bis jetzt immer gut gefressen. Und wenn sie nicht mal mehr an Äpfel geht, stimmt wirklich was nicht. Ist besser, wenn sie die Narkose nicht übersteht, als dass sie uns langsam eingeht.«

Heike nickte. »Ich dachte mir schon, dass ihr das sagt.« Mit routinierten Handgriffen band sie ihren Pferdeschwanz neu. »In einer Stunde wissen wir vielleicht schon mehr.«

»O-okay.«

Theo trennte sich sichtlich schweren Herzens von ihnen, um die nächste Fütterung vorzubereiten. Mark dagegen blieb und assistierte der Tierärztin. Es war nicht das erste Mal, dass er ihr bei den Vorbereitungen half. Trotzdem machte es ihn jedes Mal nervös, wenn er sie mit dem Betäubungsmittel hantieren sah. Sie hatte ihm einmal erklärt, dass das Medikament, das sie mit dem Blasrohr verschoss, für Menschen hochgiftig war. Wer damit auch nur in Berührung kam, war in Lebensgefahr. Er fand die Vorstellung, dass man der guten, alten Artemis dieses Teufelszeug unter den Pelz jagen würde, gar nicht beruhigend.

Als sie die nötigen Gerätschaften bereitgelegt hatten, bezog Heike mit ihrem Blasrohr am Rand des Zauns Posten und zielte sorgfältig. Es dauerte nicht lange, bis sie den Pfeil abschießen konnte. Artemis war von ein bisschen Besuch nicht zu erschüttern und besaß nicht den sechsten Sinn, mit dem andere Tiere eine ärztliche Untersuchung erahnten. Als die Spritze mit der Befiederung traf und das Narkotikum unter ihre Haut getrieben wurde, wandte sie gerade einmal den Kopf. Mark fand, dass sie erstaunt aussah.

»Der sitzt gut«, stellte Heike zufrieden fest. »In ein paar Minuten schläft sie.«

Hauptsache, sie wacht danach auch wieder auf, dachte Mark und beobachtete, wie Artemis mit zunehmend trägeren Bewegungen durch das kleine Gehege tapste. Zwei Mal stieß sie mit dem Kopf an den Schieber, als verstünde sie nicht, warum er geschlossen war. Dann sackten ihr die Hinterbeine ein. Lautlos rutschte sie auf die Seite.

Heike wartete sicherheitshalber noch eine Weile, bevor sie Mark bedeutete, mit ihr durch die Zauntür zu schlüpfen. Ein Grizzly war immerhin kein Meerschweinchen. Mark konnte gut darauf verzichten, von einer noch nicht ganz schlafenden Bärin einen mehr oder minder freundlich gemeinten Prankenhieb zu kassieren. Nachdem der Test mit dem Besenstiel bewiesen hatte, dass Artemis tatsächlich das Bewusstsein verloren hatte, gingen sie an die Arbeit.

Wie immer, wenn er bei Narkosen dabei war, empfand Mark tiefe Ehrfurcht, als er sich neben Artemis auf den Waldboden kniete. Sorgsam bedeckte er ihre halb geschlossenen Augen mit einem Tuch. Die Dunkelheit würde ihren Schlaf vertiefen. Dann streckte er die Hand aus und berührte den dichten Pelz, die verhältnismäßig kleinen Ohren, und kraulte sie am Hals. Er kam nur selten dazu, seine Schutzbefohlenen zu berühren und es war jedes Mal eine ganz besondere Erfahrung für ihn.

Heike hatte indessen den Pulsnehmer an die Zunge geklemmt und setzte hier und da das Stethoskop auf den schweren Leib. »Herz klingt unauffällig«, zählte sie auf. »Lunge auch.« Sie schob sich tiefer. »Ah, Darmbewegungen sind auch da, und der Bauch...« Mit beiden Händen tasteten sie unterhalb der Rippen entlang. »... ist weich.«

Mark wagte nicht, erleichtert zu sein. Noch nicht.

Auf Knien robbte Heike zu ihm rüber. »Dann schauen wir mal nach, wie es hier aussieht, Schätzchen.« Mit geübtem Griff öffnete sie den entspannten Kiefer der Bärin und verzog augenblicklich das Gesicht. »Ah ja. Das riecht ja herzig. Danke fürs Gespräch auch. Bah.«

Sie röchelte aufgesetzt und bedeutete Mark, näher zu kommen. Kaum hatte er sich nach vorn gebeugt, zog er sich hastig wieder zurück. »Uffz«, brachte er hervor. Der Gestank war widerlich. Schlimmer als das übliche Eau de Raubtierschlund.

»Das ist mal richtig lecker. Aber wir wollen uns nicht beschweren. Hilf mir mal, ihren Kopf weiter zu mir zu drehen.«

Gemeinsam wuchteten sie den Bärenschädel herum, und Heike warf mithilfe einer Taschenlampe einen tieferen Blick in das offene Maul. Anschließend schob sie einen dicken Holzspatel zwischen Artemis' Zähne.

Mark war ganz froh, nicht genau zu sehen, was sie dort trieb. Aber ihr befriedigtes »Aha« erleichterte ihn zutiefst. Das klang gut!

»Da ist es ja. Ein hübsches Loch, dick infiziert, die Schleimhaut ist schon nekrotisch«, erklärte Heike ihm. »Aber das bekommen wir schon wieder hin. Ich mache das jetzt sauber, so gut es geht. Dann nehme ich ihr Blut ab und spritze ihr Schmerzmittel, eine Antibiose und Cortison. Ein paar Vitamine werden auch nicht schaden. Mal sehen, ob ich dann noch schnell Zeit für die Krallen habe.«

»W-w-woher?«, wollte Mark wissen. Sanft rieb er über Artemis' Fell. Gutes, altes Mädchen.

»Ich vermute, sie hat sich beim Kauen oder Spielen einen Ast ins Maul getrieben. Habe ich bei Hunden öfter. Bei einem Bären sehe ich das allerdings zum ersten Mal.«

»D-d-deswegen w-w-wollte sie n-nicht fressen?«

»Davon gehe ich jedenfalls aus. Das dürfte ganz schön wehtun. Versorgen wir die Dame fix und sehen zu, dass sie nicht so lange schläft. Nicht, dass ihr noch der Kreislauf wegsackt.«

Mark nickte.

Als Theo eine Stunde später zurückkam, schwankte Artemis schon wieder auf wackeligen Beinen durchs Gehege.

***

Mark stellte sein Rad vor dem Schuppen ab, ohne es abzuschließen. So tief in die Pampa verirrte sich kein Fahrraddieb. Er konnte froh sein, wenn der Postbote regelmäßig herkam und nicht tat, als hätte er zufällig vergessen, wo Mark wohnte.

Allerdings nahm Mark gern in Kauf, dass er jede zweite Sendung bei der Post abholen durfte. Dafür bekam er Abgeschiedenheit und einen kurzen Arbeitsweg, den er bei Bedarf auch mehrmals am Tag mit dem Rad hinter sich bringen konnte.

Während er zur Eingangstür seines winzigen Häuschens ging, huschte sein Blick über das nahe Feld. Sein nächster Nachbar – ein Biobauer, der jedes seiner Tiere beim Namen kannte – trieb gerade seine kleine Schafherde in ihren Pferch. Falls er Mark sah, ignorierte er ihn geflissentlich. Es gab oft Streitereien zwischen den Mitarbeitern des Bärenparks und den Bauern der Gegend. Dauernd waren die Landwirte in Sorge, dass einer der Bären ausbrechen und auf ihre Tiere losgehen könnte.

