Opiumschwaden - Raik Thorstad - E-Book

Opiumschwaden E-Book

Raik Thorstad

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Beschreibung

Es hätte eine vollkommen ereignislose Rückfahrt von Plymouth nach London werden sollen, doch als die Kutsche des Rechtsgehilfen Benjamin Underwood bei strömendem Regen im Dartmoor verunglückt, ahnt er noch nicht, dass sein Leben nie wieder so sein wird wie zuvor. Unterschlupf findet er in einer abgelegenen Ortschaft, dessen Bewohner alles andere als gewöhnlich sind. Zu allem Überfluss wird er auch noch in die Untersuchung des mysteriösen Mords am Dorfpfarrer hineingezogen. Überraschenderweise ist sein einziger Verbündeter der offensichtlich verrückte Schmuggler Kobold. Doch Kobold denkt nicht nur ganz anders als gewöhnliche Menschen, er weckt in Benjamin auch Gefühle, die zwischen zwei Männern verboten sind...

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Seitenzahl: 568

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Deutsche Erstausgabe (ePub) Juni 2017

© 2017 by Raik Thorstad

Verlagsrechte © 2017 by Cursed Verlag

Inh. Julia Schwenk, Taufkirchen

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,

des öffentlichen Vortrags, sowie der Übertragung

durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile,

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit

Genehmigung des Verlages.

Bildrechte Umschlagillustration

vermittelt durch Shutterstock LLC; iStock

Satz & Layout: Cursed Verlag

Covergestaltung: Casandra Krammer Buchdesign;

Hannelore Nistor

Druckerei: CPI Deutschland

ISBN-13: 978-3-95823-643-1

Besuchen Sie uns im Internet:

www.cursed-verlag.de

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Klappentext:

Es hätte eine vollkommen ereignislose Rückfahrt von Plymouth nach London werden sollen, doch als die Kutsche des Rechtsgehilfen Benjamin Underwood bei strömendem Regen im Dartmoor verunglückt, ahnt er noch nicht, dass sein Leben nie wieder so sein wird wie zuvor. Unterschlupf findet er in einer abgelegenen Ortschaft, dessen Bewohner alles andere als gewöhnlich sind. Zu allem Überfluss wird er auch noch in die Untersuchung des mysteriösen Mords am Dorfpfarrer hineingezogen. Überraschenderweise ist sein einziger Verbündeter der offensichtlich verrückte Schmuggler Kobold. Doch Kobold denkt nicht nur ganz anders als gewöhnliche Menschen, er weckt in Benjamin auch Gefühle, die zwischen zwei Männern verboten sind...

Für und auf das Trio Insomnia –

immer auf Wacht

»Ich kann sie nachts hören. Sie kommen zu mir. Berühren mich. Irrsinnig sei ich, raunen sie. Aber sie haben keine Macht über mich und können mich nicht schrecken. Ich weiß um meinen Wahn.

Die Musik vergangener Zeiten klebt auf meiner Haut. She leaned her back against a thorn. Ich kann sie nicht vergessen. Den Geruch, das Ächzen, den Gesang. Immer bei mir, verhüllt in Opium.

Mutter, wer warst du? Oh cruel mother, when we were thine, you neither dressed us coarse nor fine. Wo bist du hingegangen? Und warum konnte ich dich nicht begleiten? Es riecht nach Blut, aber ich weiß nicht, wessen. Klebt es an meinen Händen oder an deinen?

Küss mich, Wahnsinn. Welcome, welcome warning bell, but God save me from the depths of hell. Sing für mich. Ich bin so einsam.«

Newcastle upon Tyne, 27. Februar 1843

Mein lieber William,

ich hoffe, deine Reise ins heimatliche London war angenehm und mein Schreiben trifft dich bei bester Gesundheit an.

Ich muss mich entschuldigen, dass ich unsere Korrespondenz so lange aufgeschoben habe, aber wie du am Umfang meiner Post erkennen kannst, lag es nicht an mangelndem Fleiß. So vieles wollte durchdacht und verfasst werden. Ich möchte nicht verhehlen, dass mehr als ein Versuch, dir zu schreiben, sein Ende im Kamin fand.

William, ich habe lange über unser letztes Gespräch nachgedacht. Auch hat mich deine Offenbarung sehr überrascht, wenn auch nicht abgeschreckt, wie du aufgrund meines langen Schweigens vielleicht glauben magst.

Ich verstehe, dass du mir zürnst. Dein Vorwurf, dass ich dich als meinen engsten Vertrauten aus meinem Leben ausgeschlossen habe, als ich London hinter mir ließ, ist berechtigt. Ich habe ein Geheimnis aus meinen Motiven gemacht, und ich schäme mich dessen nicht. Es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde, die man auch dem engsten Freund und ältesten Wegbegleiter nicht anvertrauen mag. Dennoch sehe ich ein, dass ich dich brüskiert habe.

Ich bedaure, dass du in der unangenehmen Situation warst, unseren Freunden erklären zu müssen, dass selbst du nicht wusstest, was mich zum Aufbruch getrieben hat. Ich habe nicht bedacht, in welch unangenehme Lage ich dich brachte, wenn dir Fragen gestellt werden, die nur ich selbst beantworten kann.

Gründe für mein Handeln gibt es viele. Der Wichtigste ist jedoch der, den die gute Beatrice mir kurz nach unserer Hochzeit nannte.

»Benjamin,«, sagte sie freimütig, »ich weiß genau, warum William Hemy dir so nahesteht: Er ist so mutig, wie du feige bist. Er reißt dich vorwärts, spornt dich an und an seiner Seite fühlst du dich tapferer als du in Wahrheit bist.«

Was sich auf dem Papier recht hässlich ausmacht, klang damals nicht annähernd so, wie du dir nun vielleicht ausmalst. Du mochtest sie nie leiden, nicht wahr? Aber Beatrice hat mich durchschaut, und das kann manchmal durchaus von Vorteil sein. Vielleicht stünde es besser um unsere Freundschaft, wenn du ihre Fähigkeit, in mir zu lesen, teilen würdest.

Ich will dir jedoch nicht meine Feigheit zum Vorwurf machen, lieber Freund. Ich möchte dich nur wissen lassen, dass mein Schweigen in meinen Dämonen begründet lag, keinesfalls in deiner Person. Wenn ich geahnt hätte, welchen Schmerz ich dir zufüge, hätte ich mich früher überwunden, die Ereignisse, die vor nunmehr elf Jahren stattfanden, zu rekapitulieren.

Ein Buch begleitet meinen Brief. Es steht dir frei, darin zu lesen. Einiges wird dich sicherlich belustigen, anderes entsetzen. Es hat mir gutgetan, mir das Vergangene von der Seele zu schreiben, aber das bedeutet nicht, dass es dir ebenso guttun wird, dich damit zu beschäftigen.

Ich möchte dich herzlich bitten, mein Vermächtnis für dich zu behalten und insbesondere meine Familie nicht über den Inhalt dieses Buches zu unterrichten. Sie würden es nicht verstehen und ich möchte kein Leid über sie bringen. Doch ist mir bewusst, dass dies nun in deiner Hand liegt. Mein Vertrauen in dich ist letztendlich größer, als du mir zugetraut hast.

Nun will ich abschließen und endlich einen Punkt unter meine Beichte setzen. Ich sehne mich nach deiner Antwort und fürchte sie zugleich. Wie könnte ich auch nicht? Falls eines Tages ein Arzt vor meiner Tür steht, der meinen Geisteszustand festzustellen wünscht, weiß ich, dass du ihn mir geschickt und dabei nur mein Bestes im Sinne hast.

In inniger Freundschaft,

dein Benjamin L. Underwood

1

Lass mich dir zuerst von den Umständen berichten, die den schauerlichen Ereignissen meiner finstersten Stunden vorangingen:

Im Herbst des Jahres 1832 sandte Sir Percival Grey mich unerwartet zu einem Klienten nach Plymouth in Devon und machte damit meine Pläne für erholsame Tage auf dem Lande zunichte.

Es war ein ungünstiger Zeitpunkt für eine Geschäftsreise. Nicht nur, dass Beatrice endlich guter Hoffnung war, ich selbst war zudem gesundheitlich nicht zur Gänze auf der Höhe. Dennoch wäre ich nie auf den Gedanken gekommen, mich der Anweisung Greys zu widersetzen. Er führte die Familienkanzlei, in der ich als Rechtsgehilfe tätig war, bereits in der dritten Generation. Dabei hielt er sich strikt an die Weisheit, dass Qualität den Kunden überzeuge, sich uns anzuvertrauen, Loyalität aber ihn zum Bleiben bewege. Gemessen daran, dass wir eine Vielzahl aristokratischer Klienten betreuten, die uns ihre Geschäfte von der Wiege bis zum Grab in die Hände gaben, lag er mit seiner Strategie goldrichtig.

So war es für mich eine Selbstverständlichkeit, mich meiner eigenen Pläne zum Trotz auf den Weg nach Plymouth zu machen. Ich sollte die Bücher einer Reederei prüfen, die einem unserer vermögendsten und einflussreichsten Kunden gehörte.

Sir Henry of Dorset hegte den Verdacht, dass es in seiner Reederei nicht mit rechten Dingen zuging. Ich verrate dir kein Geheimnis, wenn ich sage, dass er recht hatte. Ein Teil seiner Arbeiter zweigte Waren ab, die seine Schiffe vom Kontinent ins Land brachten. Die Schiffspapiere waren so dilettantisch gefälscht, dass ich kaum zwei Tage benötigte, um die Missetaten aufzudecken. Weit länger würde es jedoch dauern, die Einzelposten des Betrugs ausfindig zu machen und Sir Henry eine Aufstellung seiner Verluste vorzulegen.

