Find me, keep me - Raik Thorstad - E-Book

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Raik Thorstad

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Beschreibung

Buchhalter Julian könnte mit seinem Leben eigentlich ganz zufrieden sein, wenn er nur nicht ständig von seinen Partnern verlassen werden würde. Dabei versteht er überhaupt nicht, warum er keine erfolgreiche Beziehung führen kann. Er würde alles für seinen Partner tun, aber offensichtlich ist es nie genug. Eines Tages begegnet er auf der Arbeit Lasse, der Julians Welt im Handumdrehen auf den Kopf stellt. Lasse ist laut, direkt, punkig und kümmert sich gleichzeitig aufopferungsvoll um seine Familie, die im schlechtesten Viertel der Stadt wohnt und deren geringstes Problem ernsthafte Geldsorgen sind. Anfangs noch überfordert, wird Julian schnell klar, dass er helfen muss, vor allem, da er sich zunehmend in Lasse verliebt. Womit er jedoch nicht gerechnet hat: Lasse ist genau der Richtige, um Julian zu zeigen, dass auch er Hilfe braucht. Während ihre Gefühle füreinander immer tiefer werden, wachsen ihnen Probleme über den Kopf, die sie nur gemeinsam bewältigen können.

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Seitenzahl: 954

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Deutsche Erstausgabe (ePub) Juli 2018

© 2018 by Raik Thorstad

Verlagsrechte © 2018 by Cursed Verlag

Inh. Julia Schwenk, Taufkirchen

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,

des öffentlichen Vortrags, sowie der Übertragung

durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile,

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit

Genehmigung des Verlages.

Bildrechte Umschlagillustration

vermittelt durch Shutterstock LLC; iStock

Satz & Layout: Cursed Verlag

Covergestaltung: Hannelore Nistor

ISBN-13: 978-3-95823-704-9

Besuchen Sie uns im Internet:

www.cursed-verlag.de

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Klappentext:

Buchhalter Julian könnte mit seinem Leben eigentlich ganz zufrieden sein, wenn er nur nicht ständig von seinen Partnern verlassen werden würde. Dabei versteht er überhaupt nicht, warum er keine erfolgreiche Beziehung führen kann. Er würde alles für seinen Partner tun, aber offensichtlich ist es nie genug.

Eines Tages begegnet er auf der Arbeit Lasse, der Julians Welt im Handumdrehen auf den Kopf stellt. Lasse ist laut, direkt, punkig und kümmert sich gleichzeitig aufopferungsvoll um seine Familie, die im schlechtesten Viertel der Stadt wohnt und deren geringstes Problem ernsthafte Geldsorgen sind.

Anfangs noch überfordert, wird Julian schnell klar, dass er helfen muss, vor allem, da er sich zunehmend in Lasse verliebt. Womit er jedoch nicht gerechnet hat: Lasse ist genau der Richtige, um Julian zu zeigen, dass auch er Hilfe braucht. Während ihre Gefühle füreinander immer tiefer werden, wachsen ihnen Probleme über den Kopf, die sie nur gemeinsam bewältigen können.

Kapitel 1

»Und? Kommst du zurecht?«

Julian zuckte die Achseln, sodass das zwischen Schulter und Ohr eingeklemmte Telefon gefährlich ins Rutschen geriet. »Klar. Wieso auch nicht?«, erwiderte er, den Blick aus dem Fenster gerichtet, ohne etwas jenseits der streifenfreien Scheiben wahrzunehmen.

Mirko gab einen unbestimmbaren Laut von sich. »Du weißt, warum.«

Julian rieb sich mit den Fingerspitzen über die Nasenwurzel und unterdrückte ein Seufzen. Mirko hatte die letzten zehn Minuten damit verbracht, ihm mühsam die groben Fakten zu Kevins und seiner Trennung aus der Nase zu ziehen. Es gab kaum etwas, über das Julian weniger reden wollte. Aber er hatte sich ja verplappern müssen, als Mirko gefragt hatte, was es Neues gab.

»Mach die Sache nicht größer, als sie ist«, bat er. »Es ist schließlich nicht so, als hätte er sich schon häuslich in meinem Leben eingerichtet. Oder ich mich in seinem. Wir waren ja nur für ein paar Wochen zusammen.« Fünf Wochen und drei Tage. »Also zerbrich du dir nicht den Kopf, sonst bricht Britta mir den Hals.«

Mirko lachte auf – und ließ sich wie erhofft ablenken. »Das würde sie nie tun. Schöne Grüße übrigens. Sie lässt fragen, wann du mal wieder vorbeikommst. Sie hat ein Rezept für irgendeinen ultra-sündigen Nachtisch aufgetan. Angeblich ist da so viel Mascarpone drin, dass sie das Zeug nur dann guten Gewissens machen kann, wenn wir was zu feiern haben.«

Julian senkte den Blick und betrachtete seine Zehen in den weißen Tennissocken. Allein bei der Vorstellung, sich zeitnah in den Wagen zu setzen und vom Ruhrpott bis nach Stuttgart zu düsen, hatte er das Bedürfnis, die Autoschlüssel im Gully zu versenken, ganz aus Versehen natürlich.

Nicht, dass er Mirko und Britta nicht mochte oder etwas dagegen hatte, sie zu besuchen. Aber wie sollte er ihnen erklären, dass er im Augenblick allein sein wollte? Und dass er sich kaum etwas Unangenehmeres vorstellen konnte, als Zeit mit zwei Jungvermählten zu verbringen, die auch sechs Monate nach der Hochzeit noch nicht aus der Honeymoon-Phase raus waren?

»Das wird in nächster Zeit nicht drin sein«, behauptete er. »Wir haben Urlaubssperre in der Abteilung. Keine Ahnung, wann die wieder aufgehoben wird.«

Mirko stutzte nicht einmal. »Wieder Ärger mit der Steuererklärung vom letzten Jahr? Die große Jagd nach den verschwundenen Zahlen?«

Julian presste die Lippen aufeinander, verlegen und erleichtert zugleich. Es war so leicht, Mirko etwas vorzumachen. Es stimmte einfach nicht, dass Zwillinge sich automatisch näher waren als andere Menschen. Dass sie es spürten, wenn der andere in Nöten war oder sich schlecht fühlte. Zumindest Mirko und er hatten diese Art Verbindung nie geteilt, vielleicht, weil sie nicht eineiig waren.

Julian war kein kalter Schauer über den Rücken gelaufen, als Mirko sich vor vielen Jahren auf der Skateboardrampe die Nase gebrochen und das halbe Gesicht abgeschabt hatte. Und anders herum war Mirko von keiner mysteriösen Vorahnung zu den Toiletten gerufen worden, als Julians halbe Klasse versucht hatte, ihn im Schulklo zu ertränken.

Sie waren Brüder, nicht mehr und nicht weniger. Brüder, die sich jederzeit etwas vorspielen konnten.

»Nee, nur ein übler Personalengpass«, spann Julian die Lüge weiter. »Eine Kollegin hat kurzfristig gekündigt, eine andere hatte einen Unfall und wird erst in ein paar Monaten wiederkommen. Dazu noch einer, der mitten in der Chemo steckt«, wenigstens das entsprach der Wahrheit, »und jetzt stehen wir plötzlich mit heruntergelassenen Hosen da.«

»Woah, das klingt wirklich beschissen. Ist ja sowieso schon immer alles so knapp bei euch. Aber hey, die Einladung steht. Ruf einfach durch, sobald du was Näheres sagen kannst, ja? Wir würden uns freuen.«

Julian nickte. »Okay.«

»Und ruf auch an, wenn du was brauchst. Tag und Nacht.«

»Ja-ha.«

»Julian, ich mein's ernst.« Brüderlicher Nachdruck klang in Mirkos Stimme mit.

»Ich auch.« Aber auch das stimmte nicht.

Nachdem sie sich voneinander verabschiedet hatten, ließ Julian sich in den Sessel sinken und starrte blicklos zur Schräge seiner Dachwohnung. Durch das nach Westen gerichtete Fenster fiel ein Rest Abendlicht ins Wohnzimmer und färbte den Stoffbezug der Sitzgruppe gelb.

Er schämte sich. Mirko anzulügen war eins, den Kollegen Unfälle anzudichten und auch noch die Krebserkrankung eines anderen vorzuschieben, etwas ganz anderes. Am schlimmsten aber war, wie leicht es ihm inzwischen fiel, Märchen zu erzählen.

Julian wusste nicht, wann es angefangen hatte. Oder warum. Er wusste nur, dass es ihm zur zweiten Natur geworden war, zu lügen. Wenigstens konnte er guten Gewissens behaupten, dass er es nicht gern tat. Trotzdem konnte er es nicht lassen. Es war so viel leichter, zu einer Notlüge zu greifen, als dem Gegenüber sein kompliziertes, nicht massenkompatibles Innenleben zu erklären.

Wahrscheinlich war Kevin deshalb gegangen. Oder aus einem der anderen zahlreichen Gründe, die sich finden ließen, um Julian zu verlassen. Kevin war schließlich nicht der Erste gewesen und würde mit Sicherheit nicht der Letzte bleiben.

Julian zog die Beine ein und ließ sich zur Seite sinken, bis er halb im Sessel lag. Er verschränkte die Arme vor der Brust, während sich vor seinem inneren Auge die letzte Begegnung zwischen seinem Ex-Freund und ihm wiederholte.

Sie hatten im Flur gestanden, gleich hinter der Eingangstür. Kevin hatte noch seine Arbeitskleidung getragen und die Hände in den grünen Hosen versenkt, während er stockend erklärt hatte, dass er es für besser hielt, wenn sie sich nicht mehr sahen.