Mark fand es schade, dass sogar die Bauern, die auf der Grünen Welle surften, gegen den Schutzpark stänkerten. Sollten sie die gestrandeten Bären ihrem Elend überlassen, nur weil theoretisch einer von ihnen mal ausbüxen und noch viel theoretischer dabei den Nachbarschafen Guten Tag sagen könnte? Da waren entschieden zu viele Vielleichts für Mark im Spiel.

Im Hausflur angekommen ließ er die Tür hinter sich zufallen und schlüpfte aus den Arbeitsstiefeln. Auf dem Weg ins Bad streifte er sich nach und nach die Kleidung vom Leib und ließ sie in die Ecke neben der Kommode fallen, die ihm den Wäschekorb ersetzte. Der Berg dort war wieder mal ätzend hoch.

Nach einer schnellen Dusche unter lauwarmem Wasser – es dauerte ihm jedes Mal zu lange, darauf zu warten, dass der Boiler in Schwung kam – machte er es sich in der Küche gemütlich. Er wollte sich zur Feier des Tages selbst bekochen. Dass Artemis ihnen aller Wahrscheinlichkeit nach noch eine Weile erhalten bleiben würde, hellte seine Stimmung auf. Nur an das Meeting, das für den nächsten Morgen angesetzt war, durfte er nicht denken.

Während auf dem alten Gasherd die Kartoffeln kochten, setzte Mark sich nach kurzem Zögern an den kleinen Schreibtisch unter dem Südfenster und startete den Computer. Er nutzte das Teil nur manchmal, wenn ihm abends nach Gesellschaft zumute war und das Internet der einzige Weg war, sich zu unterhalten.

Gelangweilt und ein bisschen frustriert befreite er seine Mailbox von einem Haufen Spam und prüfte, ob jemand Interessantes über sein Profil auf dem Datingportal gestolpert war. Wie üblich fand sich das eine oder andere Angebot für ein Treffen, auf das er sich nie einließ. Wenn er ausging, dann spontan. Und oft strich er schon nach einem Bier in der Kneipe die Segel, weil er seine Stotterei nicht in den Griff bekam und sich nicht lange zum Affen machen wollte.

Sein Profilbild schien Mark nachdenklich entgegenzublicken. Es zeigte ihn in alten, zerschlissenen Jeans und einem grünen Muskelshirt, einen Fuß auf einen gefällten Baumstamm gestützt. Theo hatte das Foto gemacht, während sie Bäume zurückschnitten. Er hatte nur schnell sein schickes iPhone 74b oder Samsung Universe 4711 ausprobieren wollen, die Aufnahme aber für so gut befunden, dass er sie Mark geschickt hatte.

»Kannst damit bestimmt eine Menge Jungs aufreißen«, hatte er geflachst.

Mark musterte die nichtssagenden Daten in seinem Steckbrief.

Mag Natur, Mountainbiking, Pasta, nachdenkliche, selbstsichere Männer, Klettertouren, arbeite im Tierschutz. So und so groß, so und so schwer.

Blablabla. Leere Worte, nichts, worin er sich wiederfand. Das Foto gab mehr her.

Er sah ganz gut aus. Die Oberarme kräftig von der Arbeit, groß, aber nicht bullig, Bartansatz und Stoppelhaare in einem rötlichen Braun. Die Grübchen an Wange und Kinn sah man auf dem Bild nicht, aber angeblich zeigten sie bei Vertretern beider Geschlechter gleichermaßen Wirkung. Er hatte ein schmales Gesicht und Wolfsaugen, wie Heike einmal behauptet hatte. Da war sie allerdings auch noch in ihn verliebt gewesen, ohne zu ahnen, dass er kein traumhafter Naturbursche war, der sie in sein Waldschloss entführen würde.

Sein Palast musste dringend neu gedeckt werden und wurde im Winter nicht richtig warm und im Sommer schnell stickig. Von DSL konnte er nur träumen, und im ehemaligen Kohlenkeller stand ein kleiner Generator, weil während der Sturmperioden dauernd abgeknickte Bäume auf die einzige Stromleitung krachten. Und mit Prinzessinnen hatte er es so gar nicht. Egal ob mit Brüsten oder mit Schwanz.

Ein Symbol leuchtete unten rechts auf dem Bildschirm. Ein vertrauter Name blitzte auf.

Mark lächelte.

Herold, im richtigen Leben Matthias, war ein netter Kerl, mit dem er sich gern unterhielt. Er hatte ihn in einem Spezialforum für Menschen mit Sprachstörungen kennen und schätzen gelernt. Sie chatteten öfter, flirteten gelegentlich, aber ohne ernste Absichten. Matthias war in festen Händen.

Mark beneidete ihn manchmal. Auch er hatte es nicht immer leicht mit der Außenwelt, wie sie es nannten, wenn auch aus ganz anderen Gründen. Einen Freund hatte er trotzdem gefunden und nach einigem Hin und Her behalten.

Sehnsüchtig seufzte er. Selbst schuld, wenn man sich im Bayerischen Wald vergrub, statt in einer der Großstädte Kontakt zur Szene zu suchen. Hier war es schwer, einen passenden Mann zu finden.

Da blieb ihm abends nur eins: Früh ins Bett gehen, mit der Lotion in der einen Hand und der neuesten Ausgabe des Beautiful Mag in der anderen.

Kapitel 2

Das Licht blendete ihn und tat seinen Augen weh. Es jagte im Kreis, verschwand, kehrte zurück, verschwand wieder. Ihm folgte ein grausam lauter Heulton, der in jedem seiner Knochen zu vibrieren schien.

Unruhig tappte der Bär tiefer in seinen Käfig. Er versuchte, Witterung aufzunehmen, um herauszufinden, warum es so laut zuging, obwohl es schon lange dunkel geworden war. Aber seine lädierte Nase verriet ihm nicht, warum die Wagen so abrupt zum Halten gekommen waren.

Wenn er doch nur besser riechen könnte. Dann würde er sich sicherer fühlen.

Laute Stimmen mischten sich mit dem Quietschen von Reifen. Es waren Fremde in der Nähe. Aber es war doch gar nicht Zeit, durch den Gang zu den Menschen zu gehen. Woher kamen sie? Was viel wichtiger war: Waren sie Angreifer oder wollten sie nur glotzen?

Schwankend zwischen Neugier und Vorsicht richtete der Bär sich auf. Wie so oft presste er seinen Schädel gegen das Gitter, versuchte, die Schnauze nach draußen zu recken. Längst hatte er Schwielen rechts und links des Mauls.

Die fremden Stimmen kamen näher. Sie klangen nach Aufregung, Ärger und der Bereitschaft, sie an ihm auszulassen. Schnell zog der Bär sich zurück und hob noch einmal die Nase, um vielleicht doch noch einen klärenden Geruch zu erhaschen.

Und endlich roch er sie. Sein Instinkt war richtig gewesen. Er kannte sie nicht. Sie rochen ganz anders als der Mann mit dem Stock und der andere, der ihm Fressen brachte. Auch anders als das Mädchen, das ihm manchmal süße Sachen gab, die zwischen den Zähnen klebten.

Jemand sprach, vielleicht galt es ihm. Der Tonfall war zornig, aber nicht angriffslustig. Auf einen Ruf hin kamen mehr Zweibeiner angelaufen. Einer von ihnen, ein Weibchen, kam ganz nah zu ihm. Mutig legte sie die Hand auf das Gitter, aber sofort tauchte jemand auf und zog sie zurück.

Der Bär war irritiert. Er hätte sie nicht gebissen oder nach ihr geschlagen. Sie erinnerte ihn an etwas von früher. Aus der Zeit vor den Eisenstangen und den schreienden Leuten in dem großen, runden Käfig aus Stoff.