Da ich nicht gewillt war, längerfristig im einsamen Devon zu verweilen, ließ ich die Bücher kurzerhand zusammenpacken, um sie in der angenehm beheizten Kanzlei in London durchzuarbeiten.

Mit dieser Entscheidung beginnt meine eigentliche Geschichte.

Ich habe mich in den folgenden Jahren oft gefragt, ob ich in meinem Verlangen, nach Hause zurückzukehren, einen Scheideweg übersehen habe. Wäre ich vor Ort geblieben, um meine Arbeit zu vollbringen, wäre manches wohl nie geschehen. Oder hätte sich die Straße des Lebens dann an einer anderen Stelle gegabelt, um mich nach St. Audrey zu führen? Liegt am Ende ein wahrer Kern in den Mythen über die Schicksalsfäden, deren Webmuster und Beschaffenheit unveränderlich sind?

In manchen Nächten sehne ich mich nach einer Welt, in der ich später in Plymouth aufgebrochen bin. In anderen glaube ich, trotz meines Nachtschweißes und meiner Albträume, dass Fortuna gute Gründe für ihr Handeln hatte und es mir nicht zusteht, diese zu hinterfragen.

Wenn die Welt ein Fischernetz ist, wer bin ich kleine Sprotte dann, an ihren Seilen zu rütteln?

***

Es war ein stürmischer Morgen Anfang November, als ich der Wirtin meinen Gruß entbot und das Gasthaus verließ. Die See schäumte die Klippen empor, der Wind fegte über die Steinbauten und zupfte am Kraut, das sich im Mauerwerk festklammerte.

Mein Kutscher Thomas erwartete mich in einer der gewundenen Gassen, die auf die Hafenanlagen zu führten. Mein Gepäck war bereits am Vorabend verladen worden, wobei die Kiste mit den Büchern der Reederei weit mehr Platz einnahm als mein bescheidener Kleiderkoffer.

Die beiden Rösser, die die leichte Reisekutsche zogen, traten unruhig von einem Huf auf den anderen. Ich konnte es ihnen nicht verdenken. Ein Fischkutter hatte unlängst am Pier angelegt und der Gestank an Bord musste die Nüstern der armen Kreaturen grässlich quälen, ließ er doch schon mich mein üppiges Frühstück überdenken.

Höflich lupfte Thomas den Hut, als er den Verschlag der Kutsche für mich öffnete, verlor jedoch kein Wort. In seinem Dienst für Sir Percivals Kanzlei sprach er nie mehr als nötig, dabei war er beileibe kein unfreundlicher Zeitgenosse. Er lachte gern und war als ein Mann bekannt, der sich niemals zierte, anderen unter die Arme zu greifen.

Ich stieg ins Innere des Gefährts und nahm meinen Platz auf der gepolsterten Rückbank ein, froh, dass mein Aufenthalt so kurz bemessen gewesen war. Zwar zeigte meine liebe Beatrice sich in diesen Wochen zänkisch, was ich ihr jedoch nicht verübeln konnte. Ihr Leib war inzwischen so schwer und unansehnlich, dass es ihr aufs Gemüt ging, und immerhin war es mein Nachwuchs, der ihr auf die Eingeweide drückte und ihr die Nächte verleidete.

Um die Jahreswende sollte das Kind zur Welt kommen, vielleicht auch schon zu Weihnachten. Die Hebamme war trotz Beatrice' Sorgen frohen Mutes und ließ keine Gelegenheit aus zu betonen, dass die erste Geburt immer die schlimmste sei. Meine Gattin solle sich aber keine Gedanken machen, habe sie doch ein Becken wie eine Kuh.

Beatrice war von Äußerungen dieser Art nicht entzückt, aber vielleicht nahmen sie ihr dennoch ein wenig die Angst. Ich hoffte es für sie. Es genügte, dass mich die Mysterien des gesegneten Leibs unruhig machten. Was war ich dankbar, dass ich als Mann zur Welt gekommen war!

Pünktlich zum Schlag der achten Stunde stieg Thomas auf den Kutschbock und ließ die Zügel schnalzen. Die Pferde zogen willig an und drängten vorwärts, um den Hafengeruch hinter sich zu lassen.

Zeit für mich, mich meiner Arbeit zuzuwenden. Ich wollte während der Reise die Bücher so weit wie möglich durchforsten. Was blieb mir sonst übrig, während wir durch das Land schaukelten, gab es doch keinen Reisegefährten, mit dem ich mich hätte unterhalten können. Außerdem hoffte ich, dass Sir Percival mir meinen Fleiß danken würde, indem er mir zusätzliche freie Tage gewährte. Er war ein großzügiger Mann, wenn man ihn erst einmal von der eigenen Redlichkeit überzeugt hatte.

Plymouth lag schon bald hinter uns. Obwohl mir die Küstenregion mit ihren unzivilisierten, abergläubischen Fischerleuten nicht behagte, empfand ich eine gewisse Dankbarkeit bei meiner Abreise. Die Seeluft hatte meiner Lunge gutgetan. Ich konnte freier atmen, und der Druck auf meinem Brustkorb, der mich in London so oft quälte, hatte nachgelassen.

Bis zum Mittag war unsere Reise recht angenehm. Wenige Kutschen und Fuhrwerke waren unterwegs, die selten auftauchenden Reiter überließen uns auf den schmalen Straßen den Vortritt.

Als die Sonne den Zenit überschritten hatte, frischte der Wind auf und verdichtete sich rasch zu heftigen Böen, die Regen mit sich brachten. Schlagartig wurde es kälter. Schwarzgraue Wolken raubten das Sonnenlicht und sogen mir jede Wärme aus dem Leib. Schließlich sah ich mich gezwungen, mir eine Decke über die Beine zu legen und mich tief in meinen Mantel zu hüllen.

Fürs Erste sah ich den Kapriolen des Wetters gelassen entgegen, ich empfand das Rauschen des Regens auf dem Dach der Kutsche sogar als behaglich. Allerdings hatte ich Mitleid mit dem armen Lenker des Gespanns, der dem Toben der Witterung schutzlos ausgeliefert war.

Bei einer Gelegenheit rief ich aus dem Fenster: »Thomas, fahren Sie ruhig einen geschützten Platz an und setzen Sie sich zu mir, bis der Regen nachlässt. So viel Zeit können wir uns nehmen.«

Er lachte nur. »Bin Engländer durch und durch, Sir. Bin noch nie nicht einem Tropfen Wasser davongelaufen«, antwortete er und ließ beschwingt die Peitsche knallen.

Das Trommeln auf dem dünnen Holzdach nahm zu. Nach einer Weile klang es, als würden in weiter Ferne Hunderte Musketen abgefeuert. Es erinnerte mich in seiner Beharrlichkeit an die beunruhigenden Berichte aus der Neuen Welt, die einfach keinen Frieden finden wollte.

Zum gleichmäßigen Knarren der Räder gesellte sich bald ein saugendes Geräusch, wenn die aufgeweichte Erde drohte, uns festzuhalten.

Allmählich stieg Unbehagen in mir auf. Der Regen nahm mir fast die Sicht, doch ich erkannte bei einem Blick ins Freie, dass die Wassermengen auf der Straße schon nicht mehr zur Gänze abflossen. Für einen verrückten Moment dachte ich, dass das Meer mich verfolgte und sich anschickte, das Land zu verschlingen.

Eine besonders mächtige Sturmbö schlug gegen die Kutsche und brachte sie zum Schlingern. Ich wurde auf meinem Sitz zur Seite geschleudert und griff haltsuchend nach dem Verschlag. Die Decke rutschte zu Boden und ließ mich die Kälte spüren, die der Regen mit sich gebracht hatte. Schaudernd raffte ich sie wieder an mich.

Zum ersten Mal fragte ich mich, ob es nicht klüger wäre, auf der Stelle kehrtzumachen und in das Dorf zurückzukehren, das wir vor einer Weile passiert hatten. Es würde dort sicher kein Gasthaus geben, aber doch vielleicht einen Bauernhof, der ein freies Lager anzubieten hatte. Nur der Gedanke, dass das Wetter möglicherweise in den nächsten Tagen kaum besser werden würde, hielt mich davon ab, eine entsprechende Anweisung zu geben.

Um Beherrschung bemüht wandte ich mich wieder meiner Arbeit zu. Doch mein Versuch, mich zu konzentrieren, blieb fruchtlos. Das Tageslicht war zu schwach, die Bewegungen der Kutsche zu unstet. Inzwischen ging Hagel auf uns nieder.

Gereizt warf ich das Buch, das ich bis eben geprüft hatte, neben mir auf den Sitz und blickte wieder aus dem Fenster. Ich fuhr zusammen. Ein Wall aus grauen Schwaden schmiegte sich gegen die Kutsche, schien in sie eindringen zu wollen. Die verschleierten Schemen der Landschaft waren verschwunden. Selbst Regen und Hagel schienen weit fort zu sein, auch wenn ich sie nach wie vor gegen das Holz schlagen hören konnte. Regen und Nebel vertrugen sich im Allgemeinen nicht. War es der Sturm, der beides zugleich in unseren Weg trieb?

Ein namenloses Grauen überkam mich. Mir war, als wäre ich erblindet. Die Angst wurde verstärkt von dem moderigen Geruch, der in meine Nase drang. Er wirkte beinahe körperlich in seiner Aufdringlichkeit, wie eine ungewaschene Hand, die sich mir auf das Gesicht legte.