Julian hatte nur genickt und ihm alles Gute gewünscht. Mehr hatte er nicht über die Lippen gebracht, die Enttäuschung hatte ihm die Zunge gelähmt.

Vielleicht hätte er fragen sollen, was er falsch gemacht hatte und warum Kevin von einem Tag auf den anderen auf einmal meinte, dass sie nicht zusammenpassten. Aber er hatte sich nicht getraut.

Also war Kevin gegangen, mit einem letzten verlegenen Lächeln und mit einem »Danke für die gute Zeit«, das Julian irgendwie unpassend vorgekommen war. Aber er konnte sich kaum beschweren. Kevin hatte es immerhin geschafft, ein paar höfliche Worte herauszuquetschen, und das war mehr, als er von sich selbst sagen konnte.

Er rollte sich enger zusammen. In seiner Brust pochte ein dumpfer Schmerz, vibrierte an seinen Rippen entlang und verschwand schließlich in dem feurigen Loch, das sein übersäuerter Magen war. Manchmal hatte er das Gefühl, dass es mit jeder Trennung, mit jeder Enttäuschung ein bisschen mehr wehtat. Man sollte meinen, dass man sich an den Schmerz und die Zurückweisung gewöhnte. Dass in der Masse der schlechten Erfahrungen eine gewisse Immunität heranwuchs. Tat es aber nicht. Sein Herz blieb frei von Schwielen und jederzeit angreifbar.

Stattdessen wurden nur die Fragen immer lauter. Was mache ich falsch? Warum gehen alle meine Beziehungen in die Hose? Und wieso kann ich es nicht einfach bleiben lassen und akzeptieren, dass ich kein Beziehungstyp bin?

Nur ein einziges Mal – damals bei Simon, einem gutaussehenden BWL-Studenten, der gern tanzte und ein Faible fürs Kuscheln hatte – hatte er gewagt nachzufragen, warum er abserviert wurde. Die Antwort war ihm monatelang im Kopf herumgespukt. Im Grunde begleitete sie ihn immer noch, obwohl seit ihrer kurzen Affäre mehr als zwei Jahre ins Land gegangen waren.

»Ist das dein Ernst? Ich komm mir bei dir vor wie ein Möbelstück, für das du eigentlich gar keinen Platz hast«, hatte Simon traurig erklärt. »Sieh's ein, Julian. Du bist einfach nicht bereit für was Festes.«

Bis heute hatte Julian nicht herausgefunden, ob an Simons Worten etwas Wahres dran war. Sein erster Impuls war gewesen, den Vorwurf in Grund und Boden zu stampfen. Er sollte nicht bereit sein? Er, der sich bemüht hatte, Simon jeden Wunsch zu erfüllen? Er, der vor jedem Date vor Aufregung zitterte? Er, der es hasste, abends allein ins Bett zu gehen und morgens allein aufzuwachen und sich mit aller Gewalt davon abhalten musste, an seinen Liebhabern zu kleben wie eine Mücke im Ahornsirup?

Doch eines ließ sich nicht leugnen: Es waren nun einmal seine Beziehungen, die reihenweise zerbrachen. Das konnte er kaum Simon ankreiden, der vor ihm praktisch ewig mit seinem letzten Partner zusammen gewesen war. Und er war es auch, der kaum Freunde hatte. Ach, was hieß kaum? Gar keine. Bekannte, ja. Aber Freunde?

Wäre da nicht Mirko gewesen, der irgendwann in ihren frühen Zwanzigern plötzlich eine Art Beschützerinstinkt für Julian entwickelt hatte, hätte nicht einmal jemand gewusst, dass es einen Kevin in seinem Leben gegeben hatte. Oder einen Mehmet. Oder einen Frank. Oder einen Mischa. Oder einen Raphael.

So viele Namen. Und keiner war geblieben.

Irgendetwas stimmte nicht mit ihm. Julian hatte keine Ahnung, was es war. Er wusste nur, dass er seine rechte Hand dafür gegeben hätte, sich zu ändern. Um abends nicht länger in eine leere Wohnung zu kommen. Um jemanden zu haben, der blieb.

***

Eine Nacht lang traurig zu sein, reicht, erklärte Julian sich stumm, als er am nächsten Morgen den Rückspiegel missbrauchte, um sein Erscheinungsbild zu überprüfen.

Es war Teil seiner morgendlichen Routine, im Auto noch einmal nach Zahnpastaresten und Krümeln im Mundwinkel Ausschau zu halten. Als er noch in der Ausbildung gewesen war, hatte die Dame an der Rezeption ihn einmal auf einen Kaffeefleck auf seinem Hemd aufmerksam machen müssen. Er wäre vor Verlegenheit beinah gestorben. Seitdem machte er immer einen letzten Check-up, bevor er das Firmengebäude betrat.

Dazu passend hing ein sauberes Ersatzhemd auf dem Rücksitz seines Wagens. Julian hatte gerne einen Plan B in der Hinterhand. Für heiße Sommertage, an denen die Klimaanlage ausfiel, für Kollegen, denen die Kaffeetasse über seiner Schulter entglitt, für einen Joghurtbecher, aus dem es beim Öffnen des Deckels herausspritzte. Wenn man sich nur auf alles so gut vorbereiten könnte wie auf ein versautes Hemd.

Kopfschüttelnd spürte er noch einmal dem leisen Schmerz in seiner Herzgegend nach, dann machte er sich auf den Weg in sein Büro.

Die Stimmung im Eingangsbereich des modernen Komplexes war spürbar besser als an anderen Tagen. Die Tatsache, dass Freitag war, und das Nahen des Pfingstwochenendes hellte die Laune der Mitarbeiter auf. Begrüßungen und flapsige Bemerkungen strichen über Julian hinweg, und er fragte sich, ob man ihm ansah, dass er sich wahrscheinlich als Einziger wünschte, dass Montag wäre.

Montag hieße, dass eine ganze Woche schnurgerader Planung vor ihm lag. Früh ins Büro, konzentriert arbeiten, die Zahlen marschieren lassen und als Letzter nach ein bis zwei Überstunden Feierabend machen. Kurz einkaufen, die Hausarbeit erledigen, vielleicht laufen gehen, wenn das Wetter es hergab, duschen, schlafen, von vorn. Ein perfekter Kreislauf.

Wochenenden dagegen waren… unzuverlässig. Lang. Und einsam. Dieses ganz besonders.

Tu. Das. Nicht, ermahnte Julian sich streng, während er sich im Foyer an ein paar Auszubildenden aus dem Verkaufsbereich vorbeischob. Jedenfalls nicht hier. Und nicht jetzt.

Er strebte auf den Fahrstuhl zu, wich aber in letzter Sekunde auf das Treppenhaus aus, als er eine schrecklich vertraute Stimme durch die sich öffnenden Metalltüren trällern hörte. Judith aus der Werbung war schon an normalen Tagen anstrengend. Doch heute fühlte er sich ihr nicht gewachsen. Wenn sie ihm im Fahrstuhl zu nah rückte, wenn sie ihn allzu breit anlächelte und wie zufällig seinen Arm berührte, nur um glockenhell aufzulachen… Er wusste dann nicht, ob er sie für ein vertrauliches Gespräch beiseite nehmen oder wegschubsen sollte. Wahrscheinlich wäre Ersteres richtig gewesen, aber Julian hatte keine Ahnung, wie er es anfangen sollte.

»Entschuldige bitte, ich weiß deine Aufmerksamkeit zu schätzen, aber ich bin wirklich, wirklich sehr und absolut schwul. Und daher ist es auch nicht deine Schuld, wenn ich nicht interessiert bin. Es tut mir ehrlich leid, dass ich nicht hetero für dich sein kann. Denn du bist echt nett. Und eine ganz tolle Frau. Sagte ich schon, dass es mir leidtut? Und seit wann duzen wir uns eigentlich?«

Unmöglich. Vielleicht gab es Männer, die solche Gespräche auf freundlich-tröstende Weise führen konnten. Julian gehörte nicht zu ihnen. Also wich er Judith lieber aus und joggte die fünf Stockwerke nach oben.

Im Büro angekommen, stellte er fest, dass er der Erste war. Das war nicht ungewöhnlich, da die Kollegen, mit denen er den Raum teilte, oft erst einen Kaffee in der Kantine tranken, bevor sie hochkamen.

Julian machte die Runde um die Schreibtische, startete die Computer und verpasste dem Drucker einen warnenden Klaps für den Fall, dass er den Tag wieder einmal zickig beginnen wollte. Erst als alle vier Rechner beruhigend schnurrten, ließ er sich auf seinen Platz fallen und starrte wie jeden Morgen kopfschüttelnd einen Augenblick lang auf die lindgrün getünchte Wand vor seiner Nase. Er konnte nur hoffen, dass die Person, die entschieden hatte, sämtliche Büros der Buchhaltung in Krankenhaus-Pastelltönen zu streichen, niemals auch nur in die Nähe der Designabteilung kam. Sonst wäre die Firma innerhalb einer Kollektion pleite.

In seinem Eingangskorb stapelten sich die ersten Eingaben. Buchhalterische Nüsse, die andere Kollegen ihm zum Knacken vorbeigebracht hatten. Julian lächelte. Er mochte Zahlen. Wer hätte das gedacht, nachdem er im Matheunterricht jahrelang kein Land gesehen hatte? Er liebte es, Ordnung ins Chaos zu bringen. Er liebte sogar den Geruch von frisch ausgedrucktem Papier und das leise Rascheln beim Durchblättern von Aktenordnern.