Sie flüsterte ihm etwas zu. Er mochte sie. Sie klang freundlich.

***

Wildes Gezeter empfing Mark, als er in das niedrige Bürogebäude trat. Die einstige Kantine mit dem langen Tisch in der Mitte hatte sich bereits gefüllt.

»Damische Sauhund seid's ihr olle miteinanda. Kennt ihr eich de Fias ned obtret'n?«, fluchte Gertrud, während sie an Mark vorbei aus dem Raum eilte. Schuldbewusst sah er zu Boden und erkannte, dass auch seine Schuhe Dreck auf dem hellen Linoleum hinterlassen hatten.

»Alter Putzteufel«, murmelte Theo, der mit einem Rums zwei Thermoskannen auf den Tisch knallen ließ. »Die glaubt immer noch, dass wir hier ein Hotel betreiben.«

»Sie meint es gut. Und es ist immerhin ihr Job«, gab Sebastian mit vollem Mund zurück. In einer Hand hielt er ein belegtes Brötchen, mit der anderen winkte er Mark zu sich. »Komm frühstücken. Ich hab mir gedacht, wenn wir hier schon den halben Tag rumsitzen, können wir auch was essen.«

Sebastian war der Leiter des Parks und glaubte offenbar, dass sie ähnlich viel Futter wie die Bären nötig hatten. Auf dem Tisch standen zwei große Buffetplatten mit belegten Brötchen und Gebäck. Dazwischen wartete die obligatorische Schale mit Gummibärchen.

Mark lächelte seinem Chef dankbar zu und setzte sich neben ihn. Hungrig fiel er über ein Schweinsohr her, bevor Theo ihm auch nur einen Kaffee hinschieben konnte. Kathrin, die Fünfte im Team, zwinkerte ihm von ihrem Platz neben der Heizung aus zu und pflückte sorgsam den grünen Salat von ihrem Schinkenbrötchen.

»Wir würden dann gern anfangen!«, rief Sebastian Richtung Flur. »Lass den Dreck, Gertrud. Wir müssen doch eh gleich wieder raus.«

Das angegraute Mädchen für alles des Parks kam zurück und kehrte mit energischen Bewegungen den Schmutz zusammen. »I setz mi sicha ned zwoa Stund nebn den Baaz und schau eahm beim Wachs'n zua!«, verkündete sie.

Mark wusste ebenso gut wie die anderen, dass sie sich nicht davon abhalten lassen würde, zu tun, was immer sie tun wollte. Bei ihr bissen sie sich alle regelmäßig die Zähne aus.

Sebastian verdrehte die Augen und streckte die Beine unter dem Tisch aus. Sein leicht schiefes Gesicht war unrasiert, und er wirkte ein wenig angespannt.

Wieder einmal dachte Mark, dass sein Chef auf den ersten Blick hier vollkommen fehl am Platz wirkte. Er war ein zaundürres Männchen mit schütterem Haar und Mädchenhänden, das beinahe in seiner Latzhose versank. Dass er mit den größten und schwersten Landraubtieren der Welt arbeitete, traute man ihm beim besten Willen nicht zu, eher einen trockenen Bürojob im Finanzamt. Das galt allerdings nur solange, bis man sah, wie er sich einen gewaltigen Futtersack auf den Rücken schwang und Richtung Außenanlage davonstampfte. Dann erinnerte er plötzlich an einen gutmütigen Elfen aus dem Gefolge des Weihnachtsmanns, der seinem Boss ein bisschen Arbeit abnehmen wollte.

»Mir wurscht, wir legen jetzt los«, verkündete Sebastian ungewohnt bestimmt.

Mark wechselte einen Blick mit seinen Kollegen. Kathrin hatte es aufgegeben, jedes Fitzelchen Grün von ihrem Brötchen zu fischen, und fragend den Kopf schief gelegt. Auch Theo schien Sebastians Ton aufgefallen zu sein. Er wirkte so misstrauisch, wie Mark sich fühlte.

»P-probleme?«, fragte er, als keiner der anderen sprach.

»Immer«, gab Sebastian trocken zurück.

Gertrud setzte sich endlich, wenn auch ein Stück abseits, als würde sie nicht dazugehören. Vermutlich wollte sie damit zeigen, dass sie immer noch böse mit ihnen war.

»Fangen wir aber von vorn an.« Sebastians Hand ruhte auf einem Aktenordner, der neben ihm auf dem freien Stuhl lag. »Alles in Ordnung heute Morgen? Was macht Nadjas Pfote?«

»Sah vorhin gut aus«, erwiderte Kathrin. »Sie schont fast gar nicht mehr.«

»Okay. Und Artemis?«

Theo grinste zufrieden. »Frisst wie eine Bescheuerte. Hat wohl Nachholbedarf.«

»Gott sei Dank. Hoffen wir, dass die Wunde sauber abheilt und Dr. Linden nicht noch mal herkommen muss.«

»Das wäre wirklich eine Katastrophe! Heike bei uns zu Besuch, furchtbar, nicht wahr?«, warf Kathrin halblaut ein, die Ironie in ihren Worten so scharf, dass man sich daran hätte schneiden können.

Mark presste die Lippen aufeinander, um sein Schmunzeln zu verbergen. Sebastian war immer sehr förmlich und höflich, wenn er von Heike sprach. Die beiden hatten sich schon manchen Grabenkampf geliefert und hielten nicht viel voneinander. Kathrin vertrat allerdings die Theorie, dass genau das Gegenteil der Fall war und es sich bei ihren ständigen Diskussionen um eine Art Balzverhalten handelte.

»Was ist mit der fehlenden Futterlieferung von…?«

Nach und nach arbeiteten sie die verschiedenen Punkte der Tagesordnung ab. Da ging es um ein defektes Schloss am Nebentor, um Bäume, die zurückgeschnitten werden mussten, um Gesundheitsfragen, um eine Futterumstellung für Kain, einen steinalten Brillenbären, der inzwischen alleine in seiner Seniorenresidenz auf dem Gelände lebte.

Schließlich blies Sebastian die Wangen auf und verschränkte die Hände auf dem kaum sichtbaren Bauchansatz. »So, das also dazu. Ich habe jetzt noch zwei Nachrichten. Eine gute und eine schlechte. Jedenfalls werdet ihr das so sehen.«

Unwillkürlich setzte Mark sich auf. Seit Tagen schon hatte er gespürt, dass etwas in der Luft lag. Etwas, das ihm nicht gefallen würde.

»Die schlechte zuerst: Wir kommen nicht mehr drum herum. Ich habe gestern mit dem Tourismusverband gesprochen. Und dass ich seit Monaten mit den Geldgebern und der Stiftung jongliere, wisst ihr auch. Kurz gesagt: Wir brauchen Publikumsverkehr, wenn wir auf dem Niveau weitermachen wollen wie bisher.«

Mark unterdrückte ein Stöhnen.

Theo gab sich nicht so viel Mühe. Er ächzte lautstark. »Oh nein. Ist das der Moment, in dem du uns sagst, dass wir ein Zoo werden?«

»Am besten noch mit Achterbahn und Schießbude nebenan?«, warf Kathrin ein. Aufgebracht fuhr sie sich durch ihre streichholzkurzen Haare.