Es mag sein, dass meine Arbeit bei Sir Percival damit zu tun hatte, dass ich gerade in jenen Tagen meiner Reise unruhiger war als üblich. Wir hatten vor wenigen Wochen erst mit der Nachlassverwaltung einer älteren Dame zu tun gehabt, deren Kutsche von der Straße abgekommen und in einen Fluss gestürzt war. Die Kleider der Unglücklichen hatten sich innerhalb eines Wimpernschlags vollgesogen und ihr ein nasses Grab beschert.

Im Nachhinein erscheint es mir sogar wahrscheinlich, dass die Erinnerung an diesen Vorfall mit dafür verantwortlich war, dass ich mich plötzlich fürchtete. Ein klammes Gefühl bemächtigte sich meiner. Ich wollte diese unwirtliche Gegend schnellstens hinter mir lassen, bevor mir ein ähnliches Schicksal wie der armen Lady Bradshaw drohte.

Entschlossen richtete ich mich auf und stieß mit meinem Gehstock gegen die Wand. »Thomas«, rief ich. »Geben Sie den Pferden die Peitsche, Mann.«

»Unmöglich, Sir!« Er klang atemlos, vielleicht besorgt. »Zu schlechte Sicht!«

Ich ließ mich zurücksinken, ärgerte mich zugleich über den Kutscher und über meine Dummheit. Natürlich sah Thomas nicht mehr als ich. Es konnte kaum in meinem Sinne sein, die Pferde über Gebühr zu treiben. Also rief ich mich selbst zur Ordnung und zog mich in meine Ecke zurück, das Gehör geschärft und bei jedem ungewöhnlichen Laut zusammenzuckend.

Unsere Reise durch das Grau schien endlos. Thomas zügelte die Pferde zunehmend, bis sie sich im Schritt ihren Weg über die kurvenreiche Straße bahnten. Manchmal streifte ein Ast die Seitenwand der Kutsche. Die einzelnen Zweige sahen aus wie skelettierte Finger, die sich zu mir ins Innere strecken wollten.

Bar jeden Zeitgefühls lauschte ich dem Saugen und Schmatzen unter den Rädern. Wenn meine Schätzung richtig war, mussten wir inzwischen Dartmoor erreicht haben. Diese Erkenntnis trug nicht dazu bei, mich zu beruhigen. Es reichte doch wahrlich aus, dass die Straße sich in einen Sumpf verwandelte, da mussten sich nicht auch noch rechts und links von uns Tümpel auftun.

Ich fröstelte. Dartmoor ist ein Landstrich, in dem man sich schnell von Legenden und Schauermärchen einholen lässt. Es gibt wohl kaum einen Sumpf, der nicht mit Geistern aufwarten kann. Zu viele Tote, zu viele Unglücke, zu viele vom Moor in die Tiefe gezogene Tierkadaver, die beim Torfstechen wieder zum Vorschein kommen. Dazu gesellt sich der Geruch. Ihm haftet etwas Lebendiges an. Er erzählt von stickigen Sommern und Ausdünstungen, die aus der Erde kriechen, von Krankheit und Fieber.

Andererseits, so redete ich mir bemüht ein, ist Dartmoor auch weithin für seine Schönheit bekannt. Im Sommer fängt sich das Licht auf den sanften Hügeln und den Grenzmauern, die das Land teilen. Schafe ziehen ungehindert umher und trinken aus den zahlreichen Bächen, deren Quellen man heilende Kräfte für Haut und Gemüt zuspricht. Die Waldgebiete sind licht und gut zu durchwandern, wenn man sich von den sumpfigen Stellen fernzuhalten weiß.

Leider war jetzt nicht Sommer.

Auf einmal erschütterte ein Schlag die Kutsche. Das Holz stöhnte wie ein lebendiges Wesen. Von einer Sekunde zur nächsten kippte die Welt zur Seite und riss meinen Gleichgewichtssinn mit sich. Ich warf mich nach vorn, um mich an der gegenüberliegenden Bank festzuhalten, griff jedoch ins Leere. Hart fiel ich auf die Knie und schlug mir den Kopf an. Dunkelheit legte sich über meine Augen, als der Schmerz von meiner Stirn bis in mein Rückgrat zuckte. Dann tat die Kutsche einen Ruck und kam wieder in manierlicher Haltung zum Stehen, allerdings mit deutlicher Schlagseite.

Langsam, als würden meine Sinne sich einer nach dem anderen erholen, drangen Laute, Gerüche, Schmerzen auf mich ein. Thomas fluchte, die Pferde wehrten sich hörbar gegen ihr Geschirr. Meine Hände tasteten über die abgetretenen Bohlen und fürchteten sich davor, eindringendes Wasser zu entdecken.

Meine Sicht verschwamm. Es dauerte einen Moment, bis mir bewusst wurde, dass ich keineswegs ohnmächtig wurde, sondern die Schlieren vor meinen Augen von einer Wunde an meiner Stirn herrührten. Beruhigter war ich dadurch nicht.

Mühsam rappelte ich mich auf. Mein Gehstock mit dem elegant geschwungenen Silberknauf – ein Geschenk meines Schwiegervaters zur Hochzeit – geriet mir in die Hände. Wie ein Greis stützte ich mich auf, um aus der Kutsche zu steigen. Ich stürzte mehr, als dass ich ging, angetrieben von dem Drang, mich zu vergewissern, dass wir nicht doch den Wassermassen zum Opfer fallen würden.

Draußen holte mich der Regen ein. Noch bevor ich durch den Schlamm zu Thomas gewatet war, war mein Haar durchnässt. Die Feuchtigkeit legte sich kühlend auf meine Stirnwunde, sodass ich sie trotz allem willkommen hieß.

Die Pferde stampften mit den Hufen. Thomas stand bei ihnen und gab leise, kehlige Laute von sich. Seine Hände glitten beruhigend über die Hälse der Tiere. Auf mich wirkte er mit seinem Brummen und Gurren wie das unberührbare Auge des Sturms. Bei genauerer Betrachtung bemerkte ich jedoch seinen zerrissenen Kutschermantel, der auf einer Seite vom Kragen bis zum Saum von Schmutzwasser durchtränkt war.

Thomas sah auf und kniff die Augen zusammen, als ich mich ihm näherte. »Mr. Underwood, Ihre Stirn sieht aber gar nicht gut aus.«

»Das kann ich mir denken«, gab ich zurück. Etwas, wahrscheinlich der Schreck, hielt mich davon ab, mir den Rasierspiegel aus meinem Koffer herbeizuwünschen. Ich wollte die Misere gar nicht sehen. »Was ist geschehen?«

»Weiß nicht, Sir. Wollte erstmal die Pferde beruhigen.«

Ich nickte. Allzu besorgniserregend schien meine Kopfwunde nicht zu sein, denn der Schmerz ließ allmählich nach. Ich wünschte, ich hätte dasselbe von dem Rinnsal verwässerten Blutes sagen können, das mir über die Nase rann.

»Tun Sie das. Ich sehe nach, wie es um die Kutsche steht.«

Schaudernd vor Kälte und nachlassendem Schock wandte ich mich ab. Nach wenigen Schritten verschwammen Thomas und die Gäule im eisigen Nebel.

Unser Gefährt machte sich vor mir aus wie ein Ungetüm, das auf mich lauerte. Das Gepäck auf dem Dach erinnerte mich an den Buckel des Glöckners von Notre-Dame, jener tragischen Gestalt, die in den Türmen der Kathedrale zu Paris lebte. Vor Kurzem erst hatte ich gemeinsam mit Beatrice den außergewöhnlichen Roman von Hugo gelesen, um mein Französisch aufzufrischen. Es konnte immerhin nicht angehen, dass ich mit einer Dame aus Lyon vermählt war und mich im Gespräch mit ihren Verwandten wie ein englischer Bauerntölpel ausdrückte.

Ich brauchte nicht lange, um die Ursache für unseren abrupten Halt zu entdecken. Eines der Hinterräder der Kutsche war geborsten. Schlimmer als das erkannte ich, dass auch die Achse gebrochen war. Ungläubig betrachtete ich den gesplitterten Balken und konnte mir nicht erklären, wie es dazu gekommen war. Sir Percival achtete peinlich genau auf den Zustand seiner beiden Gespanne und ließ sie vor jeder Reise gründlich prüfen. Es schien unmöglich, dass eine spröde Stelle im Holz, die so rasch zum Bruch führte, übersehen worden war.

Hatten wir ein im Nebel unsichtbares Hindernis überfahren? Einen umgestürzten Baum oder gar ein Schaf, das sich an ungünstiger Stelle zur Ruhe gebettet hatte?

Ich bemühte mich, meinen Blick zu schärfen, als ich die Straße entlangspähte. Der Weg verschwand nach wenigen Yards vor meinen Augen. Er endete in einem sich regenden, Schlieren werfenden Wall aus Feuchtigkeit.

Doch war die Frage, wer oder was für den Achsbruch verantwortlich war, sekundär, wie mir allmählich bewusst wurde. Die herbstlich frühe Dämmerung brach herein, der Himmel schien unter der Wucht der Wolken zusammenbrechen zu wollen, und wir waren allein mitten im Moor.

2

Kaum eine Frage ist so schwer zu beantworten wie die nach dem eigenen Wesen. Es fällt uns stets leicht, andere zu beurteilen, vielleicht sogar zu verurteilen. Aber sich selbst gelassen betrachten und die eigenen Stärken und Schwächen benennen?