Sein Ausbilder hatte von Anfang an behauptet, er wäre der geborene Buchhalter. Damals war ihm das nicht unbedingt wie ein Kompliment vorgekommen. Buchhalter waren langweilig. Bilanzen und Geschäftskonten und Buchungen und Belege noch langweiliger. Aber sie waren nachvollziehbar, friedlich und – wenn man sie einmal im Griff hatte – treuer und zuverlässiger als jeder Hund.

Julian loggte sich ins System ein und machte sich an die Arbeit. Er hörte kaum, wie die anderen eintrafen, und erwiderte ihren Morgengruß nur mit einem abwesenden Nicken. Dass ihm jemand einen Kaffee auf den Schreibtisch gestellt hatte, merkte er erst, als ihm der Geruch in die Nase stieg.

Überrascht sah er auf. »Oh, danke schön«, murmelte er in den Raum hinein. Patrick war hinter seinen Schreibtisch abgetaucht, um in seine Bürolatschen zu schlüpfen, aber Julian bemerkte, dass ihre beiden Zimmergenossinnen – Petra und Aische – einen schnellen Blick wechselten und die Augen verdrehten.

Unwillkürlich zog er die Schultern hoch und fragte sich, was er nun schon wieder falsch gemacht hatte. Es passierte ihm oft, dass er nicht recht wusste, wodurch er bestimmte Reaktionen ausgelöst hatte. Meistens waren es nur verstohlene Gesten und Blicke, die er nicht einsortieren konnte. Manchmal hörte er aber auch, wie man ihm auf dem Flur etwas nachzischelte. Es fühlte sich jedes Mal an, als hätte ihn ein giftiger Stachel getroffen. Nicht dick und lang genug, um eine ernsthafte Wunde zu reißen, aber doch eine kleine Stelle, die für den Rest des Tages brannte.

Erst als sich Petra und Aische an ihre Plätze gesetzt hatten, zog Julian den Kaffee zu sich heran. Er war schwarz und schmeckte nach einem halben Löffel Zucker, genau wie er ihn mochte.

Die Mittagszeit kam viel zu früh – sowohl gefühlt als auch tatsächlich. Wie jeden Freitag trat der eine oder andere Kollege das Wochenende vorzeitig an und nutzte die Gelegenheit, um ein paar Überstunden abzufeiern. Und als würden alle anderen dem Sog folgen, lag die Arbeitsmoral um zwölf Uhr am Boden. Heerscharen von redseligen Menschen pilgerten durch die Gänge, unfähig, auch nur eine Minute lang den Mund zu halten.

Julian war versucht, mit dem Tacker nach ihnen zu werfen. Aber er hatte nur einen, und es gab so viele verlockende Ziele, dass er sich nicht entscheiden konnte.

»Hey!« Manikürte Finger tauchten schnipsend vor ihm auf. Er sah auf und in Aisches rundes Puppengesicht. »Wir gehen schnell essen. Danach heißt es Endspurt.«

»Okay. Guten Hunger.«

Patrick zog die Nase kraus. »Na, wir werden sehen. Vorhin roch es da unten nach Dingen, die eigentlich in keinen Magen gehören. Nicht mal in den von einem Schwein.«

Julian rang sich ein Lächeln ab. Die Kantine war ein ewiger Kritikpunkt der Belegschaft. Es ging das Gerücht, dass das Essen mit Absicht so mies war. Denn wer nicht aufaß, wurde auch nicht kugelrund. Und wer nicht kugelrund wurde, passte wunderbar in die neue, für Normalsterbliche viel zu schmale Sommerkollektion. Zwar stand nirgendwo festgeschrieben, dass sich die Mitarbeiter im eigenen Haus einkleiden mussten, aber die hohen Personalrabatte verrieten die Absichten der Chefetage.

Julian wehrte sich dagegen, im eigenen Katalog einzukaufen. Der Gedanke, dass einer der Geschäftsführer ihn auf dem Gang darauf ansprach, wie gut ihm Artikel 246581 – Anzug Florentinischer Frühling – in Kombination mit Artikel 778314 – Seidenhemd, petrol – doch stünde, war zu verstörend. Außerdem war er nicht sicher, ob ihm diese Art Anbiederei gefiel. »Sehen Sie nur, Chef, ich habe einen Großteil meines Gehalts gleich wieder in die Firma investiert. Ich bin ein guter Junge.«

Nein, war er nicht. Und wer ein bisschen länger mit ihm zu tun hatte, merkte das auch recht schnell. Zumal er sich die Frage stellte, ob er mit siebenundzwanzig Jahren nicht ein bisschen zu alt war, um irgendjemandes Junge zu sein. Er hatte nichts gegen Kreativität im Bett, aber den Daddy-Kink verstand er beim besten Willen nicht.

Julian wartete, bis die anderen das Zimmer geräumt hatten und das Klicken der hohen Absätze der Frauen auf dem Flur verklungen war. Erst dann lehnte er sich zurück und schloss für einen Moment die Augen. Am liebsten hätte er die Mittagszeit ignoriert. Doch die buchhalterischen Rätsel, die man ihm zum Lösen überlassen hatte, würden noch einige Zeit in Anspruch nehmen. Es war eine schlechte Idee, schon wieder nichts zu essen.

Nach Trennungen fiel es ihm jedes Mal schwer, etwas zu sich zu nehmen. Das Essen verlor dann auf dem Weg von der Hand – oder von der Gabel – auf seine Zunge jeden Geschmack und wurde im Mund zum reinsten Sägemehl. Nur die Vernunft trieb es am Ende doch rein.

Seitdem er es nach dem abrupten Ende seiner Beziehung zu Mehmet – oder war es Jens gewesen? – geschafft hatte, mehrere Tage lang zu hungern, bis ihm beim Autofahren der Kreislauf weggesackt war, achtete er besser auf sich. Egal, wie frustriert er war: Er wollte nicht am nächsten Laternenpfahl landen.

Julian gab dem Mülleimer unter dem Schreibtisch einen Tritt. Er hasste es. Jedes Mal, wenn etwas in seinem Privatleben schiefging, fielen ihm die ganzen alten Kamellen wieder ein. Dann trauerte er nicht nur um den verlorenen Freund, sondern auch um jeden seiner Vorgänger. Es war, als könnte er nicht einen von ihnen loslassen. Als wären sie noch in seinem Kopf, seinem Herzen oder schlicht in seinem Hormonspeicher vorhanden, wo immer sie sich auch breitgemacht hatten. Sie verfolgten ihn. Manchmal träumte er davon, dass sie ihn umzingelten und ihn alle der Reihe nach verließen, während er sich wie ein Brummkreisel um sich selbst drehte und versuchte, von wenigstens einem die Hand festzuhalten.

In solchen Nächten stand er auf und ging auf den Balkon, um zu rauchen. Wenn die Temperatur es zuließ, blieb er bis zum Morgen, weil sich sein Schlafzimmer zu eng und zu stickig anfühlte. Er war und blieb ein Jammerlappen, und das kotzte ihn an.

Julian zog die Oberlippe hoch und sprang kurzentschlossen auf. Er hatte genug von den finsteren Gedanken. Er würde jetzt etwas essen und dann an die Arbeit zurückkehren. Und heute Abend würde er sich überlegen, wie er das Wochenende herumbrachte, ohne sich das Gehirn zu zerdenken.

Von der Kantine hielt Julian sich trotzdem fern. Schon von Weitem stieg ihm ein unappetitlicher Geruch in die Nase. Er erinnerte vage an Kohl, den man in ausgelassenem Schweineschmalz aufgekocht und hinterher für eine Woche in den Keller gestellt hatte.

Schaudernd zog er sich an den Automaten vor dem Speisesaal eine Flasche Wasser und ein paar Snacks, dann machte er sich auf den Weg zu seinem privaten Rückzugsort. Dafür musste er das Hauptgebäude durch einen der Hinterausgänge verlassen und die Anlieferungsrampen für die LKWs und die Zufahrtsstraße passieren. Dahinter lag inmitten des Firmengeländes ein verlorenes Paradies.

Eine Laune der Bürokratie hatte dafür gesorgt, dass der kleine Flecken Grün inmitten von Asphalt und Stahlbeton bestehen blieb. Angeblich lebte in dem flachen Tümpel im Zentrum des Biotops eine seltene Krötenart, die um jeden Preis geschützt werden musste. Julian hatte bei seinen zahlreichen Besuchen noch nie auch nur einen Kaulquappenschwanz gesehen.

Als er sich durch die Büsche schob, die den schmalen Zugang in das Gehölz verbargen, dachte er, dass er es den Lurchen kaum verübeln konnte, dass sie sich aus dem Staub gemacht hatten. Das Biotop war eine Müllhalde. Immer wieder wurden Kunststoffabfälle aus dem Lager herangeweht. Lastwagenfahrer warfen achtlos ihre leeren Kaffeebecher aus dem Fenster, Plastikreste schwammen auf dem trüben Wasser und im Sommer drohte der Tümpel jedes Mal umzukippen.

Im Grunde war es kein sehr erstrebenswerter Ort, und genau das machte ihn für Julian attraktiv. Niemand verirrte sich hierher. Von der alten Bank unter den Ästen der Trauerweide wusste wahrscheinlich niemand außer ihm und dem Gärtner, der alle paar Monate gelangweilt die Haselsträucher und den wilden Flieder zurückschnitt.