»So schlimm wird es wohl nicht werden. Aber wir brauchen mehr Aufmerksamkeit. Nicht nur durch Besucher, sondern auch durch potentielle Spendengeber. Und bei denen sitzen die Geldbeutel einfach lockerer, wenn wir ihnen zeigen, was wir hier machen.« Sebastian sah sie nacheinander an. »Schaut mal, das hier war nie als langfristige Lösung gedacht. Es war am Anfang nur ein Auffangbecken für den IBF, weil die Gemeinde das Gelände so günstig verpachtet hat und wir auf die örtlichen Gegebenheiten aufbauen konnten. Es war nie geplant, dass wir so wachsen oder dass hier auf einmal fünf feste Angestellte herumspringen. Und ja, mir ist klar, dass Kathrin und Gertrud nur stundenweise hier sind«, warf er ein, da Kathrin den Mund schon halb offen hatte. »Es sind immer noch enorme Kosten. Von den Wölfen, die ungeplant dazugekommen sind, will ich gar nicht erst anfangen.«

»Wir haben doch die beiden großen Erbschaften«, warf Theo mürrisch ein. »Was ist damit?«

Mark schüttelte unwillig den Kopf. Er hätte sich gern aktiver am Gespräch beteiligt, aber in dieser Situation würde er nicht nur nichts zuwege bringen, sondern erst gar nicht dazwischen kommen.

Glücklicherweise sprach Sebastian seine Gedanken laut aus. »Ich habe euch schon x-Mal vorgerechnet, was unsere Gehälter und das Futter jeden Monat kosten. Und dann sind wir noch lange nicht bei der Instandhaltung, beim Tierarzt, bei Transporten und so weiter. Die Liste ist endlos. Wir haben jetzt die Wahl. Wir können weitermachen wie bisher und sind bald am Ende unserer Mittel oder wir können die Türen aufmachen. Anders geht es nicht mehr, Leute.«

»Und wenn wir auf Stunden verzichten? Gehalt?« Theo war noch nicht bereit, sich geschlagen zu geben. Leider war es mit seinem Kampfgeist weiter her als mit seinen Rechenkünsten.

Grob überschlug Mark die monatlichen Kosten und dachte für sich, dass sie Erbschaften und Spenden eines ganz anderen Kalibers brauchten, wenn sie auf Kurs bleiben wollten. Es gab so schrecklich viele notleidende Tiere und so verflucht wenig Plätze für sie.

»W-w-w-as sagt d-die G-g-g-g-g-g-g...« Er verzog den Mund und setzte neu an. »G-g-gemeinde? Und der T-t-t-tourismusverband?«

»Das ist genau der Punkt, Mark«, sagte Sebastian und wandte sich ihm zu. »Wenn wir bereit sind, auf unseren Status als unzugängliches Wildgehege zu verzichten und stattdessen zu etwas werden, das sich vermarkten lässt, kriegen wir mehr Zuschüsse von dieser Seite. Außerdem kommen wir mit einem offiziellen Geschäftsplan auch an einen Kredit, um die wichtigsten Baumaßnahmen umsetzen. Wir werden Hilfe beim Marketing erhalten, auch Rückendeckung beim Versicherungsstatus. Und das Wichtigste: Wir können dann das Gebiet am Südhang und um den Tümpel dazupachten. Das wären rund sieben Hektar Land zusätzlich.«

Die Flut der Informationen und auch der Fortschritt der Überlegungen ließ die Mitarbeiter schweigen. Jeder für sich erkannte, dass Sebastians Pläne schon sehr weit gediehen und dieses Mal unumstößlich waren. In den letzten zwei Jahren hatte es immer wieder Überlegungen über die Zukunft des Schutzparks gegeben. Im Grunde hatten sie alle gewusst, dass sich etwas tun musste. Nur dass es jetzt so plötzlich kommen sollte…

Erstaunlicherweise war es Kathrin, die schließlich nachdenklich nickte und auf den Schreck erst einmal einen Muffin verschlang. Mit vollem Mund erwiderte sie: »Platz für mehr Bären.«

»Nicht nur das.«

Gertrud, die bisher beharrlich geschwiegen hatte, griff an das Kruzifix, das an einer Kette um ihren faltigen Hals hing, und murmelte: »Jesus Maria, am End bring' de uns a no Krokodil und Nasheana oh.«

Alle lachten. Selbst Mark, dem beim Gedanken daran, dass ihm bald Besucher zwischen den Füßen umherlaufen und ihn mit Fragen löchern könnten, ganz anders wurde, musste lächeln.

»Das will ich nicht hoffen. Aber ja, es wurde der eine oder andere Vorschlag in der Richtung gemacht. Auch ganz vernünftige«, erklärte Sebastian rasch.

»Spielplätze, Gruppenführungen, Picknickplätze, Nachtwanderungen, Eisbuden«, stöhnte Theo. »Indianernachmittage, Trappertage, Weihnachtsfest.«

»He, du bist ja richtig gut. Ich werde der Stadt mitteilen, dass ich hier jemanden mit nützlichen Ideen habe.«

»Mach mich nicht fertig!«

Sebastian grinste. »Mal im Ernst, wir werden ein bisschen was anbieten müssen. Eis an der Kasse sollte das kleinste Problem sein. Einen netten Holzspielplatz, zwei Aussichtsgerüste und Sitzbänke werden wir auch unterbekommen. Aber was ich eigentlich meinte: Es wurde vorgeschlagen, auf Dauer ein oder zwei andere Arten aufzunehmen. Vielleicht ein Luchspärchen, Waschbären, die irgendwo ihr Unwesen treiben und versetzt werden müssen. Unten am Wasserlauf eventuell Otter.«

Plötzlich ganz Feuer und Flamme lehnte Kathrin sich vor. »Waschbären?« Ihre Augen leuchteten. »Für einen Haufen Waschbären kann ich mit Besuchern leben. Ich kann nur für nichts garantieren, wenn jemand anfängt, Scheiße durch den Zaun zu stecken. Kaugummis oder Schokoriegel oder Schlimmeres.«

Theo schnaubte. »Das soll sich mal einer wagen. Dem hau ich die Schaufel auf den Kopf.«

»Du brauchst ihnen nur deine Zombie-Arme zeigen. Das reicht als Abschreckung«, gab Kathrin breit grinsend zurück. Theos Arme waren bis auf den letzten Zentimeter mit blutigen Darstellungen von Untoten bedeckt, die im krassen Gegensatz zu seinen freundlichen Hundeaugen standen. »Ich wäre dir übrigens sehr dankbar dafür.«

»I mach de Kasse. Wenn ma oana komisch aussieht, lasse i den gar ned erst nei. So oafach is des.«

Die allgemeine Stimmung wandelte sich ins Positive, aber Mark konnte sich nicht mit dem Gedanken anfreunden, dass sich ihre kleine Welt so sehr verändern sollte. Vielleicht, weil es ihm schwerer als den anderen fallen würde, sich anzupassen.

Er war so froh um seinen stillen Arbeitsplatz, an dem alle wussten, dass er seit frühester Kindheit stotterte und dass daran nichts zu ändern war. Wenn es etwas gab, das ihn noch mehr störte als Mitleid und Starrer, dann Menschen, die ihm schlaue Ratschläge gaben oder versuchten, das Rätsel Mark Schwanitz zu lösen.

Dem nächsten besorgt dreinschauenden Gutmenschen, der ihm eine Psychotherapie oder noch besser eine Kristalltanzwunderkur empfahl, würde er vermutlich vors Schienbein treten. Als hätte er nicht schon jede mögliche Behandlung hinter sich! Als wären seine Eltern nicht mit ihm durch ganz Deutschland und die Schweiz gegondelt, um herauszufinden, was in seinem Gehirn nicht richtig verkabelt war. Aber es gab keinen Grund für seinen Sprachfehler. Er war schlicht so geboren worden.

»Bevor ihr hier Schlachtpläne gegen die Besucher schmiedet oder das neue Areal mit Kamelen und Ameisenbären bevölkert...«

»Ameisenbären sind immerhin auch Bären. Wir könnten...«, redete Kathrin dazwischen.