Hätte man mich damals gefragt, was ich für ein Mensch sei, hätte ich keine Antwort gefunden. Mir war zwar bewusst, dass ich mit einigem Verstand zur Welt gekommen war, aber darüber hinaus verlor sich mein Charakter für mich. Zumal Verstand keine Eigenschaft ist, derer man sich brüsten sollte. Sie ist ein Geschenk, keine Fähigkeit, die man sich mühsam erarbeitet hat.

Der einzige Wesenszug, den ich damals klar erkannte, war meine Feigheit.

Solange ich zurückdenken konnte, war ich immer derjenige gewesen, der zögerte. Der Schüler, der nicht am Lehrerstreich teilnehmen wollte. Das einzige unter den Kindern in der Nachbarschaft, das es nicht wagte, den geifernden Hund zu berühren. Der zwölfjährige Junge, der sich sowohl von älteren Brüdern als auch zu meiner großen Verbitterung von jüngeren Schwestern den Schneid abkaufen ließ.

Der Wert eines Mannes misst sich an vielen Eigenarten, die über Besitz und Stellung hinausgehen. Klugheit und Moral sind essenziell, aber eben auch jene Tapferkeit, die mir fern ist. Die Schwierigkeit besteht darin, dass es nur wenige Wesenszüge gibt, die der Volksmund einzig den Männern zuordnet. Auch Frauen können klug, anständig, loyal und zuvorkommend sein, doch Heldenmut und geistige Stärke im Angesicht der Gefahr erwartet man von ihnen nicht.

Was also, wenn man nicht tapfer und stark sein kann? Was, wenn man sich fürchtet und die Hürden der Angst nicht einzureißen vermag? Dann ist man nicht ernstzunehmen, kein rechter Mann. Man ist ein verabscheuungswürdiges Wesen zwischen den Welten, das nie Beachtung findet und sich des Spotts seiner Nachbarn sicher sein darf.

Damals litt ich sehr unter meinem Makel. Heute bin ich etwas weiser. Ich kämpfe nicht mehr mit mir, bin nicht länger getrieben. Inzwischen habe ich Gefahren ins Auge gesehen, denen sich kaum ein Mann je stellen muss. Es gibt nichts mehr, das ich zu beweisen hätte.

Ich habe überlebt, ich bin gewachsen. Was kümmert es mich da, dass mir als junger Mann der Ruf anhaftete, den Kopf unter die Decke zu ziehen, während andere Wagnisse eingingen?

Doch um ehrlich zu sein: Es waren wunderbare Abenteuer, die ich mir entgehen ließ. Ich bedauere, sie versäumt zu haben.

***

Wir dachten zunächst darüber nach, bei der Kutsche zu bleiben und auf Hilfe zu warten. Doch bei diesem Wetter erschien es uns zu unwahrscheinlich, dass wir auf andere Reisende treffen könnten. Die sich immer schneller senkende Dunkelheit trieb uns voran. Die Kälte kroch unter unsere nassen Kleider und einen Unterschlupf für die Nacht zu finden wurde wichtiger als das geborstene Gefährt, das wir verließen.

In meinem Schädel hämmerte es, als Thomas und ich uns das leichte Gepäck über die Schultern warfen. Die Kiste mit den Geschäftsbüchern der Reederei musste zurückbleiben. Ich fühlte mich nicht wohl dabei, aber unsere Notlage ließ es nicht zu, dass ich meine Gesundheit und Sicherheit an einem Stapel Papier festmachte.

Der Regen ging indessen mit unverminderter Macht auf uns nieder. Thomas, dessen lakonische Art ich nur bewundern konnte, hielt das Gesicht gen Himmel und grinste mich an. »Na, Durst leiden werden wir nicht, was?«

Mehr als ein Nicken brachte ich nicht zustande. Stattdessen umfasste ich die Zügel des Pferdes an meiner Seite fester. Die Spuren feuchter Erde auf seinen Vorderbeinen verrieten, dass es beim Bruch der Achse in die Knie gegangen war. Lahmend trottete es neben mir her. Ich hatte den Eindruck, es machte ein ebenso missmutiges Gesicht wie ich.

Thomas marschierte vor mir. Sein massiger Körper schien eine Furche durch die Nacht zu ziehen. Die Öllampe, die sonst der Kutsche zur Beleuchtung diente, schwang in seiner Hand und zeichnete Lichtspuren auf die Flanken der Pferde. Weiter drang ihr Schein nicht. Der Nebel verschluckte ihn ebenso wie uns. Zurück blieben nur das Rascheln des Gestrüpps am Wegesrand und die glucksenden, seufzenden Laute des Moors.

Ich will mich nicht entblößen, indem ich in Worte fasse, wie oft ich während unseres Marsches zusammenfuhr und welche Gestalten ich in der herabsinkenden Nacht zu sehen glaubte. Gewiss ist nur, dass mir die Finsternis endlos schien, der Gedanke an den Morgen war geradezu absurd.

Nach einiger Zeit schweigenden Wanderns erreichten wir eine Kreuzung. Der abgehende Pfad war von Farn überwachsen und vom Wasser umspült, sodass wir ihn fast übersahen.

Einmal mehr war es der gute Thomas, der die Ruhe behielt und den Wegweiser ausmachte. Auf einem grob behauenen Schild waren verwitterte Buchstaben zu erkennen. Lesen konnte man sie nicht mehr. Dafür war die große Zwei gut auszumachen, die darunter prangte.

Erleichtert atmete ich auf. Zwei Meilen bis zu einem Ort, der wichtig genug war, um sich ein Schild zu verdienen. Ob es sich um eine abgeschiedene Kapelle oder einen verlassenen Bauernhof handelte, sollte mich nicht scheren. Hauptsache, es gab ein Dach oder den Rest eines solchen, unter dem wir ein Feuer entzünden und uns trocknen konnten.

Während wir den stark überwachsenen Weg einschlugen, dachte ich an meine Frau. Sie hatte mir abgeraten, auf diese Reise zu gehen, hatte gewollt, dass ich mich gegen Sir Percivals Wünsche stellte. Wie ärgerlich war sie gewesen, dass er mich so spät im Jahr ins regnerische Plymouth schickte!

»Du hast wieder einmal recht behalten, meine Liebe«, murmelte ich in mich hinein. Beatrice hatte zwar nicht ahnen können, dass es uns die Kutsche zerschlug, aber ihr treffsicherer Instinkt erschreckte mich immer wieder aufs Neue.

»Ich habe dir zusätzliche Unterkleidung eingepackt«, hatte sie vor meiner Abreise verkündet, eine Hand in den schmerzenden Rücken gestützt. »Wer weiß, wie lange du unterwegs sein wirst.«

Je später es wurde, desto schlechter kamen wir voran. Thomas ließ die Lampe auf niedrigem Docht brennen, um Öl zu sparen. Oftmals stolperten wir über unsere Füße, und ich kämpfte mit einem Schwindelgefühl, das mir Sorgen bereitete.

Hieß es nicht, man solle ruhen, nachdem man sich den Kopf angeschlagen hatte? Und was geschah, wenn man nicht die Möglichkeit hatte? Entsprangen die Schemen im Nebel meiner Vorstellungskraft, einer drohenden Hirnblutung oder waren sie am Ende real? Baum, Strauch oder doch ein Moorgeist?

Endlos zog sich der Weg dahin. Es war ungewiss, wann ihn zuletzt ein Wagenrad berührt hatte. Ich begann mich bereits zu fragen, ob wir unser Ziel versäumt oder den Wegweiser falsch gelesen hatten, als endlich winzige Lichtfunken im Gehölz zu erkennen waren. Mit jedem Schritt wurden sie größer und wuchsen sich schließlich zu Kerzen aus, die in Fenstern brannten.

Ein letztes Mal nahm ich meine Kräfte zusammen. Längst waren Kälte und Nässe in meine Reisestiefel gedrungen, sodass meine Zehen sich eisig und wund anfühlten. Meine Schulter schmerzte vom Gewicht der Reisetasche.

Allmählich schälten sich Häuser aus dem Nebel. Irgendwo in den Schwaden schlug ein Hund an. Ich glaubte, beim Passieren einer Scheune die Laute einer im Warmen hockenden Hühnerschar zu vernehmen. Ich beneidete sie.

Bald darauf fanden wir uns auf einem runden Dorfplatz wieder, der an der Ostseite auf das Portal einer schlichten Kapelle zulief. Um das Rund duckten sich gedrungene Katen, wie sie für diese Gegend charakteristisch waren.

Ich seufzte erleichtert. »Endlich«, rief ich. »Eine Kirche und Licht in den Fenstern. Ich habe nicht mehr zu hoffen gewagt, dass der Weg tatsächlich ein Ziel hat.«

Erst, als ich es aussprach, wurde mir bewusst, wie viel Wahrheit in meinen Worten lag. Seit unserem Unfall hatten meinen Verstand dieselben Schwaden umgeben, die meinen Körper einhüllten. Zwischendurch hatte ich jede Hoffnung verloren und geglaubt, bis ans Ende meiner Tage frierend durch das Moor zu irren.

»Ja«, war alles, was Thomas erwiderte.

Kurz entschlossen warf er mir die Zügel seines Gauls zu und trat an die Kirchentür. Wuchtig hieb er dagegen. Als kein freundlicher Geistlicher uns auftat, um uns eine Herberge anzubieten, versuchte er es erneut.