Auf den letzten Metern beschleunigte Julian seine Schritte. Seine Nerven verlangten nach dem Zucker eines Erdnussriegels und einer Zigarette – und nach der Abgeschiedenheit, die ihm einzig eine zerkratzte Parkbank bieten konnte, deren einst rote Sitzfläche vor langer Zeit ausgeblichen war.

Und die heute zum ersten Mal, solange Julian hierherkam, besetzt war.

Er duckte sich gerade unter den Ästen der Trauerweide hindurch, als er den Fremden bemerkte. Durch die Blätter war nicht mehr von ihm zu erkennen als die Arme, die auf der Lehne ausgebreitet waren, und der in schwarzes Leder gekleidete Rücken.

Julian verharrte, einen der lianenartigen Zweige der Weide halb über dem Gesicht. Am liebsten hätte er geflucht. Da gab es einen einzigen Ort im Umkreis von hunderten von Metern, an dem es nicht wimmelte wie in einem Ameisenstaat, und ausgerechnet heute war er von einem anderen Ruhesuchenden entdeckt worden.

Nicht gestern, als Julian angesichts der Vorfreude auf einen Abend mit Kevin gut gelaunt gewesen war, nicht vor einer Woche, als nach tagelangen Regenfällen endlich die Sonne rausgekommen war und seine gute Laune wachgekitzelt hatte. Nein, heute.

Julian erwog, den Rückwärtsgang einzulegen. Aber wohin sollte er gehen? In die nach Kohl riechende Kantine, in der die Stimmung bestimmt nicht zum Besten stand? Wirklich, wenn die Geschäftsleitung sich nicht bald etwas einfallen ließ, würde es eine Meuterei unter der Belegschaft geben, gegen die die auf der Bounty eine Karnevalsveranstaltung gewesen war. Zurück ins Büro, um seine Tastatur vollzukrümeln? Oder sollte er an den Laderampen rumlungern, immer unter den Blicken der Lagerarbeiter, die sich fragten, was einer der Schlipse in ihrem Revier wollte?

Da kann ich mich ja gleich auf der Toilette einschließen und dort essen, dachte er brummig. Und bei aller inneren Unruhe und allem Unbehagen in der Nähe von anderen Menschen: So tief wollte er nicht sinken.

Sobald er unter den Ästen hervortrat, wandte der Fremde den Kopf. Seiner Miene war keine Überraschung zu entnehmen. Er beobachtete Julian, als der sich aufrichtete und an den Stamm der Weide trat, um seinen Aschenbecher aus einer der Astgabeln zu ziehen. Anschließend nahm er auf der Bank Platz, so weit von dem anderen Mann entfernt wie möglich.

Julians Blick war starr auf den Tümpel gerichtet, auf dessen Oberfläche grünlicher Schaum schwamm. Nur aus dem Augenwinkel erlaubte er sich schnell, den Eindringling zu mustern.

Was er sah, gefiel ihm nicht. Der Kerl war noch jung – fünf oder sechs Jahre jünger als er selbst vielleicht –, sah aber schäbig und verbraucht aus. Seine Augen waren rot gerändert und von Linien umrahmt, bei denen Julian nicht sicher war, ob es sich um Schmutz oder verschmierten Kajal handelte. Angesichts des abgewetzten Ledermantels und des Verkehrsunfalls von einem Haarschnitt – ein schwarzgrün gefärbter, hoch angesetzter Pinsel, darunter ein herauswachsender Undercut in Blond – war beides eine Option.

Ohne es zu wollen, sog Julian prüfend die Luft ein, ob ihm vielleicht der Geruch von schalem Bier oder Schweiß in die Nase stieg. Aber er nahm nur etwas Staubiges wahr, das ihn entfernt an den Dachboden seiner Eltern erinnerte, und natürlich den Gestank des Teichs.

Er zwang sich, sich zu entspannen. Auch wenn der Typ wie ein Junkie aussah, musste das nicht heißen, dass er ihm ans Leder wollte. Wahrscheinlich war er nur eine verlorene Seele, die sich auf ihrer Reise in den Abgrund einen Platz zum Ausruhen gesucht hatte. Kein Grund, nervös oder, noch schlimmer, unfreundlich zu sein.

Was hatte ihre Mutter ihnen immer eingebläut? »Man muss nicht jeden mögen, und man muss nicht jeden verstehen. Aber es gibt keinen einzigen guten Grund, von vornherein unfreundlich zu einem Fremden zu sein.«

Julian legte sein karges Mittagessen neben sich auf die Bank und stellte den Aschenbecher auf dem Schoß ab, bevor er nach seinen Zigaretten tastete. Er hatte den silbernen Metallspender schon in der Hand, als eine belustigte Stimme an sein Ohr drang.

»Kommst du zum Kiffen her oder sind das normale Kippen?«

Julian sah ruckartig auf. Der Fremde hatte sich ihm halb zugewandt, die Unterarme locker auf die Oberschenkel gelegt. Etwas schien ihn zu amüsieren. Er grinste so breit, dass man seine schief stehenden, unteren Schneidezähne erkennen konnte. Jeder Kieferchirurg hätte sich vor Freude die Hände gerieben, um diese Fehlstellung beseitigen zu dürfen.

»Kiffen?«, wiederholte Julian ungläubig. Ihm war schleierhaft, wie sein Gegenüber auf einen solchen Unsinn kam. Sah er etwa aus wie jemand, der während der Arbeitszeit stoned war? Oder war der Typ selbst so sehr an Drogen gewöhnt, dass er automatisch davon ausging, dass auch der Rest der Menschheit keine acht Stunden ohne Stoff auskam?

»Hätte ja sein können.« Der schwarzgrüne Pinsel wippte, als der Fremde die Schultern zuckte. »Warum sonst solltest du einen Aschenbecher hier verstecken und in deinem schicken Anzug durch dieses Schlammloch kriechen?«

»Vielleicht, damit ich nicht auf den Boden aschen muss?«, beantwortete Julian brüsk den ersten Teil der Frage.

Im Stillen gestand er sich ein, dass er die Überlegung nachvollziehen konnte – und sofort grübelte er, ob auch andere sich schon gefragt hatten, was er in der Mittagszeit trieb, wenn er auf einmal vom Erdboden verschwand. Oder was die Lagerarbeiter dachten, von denen sicher schon der eine oder andere gesehen hatte, wie er sich in den Busch schlug. War das vielleicht der Grund, warum er manchmal so komisch angeschaut wurde?

»Meinst du, das bringt noch viel?«

»Wie bitte?«

Julian wagte erneut einen Blick zur Seite, während er sich überlegte, ob er nicht besser wieder verschwinden sollte. Es hatte nicht gereicht, dass jemand seinen Geheimplatz entdeckt hatte, wenn er wirklich dringend allein sein musste. Nein, es musste auch noch jemand sein, der auf ihn einquatschte. Das hatte ihm gerade noch gefehlt. Ob es sehr unhöflich wäre, um Ruhe zu bitten?

Eine schwielige Hand mit einer Reihe schmaler Silberringe deutete auf das Wasser. »Sieht nicht aus, als wäre bei dem Loch noch viel zu retten, oder?« Der ungesund blutleere Mund verzog sich. »Schon ein bisschen ekelig hier.«

Dann verschwinde doch, wollte Julian sagen. Aber das wäre dann doch zu viel des Guten gewesen.

Stattdessen schwieg er und widmete sich ganz dem Entzünden der Zigarette, als würde er ein immens wichtiges Ritual begehen. In Wirklichkeit wollte er beschäftigt wirken.

»Teilst du?«, fragte der Eindringling, kaum dass Julian den ersten Zug genommen hatte. Verwirrt starrte er auf die Zigarette zwischen seinen Fingern, dann zu der unerwünschten Gesellschaft und wieder zurück.

Erwartete der Kerl ernsthaft, dass er ihm den Glimmstängel rüberreichte? Zwar wirkte er auf den zweiten Blick nicht mehr ganz so schäbig wie noch am Anfang – bei den Rändern um seine Augen handelte es sich tatsächlich um verschmierten Kajal und nicht um Dreck –, aber das ging Julian eindeutig zu weit. Sie kannten sich immerhin gar nicht.

Die gierige Miene des anderen konnte er trotzdem nicht ignorieren. Stumm zog er die Packung wieder hervor und bot sie dem Fremden an, der erst überrascht wirkte, aber dann zugriff – mit einem Lächeln und einem herzlichen »Danke, Mann«.

Julian nickte wortlos, hielt ihm das Feuerzeug hin und fragte sich, ob er die verschenkte Kippe von seinem heutigen Kontingent abziehen sollte oder nicht. Er rauchte nie mehr als drei Zigaretten am Tag, allenfalls eine zusätzlich – die Notfallkippe –, wenn er nachts nicht schlafen konnte. Danach war Schluss. Keine Ausnahmen.

Julian kannte sich genau: Wenn er sich nicht am Riemen riss, würde er innerhalb kürzester Zeit wieder auf einer Packung pro Tag sein. Es brauchte keine abstoßenden Bilder auf den Schachteln, um ihm klarzumachen, wie schädlich die Qualmerei war. Gerade weil er sich darüber hinaus bemühte, nett zu seinem Körper zu sein.

»Arbeitest du hier in der Nähe?«, fragte der Fremde ihn, während er Rauch aus dem Mundwinkel stieß.

»Ja.«

»Autoteile, Chips oder Klamotten?«

Das Industriegebiet war in drei in sich geschlossene Firmenareale unterteilt, von denen der Autohersteller mit seiner Ersatzteilfabrik den größten Raum beanspruchte.