»Sind sie nicht, sie sind doch mit Faultieren verwandt. Hast du in der Schule nicht aufgepasst?«

»Heißen aber Bär!«

»... lasst uns eben noch einmal ernst werden. Die Entscheidung ist also getroffen. Und nur, damit wir das hier im Team klarhaben: Es war nicht unbedingt meine, sondern eine, die mir von außen aufgezwungen wurde. Wie wir genau vorgehen, werden wir später besprechen. Aber ich schätze, dass die Bauarbeiten noch in diesem Jahr beginnen werden. Am besten, sobald die Bank und die Stadt sich mit dem Kredit einig geworden sind. Nächstes Frühjahr sollten wir eröffnen können. Und bis dahin...« Sebastian zog einen Hefter aus der Mappe und schob ihn über den Tisch. »... können wir unseren Neuzugang aufpäppeln.« Er sah Mark fest an, als ahnte er, dass der sich am wenigsten mit der neuen Situation abfinden konnte. »Wir bekommen einen Kodiak.«

Mark horchte auf. Er griff nach dem Hefter und öffnete ihn. »W-w-w-woher?« Der Kodiakbär war der größte Vertreter der Braunbärenfamilie und selten noch dazu.

»Er kommt aus einem Wanderzirkus, der durch Mexiko und ein paar südliche Bundesstaaten der USA getingelt ist. Fragt mich nicht, wo die ihn herbekommen haben. Es wird einer der üblichen Wildfänge sein«, erklärte ihr Chef deutlich entspannter als zuvor.

Eine Handvoll pixeliger Fotos rutschte Mark in den Schoß. Interessiert betrachtete er sie, konnte aber außer einem großen Haufen verfilzten Fells nicht viel erkennen. Offenbar waren die Aufnahmen im Halbdunkel gemacht worden. Gut für den Bären, schlecht für seine Neugier.

Sebastian fuhr fort. »Ganz miese Nummer. Die Tierschutzgesetze dort sind anders als bei uns, das wisst ihr ja. Aber in dem Fall ging das mit der Enteignung recht fix. Ist 'ne lange Geschichte. Der Zirkus hatte finanzielle Probleme und sich als Drogenkurier einsetzen lassen. Und weil die Amis ja nicht doof sind und die Grenze zu Mexiko im Auge behalten, haben die Zirkusleute den Stoff in Tüten verpackt und den Tieren untergeschoben.«

Theo wurde bleich. »Sag nicht, sie haben sie ihnen...«

»Doch, sie hatten unter anderem ein Löwenpärchen, dem sie das Zeug in den Bauch haben operieren lassen. Irgendein Schwein mit einem Skalpell hat sie in Mexiko aufgemacht, das Zeug reingepackt, und irgendwo in Texas in der Pampa wurde das Ganze wieder entnommen. Meistens Kokain.« Sebastian schien kurz davor, auf den Boden zu spucken. »Dadurch war die Frage der Tierhaltung jedenfalls ratzfatz durch. Als unsere Leute vor Ort die Hand auf die Tiere gelegt haben, war es den Schmugglern egal, was aus ihnen wurde. Dieser Bär jedenfalls… Es lässt sich nicht genau sagen, wie alt er ist. Das Gebiss passt nicht zu den Aussagen des Zirkusdirektors, wie lange sie ihn schon haben. Auf jeden Fall ist er noch nicht ganz ausgewachsen, jünger als zehn Jahre also. Sein Zustand ist nicht gut, aber auch nicht katastrophal. Entzündete Augen, falsche Ernährung, Liegestellen, Wunde an der Nase, Schwielen, gestörtes Verhalten. Damit werden wir aber wohl fertig, oder?«

Theo trommelte mit dem Kaffeebecher auf den Tisch, Kathrin strahlte und Gertrud sagte aus tiefstem Herzen: »Den krieg'n mia scho wieda hin, den arma Burschn.«

»Das sehe ich auch so. In etwa zwei Wochen kommt er an. Und...« Sebastian hob vielsagend den Zeigefinger. »... wenn wir nicht neue Optionen hätten, hätte ich vermutlich ablehnen müssen.«

»Ja ja,«, stöhnten Kathrin und Theo im Chor, und Mark kam es vor, als wäre er gar nicht mehr im Raum. Als hätte er mit all diesen Entscheidungen und Erlebnissen nichts zu tun. Zwischen seinen Kollegen und ihm hatte sich eine Barriere gebildet. Ein Graben hätte nicht breiter sein können.

Er leckte sich die Lippen und fragte: »W-w-wie h-h-h-heißt er?« Namen fand er wichtig. Den Bären war es vollkommen egal, wie man sie rief. Sie reagierten sowieso vorzugsweise auf das Klappern der Futtereimer. Aber Mark war der Meinung, dass ein Name zu dem Prozess gehörte, sie von einem missbrauchten Gegenstand in ein lebendiges Wesen zu verwandeln.

Um Sebastians Mundwinkel zuckte es. »Peggy.«

»Peggy?« Gertrud sperrte Mund und Augen auf. Auf ihrem wettergegerbten, faltigen Gesicht stand pure Entrüstung.

Kathrin schloss sich ihr an. »Hast du nicht gesagt...«

»Ja, ihr habt es schon richtig verstanden. Der Bär ist ein Männchen. Entweder sie haben es nicht gemerkt oder es war ihnen egal.«

»Nicht gemerkt?« Theo zeigte ihm einen Vogel. »So blind kann man ja gar nicht sein. Peggy. Das ist doch kein Name für einen Bären. Egal, ob Männlein oder Weiblein.« Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und winkte hinter dem Rücken ihres Chefs zu Mark herüber. »Das wäre dir garantiert nicht passiert, häh? Einen Schwanz mit einer F...«

»Theo!«, fuhren die Frauen ihn gleichzeitig an, sodass er sich lachend geschlagen gab.

Mark zeigte ihm den Mittelfinger und schwor sich, ihm später eine gepfefferte Retourkutsche per SMS zu schicken.

Kapitel 3

Das Heben und Senken hatte aufgehört. Auch die Stöße, die ihn immer wieder gegen die Wände seiner beengten Umgebung geworfen hatten, waren zum Erliegen gekommen. Nicht jedoch das Kratzen seiner Krallen auf dem dünnen Blech, das die Kiste von innen auskleidete.

Er zitterte. Verwirrung, Stress, Anspannung, Angst.

Die Welt um ihn wankte erneut. Er konnte sich nicht erinnern, wann sie zuletzt stillgestanden hatte.

Von seiner rollenden Kiste hatten sie ihn in eine andere gehen lassen, von da an einen anderen Ort, er spürte ein kurzes Stechen und dann Dunkelheit. Als er aufwachte, war er von scharfen Gerüchen umgeben gewesen. Immer wieder auch von fremden Stimmen, die miteinander und scheinbar auf ihn einredeten. Sie hatten nicht aggressiv geklungen, aber das Fremde, das Bedrohliche war ihm trotzdem auf den Magen geschlagen. Vielleicht war es auch das Futter gewesen, das so ganz anders roch, als er es gewohnt war.

Kaum, dass er sich ein wenig wohler fühlte, hatten sie ihn wieder angegriffen, ihn gestochen und erneut in eine Kiste getrieben. Der neue Bau war viel zu eng gewesen. Doch bevor er sich wehren konnte, war er zu träge geworden, um sich darum zu scheren.

Dann begann das Rumpeln, Rattern, Pfeifen und Schrillen. Es hatte ihn bis hierher begleitet.