Ich sah mich suchend um. Wenn in der Kirche niemand war, gab es dann vielleicht eine Schenke? Doch an keinem der Gebäude war ein einladend schwingendes Schild zu erkennen. Für ein eigenes Gasthaus war das Dorf wohl doch zu klein. Aber das sollte mich nicht kümmern. Ich hätte auch durchaus mit einem Schwein seinen Koben geteilt, solange es mir dafür die Füße wärmte.

»Ich weiß nicht, wer Sie sind, aber Viehdiebe werden Sie wohl nicht sein. Die sind leiser«, sprach auf einmal jemand hinter mir.

Ich wirbelte herum. Mein Kopf nahm es mir übel, und das Herz wollte mir aus dem Leib springen.

Eine gebeugte Gestalt in einem Kapuzenmantel war vor mir auf den Platz getreten. Sie reichte mir kaum bis zum Brustbein, und für einen Augenblick fürchtete das Kind in mir, endgültig einem Moorkobold begegnet zu sein. Dann klärte sich mein Blick, und ich erkannte, dass ich mich von einem greisen Mütterchen hatte erschrecken lassen.

»Bei allen Heiligen, Frau«, entfuhr es mir. »Habt doch ein Einsehen mit meinem armen Herz.«

Ein verlegenes Lächeln offenbarte einen zahnlosen Mund. »Vergebung, Sir. Ich hörte die Schläge an der Kirche und wollte sehen, was vor sich geht. Ihr Freund will doch wohl nicht die Türe aufbrechen, nein?« Ihr bäuerlicher Akzent erinnerte mich an die Sommerausflüge nach Wales während meiner Kindheit.

»Das hoffe ich doch nicht. Sie wird sicherlich noch gebraucht«, gab ich in dem steifen Versuch, mich humorvoll zu zeigen, zurück. Mich meiner Erziehung erinnernd machte ich einen knappen Diener. »Benjamin L. Underwood, London, guten Abend. Entschuldigen Sie die Störung. Wir waren auf der Suche nach dem Herrn Pfarrer.«

Thomas baute sich in meinem Rücken auf. Höflich tippte er an seine Mütze.

Die Alte schielte misstrauisch zu ihm hinauf, dann trat sie einen Schritt auf uns zu und musterte uns. »Bei Nacht und Nebel? Sind Sie vom Weg abgekommen, dass Sie so spät noch auf der Straße sind? Sie sehen ja aus, als wären Sie in den Sumpf gefallen.«

»Das trifft es fast, muss ich gestehen. Sehen Sie, wir sind auf der Heimreise. Wir haben einen Achsbruch erlitten und dachten, dass der Herr Pfarrer uns vielleicht Unterschlupf gewähren wird.«

Die Miene der Alten wurde augenblicklich freundlicher. »Nein, wie grässlich!«, rief sie. Ihre Bestürzung war nach all den Strapazen Balsam für meine Seele. »Bei diesem Wetter kann man ja auch fast nichts anderes erwarten. Es ist zu spät im Jahr für Reisen durch das Dartmoor, gerade in dieser Gegend. Hat man Sie nicht gewarnt? Die Wege sind schlecht, und niemand schert sich drum...«

Bevor ich mich versah, nahm sie meine Hand in ihre raue und machte Anstalten, mich zu einem erleuchteten Gebäude zu ziehen.

»Kommen Sie, kommen Sie. In der Kirche werden Sie kein Glück haben. Aber wir haben noch einen Rest Eintopf auf dem Herd. Und...« Ebenso unerwartet, wie sie sich meiner angenommen hatte, blieb sie wieder stehen und schlug sich die freie Hand vor den Mund. »Oh Himmel, ich habe gar nicht gefragt, ob Sie allein waren.«

Ihr Blick huschte von mir zu Thomas. Wie viele Dörfler, die ohne das Lichtermeer der Stadt auskommen mussten, hatte sie offenbar eine beneidenswert gute Nachtsicht. »Sie sind ja verwundet. Nein, lassen Sie die Gäule, junger Mann.« Thomas hatte Anstalten gemacht, die Pferde zu einem Unterstand nahe dem Brunnen zu führen. »Mein Sohn wird sich um sie kümmern, überlassen Sie uns die Tiere nur. Sie müssen sich erst einmal aufwärmen.«

Beflissen auf uns einredend führte die Fremde uns zu einer nahen Kate. Im Inneren erwarteten uns in der Diele nicht nur ein prasselndes Feuer, sondern auch viele fragende Augenpaare. Rund fünfzehn Männer und Frauen jeden Alters saßen dicht an dicht auf schlichten Holzschemeln und Strohsäcken.

Überrascht von dem Menschenauflauf hielt ich inne. »Oh, Sie haben Besuch. Wir möchten uns nicht aufdrängen...«

Es war eine höfliche Floskel. Natürlich wollte ich mich aufdrängen. Die feuchte Kälte war mir inzwischen so tief in die Knochen gedrungen, dass ich mir nicht vorstellen konnte, jemals das Zittern einzustellen.

»Unsinn«, entgegnete unsere Gastgeberin energisch. »Setzen Sie sich nur ans Feuer. Peter, John, macht Mr. Underwood und seinem Kutscher Platz, ihr faulen Lauser.« Zwei Männer mittleren Alters sprangen von ihren Schemeln am Kamin auf und luden uns mit einer Geste ein, an ihrer Stelle Platz zu nehmen. »So ist es recht. Schüsseln? Schüsseln. Und wo sind die Löffel? Gervais, sei so freundlich und hol noch einen Krug Ale aus der Kammer. Sie müssen wissen, Mr. Underwood, dies ist eine einsame Gegend. Am Abend fühlt man sich schnell verloren. Deswegen sitzen wir hier gern zusammen.« Sie zwinkerte mir über die Schulter hinweg belustigt zu. In ihren fahlen Augen blitzte der Schalk. »Und Gäste haben wir viel zu selten. Man wird Ihnen Löcher in den Bauch fragen, sehen Sie sich nur vor.«

»Ich will Ihnen Ihre Freundlichkeit nur zu gern mit Nachrichten aus London und der Neuen Welt vergelten«, versprach ich. Ich ahnte, dass es an mir sein würde, die neugierigen Dorfbewohner zu unterhalten. Thomas machte bereits jetzt den Eindruck, als wolle er sich am Liebsten zurück ins Freie flüchten und Regen und Graupel Rauch und Gesellschaft vorziehen.

»Nun, Mr. Underwood, wir nehmen Sie gern beim Wort.« Ein älterer Mann mit kahlem Kinn hatte sich erhoben und führte uns mit einem herzhaften Griff unter die Arme ans Feuer. »Seien Sie willkommen in meinem bescheidenen Heim. Pickman, mein Name. Harold Pickman. Ich bin der Vorsteher von St. Audrey. Nicht, dass wir einen nötig hätten, in unserer winzigen Gemeinde. Meine Frau Martha haben Sie bereits kennengelernt. Und der junge Bursche, der sich da hinten herumdrückt und aussieht, als könne er nicht bis drei zählen, ist unser Sohn Jeremiah.« Mit einem Stolz, der der Vorstellung seines Sprosses widersprach, fügte er hinzu: »Er erledigt alle Schmiedearbeiten im Dorf.«

»Und er hat auch eine gute Hand für Tiere«, warf die Hausherrin ein, die begonnen hatte, zwei Schüsseln mit befremdlich riechender Suppe zu füllen. »Junge, sieh nach den Pferden der Herren. Sie hatten einen Unfall. Die Tiere werden vollkommen erschöpft sein.«

Ich setzte mich und lächelte Mrs. Pickman an, als sie mir eine Schüssel reichte. Noch bevor ich mich bedanken konnte, warf mir eine verhärmte Frau mittleren Alters eine Decke über die Schultern. Sie murmelte einige Worte, die ich nicht verstand, da Thomas just in diesem Augenblick von der eifrigen Mrs. Pickman aufgeklärt wurde, warum er ihrem Sohn keinesfalls draußen zur Hand gehen durfte. Nasse Kleidung, eine drohende Lungenentzündung und dass der nächste Arzt weit fort wäre, waren ihre überzeugendsten Argumente.

Schließlich ließ Thomas sich überreden und setzte sich zu mir. Er nahm seine Suppe entgegen und begann gierig zu essen.

Auch ich tauchte den hölzernen Löffel in die Schüssel und schämte mich meines Widerwillens, das graue Gebräu zu kosten. Ein starker Fischgeruch ging davon aus, und so, wie ich das Meer nicht recht leiden konnte, galt das auch für alles, was darin lebte. Da ich jedoch die glänzenden Augen Mrs. Pickmans auf mich gerichtet sah, setzte ich eine freundliche Miene auf und hoffte, dass sie mir erhalten bleiben würde. Ich hatte einiges an Übung, einer fleißigen Köchin Genuss vorzuspielen. Beatrice' Kochkünste ließen doch sehr zu wünschen übrig, und ich war immer froh, wenn sie diese Tätigkeit unserer guten Lena überließ.

Die Suppe war so heiß, dass sie mir fast die Zunge verbrühte. Glücklicherweise schmeckte ich dadurch umso weniger und war froh um die Wärme, die sich alsbald in meinem Bauch ausbreitete.

Während ich aß, sah ich mich in dem offenen Wohnraum um, nur um festzustellen, dass ich meinerseits beobachtet wurde. Die Blicke der Einwohner schienen jeder Bewegung des Löffels zu folgen.

Ich fürchtete kurzzeitig, dass unser Auftauchen eine ohnehin zu karge Mahlzeit strapazierte. Peinlich berührt schielte ich zu dem großen Kessel, der zu meiner Erleichterung noch gut gefüllt war. Nein, hungern musste in diesem Hause sicherlich niemand. Erst nach dieser Erkenntnis dämmerte mir, dass es die Neugier war, die sie mir jeden Löffel in den Mund schauen ließ.