»Klamotten«, antwortete Julian knapp.

Das krampfhaft in Gang gehaltene Gespräch ging ihm mit jedem Augenblick mehr auf die Nerven. Er spürte, dass er beobachtet wurde, während er eine langsam im Wasser versinkende Plastiktüte anstarrte. Ob sie sich genauso erbärmlich in den Abgrund gezogen fühlte wie er?

»Bist du immer so gesprächig?«

Julian zerdrückte den Filter seiner Zigarette zwischen zwei Fingern. Ein Unterton lag in der Stimme des Punks oder was immer er darstellte, und er konnte ihn nicht zuordnen. Ärger? Herablassung?

»Nur in der Mittagspause und zu meinen Sprechzeiten. Seh ich aus wie ein Pausenclown?«, rutschte es ihm gereizt heraus.

Der bissige Klang seiner Stimme ließ Julians Ohren rot anlaufen. Wo war das denn hergekommen? Normalerweise hätte er sich eher auf die Zunge gebissen, als eine so pampige Antwort zu geben. Vielleicht war es doch nicht so schlecht, dass das Wochenende vor der Tür stand, wenn er nur wegen eines anstrengenden Jungen um sich schnappte.

Der dagegen schien sich nicht im Geringsten an seiner Antwort zu stören. Er lachte nur leise. »Da könnte ich mir Schlimmeres vorstellen.« Er stand auf und streckte sich ausgiebig, bevor er die Zigarette ordentlich im Aschenbecher ausdrückte – der immer noch auf Julians Bein stand. »Danke noch mal. Nächstes Mal bin ich dann dran.«

Nächstes Mal?, schoss es Julian durch den Kopf. Na, hoffentlich nicht!

Doch da entdeckte er die violette Weste, die unter dem zerschlissenen Ledermantel des Eindringlings hervorlugte; auf der linken Brust ein von Hand beschriebenes Namensschild unter dem Logo der Modekette, für die sie beide arbeiteten.

Julian unterdrückte ein Ächzen.

»Nun guck nicht so entsetzt, Casanova. Sonst könnte ich noch auf den Gedanken kommen, dass du mich nicht magst.«

Das Grinsen um die blutleeren Lippen war so breit, dass es schmerzen musste. Es hellte das verhärmte Gesicht auf und verschob Julians Fokus von den blutunterlaufenen Augen und dem verschmierten Kajal zu dem kräftigen, quadratischen Kiefer, auf dem dunkelblonde Stoppeln prangten.

Bevor er etwas erwidern oder sich fangen konnte, raschelten bereits die Blätter der Weide, als sie über den Ledermantel strichen. Dann war der Besucher verschwunden, als hätte er Julian nie heimgesucht.

Kapitel 2

Es war alles eine Frage des Rhythmus. Laufen, leben, zurechtkommen. Das Knirschen der Sohlen, das Rascheln, mit dem der Stoff der Shorts um seine Oberschenkel flatterte.

Julian brannten die Waden, aber er war über den Punkt hinaus, an dem sich seine Beine bleischwer anfühlten. Der Rausch hatte ihn erfasst und trug ihn weiter, ließ ihn trotz fliegendem Puls nicht den kürzesten Weg nach Hause nehmen, sondern den verschlungenen Nebenpfad, der an den Gewächshäusern vorbeiführte.

Es war früh. Der Rombergpark lag für Dortmunder Verhältnisse nahezu verlassen da, was bedeutete, dass in erster Linie Jogger und Leute mit ihren Hunden unterwegs waren. Der normale Fußgängerbetrieb würde erst später einsetzen, gefolgt von Senioren, die die Anweisung, die Wasservögel nicht zu füttern, geflissentlich ignorierten, und Familien mit Kindern, die auf den weitläufigen Anlagen Fußball spielten.

Im nahen Zoo war sicher die Hölle los, denn es war gerade Fütterungszeit. Dann kreischten die Affen jedes Mal, als ginge es zur Schlachtbank statt zum Futternapf.

Aber Julian hörte nichts außer seinem eigenen Atem und dem stetigen Hämmern der Bässe in seinen Ohren. Er war kein großer Musikliebhaber und stellte seine Playlist in erster Linie nach BPM zusammen. Titel zum Einlaufen, Titel zum Durchhalten, Titel zum Pushen, Titel, um zum Ende hin den Puls wieder einzufangen. Was immer im richtigen Tempo und rhythmisch war, war ihm recht.

Sobald er sich dem Ausgang des Parks näherte, verlängerte er seine Schritte. Nicht mehr weit bis nach Hause. Er überquerte die Hauptstraße und ließ sich vom eigenen Schwung hinauf ins Wohngebiet tragen, hindurch zwischen alten, aber gepflegten Einfamilienhäusern, die tief in verknöcherte Buchsbaumhecken und Wacholderbüsche eingewachsen waren. Nur ab und zu durchbrach ein modern gestalteter Vorgarten mit leblosen Steinbeeten der Marke Ich will ein Haus mit Garten, aber mich nicht drum kümmern den Charme der gealterten Siedlung.

Julian bog in die schmale Straße ein, in der er lebte, und grüßte halbherzig einen entgegenkommenden Wagen. Die Fahrerin starrte ihn unverhohlen an, während sie ihn im Schritttempo passierte.

Die meisten Nachbarn sahen in ihm ein Kuriosum. Er war der Untermieter von Nr. 4.

In der Siedlung war es nicht üblich zu vermieten; selbst wenn das bedeutete, dass Einliegerwohnungen leer standen oder als Abstellraum missbraucht wurden. Man blieb unter sich. Eine Gemeinschaft, in der man sich gegenseitig zu runden Hochzeiten die Türen mit Kränzen versah und zusammen zur Beerdigung der Verstorbenen ging. Eine Gemeinschaft, in der jeder jeden mit dem Vornamen ansprach und es einen Plan gab, wer welches teure Gartengerät anschaffte, damit man es sich gegenseitig leihen konnte.

Auch nach zwei Jahren in der Dachgeschosswohnung mit Blick über das Naturschutzgebiet war Julian nicht sicher, ob er das Miteinander der Nachbarn gemütlich oder verstörend fand. So oder so: Er war kein Teil davon. Man hatte nicht versucht, ihn einzubeziehen, und er hatte es seinerseits nicht darauf angelegt.

Als er in die Auffahrt zur weiß verputzten Nr. 4 mit den schmiedeeisernen Schmuckgittern über den Fenstern einbog, traf er auf seinen Vermieter.

Eduard Kowalski war Mitte siebzig, hatte ein steifes Knie und die feste Absicht, jedes Unkraut, das es wagte, sich auf seinem Grundstück zu zeigen, umgehend vom Platz zu verweisen. Daher war es nicht ungewöhnlich, ihn zu früher Stunde auf den Beinen zu sehen, um das Moos zwischen den Pflastersteinen der Auffahrt zu entfernen. Verbissen kratzte er eine Reihe nach der anderen aus, das Geräusch von Metall auf Stein wie das von Fingernägeln auf einer Schultafel, kaum dass Julian die Kopfhörer aus den Ohren gezogen hatte.

»Guten Morgen«, grüßte er kurzatmig.

Kowalski winkte ihm entgegen. »Ah, Morgen, Herr Ziegler. Schon gelaufen und das Treppenhaus geputzt? Und das vor neun Uhr an einem Samstag? Das nenne ich fleißig.«

Julian rang sich ein Lächeln ab. »Lohnt sich ja nicht, es aufzuschieben.«

»Wenn das Ihre Vormieter mal auch so gesehen hätten! Ich sage Ihnen… Ach, was rede ich. Das habe ich Ihnen ja alles schon erzählt.«

Das hatte er tatsächlich. Kowalski hing mit Leib und Seele am Haus seiner Familie. Das bedeutete auf der einen Seite, dass er bei Reparaturen nie sparte, aber auch, dass er von seinem jeweiligen Mieter echten Einsatz erwartete. Schmutzige Stufen oder verkratzte Zimmertüren gab es bei ihm nicht, auch keine abgeplatzte Farbe und wehe dem, der die Installationen im Badezimmer nicht richtig putzte.

Julian war noch nie mit ihm aneinandergeraten. Auch nicht wegen der Männer, die ihn ab und zu besuchten und über Nacht blieben. Frau Kowalski hatte ihm sogar einmal im Vertrauen gesagt, dass ihr Mann Julians Gäste vehement vor der neugierigen Nachbarschaft verteidigte.

»Es ist uns egal, wen Sie mitbringen«, hatte sie ihm treuherzig erklärt. »Solange die Herren sich die Füße abtreten und keine leeren Bierflaschen auf der Treppe stehen lassen, sind sie herzlich willkommen. Wissen Sie, wir hatten da mal…«

Ihre Erzählung war damals an Julian vorbeigegangen. Er war zu sehr damit beschäftigt gewesen, nicht vor Verlegenheit Schnappatmung zu bekommen. Er gruselte sich vor der Vorstellung, dass die Nachbarn abends an ihren Küchenfenstern klebten und sich darüber ausließen, wer sein Lover toujours war. Am Ende verteilten sie noch Noten.

Das Interesse an seinem Privatleben brachte eine hässliche, halb verrostete Saite in ihm zum Klingen. Für sie musste es aussehen, als wäre er ein Beziehungsgegner, der alle paar Monate einen neuen Bettgefährten anschleppte und nach Abnutzung verstieß. Sie konnten nicht ahnen, wie sehr er sich wünschte, dass es jemand länger als ein paar Wochen mit ihm aushielt.