Seine Schnauze fühlte sich eigenartig an, schmeckte noch seltsamer. Auf und ab bewegte sich seine Welt, drehte sich um ihn. Er hatte Durst. Wann würden sie ihm seine Schüssel geben? Wollten sie ihn verdursten lassen?

Verdursten. Was bedeutete das überhaupt? Er rammte den Schädel gegen die Wand und vertrieb das fremde Wort aus seinem Bewusstsein.

Von außen sprach jemand. Er kannte die Stimme. Sie war immer wieder aufgetaucht, seitdem er in der Kiste gefangen war. Manchmal in Verbindung mit Wasser oder Fressen. Dennoch warnte ihn sein Instinkt. Etwas passierte. Es roch falsch und doch richtig. Fest und würzig und voll und leicht zugleich. Vertraut? Nicht ganz.

Wieder begann die Kiste zu rütteln und sich zu bewegen, dann ruckte sie und stand still. Mehrere Menschen waren in seiner Nähe, alles Fremde.

Neues tauchte auf, als jemand die Wand vor ihm öffnete. Vor zwei Beinen erkannte er Gitterstäbe und dahinter... Grün.

Der Bär spürte ein Sehnen wie nie zuvor. Dabei war es immer in ihm gewesen. Er hatte es nur vergessen. Ein paar letzte Bewegungen hinter ihm, ein Klirren, ein Ruf, dann öffnete sich das Gitter.

***

Marks Herz schlug ihm bis zum Hals. Es ging ihm jedes Mal so, wenn sie einen Neuzugang bekamen. Sie wussten nie genau, was sie erwartete, wenn das neue Tier ins Freie trat. Fotos konnten oft nicht vermitteln, wie sehr man die Bären misshandelt hatte, denn die Grausamkeit spiegelte sich meistens nicht nur in den sichtbaren Wunden, sondern auch im Verhalten wider.

Heike sprach leise mit der resoluten Amerikanerin, die den Bären auf dem Flug begleitet hatte. Die Frauen hielten Abstand vom Zaun und bewiesen damit mehr Zurückhaltung als die Mitarbeiter des Parks.

»Wir sollten gehen«, bemerkte Sebastian lahm. »Ihn in Ruhe lassen. Einer reicht als Wache.«

»Hm«, machte Theo und trat von einem Fuß auf den anderen. »Wo steckt eigentlich Kathrin?« Dass sich einer von ihnen die Ankunft eines neuen Bewohners entgehen ließ, war mehr als ungewöhnlich.

»Spielt Vogelmama.«

»Huh?«

»Bringt alles raus, was sie gegessen hat.«

»Aber sie füttert hoffentlich nur das Klo.«

Die Männer lachten nervös, während Gertrud Unverständliches murmelte und sich ihren Schal enger um den Hals zog. Ihre kleine, wundgeriebene Nase lugte über dem Stoff heraus, und alle paar Minuten nieste sie geräuschvoll.

Mark hielt es nicht länger bei seinen Kollegen aus. Er ging ein Stück am Gitter entlang und stellte sich auf einen der gefällten Baumstämme, die aufgestapelt am Wegesrand lagen und ihnen manchmal als Sitzgelegenheiten dienten. Wenigstens daran würde sich in Zukunft nichts ändern.

Seit der ersten Lagebesprechung waren viele Steine ins Rollen gekommen. Gestalter, Spendengeber, Tourismusprofis, Kollegen aus anderen Parks mit ähnlichen Anlagen hatten sich die Klinke in die Hand gegeben. Allmählich nahm das Konzept Öffentlicher Bärenpark Formen an.

Mark war erleichtert, dass man sich geeinigt hatte, dem Park einen rustikalen Anstrich zu geben. Wege, Beschilderung und Rastplätze sollten die Illusion erzeugen, durch kanadische Wälder zu streifen. Plastikschilder oder schreiend bunte Spielplätze würde es nicht geben, dafür einen Waldlehrpfad, einen Totemplatz und ein Holzhäuschen, in dem man sich durch Bilder und Videos über die Misshandlung der Bären informieren konnte.

Nichtsdestotrotz hatte sich zu seiner ursprünglichen Sorge wegen der vielen Veränderungen eine neue gesellt: Sebastian hatte ihm den Finanzplan gezeigt. Seitdem wachte Mark regelmäßig nachts auf und fragte sich, was werden sollte, wenn sie sich verkalkulierten. Wenn nicht so viele Besucher kamen, wie der Verband hochgerechnet hatte. Würden sie dann alle ihre Arbeit und die Tiere ihr Zuhause verlieren? Das wollte er sich nicht einmal vorstellen.

Mark wandte sich halb um, als er aus dem Augenwinkel eine Bewegung auf der Hauptanlage bemerkte. Ein dunkler Umriss drückte sich um einen Baumstamm herum und beobachtete wachsam das Treiben der Menschen.

»S-schon gut, Großer«, raunte Mark. »N-niemand tut d-dir was.«

Doch der Kragenbär Krümel, der aus einer Gallenfarm gerettet worden war, schien ihm nicht zu glauben. Er verschwand wieder im Unterholz.

Ein leiser Ausruf lenkte Marks Interesse wieder zum eigentlichen Grund ihres Wartens. Schnell ließ er den Blick zur Reisekiste zurückschweifen, nur um eine gewaltige Pranke ins Freie tasten zu sehen. Einen Moment später verschwand sie wieder und ließ Mark verfluchen, dass sie die Kiste mit der geschlossenen Seite zu ihnen aufgestellt hatten. Für den Bären war das besser, aber er platzte fast vor Neugier.

Wir sind zu viele hier, dachte er. Wir sollten ihn wirklich allein rauskommen lassen.

Aber er brachte es nicht über sich, sich abzuwenden. Jeder Neuankömmling war ein kleines Wunder, das es zu bestaunen galt. Doch in diesem Fall war es anders. Nicht nur, weil es sich um einen seltenen Kodiakbären handelte.

Es war, als würden sie mit ihm eine neue Ära einleiten, eine Zeit der Veränderung. Vielleicht kam es Mark auch nur so vor, weil er wusste, dass der Neue nur dank der Umbaumaßnahmen zu ihnen gekommen war. Eigentlich waren sie voll belegt gewesen und hätten erst wieder ein Tier aufnehmen können, wenn ein anderes vorher ging. Jetzt hatte Sebastian ein Auge zugedrückt, weil man wusste, dass in wenigen Monaten ein neues Stück Land an die Freianlage angeschlossen werden würde.

Heike kam zu ihm herübergeschlendert, unter dem Arm Begleitpapiere und ärztliche Unterlagen. Glücklicherweise folgte ihr keiner der anderen. Auch die Tierbegleiterin Mrs. Wilkinson, die bei ihrer Ankunft energisch auf Mark eingeredet hatte, hielt sich fern. Er hatte sie zwar verstanden – sein Englisch und Französisch waren hervorragend –, aber in einer fremden Sprache antworten... Das konnte er beim besten Willen nicht.

»U-und?«, fragte er, als Heike neben ihn auf den Baumstamm kraxelte.

»Was und?«

»B-bef-f-funde-e?«

»Für das, was er hinter sich hat, sieht er ganz gut aus.«

Sebastian winkte ihnen zu und bedeutete, dass sie gehen würden. Mit Mrs. Wilkinson und Gertrud rechts und links, und Theo missmutig hinterherschlurfend bog er auf den Pfad ein, der zum Futterhaus führte.