»Nun, es ist wirklich eine scheußliche Zeit für eine Reise. Ich nehme an, Geschäfte treiben Sie durchs Land?«, fragte mich schließlich eine ältere Dame, deren bemerkenswert aufrechte Körperhaltung jeden Soldaten beeindruckt hätte.

»Richtig. Ich arbeite für eine Kanzlei in London und befinde mich auf dem Rückweg von Plymouth.«

»Oh, ein Advokat?«, entgegnete Mrs. Pickman interessiert. Sie tauschte einen Blick mit ihrem Gatten, und mir fiel auf, dass sie nicht die Einzige war, in deren Miene unerwartet eine gewisse Anspannung trat.

Ich wehrte lächelnd ab. »Nicht doch. Nur ein einfacher Rechtsgehilfe. Zu höheren Studien bin ich nicht berufen.«

»Aber S'e kenn'n sich mit den Gesetzen aus?«, bohrte einer der Männer nach, der für uns seinen Platz geräumt hatte. Er hatte harte Züge, die von dünner, fast durchscheinender Haut überzogen waren.

»Recht ordentlich, ja.«

Ich sah keinen Sinn darin, den Dorfbewohnern meine Kompetenzen im Einzelnen darzulegen und zu erklären, dass meine Aufgaben selten über die eines Sekretärs hinausgingen. Ich bemerkte dennoch, dass das Wissen um meinen Berufsstand die Anwesenden in Aufregung versetzt hatte.

Ich schmunzelte in mich hinein. Zweifellos würden sie mich am Morgen um meinen Rat in einer rechtlichen Angelegenheit bitten; die Frage, wem ein Kalb gehörte vielleicht oder wie die Ernte eines Bäumchens zu verteilen war, wenn die Äste auf des Nachbars Feld reichten.

Gern wollte ich ihnen jeden Gefallen tun, besonders, da die Wärme des Feuers langsam meine Kleidung trocknete und mir eine weit angenehmere Nacht bevorstand, als ich noch vor wenigen Stunden zu hoffen gewagt hatte.

»Essen Sie nur tüchtig, junger Mann. Sie sind noch reichlich blass um die Nase. Morgen sehen wir nach der Kutsche«, verkündete der ältere Pickman. »Das wäre doch gelacht, wenn wir Ihr Gefährt nicht wieder auf die Beine, eh, auf die Räder bringen würden.«

Aufgeregtes Gekicher folgte diesem schalen Witz, in das ich höflich einstimmte. Thomas machte ein langes Gesicht, ließ sich aber willig eine zweite Schüssel Suppe reichen. Im Stillen dankte ich dem Herrgott, dass er uns an einen so freundlichen Ort geführt hatte.

Als ich jedoch zwei Stunden später – gesättigt, mit einem Becher Ale versorgt, in trockenen Kleidern und mit gereinigter Kopfwunde – immer noch Fragen über das Leben in London beantwortete, bat ich den Allmächtigen heimlich, ob er seinen Preis nicht ein wenig niedriger ansetzen könne.

3

Gastfreundschaft ist eine der Tugenden, die unter der Knute einer wachsenden Stadt erst leiden und später gänzlich zugrunde gehen. In London erstreckt sie sich in diesen Tagen gerade weit genug, um Bekannte und Verwandte im Falle eines Unglücks aufzunehmen. Ein Fremder aber mag tagelang verloren durch die Straßen irren, bevor sich jemand seiner annimmt. Manchmal erst, wenn sein toter Körper eines der Fanggitter der Kanalisation verstopft.

Auf dem Land ist die Tradition der Gastfreundschaft urtümlicher. Sie geht auf eine Zeit zurück, in der Reisende aufeinander angewiesen waren und man seinen Mitmenschen mehr Vertrauen entgegenbrachte.

Man darf jedoch nicht davon ausgehen, dass eine Nacht auf einem sauberen Lager und eine warme Mahlzeit gänzlich frei von einer Gegenleistung vergeben werden. Meistens sind es die Geschichten und die Abwechslung im täglichen Einerlei, die zur klingenden Münze für den Verlorenen werden, ein Preis, der leicht und gern zu bezahlen ist.

Ich aber sollte nach unserem Unfall feststellen, dass die Erwartungen an meine Person weit höher waren. Und als ich am nächsten Tag erfuhr, von welchem Leid St. Audrey heimgesucht wurde, konnte ich es den Menschen nicht verübeln, dass sie sich an mich wandten.

***

Der nächste Morgen traf mich mit milden Kopfschmerzen und einem Reißen in den Gliedern an, das mir eine drohende Verkühlung prophezeite. Die Schräge eines Strohdaches verlief knapp über meinem Kopf, ein Heim für eine Vielzahl Ungeziefer, wie ich vermutete. Verunsichert von diesem unerwarteten Anblick schreckte ich viel zu rasch auf und wurde mit einem scharfen Stich in der Stirn belohnt. Mit ihm kehrte die Erinnerung zurück.

Der Achsbruch, der Marsch durch das finstere Moor, das abgelegene Dorf mit seinen hilfsbereiten Menschen. Ich setzte mich auf den grob gezimmerten Bettrahmen und ließ meinem Schädel einen Augenblick Zeit, sich an die aufrechte Haltung zu gewöhnen.

Licht fiel unter einer niedrigen Tür in den Raum, sodass ich mich umsehen konnte, obwohl kein Fenster die Sonne einließ. Die Dachkammer, in der ich zu später Stunde untergekommen war, war kaum zwei Schritte breit und gerade lang genug, um mein Lager zu fassen. Auf einer wurmstichigen Truhe stand meine Reisetasche bereit. Außer einer kunstvollen Holzschnitzerei über der Tür und dem Nachtgeschirr am Fuß des Bettes war die Kammer leer. Weder gab es Möbel noch eine Karaffe mit Wasser, die auf mich wartete. Letzteres bedauerte ich sehr, hatte ich doch noch den Geschmack des Ales vom Vorabend auf der Zunge.

Deshalb ließ ich mir auch nicht allzu lange Zeit, ehe ich mich ankleidete und mich über eine steile Stiege nach unten begab. Auf Socken, wie ich betonen muss, da mir meine Stiefel über Nacht abhandengekommen waren. Ich fand sie gemeinsam mit meiner Gastgeberin in der Diele, wobei Mrs. Pickman mit Inbrunst einen Teig knetete und meine Stiefel mit Stroh ausgestopft neben der Feuerstelle standen. Sie dampften.

Bei meinem Eintreten sah die Hausherrin auf und grüßte mich freudig. »Guten Morgen, Mr. Underwood. Haben Sie die Nacht gut verbracht? Ich habe mir gedacht, dass ich Sie lieber ausschlafen lasse. Sie hatten einen so schweren Tag hinter sich.«

Ihr apfelrundes Gesicht mit den winzigen Runzeln ließ mich einmal mehr an ein Wesen aus der Anderswelt denken. Dass sie sich in weite, dunkle Stoffe hüllte und eine allzu große Haube auf dem Kopf trug, die ihr Haar komplett verdeckte, ließ sie nur noch gebrechlicher wirken.

Nun, Anderswelt hin oder her, mich sollte nicht kümmern, ob Mrs. Pickman grünes Blut besaß, solange ich mit meiner Vermutung recht hatte, dass über dem Feuer ein Topf mit Porridge auf mich wartete.

»Ich bin Ihnen zu großem Dank verpflichtet«, bemerkte ich mit einem behutsamen Diener. Ich wollte meinen Kopf nicht über Gebühr plagen. »Ihre Freundlichkeit ist weit mehr, als wir uns gestern erhoffen konnten.«

»Ich bitte Sie, das ist doch selbstverständlich.« Wuchtig ließ sie den Teigfladen auf den Tisch niedergehen. »Wo kämen wir denn da hin, wenn wir verlorene Reisende dem Moor überlassen würden?«

»Nun ja, aber Sie müssten Ihnen nun wirklich nicht die Stiefel trocknen«, entgegnete ich halb beschämt, halb belustigt über die Fürsorge, mit der sie mich überschüttete.

»Oh, das mache ich auch nicht für jeden.« Sie blinzelte mir zu, und mir war fast, als würde sie mit mir schäkern. »Nur für besonders hübsche Blondschöpfe, die den Eindruck machen, als wären sie jenseits der gepflasterten Straßen ihrer Stadt vollends verloren.« Himmel, sie schürzte tatsächlich die Lippen und lachte dann über mein dummes Gesicht.