»Ach, und wo ich Sie gerade sehe: Ich würde mir nächste Woche gern das Geländer an Ihrem Balkon ansehen. Ich glaube, da oben ist ein neuer Anstrich fällig.«

»Natürlich. Sie wissen ja, ab wann ich zu Hause bin.«

Julian war überzeugt, dass das Geländer in allerbestem Zustand war. Aber ab und zu kam Kowalski mit einer dieser kleinen, unschuldig wirkenden Anfragen um die Ecke, die nichts anderes als Vorwände für einen Stubendurchgang waren. Julian war es egal, hieß das doch immerhin, dass die Kowalskis sich – wahrscheinlich – keinen Zugang zu seiner Wohnung verschafften, wenn er nicht da war.

Er verabschiedete sich von seinem Vermieter, betrat den Hausflur und joggte die steile Holztreppe hoch, die ins Dachgeschoss führte. Sein Kreislauf war noch auf Laufen eingestellt, ein gut geöltes Uhrwerk, das immer weiter tickte. Das gute Gefühl, sich verausgabt zu haben, würde ihn für den Rest des Tages begleiten und ihm hoffentlich zumindest körperliche Ruhe bescheren.

Seine Post wartete auf dem Tischchen neben seiner Wohnungstür auf ihn, akkurat in der Mitte der Spitzendecke platziert, die Frau Kowalski pünktlich alle zwei Wochen austauschte. Es lag etwas Tröstliches in der Zuverlässigkeit, mit der seine Vermieter gewisse Aufgaben erledigten. Wäre ein Samstag gekommen und gegangen, ohne dass es aus dem Erdgeschoss nach Möbelpolitur roch, die Auffahrt gekehrt und das Auto ausgesaugt wurde, hätte er sich Sorgen gemacht.

Julian nahm die Post an sich und betrat seine Wohnung. Im Gehen blätterte er die Briefe durch und stellte fest, dass es sich ausnahmslos um Werbung handelte. Daher machte er einen Schlenker durch die Küche, um sie im Papiersammler zu entsorgen, bevor er ins Bad ging, um zu duschen.

Die Sportkleidung verschwand im Wäschekorb, die Laufschuhe schob er unter das kleine Regal neben der Toilette, nachdem er sie mit Desinfektionsspray ausgesprüht hatte. Er hasste es, aus der Dusche zu kommen und von stinkenden Socken und dampfenden Turnschuhen begrüßt zu werden.

Unter dem heißen Wasser spürte er, wie sich seine verspannte Nackenmuskulatur lockerte. Egal, wie gut er sich vorbereitete und wie sehr er sich bemühte, beim Laufen die Schultern zu entspannen, war er hinterher doch jedes Mal steif wie ein Brett. Er vermutete, dass es an seinem Laufstil lag – oder an den vielen Stunden am Schreibtisch, die von ein bisschen Sport nicht ausgeglichen werden konnten.

Er massierte sich Shampoo ins Haar und dachte an nichts. Er bemühte sich, die große Leere festzuhalten, die ihm das Joggen jedes Mal schmiedete. Lange gelang es ihm nie.

Der Schaum troff ihm aus dem Haaren und rann ihm über den Rücken, als die vermeintlich harmonische Melodie der Klingel zu ihm ins Bad schallte. Julian verdrehte die Augen. Er hätte schwören können, dass in den Lieferwagen von DHL und Co. irgendwo eine kleine Lampe installiert war, die aufleuchtete, sobald er unter der Dusche stand oder anderweitig verhindert war. Anders konnte er sich nicht erklären, wie es den Lieferanten gelang, ihn in schönster Regelmäßigkeit in einer dummen Situation abzupassen.

Hastig angelte er nach dem Handtuch, fuhr sich einmal quer über den Oberkörper und schlang es sich um die Hüften, bevor er in den Flur stürzte. Unten im Flur tat sich noch nichts. Kowalski musste weggefahren sein. Freiwillig hätte er sich niemals die Gelegenheit entgehen lassen, auf den Absender von Julians Paketen zu schielen.

Er öffnete die Tür, als die ersten Schritte auf der Treppe zu hören waren, und bereute es sofort. Vor ihm tauchte keineswegs der Paketbote auf, der ihm die lang erwartete Lieferung Jeans brachte, sondern Kevin, und sein dünnes Lächeln sackte Julian in den Magen wie ein Stein.

»Oh«, machte er leise, während irrige Hoffnung und Ärger in ihm stritten. Was wollte Kevin hier? Bereute er, dass er sich von ihm getrennt hatte? Und falls ja, warum? Hatte er einen anderen Fisch an der Angel gehabt, ihn aber wieder verloren, sodass er zu Julian zurückkam? Quasi als zweite Wahl?

»Hm, hi.« Kevin hob halb die Hand zum Gruß. »Sorry, dass ich störe, aber…« Er schluckte und sah konzentriert an Julian vorbei zur Garderobe. »Ich hab was bei dir vergessen, glaube ich.«

Julian fühlte sich nackter als seine dürftige Bekleidung erklären konnte. Verlegen kratzte er sich im Nacken. »Das Hemd, das du mir geliehen hast, ja?« Gott sei Dank bebte seine Stimme nicht, und es gelang ihm sogar, freundlich zu klingen. »Ich hole es dir.«

Ein Zwischenfall mit einer Schüssel Zaziki auf Kevins Geburtstagsparty war schuld, dass das Hemd bei ihm war. Er hatte es zwar gewaschen, gebügelt und bereitgelegt, aber vergessen, es Kevin wiederzugeben. Der Schock über die Trennung hatte es aus seinem Kopf vertrieben.

Ohne eine Reaktion abzuwarten, verschwand Julian im Schlafzimmer und nutzte die Gelegenheit, um sich anzuziehen. So muss es sich anfühlen, eine Rüstung anzulegen, dachte er, während er sich ein T-Shirt überstreifte; dankbar, nicht länger Kevins Blicken ausgesetzt zu sein. Wie bescheuert das war! Es war nur Tage her, dass sie zusammen in seinem Bett gelegen hatten, zum Teufel noch mal!

Julian nahm sich zusammen und das Hemd aus dem Schrank. Um ein verbindliches Lächeln bemüht, ging er ins Wohnzimmer. Kevin stand in der Mitte des Raums und trat unbehaglich von einem Fuß auf dem anderen. Schmutz fiel aus dem Profil seiner schweren Arbeitsstiefel, Julians Blick blieb jedoch an den kräftigen Waden in den halblangen Cargohosen hängen. Er hatte sie nie so ausgiebig gestreichelt, wie er es sich heimlich gewünscht hatte, und jetzt war es zu spät.

Julian räusperte sich. »Dein Hemd.«

Kevin wandte sich zu ihm um, betrachtete den blaugrauen Stoff und nagte an seiner Unterlippe. »Danke«, murmelte er. »Aber deshalb bin ich eigentlich nicht hier. Ich…«

Er schaute Julian zum ersten Mal seit seiner Ankunft in die Augen. Es war nur ein kurzer Moment, in dem sich ihre Blicke streiften, doch er fühlte sich nach einer Ewigkeit an. Nach Im-Stau-stehen, wenn man es eilig hat. Nach einer Entscheidung, die eigentlich schon gefällt ist und trotzdem hinterfragt wird.

Julian hatte dieses kräftige Gesicht liebgewonnen. Die tiefliegenden, dunklen Augen, die so ausdrucksstark waren. Die Nase mit der breiten Wurzel und dem kleinen Knick auf halber Höhe. Den vollen Mund, der sich so unglaublich gut auf seiner Haut angefühlt hatte.

Der Schmerz flammte auf und ließ ihn beinah überhören, dass Kevin fortfuhr: »Ich glaub, ich hab den USB-Stick mit den Plänen für den Westfalenpark hier vergessen. Mein Chef killt mich, wenn ich ihn nicht wiederfinde.«

Kevin arbeitete als Gärtner für die Stadt, bezeichnete sich selbst als Unkrautrupfer, aber Julian fand, dass er begnadet war. Seit ihrer ersten Begegnung hatte er bewundert, mit welcher Hingabe sich Kevin um angeschlagene Rosenstöcke kümmerte und wie engagiert er gegen Ungeziefer und Krankheiten vorrückte, die seine Schützlinge befielen. Etwas an der Art, wie er von kranken Ritterspornen und blühunwilligen Seerosen sprach, hatte Julian berührt und ihm das Gefühl gegeben, bei ihm gut aufgehoben zu sein.

Was für ein Trugschluss.

»Ich habe keinen Stick gesehen«, erklärte er in dem Bemühen, die Vergangenheit aus dem Raum zu jagen und sich ganz dem Jetzt zu widmen.

Kevin ging zum Schreibtisch gegenüber der Schlafzimmertür. »Echt?« hakte er zweifelnd nach. Seine Stimme war ein wenig unstet. »Ich war mir sicher, dass ich ihn bei mir hatte, als ich das letzte Mal…« Er machte sich am Stifthalter zu schaffen, spähte hinter den Laptop und zog sogar eine der Schubladen des Rollkastens auf.

Letzteres hätte Julian geärgert, wenn Kevin sich dabei nicht mit einer Hand auf den Schreibtisch gestützt und ein Bein nach hinten gestreckt hätte. Es ging nichts über einen Mann, der mit seinem Körper arbeitete. Kein Krafttraining, kein Sport konnten einen Hintern so formen wie die tägliche Arbeit. Wenn schon nicht fest wie Stein, dann doch wenigstens fest wie Holz. Etwas zum Reinbeißen, Festhalten, Klapsen, Küssen.