Ein Seitenblick verriet Mark, dass Heike die Stirn gerunzelt hatte. Doch länger konnte er sie nicht beobachten. Da war wieder eine Bewegung am Transportkäfig gewesen. Deshalb beließ er es bei einem »A-aber?«

Die Tierärztin gab einen nachdenklichen Laut von sich. »Ich weiß es nicht. Auf der einen Seite ist er erstaunlich gesund. Er ist das einzige Tier aus dem Zirkus, das nicht bis zum Anschlag verwurmt gewesen ist. Und seine Zähne sehen auch nicht aus, als hätte er lange in Gefangenschaft gelebt und vielleicht am Gitter genagt. Überhaupt, wenn man mir das Gebiss ohne Hintergrundinformationen gezeigt hätte, hätte ich vermutet, dass es zu einem viel jüngeren Tier gehört. Zwei bis vier Jahre höchstens. So jung kann er aber nicht sein.« Sie tippte sich an die Oberlippe. »Dann sind da noch die Nierenwerte, die ich nicht verstehe. Und die bleichen Schleimhäute, die nicht zum Blutbild passen.«

Besorgt, obwohl er den Bären noch nicht einmal zu Gesicht bekommen hatte, ruckte Mark zu ihr herum. »W-w-w-as h-h-h-h-heißt das?«

Sie zuckte die Achseln. »Wie gesagt, ich weiß es nicht. Ich werde ein paar Kollegen anrufen, um mich mit ihnen zu besprechen. Vielleicht haben sie schon mal ähnliche Erfahrungen bei einem Kodiak gemacht. Mir fehlt da echt der Vergleich. Ist ja nicht so, dass die Nierenwerte besonders schlecht wären. Nur eben auffällig. Vielleicht haben sie ihm einfach zu wenig Wasser zur Verfügung gestellt. Ich stochere da gerade ehrlich gesagt im Dunkeln.«

Mark dankte ihr mit einem Nicken und einem Lächeln für ihre Ehrlichkeit. Ihm war es lieber, wenn sie zugab, nicht zu wissen, was los war. Ihr früherer Tierarzt hatte manchmal auf gut Glück behandelt und dabei ein paar üble Böcke geschossen.

»He, ich glaub, es geht los«, flüsterte sie plötzlich.

Mark stellte sich auf die Zehenspitzen, um nicht eine der Gitterverstärkungen vor den Augen zu haben.

Heike hatte recht. Sehr langsam schob sich ein massiger Körper aus der Kiste. Nach ein paar Zentimetern hielt der Bär inne. Mark konnte fürs Erste nur den rechten Vorderlauf erkennen. Mit angehaltenem Atem wartete er.

Minuten verstrichen, in denen der Kodiak halb im Freien stand. Sein Kopf schien gesenkt zu sein. Einmal flogen Gras und Erde auf, als würde er im Boden scharren. Dann löste er sich allmählich aus der Sicherheit der Kiste. Zwei Schritte zur Seite, drei nach vorn, und er stand in seinem kleinen Quarantäneabteil der Freianlage, die Schnauze erhoben und breitbeinig, als traute er dem Untergrund nicht.

Mark hörte ein Zischen an seiner Seite und wusste, dass Heike genau wie er die Luft angehalten hatte. Zutiefst berührt von dem Wissen, dass ihr neuer Schützling sicher seit Jahren keinen Baum gesehen und keinen Erdboden gerochen hatte, legte er Heike den Arm um die Schultern. Augenblicklich griff sie nach seiner Hand und drückte sich näher an ihn.

»Er ist...«, flüsterte sie und schwieg.

Mark verstand. Es gab keine Worte.

Der Kodiak war deutlich größer als die anderen Bären im Park. Wenn er erst einmal ausgewachsen und gut ernährt war, würde er wohl gut sechshundert Kilogramm auf die Waage bringen, wenn nicht sogar mehr. Dabei war er hochgewachsen und hatte längere Gliedmaßen als ihre Braun-, Grizzly- und Kragenbären. Auch seine Schnauze war länger, sodass er weniger putzig wirkte. Er strahlte etwas Majestätisches aus, das Mark sonst eher mit Löwen in Verbindung brachte und das ihm Respekt einflößte.

Der Bär bewegte sich ein Stück von der Kiste weg. Sein Schädel schwankte von einer Seite zur anderen, bis er Mark und Heike ins Auge fasste. Sofort versteifte sich sein Körper. Er reckte die Brust heraus, als wollte er sich aufrichten, blieb jedoch am Boden und starrte sie an. Hielt ihren Blick. Lange.

Heike murmelte: »Was tut er da?«

Mark hatte keine Antwort. Auch ihn irritierte der Blick des Bären. Es lag etwas darin, das nicht zu einem Wildtier passte. Andererseits war der Kodiak kein richtiges Wildtier. Er hatte bei Menschen gelebt. Und da nicht klar war, wie alt er war und wie lange er mit dem Zirkus durch das Land gezogen war, mochte es durchaus sein, dass er eine Handaufzucht war. Aber selbst die wurden nie wirklich zahm und blieben, was sie waren: Raubtiere.

»Immer wieder komisch, wenn sie hier ankommen«, sagte Heike leise. »Was er wohl erlebt hat? Und was er für Macken entwickelt hat?«

Auch Mark stellte sich diese Fragen. Ihre Bären wiesen die merkwürdigsten Verhaltensweisen auf. Manche schliefen immer noch in derselben verkrümmten Haltung, in der man sie früher in die Gallenkäfige gezwungen hatte. Andere liefen immer dieselben Areale ab, Meter für Meter, obwohl sie viel mehr Platz zur Verfügung hatten. Sie markierten die Größe ihrer alten Gehege und konnten sich nicht aus dem Trott lösen, dem sie jahrelang gefolgt waren.

Warum sollte also nicht einer von ihnen die Eigenart entwickelt haben, Menschen niederzustarren? Den Feind immer im Auge zu behalten?

»Matunnos«, sagte Mark gedankenverloren.

»Wie bitte?«

»Matunnos. S-s-sein N-n-name.«

»Nie gehört. Was heißt das?«

Aber Mark konnte es ihr nicht erklären. Auch nicht, warum er den Namen des keltischen Bärengottes für angemessen hielt. Er passte schlicht zu dem Koloss, der sich jetzt langsam von ihnen abwandte und auf staksigen Beinen zu dem Futter tappte, das sie für ihn bereitgelegt hatten. Suchend schnüffelte er an Obst und Gemüse, entdeckte zielsicher die Weintrauben dazwischen und begann, sich darüber herzumachen. Von hinten, mit dem kurzen Schwänzchen im zimtfarbenen Fell, sah er gar nicht mehr königlich aus.

»Tja, das wirst du mit Kathrin ausdiskutieren müssen«, erklärte Heike grinsend. »Sie wollte ihn passend zu Krümel Cookie nennen.«

***

Als die Sonne unterging, arbeitete der Bär sich aus dem Dickicht hervor. Das Rascheln der Blätter legte sich auf seine Sinne, die frischen Düfte waren wie eine wohltuende Berührung. Er wollte sich in ihnen suhlen und warf sich auf den Boden, rollte sich auf Gras, Laub und Moos umher, reckte die steifen Gliedmaßen und schüttelte sich. Er gähnte und zeigte dem verbliebenen Licht die Zähne.

Dann setzte er sich langsam in Bewegung, um sein neues Revier zu erkunden. Nachdem er die Kiste verlassen hatte, hatte er keinen Drang danach verspürt. Zu müde war er noch gewesen, zu hungrig und durstig. Also hatte er nach und nach das Futter hinuntergeschlungen, aus dem Wasserbecken getrunken und sich anschließend in der geschützten Mulde unter dem Buschwerk hingelegt. Geschlafen hatte er dennoch nicht sofort.

Sie waren auf der anderen Seite des Hangs unruhig hin- und hergelaufen, die anderen.