Verlegen lächelnd hob ich die Achseln. »Sie haben mich durchschaut, Mrs. Pickman. Ich bin kein sehr begeisterter Wandersmann. Ohne Thomas würde ich wahrscheinlich in Calais enden statt in London.«

Glucksend tätschelte sie meinen Arm und schob mich neben sich an den Tisch. »Na, so weltfremd werden Sie mir doch nicht sein, dass Sie das Meer nicht von einer Pfütze unterscheiden können, nein?«

Ich beließ ihre Frage unbeantwortet und sah mich schnell von dem Porridge abgelenkt, den sie mir in Windeseile auftischte. Gierig schlang ich den warmen Haferbrei in mich hinein und hatte mir zum zweiten Mal innerhalb weniger Stunden die Zunge verbrannt, als mir etwas einfiel. »Wo ist eigentlich Thomas? Schläft er noch?«

Mrs. Pickman, die sich erneut ihrem Teig zugewandt hatte und ihn walkte, als hätte er ihr Gräuliches angetan, schüttelte den Kopf. »Aber wo denken Sie hin? Ihr Kutscher war vor uns auf den Beinen. Er hat sofort nach den Pferden gesehen, der gute Mann.« Sie seufzte. »Leider war er mit dem, was er vorgefunden hat, nicht sehr glücklich. Gar nicht glücklich.«

Alarmiert ließ ich den Löffel sinken. »Nicht?«

»Ich fürchte, Sie werden den einen oder anderen Tag bei uns bleiben müssen, Sir. Eins der Tiere hat ein dickes Bein. Ganz heiß ist es. Das Pferd wird in den nächsten Tagen weder einen Reiter tragen noch eine Kutsche ziehen.«

»Oh.«

Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich zu meiner Schande noch keinen einzigen Gedanken daran verschwendet, wie es nach dem Frühstück weitergehen sollte. Wir mussten aufbrechen, doch auf welche Weise wir die Reise fortsetzen sollten, war mir schleierhaft.

Mrs. Pickman verstand meine karge Antwort wohl als Missbilligung, denn sie sah mich beschwichtigend an. »Glauben Sie mir, es ist nicht Jeremiahs Schuld. Er wird sich gut um Ihr Pferd kümmern, das versichere ich Ihnen. Niemand in St. Audrey ist fähiger.«

»Daran hege ich keinen Zweifel«, versicherte ich ihr rasch. »Ich bin nur etwas ratlos bezüglich unserer weiteren Reise.«

»Wann erwartet man Sie denn in London?«, fragte sie. »Wird man sich Sorgen machen, wenn Sie sich verspäten?«

»Das nicht. Wir sind früher aus Plymouth abgereist, als zu erahnen war. Doch meine Frau steht kurz vor der Niederkunft. Ich wäre gern in ihrer Nähe.«

Es war eine höfliche, aber nicht ganz ehrliche Antwort. Natürlich wollte ich Beatrice in ihrem Zustand nicht länger als nötig allein lassen. Vor allen Dingen jedoch behagte mir der Gedanke nicht, meinen Aufenthalt in Dartmoor über die Gebühr zu verlängern. Die Bewohner waren sehr liebenswürdig, aber die Gerüche des Moors behagten mir nicht. Zu viel Wasser, zu wenig fester Boden. Wenn es einen Ort auf der Welt geben mochte, an dem die Fische aus den Flüssen kamen, um an Land zu leben, dann war es wohl dieser.

Glücklicherweise konnte Mrs. Pickman meine Gedanken nicht erraten. Die Runzeln in ihrem Gesicht vervielfachten sich. »Das kann ich gut verstehen. Nun, ich bin sicher, dass die Männer alles tun werden, was in ihren Kräften steht. Vielleicht können Sie ja morgen schon aufbrechen. Sie sollten sich mit meinem Mann unterhalten. Er kümmert sich darum, dass Ihre Kutsche geborgen wird.«

Ich dachte nach. Wenn das Gefährt nicht zu retten war, blieb immer noch die Möglichkeit, dass Thomas und ich zu Pferd aufbrachen, falls das verletzte Tier bis dahin genesen war. Die Vorstellung, die Bücher aus der Reederei zurückzulassen, war mir höchst unangenehm – und der Gedanke, auf einem blanken Pferderücken nach London zu reisen, ebenso.

Ich entschied, mir nicht vor der Zeit den Kopf zu zerbrechen. »Das will ich gern tun, Mrs. Pickman. Und seien Sie herzlich bedankt für das gute Frühstück. Natürlich werde ich für all Ihre Ausgaben aufkommen.«

Sie deutete mit dem Nudelholz auf mich. »Oh, das dürfen Sie nicht. Was wäre ich für ein Mensch, wenn ich Sie in dieser Lage ausnehmen würde? Und nun gehen Sie. Sie finden meinen Mann sicherlich in den Ställen. Husch, husch!«

Ich wollte die Hausherrin nicht beleidigen, indem ich ihr Lohn für ihre Bewirtung aufdrängte, und beließ es für den Moment dabei. Vielleicht zeigte sich Harold Pickman einsichtiger.

***

St. Audrey erwies sich als weitläufiger, als ich in der Nacht vermutet hatte. Dennoch waren es kaum mehr als zwanzig oder dreißig Häuser, die sich robust errichtet im Schatten der weit größeren Stallungen und Scheunen drängten. Einige von ihnen schienen leerzustehen. Die schäbige Holzkirche im Zentrum des Dorfs wirkte verloren mit ihrer beängstigend schrägen Südwand und dem schmucklosen Portal.

Im grauen Morgenlicht war allerlei Volk auf dem Platz und den unbefestigten Straßen unterwegs. Ein Tischler schleppte einen Balken zum Dorfausgang, ein alter Mann warf fluchend eine fauchende Katze aus seinem Haus. Auf einer Bank neben dem Brunnen saß eine Greisin und fütterte die aus allen Richtungen heranwackelnden Hühner.

Wie schon am Abend zuvor sah ich mich vielen neugierigen Blicken ausgesetzt mit dem einzigen Unterschied, dass ich nun nicht minder interessiert die Einwohner beobachtete. Rege waren sie, und zu meiner Verwunderung in die züchtigen, in England selten gewordenen Kleider puritanischer Glaubensgemeinschaften gehüllt. Niemand war ohne Kopfbedeckung zu sehen. Die Frauen trugen bauschige Hauben, die Männer flache Filzhüte. Die Farblosigkeit ihrer Kleidung vermischte sich mit dem Grau der Wolken und den kahlen Obstbäumen, die ihre Äste mahnend in den Himmel streckten. Im Vergleich zu London mit seinen pulsierenden Modebewegungen, die die Damen in bunte Stoffe und die Herren in elegante Gehröcke kleideten, wirkten die Dorfbewohner wie graue, wenn auch sehr fleißige Mäuse.

Ich fand Harold Pickman wie von seiner Frau vorhergesagt im Stall vor. Sein Sohn Jeremiah stand ebenso neben ihm wie die Frau mit der aufrechten Haltung, die mir am Abend zuvor die erste von vielen Fragen gestellt hatte. Im Dämmerlicht des Stalls wirkte ihr Gesicht wie versteinert, sodass ich mir nicht sicher war, ob sie jemals in ihrem Leben gelächelt hatte.

»Ah, Mr. Underwood. Einen guten Morgen wünsche ich Ihnen«, grüßte mich der Hausherr.

Seine Worte ließen eine weitere Gestalt auftauchen. Thomas, der neben einem unserer Pferde im Stroh gekniet hatte, richtete sich auf und nickte mir knapp zu. Seine Miene war so finster, wie es angesichts der Lage wohl angebracht war. Die Nachbarin der Pickmans bedachte mich lediglich mit einem strengen Blick, während Jeremiah gar nicht auf meine Ankunft reagierte. Er wippte auf den Fußballen und kratzte sich ungeniert zwischen den Beinen.

Das unhöfliche Gebaren ignorierend sagte ich: »Guten Morgen miteinander. Ihre Frau berichtete mir, dass es Schwierigkeiten gibt?«

»Kann man so sagen«, knurrte Thomas unwirsch. Er deutete auf die Vorhand des Pferdes. »Lahm. Das Knie ist geschwollen. Muss Ruhe haben.« Unzufrieden sah er mich an, als wäre es meine Schuld, dass das Tier nicht schadlos aus dem Unfall hervorgegangen war. »Wir sitzen fest.«

»Drei Tage«, behauptete der junge Jeremiah tonlos, ohne mich anzusehen. Konzentriert glitten seine kräftigen Finger über den Verschlag und zogen einen Splitter nach dem anderen aus dem Holz. Sein Mund stand weit offen und schloss sich nur, um Silben zu bilden. »Mindestens.« Er nahm eins der Bruchstücke und stieß es sich in die Kuppe des Daumens, bis Blut kam. Unerwartet scharf fügte er hinzu: »Wer Tiere schlecht behandelt, ist ein böser Mensch.«

»Nun, sieh mal...«, begann ich zögernd. Dieser junge Mann – er war vielleicht fünf Jahre jünger als ich – war mehr als eigenartig.

»Wir sind Ihre Möglichkeiten bereits durchgegangen«, unterbrach Mr. Pickman mich eilfertig. »Leider, es ist mir sehr unangenehm, können wir Ihnen keinen Ersatz anbieten. Weder für die Kutsche noch für das Pferd.« Er lächelte schwach. »Es sei denn, Sie möchten auf meinem Ochsen reiten, aber ich glaube nicht, dass Sie so lebensmüde sind.«

Die ältere Frau rückte ihren Kittel zurecht und schnaubte missbilligend. »Red keinen Unsinn, Harold. Damit ist niemandem geholfen. Ich werde jetzt nach Hause gehen und einen Kräuterumschlag vorbereiten. Jeremiah, du begleitest mich«, befahl sie. »Hör schon auf, dumm in der Gegend herumzustieren. Du bist doch keine Kuh. Und was hast du schon wieder mit deiner Hand gemacht?«

Widerstandslos folgte der junge Mann ihr, wenn auch nicht, ohne mir einen seltsamen Blick aus seinen fahlen, trüben Augen zuzuwerfen.