An so etwas zu denken, machte es nur noch schlimmer, stellte Julian fest. Seine verspannte Nackenmuskulatur schien ihm zuzustimmen, indem sie feine Schmerzstiche bis in seine Schläfen sandte.

Plötzlich hätte er Kevin am liebsten mit Pauken und Trompeten vor die Tür gesetzt. Das war natürlich irrational. Sie waren im Guten auseinandergegangen, und Kevin wäre mit Sicherheit nicht ohne triftigen Grund hergekommen. Dafür hatte er selbst zu traurig ausgesehen, als er ihre Beziehung für beendet erklärt hatte.

Trotzdem hielt Julian es nicht mehr mit ihm in einem Raum aus. Seine Kehle brannte wie Feuer, während seine Augen sich gefährlich feucht anfühlten. Unerwünschtes stieg in ihm auf. So viele Fragen, am lautesten die nach dem Warum.

Verschwinde endlich, beschwor er Kevin innerlich. Aber stattdessen ergriff er selbst die Flucht in die Küche. Ohne zu wissen, warum, öffnete er den Kühlschrank, starrte auf die militärisch organisierten Lebensmittel und merkte sich die Lücken, die sich über die Woche in seinen Vorräten gebildet hatten. Vanillejoghurt fehlte und Radieschen auch. Die Stachelbeermarmelade hatte er zum Frühstück aufgegessen und mit dem vorletzten Tab die Spülmaschine angeworfen. Und der Rest vom Shampoo lief ihm immer noch aus den Haaren und besudelte das frische T-Shirt.

»Julian?« Auf einmal stand Kevin hinter der Kühlschranktür und spähte zu ihm herüber. »Du hattest recht. Kein USB-Stick weit und breit. Keine Ahnung, wo ich ihn verloren habe.«

»Das tut mir leid.«

Kevin sah zum Fensterbrett hinüber, auf dem die Kräutertöpfe standen, die er Julian vor einer Weile mitgebracht hatte. »Danke fürs Bügeln übrigens.« Linkisch hob er die Hand, auf der er das Hemd balancierte.

»Ist doch selbstverständlich«, murmelte Julian. Immerhin hatte Kevin ihm aus der Klemme geholfen. Da war es das Mindeste, dass er ihm sein Eigentum ordentlich zurückgab, nicht wahr? Er war nicht der Typ, der die Kleidung seines Ex zerfetzte oder mit dessen Handy warf.

»Ja…«

»Ja.« Julian drückte behutsam die Kühlschranktür zu. Mit jeder Sekunde machte ihm die angespannte Situation mehr zu schaffen. Nicht mehr lange und es würde ihn nicht nur anstrengen, mit Kevins unerwartetem Besuch umzugehen, sondern man würde es ihm auch anhören. Und das war das Letzte, was er sich wünschte. Er wollte wenigstens mit erhobenem Kopf aus dieser Sache herausgehen, nicht mit verheulten Bambi-Augen oder – noch schlimmer – mit einer kleinen Vorführung seines Problems. »Ich will dich ja nicht vor die Tür setzen, aber ich bin ein bisschen unter Zeitdruck. Einkäufe machen und noch ein paar andere Sachen.«

Sofort nickte Kevin, vielleicht erleichtert, dass ihm ein Grund geboten worden war, sich zu verabschieden. »Klar. Mach das. Und sorry noch mal.« Er zögerte. »Fürs Reinplatzen.«

Als hätte es etwas anderes gegeben, wofür er sich entschuldigen müsste.

»Kein Thema«, behauptete Julian und zwang sich zu einem Lächeln. »Viel Glück bei der Suche.«

»Bei der Suche?«

»Na, nach den Plänen.«

»Ah. Ja. Natürlich. Danke.« Kevin schien auf etwas zu warten und als es nicht kam, deutete er mit dem Daumen über die Schulter. »Okay, ich bin dann mal weg. Man sieht sich. Vielleicht?«

Nicht so bald hoffentlich, dachte Julian bitter. Laut entgegnete er: »Bestimmt. Mach's gut.«

»Mach's besser.«

Kurze Zeit später schlug die Tür hinter Kevin ins Schloss. Julian wartete, bis das Knarzen der Treppenstufen verklungen war, dann ließ er sich auf einen der beiden Küchenstühle in der Frühstücksecke fallen. Er stützte den Kopf in die Hände, schluckte schwer an den Tränen, die in seinen Augen standen, und ärgerte sich über sich selbst.

Wenn er nur nicht so ein Weichei wäre. Wenn Kevin seine große Liebe gewesen wäre, wäre es ja in Ordnung, sich heulend ins Bett zu verkriechen. Aber sie waren gar nicht weit genug gekommen, um herauszufinden, wie tief ihre Gefühle reichten. Trotzdem hockte er hier wie das personifizierte Elend und würgte an seiner Enttäuschung, als hätte man ihn vor dem Standesamt stehen lassen.

Er sollte aufstehen und die Einkäufe erledigen, die er vorgeschoben hatte, um Kevin loszuwerden. Und natürlich hatte Kevin genau gewusst, dass er sich in eine Ausrede geflüchtet hatte. Es war noch keine elf Uhr und sie kauften im gleichen Supermarkt ein, der selbst samstags bis zweiundzwanzig Uhr geöffnet hatte.

Überhaupt, er hatte sich so viel vorgenommen, um die freie Zeit des Wochenendes zu füllen. Er wollte seinen Kleiderschrank durchschauen und Ungetragenes für die Altkleidersammlung aussortieren. Außerdem hatte er fest eingeplant, seine Papiere neu zu ordnen und alte Kontoauszüge, abgelaufene Garantiebelege und nicht länger relevante Schreiben von Bank und Versicherungen zu entsorgen. Beide Vorgänge würden viel Zeit kosten und ihm das Gefühl geben, die Ordnung in sein Leben zurückzubringen, die ihm gerade zu fehlen schien.

Aber allein der Gedanke, die Kleiderschranktür oder Aktenordner zu öffnen, fühlte sich falsch und überflüssig an. Wie der Kampf gegen einen Magneten, der einen immer wieder nach hinten riss.

Julian kannte solche Gefühle von sich. Sie überfielen ihn nur selten, aber wenn sie ihn überkamen, taten sie es mit einer Macht, der er nichts entgegenzusetzen hatte. Es war erbärmlich, dass Kevins Auftauchen ihn in solche Dunkelheit stürzte. Er hatte genug getrauert. Eine kurze Begegnung mit Kevin sollte nicht dazu führen, dass er sich wie ein Schwein im Dreck in seinem Elend suhlen wollte.

Oder vielleicht doch? War die frisch aufgerissene Wunde nicht doch ein Grund, sich auf der Couch einzurollen und zu versuchen, den Schmerz wegzuschlafen? Scheiß auf die Lücken im Kühlschrank, zum Teufel mit dem Kleiderschrank und zur Hölle mit den Akten! Julian wollte sich nicht gehen lassen, wollte sich nicht angeschlagen und unfähig fühlen, aber hatte er in dieser Sache überhaupt eine Wahl?

Nein, hatte er nicht. Es tat zu weh.

Seine Motivation reichte gerade noch aus, um eine Flasche Wasser aus dem Kasten zu nehmen und eine Tüte Salzstangen aus dem Vorratsschrank zu fischen. Mit seiner Beute unter dem Arm schlurfte er ins Wohnzimmer, ließ die Rollläden herunter, schaltete den Fernseher ein und streckte sich auf der Couch aus. Kurz dachte er an den Schaum in seinen Haaren und beschloss dann, ihn zu ignorieren. Er würde heute sowieso nicht mehr aus dem Haus gehen.

Er wartete noch, bis er einen Sender gefunden hatte, auf dem eine halbwegs interessante Dokumentation lief, dann ließ er den Schmerz kommen.

Kapitel 3

Er war schon wieder da.

Am liebsten hätte Julian geknurrt, als er unter den Ästen der Weide hindurchtauchte und die Gestalt auf der Parkbank bemerkte. Über das Wochenende hatte er sich gefangen. Seitdem er frisch rasiert und ordentlich geschniegelt in der Firma angekommen war, fühlte er sich beinahe wieder wie ein Mensch. Das bedeutete aber nicht, dass er schon bereit war, seine Mittagspause mit jemandem zu teilen.

Kurz war er versucht, auf dem Absatz kehrtzumachen. Dann betrachtete er die Styroporschachtel mit dem halb verwelkten Salat in seiner Hand, der bestimmt nicht besser wurde, wenn er ihn noch länger in der Mittagssonne spazieren trug, und ging zum Teich.

Der Eindringling rührte sich nicht. Auch nicht, als Julian sich – so weit wie möglich von ihm entfernt – auf die Bank setzte und einen Gruß murmelte. Das kam ihm grundsätzlich entgegen, aber nachdem er kritisch die schlaffen Möhrenraspel und die ungesund blassen Gurkenscheiben beäugt hatte, fand er das andauernde Schweigen doch befremdlich.

Er wagte einen Blick und furchte die Brauen. Der Fremde saß mit nach vorn gesunkenem Kopf und geschlossenen Augen neben ihm, regungslos. Hätte seine Brust sich nicht gleichmäßig unter der violetten Weste gehoben – den Ledermantel hatte er sich über die Beine gelegt –, wäre Julian ernsthaft nervös geworden.