Auch jetzt nahm er sie wahr, als er mit gesenkter Schnauze die Spuren seiner Vorgänger erkundete. Sie hielten sich fern. Ein Teil von ihm wartete darauf, dass sie ihn stellten, immerhin befand er sich auf fremdem Boden. Trotzdem wusste er mit einer Gewissheit, die er sich nicht erklären konnte, dass sie ihn nicht angreifen würden. Etwas hielt sie davon ab.

Den federnden Erdboden unter den Tatzen zu spüren, sandte behagliches Schaudern zwischen seine Schulterblätter. Er suchte sich eine schief gewachsene Erle und scheuerte genüsslich den Pelz daran. Von Kopf bis zu den Flanken rieb er sich das Fell, bis sich alte Verklebungen lösten und Luft an die Haut kam.

Das fühlte sich so viel besser an als die Enge in der rollenden Kiste und der noch kleineren danach.

Anschließend trottete er einen Wildwechsel entlang. Er konnte riechen, dass die Grauen hier gewesen waren. Einige von ihnen. Sie waren leichter und schwächer als Bären, aber weit bessere Jäger. Es war gut, sie in der Nähe zu haben. Oft war ihre Beute so groß, dass sie zu viel für das Rudel war. Und dann lohnte es sich, bei dem Kadaver vorbeizuschauen und die Raben zu verscheuchen, bevor sie die besten Bissen stahlen.

Sie und die Grauen waren nicht die einzigen Jäger im Wald. Da waren auch noch die Zweibeiner. Sie waren in seiner Nähe gewesen, als er ankam. Er zögerte. Waren sie es jetzt noch?

Er wünschte, sein Sehvermögen wäre besser. Eine unsinnige Vorstellung, von der er nicht wusste, woher sie kam. Dennoch wäre es ihm lieb gewesen, sich auf sein Augenlicht verlassen zu können, nicht nur auf die Nase, deren Zuverlässigkeit von der Windrichtung abhängig war.

Er war nicht weit von der Stelle entfernt, an der er aus der Kiste gekrochen war. Sie stand immer noch dort. Er wollte sich ihr nicht nähern, damit er nicht wieder darin gefangen wurde. Also machte er einen weiten Bogen um sie und geriet dadurch dichter an das grün bemalte Gitter.

Die Zäune fürchtete er nicht. Der Platz zwischen ihnen bot ihm so viel Bewegungsfreiheit wie nie zuvor. Außerdem wollte er sich gar nicht so viel bewegen. Seine Gelenke waren steif, und an den Stellen, an denen man ihm früher wehgetan hatte, stach es.

Gemächlich folgte er der eisernen Grenze und blieb erst stehen, als er sich sicher war, dass sich ein Zweibeiner in der Nähe aufhielt. Der Bär erkannte ihn. Es war ein Männchen, derselbe Mensch, der ihn zuvor beobachtet hatte.

Das Raubtier sog die Luft ein. Dieses Mal war der Mann allein. Das Weibchen, das nach Schmerz roch, war nicht bei ihm. Gut so. Er hatte sie nicht gemocht. Bei ihrem Anblick hatte es ihn geschüttelt.

Aber der Mann, das war etwas anderes. Wie ruhig er ihm entgegensah. Keine Spur von Hektik. Einen Stock oder ein knallendes Band hatte er auch nicht. Wie hieß das noch? Peitsche. Ja, Peitsche. Dann sprach der Zweibeiner ihn an. Stockend und leise. Freundlich.

Der Bär blieb in sicherer Entfernung stehen und betrachtete die Gestalt auf dem Baumstamm. Der Mann saß im Schneidersitz und hatte das Gesicht in beide Hände gestützt. Er fröstelte ein wenig. Menschen waren so schwache, empfindliche Wesen.

Ein weiteres Mal witterte der Bär, dann trat er näher an das Gitter. Zwischen ihm und dem Zweibeiner lagen immer noch zehn Schritte. Bärenschritte. Und ein sirrendes Etwas, das ihm nicht geheuer war. Er wagte nicht, es zu berühren.

Der Mann lehnte sich nach vorn, wirkte jedoch nicht aggressiv. Auch, als er aufstand, fühlte der Bär sich nicht bedroht. Ein aufgerichteter Mensch bedeutete etwas anderes als ein aufgerichteter Bär. Er wollte nicht kämpfen, nur näherkommen.

Trotzdem wich der Bär zurück, gerade so weit, dass man ihn nicht durch den Zaun stechen oder schlagen konnte. Sicherheitshalber brummte er warnend.

Als Antwort ertönte ein leises Summen, gefolgt von sanften, stolpernden Worten. Er mochte diese Laute. Sie machten ihn zufrieden.

Der Mensch ging ein Stück am Zaun entlang, von ihm weg, holte aus und warf etwas über das Gitter. Dann murmelte er ein paar letzte Worte und wandte sich zum Gehen.

Nach einer Weile näherte der Bär sich der Stelle und schnupperte. Kleine, glatte Dinge lagen im Gras. Er kannte sie, hatte aber lange nicht mehr von ihnen gekostet. Vorsichtig nahm er eins von ihnen auf und machte sich an der harten Schale zu schaffen. Prompt glitt ihm das Geschenk zwischen den Lefzen hervor und fiel zurück ins Gras.

Wie man Nüsse knackte, würde er wohl erst wieder lernen müssen.

Kapitel 4

Die Säge glitt mit einem Jaulen durch das Rundholz. Sofort verdichtete sich der würzige Duft frisch geschnittenen Holzes, den Mark so gern roch. Er erinnerte ihn an seine Kindheit, als er in den Ferien mit dem Großvater hinter dessen heruntergekommenen Bauernhof Feuerholz gehackt hatte. Natürlich hatte sein Opa die Axt geführt und nicht ihm überlassen. Mark hatte nur die gespaltenen Scheite aufgesammelt und zu einem ordentlichen Haufen aufgeschichtet.

Trotzdem war er stolz wie Oskar gewesen. Feuerholz machen war ihr gemeinsames Ding gewesen. Ein echtes Männerding. Wichtiger als das war jedoch gewesen, dass der große, trotz seines Alters immer noch kräftige Bauer ein sehr schweigsamer Mann war. Wenn sie zusammen arbeiteten oder über die Felder spazieren gingen, um nach den Schafen zu sehen, hatten sie sich mit Grunzlauten und Handzeichen verständigt. Mehr brauchten sie nicht, um miteinander auszukommen.

Wahrscheinlich war der Großvater Mark deswegen am liebsten gewesen. Seine Oma war auch ein herzensguter Mensch, der seine Zuneigung in Tonnen selbstgebackener Kekse und Gugelhupfe zeigte, aber sie redete so schrecklich viel.

Die Tür in Marks Rücken ruckte ein paar Mal in ihrem Rahmen und öffnete sich mit einem Quietschen. Er sah über die Schulter und entdeckte Gertrud, die sich in den windschiefen Schuppen schob, die sie als Holzwerkstatt nutzten.

»Wia des hia scho wieda ausschaut«, stöhnte sie. Mit gerümpfter Nase und auf Zehenspitzen, als fürchtete sie, eine Staublawine auszulösen, trippelte sie näher. »Es wird wirkli Zeit, dass i hia eimoi Großreine mach. Aa, wenn ihr des ned woit's. In am Schweinestoi ko doch niemand's orbeitn.«

Mark kam sich vor, als hätte er Kraft seiner Gedanken den Geist seiner Großmutter heraufbeschworen. Dabei wohnte sie immer noch quicklebendig auf dem alten Hof der Familie im Alpenvorland und drohte jedem mit der Suppenkelle, der auch nur die Idee äußerte, sie von dort zu verpflanzen.