Kaum dass sie den Stall gemeinsam verlassen hatten, seufzte Mr. Pickman kaum hörbar. »Sie meint es gut, unsere Witwe Miller. Wir sind ihr zu großem Dank verpflichtet, sie hat uns viel mit Jeremiah geholfen, als er klein war. Aber sie glaubt immer noch, dass sie ihm mit Strenge über seine... Nun ja, darüber hinweghelfen kann, wer er ist.«

Ich weiß nicht, welcher Ausdruck Pickman auf der Zunge lag, aber für mich war klar, dass der Sohn des Hauses schwachsinnig war. Mich schockierte bis zu einem gewissen Punkt, dass man ihm die Pflege unserer Pferde anvertraut hatte und ihn sogar in der Schmiede arbeiten ließ. Andererseits musste jeder seinen Teil tun, um die Mühlräder einer Gemeinschaft am Laufen zu halten. Sicherlich war Jeremiah ein Quell großer Sorge und Last für seine Eltern. Ich empfand Mitgefühl für sie und auf die beschämte Weise des Gesunden auch für den jungen Mann.

»Mrs. Miller ist in der Kräuterheilkunde bewandert?«, fragte ich, um dem unangenehmen Thema auszuweichen.

»Das ist sie. Ich nehme an, in der Stadt würde man über ihre Fähigkeiten lächeln. Aber sie ist eine fähige Hebamme und hat schon manchem von uns wieder auf die Beine geholfen, wenn er krank oder verletzt war.« Pickman griff in einen leeren Verschlag, in dem Heu bereitlag, und beförderte einen Armvoll zu unserem Patienten. »Leider sind auch ihren Kräutern Grenzen gesetzt.«

Geisteskrankheiten sind nicht mit einer Handvoll Kamille und Weidenrinde zu heilen, dachte ich für mich. Dagegen ist im wahrsten Sinne des Wortes kein Kraut gewachsen.

»Ich denke, eine Frau wie sie wird einige Erfahrung haben. Ich bin zuversichtlich«, bemerkte ich und sah zu Thomas hinüber, der unsere Unterhaltung stumm verfolgt hatte.

Auf meinen fragenden Blick zuckte er die Achseln und murmelte: »Sehe ich aus wie ein Viehdoktor?«

Für einen Augenblick fragte ich mich, worin seine schlechte Laune begründet lag. Dann jedoch wurde mir bewusst, dass er mit Sicherheit ebenso wenig von dem Gedanken, in St. Audrey gestrandet zu sein, begeistert war, wie ich. Hatte er eine Familie, eine Frau? Es kam mir seltsam vor, dass ich ihn nie danach gefragt hatte. Er wirkte nicht wie ein Mann, der gern für sich blieb.

»Viehdoktor hin oder her, wir müssen die Dokumentenkiste bergen.« Es fehlte mir gerade noch, dass meine Reise zu allem Überfluss zwecklos gewesen war, weil mir die Bücher abhandenkamen. Über die weiteren Konsequenzen mochte ich nicht einmal nachdenken. »Ich fürchte, sie ist zu schwer, um sie zwei Meilen durch das Moor zu tragen.«

»Daran soll es nicht scheitern. Ich werde gern...« Pickman runzelte die Stirn. »Nein, wir sollten anders vorgehen. Ich werde Gervais und Peter bitten, gemeinsam mit Thomas nach Ihrer Kutsche zu sehen. Sie sollen einen der Esel mitnehmen. Wenn ich Sie in der Zwischenzeit vielleicht, nun...« Verlegen ließ er die Daumen unter den schlichten Ledergürtel gleiten. »Es gäbe da eine Angelegenheit, die ich gern mit Ihnen besprochen hätte. Eine sehr... unangenehme Angelegenheit.«

Flüchtig sah er sich nach Thomas um, der stumm mit den Augen rollte und mit einer wegwerfenden Handbewegung Verschlag und Stall verließ.

Harold Pickman wartete, bis sich die Tür geschlossen hatte und der Lichtstrahl, in dem aufgewirbelter Staub getanzt hatte, versiegte. Ich hatte mich bereits im Stillen gefragt, wie lange es dauern würde, bis man mir die Rechtsfragen zutrug, die den Einwohnern auf der Seele lagen. Viel Zeit hatte Pickman sich nicht gelassen, was dafür sprach, dass ein ernsteres Problem der Klärung bedurfte. Auch die Tatsache, wie schwer er sich tat, sein Anliegen in Worte zu fassen, deutete darauf hin.

Nachdem er einen Moment stumm zu Boden gesehen hatte, bemühte ich mich, ihm eine Brücke zu bauen. »Reden Sie nur frei heraus. Was kann ich für Sie tun? Ich bin Ihnen zu Dank verpflichtet für Ihre freundliche Aufnahme und werde Ihre Bitte sicher nicht abschlagen.«

Er sah mich an, das Gesicht eine Spur aufgedunsen, als hätte er vor einer Weile mit Fieber darniedergelegen. Seine Mundwinkel hoben sich, aber zu einem echten Lächeln reichte es nicht. »Sie sind sehr freundlich, aber sehen Sie, mein Anliegen ist wirklich sehr hässlicher Natur, und niemand von uns belästigt Sie gern damit.«

Meine Fantasie begann zu sprudeln. Ein Fall von Ehebruch, der das Dorf erschütterte? Ein Kind, dessen Vaterschaft angezweifelt wurde? Ein Erbstreit? Eine inzestuöse Verbindung?

Ich lehnte mich an den Verschlag und tätschelte die weiche Pferdenase, die sich über die Bretter schob. Anscheinend war mein vierbeiniger Weggefährte nicht so schwer krank, dass er über Streicheleinheiten erhaben war. Eine tröstliche Erkenntnis.

»Reden Sie es sich nur von der Seele. So schlimm wird es doch nicht sein. Wie ich schon sagte, ich bin nur ein einfacher Rechtsgehilfe und kein Advokat, aber glauben Sie mir, wir haben bereits mit manch merkwürdiger Angelegenheit Erfahrung gemacht. Sie können mich sicher nicht überraschen.«

Ja, da sprach der Hochmut aus mir, das will ich gern zugeben. Insofern habe ich es wohl verdient, dass man mich sehr wohl überraschte, sogar schockierte.

»Ich weiß nicht, wie ich beginnen soll«, erklärte Pickman. »Aber Sie haben recht. Es hinauszuzögern, ist niemandem eine Hilfe. Wissen Sie, Sir, es ist leider so, dass jemand zu Tode gekommen ist.«

»Oh, wie unangenehm. Was ist denn geschehen? Ein Unfall? Eine Schlägerei?«

»Nein, das kann ich nicht behaupten. Es... es ist der Pfarrer. Vikar Flynn. Und ich bin mir sicher, also wir alle sind uns sicher, dass er ermordet wurde.«

Ich zog zweifelnd die Brauen zusammen. Das erklärte zumindest, warum uns gestern Nacht niemand die Kirchentür geöffnet hatte. Trotzdem glaubte ich nicht recht an einen Mordfall. Vielmehr nahm ich an, dass in den Köpfen der Dörfler aus einem hässlichen Zwischenfall ein finsteres Märchen geworden war. Das bedeutete jedoch nicht, dass ich über den Tod des Pfarrers hinweggehen wollte.

»Mein herzliches Beileid. Das muss Ihre Gemeinde in große Unruhe gestürzt haben«, sagte ich behutsam und nahm mir dabei Sir Percivals Verhalten in Situationen wie dieser zum Vorbild. »Möchten Sie mir erzählen, was vorgefallen ist?«

»Das weiß ich nicht. Wenn ich es wüsste…« Hilflos hob er die Schultern »… dann stünde ich nicht als Bittsteller vor ihnen.«

»Ich verstehe. Dann lassen Sie mich anders fragen: Was macht Sie denn glauben, dass der Herr Vikar keines natürlichen Todes gestorben ist? Gibt es irgendwelche Verletzungen? Stichwunden vielleicht?«

Harold Pickman wich tiefer in die Schatten zurück und zerrte nervös an seinem Gürtel. Dann sagte er mit dünner Stimme: »Wie er ums Leben kam, weiß ich nicht. Aber jemand hat sein Fleisch vollständig entfernt.«

4

Ach, William, was soll ich sagen?

Wir Londoner sind schon ein hochmütiges Pack. Wir wissen, woher wir kommen, welche Katastrophen wir überstanden haben und dass die ganze Welt auf uns blickt, wenn sie nicht gerade nach Paris späht, um sich an den schönen Künsten zu erfreuen. Es heißt, dass inzwischen mehr als zwei Millionen Seelen in unserer Heimatstadt leben, auch wenn mir das zu hoch gegriffen scheint.

London ist ein Schmelztiegel der Fabriken, die zu jeder Tages- und Nachtstunde neu zu eröffnen scheinen. Sie atmen Rauch und Dampf und manchmal Flammen. Die Themse dagegen ist die übelriechende Hauptschlagader des Molochs, der uns alle nährt, wärmt und am Ende zu Grabe trägt. Keine andere Stadt in Europa und darüber hinaus kann sich solch bahnbrechender Entwicklungen rühmen, eines solchen Aufstiegs, nachdem Krankheiten und Feuer die Zivilisation wieder und wieder in die Knie gezwungen haben.

Als ich noch die Schulbank drückte, hörte ich einst einen meiner Lehrer lachend zu seinem Kollegen sagen, dass uns diese Hartnäckigkeit schon seit Jahrhunderten zu eigen wäre und die Sturheit der Londoner Pfeffersäcke selbst vor dem Königshaus niemals haltgemacht habe. Und doch rühmen wir uns der Tatsache, dass der König bei uns zu Hause ist und dass in unserer Westminster Abbey der Bund zwischen Gott und ihm besiegelt wird.

Ja, wir sind stolz.