So aber lief ihm nur ein unbehagliches Kribbeln über den Rücken, das Äquivalent zu einer auf Gelb stehenden Ampel. Warum hockte der Kerl hier mitten am Tag und pennte? Julian bezweifelte, dass er ein Anhänger der japanischen Inemuri, der stresslösenden Nickerchen in der Öffentlichkeit, war. Er wirkte nicht wie der Typ dafür. Eher wie jemand, der bis in die frühen Morgenstunden Party gemacht hatte und von dort direkt zur Arbeit geschlichen war.

Wenn's nur das ist, von mir aus, dachte Julian. Hauptsache, er hat sich nicht zugedröhnt und fängt an, Schaum zu spucken oder so was.

Er stocherte mit der Gabel im Salat und suchte nach einem Stück Gemüse, das nicht aussah, als wäre es von letzter Woche. Als er jedoch nur auf eine Ansammlung unnatürlich gelber Käsewürfel stieß, verdrehte er die Augen und schloss die Packung. Selbst schuld. Er hätte es besser wissen müssen, als sich eine verschlossene Styroporbox in die Hand drücken zu lassen, zu höflich, um gleich vor Ort zu prüfen, wie der Inhalt aussah.

Der Schlafende stieß ein Schnorcheln aus. Es klang nach Gonzo aus der Muppet Show. Julian musste grinsen. Wahrscheinlich sollte er den Salat wirklich nicht essen, wenn dessen Geruch selbst Schlafende irritierte.

Einen Augenblick später regte sich der Fremde. Erst bewegte sich sein linker Fuß, dann fuhr er auf einmal zusammen, riss weit die Augen auf und tastete nach seiner Hosentasche. Er fummelte ein altes Handy heraus und entspannte sich erst, nachdem er einen Blick aufs Display geworfen hatte.

»Holy shit«, murmelte er vor sich hin.

»Verschlafen?«, fragte Julian.

Prompt fuhr der Lagerarbeiter zu ihm herum. »Alter!«, stieß er hervor und sackte nach vorn. »Das war jetzt der zweite Schock in einer Minute! Das macht nicht mal ein neunzehnjähriges Herz lange mit!«

Neunzehn? Julian bemühte sich um eine neutrale Miene. Er hatte ihn für älter gehalten. Ihn, Lasse Niehorst. Der Name stand auf dem Schild an der Weste unter dem Logo der Firma, inzwischen nicht mehr von Hand draufgeschmiert, sondern ordentlich aufgedruckt und daher gut leserlich.

»Entschuldige.«

Lasse winkte ab, bevor er sich mit beiden Händen über das blasse Gesicht rieb. »Kein Problem.« Er schüttelte sich wie ein nasser Hund. »Mann, ich dachte schon, der verdammte Wecker hätte gebockt. Keine Woche im Job und schon von der Pause nicht zurückkommen. Das wär's ja gewesen.«

Dem konnte Julian nur zustimmen. Im Lager ging es strenger zu als in den anderen Abteilungen des Konzerns. Die Arbeit selbst war anspruchslos und bestand auf der untersten Ebene der Ameisenpyramide in erster Linie aus Herumrennen, Ware suchen, einscannen und packen und Kartons zukleben. Es gab viele ungelernte Kräfte. Trotzdem erwarteten die Anteilseigner perfekte Ergebnisse bei ziemlich mieser Bezahlung, was für einen hohen Durchfluss an Arbeitern sorgte.

»Ja, da nehmen sie es genau«, bekräftigte Julian. Im Stillen war er erleichtert, dass Lasse so klar wirkte. Wenn er schon unerwartet – und unerwünscht – Gesellschaft in der Mittagspause hatte, dann doch wenigstens eine, die bei sich war.

»Das kannst du laut sagen. Komm mir vor wie beim Bund und…« Lasse unterbrach sich und neigte sich ein Stück in Julians Richtung. Neugier trat in seinen Blick und vertrieb die Müdigkeit. Er tippte mit dem Zeigefinger unter sein rechtes Auge. Dieses Mal war es nicht schwarz umrandet. »Wo hast du die denn her?«

Julian legte den Kopf schief. »Was habe ich woher?«

»Die Linsen.«

Überrascht hob Julian die Hand und strich sich über die Nasenwurzel. »Redest du von Kontaktlinsen?«

»Ja, sicher. Geile Farbe. Sind aber bestimmt diese neuen, sauteuren Dinger, die es nur beim Optiker gibt, oder?«, hakte Lasse nach.

Julian blinzelte langsam. Auf seine Augen hatte ihn noch nie jemand angesprochen. Sie waren von einem schlichten Grün. Stumpf, wie er fand. Nicht zu vergleichen mit dem aufregenden Wasserblau von Mirko, das seinem Bruder in Kombination mit dessen dunklen Haaren schon früh viele Mädchenherzen eingebracht hatte.

»Nee. Nee, die sind schon… Also, das sind keine Linsen«, stammelte er und ärgerte sich über seinen Mangel an Eloquenz.

»Echt?« Lasse wirkte ernsthaft überrascht, sodass Julian den Verdacht, dass er sich nur – aus welchem Grund auch immer – bei ihm einschmeicheln wollte, zu den Akten legte. »Hätte ich jetzt nicht gedacht.«

Julian wusste nicht, was er darauf erwidern sollte. Er war kurz davor, zum Parkplatz zu joggen und im Rückspiegel seines Wagens zu prüfen, ob über Nacht irgendetwas mit seinen Augen passiert war, von dem er nichts mitbekommen hatte.

Bevor er so etwas Verrücktes ernsthaft in Erwägung ziehen konnte, murmelte Lasse: »Vielleicht hab ich auch einfach nur Matsch im Schädel. Ich hasse kurze Nächte.«

So viel zu der Frage, warum er seine Mittagspause nutzte, um sich auszuschlafen.

Julian schwankte zwischen einem Man hängt halt nicht unter der Woche auf Partys rum, das ihm selbst spießig vorkam, und Bewunderung. Was immer dieser Lasse getrieben hatte, es war ihm bewusst gewesen, dass er hinterher zur Arbeit musste. Julian selbst hätte es in der Probezeit niemals gewagt, sich die Nächte um die Ohren zu schlagen. Das Risiko, einen schlechten Eindruck zu hinterlassen, wäre ihm viel zu groß gewesen. Und gerade deshalb mochte ein Teil von ihm Leute, die eine andere Wahl trafen. Leute, die lebenslustig und mutig genug waren, von Zeit zu Zeit auf die Vernunft zu pfeifen und über die Stränge zu schlagen.

Lasse schätzte er als einen solchen Menschen ein. Das zeigte schon sein auffälliges Äußeres. Julian hätte nie den Mut aufgebracht, sich einen silbernen Ring durch den Nasenflügel schießen zu lassen. Oder sich die Haare grün zu färben, auch wenn es sich nur um ein paar Strähnen handelte. Man würde ihn anstarren, ganz besonders oben in der Buchhaltung. Aber die Sehnsucht nach einer Spur Individualität kannte er zur Genüge.

Sie war es auch, die ihn fragen ließ: »Hat es sich wenigstens gelohnt?«

Lasse zog die Brauen hoch, was seine ohnehin kurze Stirn noch schmaler wirken ließ. »Gelohnt?«, wiederholte er. Der quadratische Kiefer bekam einen harten Zug.

Julian wäre der scharfe Tonfall beinahe entgangen. Er wurde von dem seltsamen Eindruck von Unfertigkeit abgelenkt, der ihn bei Lasses Anblick überkam. Es gab Männer, deren Gesichter im Alter von zwanzig noch an ein unbeendetes Puzzle erinnerten, aber spätestens mit vierzig Frauen und Männer zugleich auf gute Weise nervös machten. Er ahnte, dass Lasse zu ihnen gehören könnte. Noch waren nicht alle Teile an ihrem Platz, aber irgendwann…

»Ich würde das anders ausdrücken. Keine Ahnung, was du glaubst, was ich getrieben habe, aber die ganze Nacht mit meiner kleinen Schwester im Badezimmer rumzuhängen, war nicht gerade lustig. Schon gar nicht, wenn's aus allen Enden rausläuft.« Lasse schüttelte sich erneut, dieses Mal vor Ekel. »Hab keinen Schimmer, wo das ganze Zeug überhaupt herkam. So groß ist sie doch gar nicht.«

Schlagartig fiel jede Überlegung über die Entwicklung von Männergesichtern von Julian ab und wurde von Verlegenheit ersetzt. Man konnte ihm Vieles vorwerfen, aber nicht, dass er nicht dazu stand, wenn er einen Fehler gemacht hatte. Und gerade hatte er einen gemacht, indem er Lasse in eine Schublade gesteckt hatte. Lederklamotten, übermüdet, wilde Frisur, gepierct, letztes Mal geschminkt, also im besten Fall ein Partytier, im schlimmsten ein drogenabhängiger Gammler. Eine kleine Schwester, die Betreuung gebraucht hatte, war Julian nicht in den Sinn gekommen.

Scheißverhalten, rüffelte er sich innerlich. Und weil das nicht reichte, sagte er laut: »Sorry. Da war ich wohl auf dem falschen Dampfer.«

Lasses Kiefer entspannte sich merklich und er lächelte schmallippig. »Hah, ich wünschte, du wärst auf dem richtigen gewesen. Ich hätte verdammt viel lieber gefeiert, statt Bella den Kopf zu halten. Das kannste mir glauben.«

Daran hatte Julian nicht den geringsten Zweifel. Wer war schon scharf auf diese Art von Liebesdienst an Geschwistern, Partnern oder wem auch immer?

»Na, hoffentlich hast du dich nicht angesteckt.«