Bärenhunger - Raik Thorstad - E-Book

Bärenhunger E-Book

Raik Thorstad

0,0
8,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Jack ist frei – oder so frei, wie man als Bär auf der Flucht vor seinen Häschern eben sein kann. Nachdem Tierpfleger Mark seinem Schützling "Matunnos" beim Ausbruch aus dem Schutzpark geholfen hat, beginnt nun eine nervenaufreibende Jagd, an deren Ende ihr Wiedersehen stehen soll. Aber das ist nicht alles, denn Jack ist immer noch auf der Suche nach den fehlenden Bruchstücken seiner Vergangenheit und einem Weg zurück nach Hause. Doch wird Mark auch zukünftig einen Platz in Jacks Leben haben?

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 786

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Deutsche Erstausgabe (ePub) März 2018

© 2018 by Raik Thorstad

Verlagsrechte © 2018 by Cursed Verlag

Inh. Julia Schwenk, Taufkirchen

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,

des öffentlichen Vortrags, sowie der Übertragung

durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile,

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit

Genehmigung des Verlages.

Bildrechte Umschlagillustration

vermittelt durch Shutterstock LLC; iStock

Satz Layout: Cursed Verlag

Covergestaltung: Hannelore Nistor

ISBN-13: 978-3-95823-687-5

Besuchen Sie uns im Internet:

www.cursed-verlag.de

Liebe Leserin, lieber Leser,

vielen Dank, dass Sie dieses eBook gekauft haben! Damit unterstützen Sie vor allem die Autorin des Buches und zeigen Ihre Wertschätzung gegenüber ihrer Arbeit. Außerdem schaffen Sie dadurch die Grundlage für viele weitere Romane der Autorin und aus unserem Verlag, mit denen wir Sie auch in Zukunft erfreuen möchten.

Vielen Dank!

Ihr Cursed-Team

Klappentext:

Jack ist frei – oder so frei, wie man als Bär auf der Flucht vor seinen Häschern eben sein kann. Nachdem Tierpfleger Mark seinem Schützling „Matunnos“ beim Ausbruch aus dem Schutzpark geholfen hat, beginnt nun eine nervenaufreibende Jagd, an deren Ende ihr Wiedersehen stehen soll. Aber das ist nicht alles, denn Jack ist immer noch auf der Suche nach den fehlenden Bruchstücken seiner Vergangenheit und einem Weg zurück nach Hause. Doch wird Mark auch zukünftig einen Platz in Jacks Leben haben?

Für Julia,

der ich hoch und heilig verspreche, nie wieder einen

Eierkuchen/Pfannkuchen/Pancakes/Crepes/Wasauchimmer

in ein Buch einzubauen.

Kapitel 1

Über dem Tal ging die Sonne auf. Zwischen bunt belaubten Bäumen glitzerte der Fluss, der sprudelnd und schäumend durch sein Sandbett schoss, als wollte er nach all der Zeit in der Enge des Gebirges die neugewonnene Freiheit genießen.

Der Bär stand auf einem halb geborstenen Granitplateau und sah in die Tiefe. Der Wind trug ihm die Gerüche der Wildnis zu. Viele konnte er einordnen, andere gehörten zu Pflanzen und Tieren, die er nicht kannte. Es war eine fremde Welt, durch die er über Nacht gewandert war, und doch fügte er sich in sie ein, als ob er in ihr zu Hause wäre.

Am Ufer tauchten zwei Rehe auf, um zu trinken. Für seine Augen waren sie kaum mehr als Schemen, die mit dem dichten Braun und Grün des Hintergrunds verschmolzen. Für seine Nase aber waren sie junge, gesunde Bewohner des Walds, die den Fellwechsel bereits abgeschlossen und sich über den Sommer an jungen Trieben und wilden Kräutern rundgefressen hatten. Ganz entfernt nahm er auch den Geruch nach Heu und Stroh an ihnen wahr. Jemand fütterte sie – oder sie hatten herausgefunden, wie sie auf einer der Nutztierweiden ihren Teil an Raufutter stibitzen konnten.

Eine lange Nacht lag hinter ihm, in der er gerannt war, bis seine Lunge brannte und die alte Wunde an der Schulter schmerzte. Er war weder Pferd noch Antilope. Sein massiger Körper war nicht für einen Dauerlauf geschaffen.

Matunnos, der in einem anderen Leben Jack gewesen war, neigte den Kopf. Auch er hatte Durst, aber er wollte das Wild nicht aufscheuchen.

Schwere Zeiten standen ihm bevor. Viel schwerer als die finsteren Stunden seit Sonnenuntergang, in denen seine einzige Herausforderung darin bestanden hatte, so weit wie möglich zu laufen. Bald würden sie ihm folgen. Es würde ihnen leicht fallen. Zu viele Straßen, die er überqueren musste, zu viele Siedlungen, zu viele Augen, die ihn entdecken konnten.

Er würde auch fressen müssen. Jagen. Noch nie zuvor war er darauf angewiesen gewesen, als Bär Beute zu schlagen. Wenn doch, konnte er sich, wie an so vieles andere, nicht daran erinnern. Es würde ihm gelingen, daran hatte er keinen Zweifel, aber er würde Spuren hinterlassen.

Anfangs musste er das sogar. Sie sollten ihm folgen. Sie sollten erfahren, wohin er verschwinden würde, damit er eines Tages zurückkehren konnte, ohne dass das ganze Gebiet von Jägern wimmelte. Jäger mit Hunden, die anschlagen würden, wenn sie ihn witterten.

Es sei denn, er wäre bis dahin wieder ganz er selbst und in der Lage, sich dauerhaft in seiner menschlichen Gestalt zu halten. Er sehnte sich danach und nach der Freiheit, die damit einherging.

Genau wie der Fluss, der nach endlosen Windungen durch steinerne Engpässe endlich frei ins Tal donnerte, würde auch er irgendwann wieder die Gelegenheit erhalten, sich auszuleben. Über die Stränge zu schlagen, wenn ihm danach war, und Ruhe einkehren zu lassen, wenn er müde war.

Bis dahin musste ihm nur das Kunststück gelingen, zu überleben.

***

Mark schwitzte und seinen Kollegen ging es nicht besser. Sie standen zusammengedrängt wie verängstigte Schafe vor dem Tor, während ihr Chef mit den Polizisten sprach. Sebastian war bleich wie ein Laken und sah aus, als würde er jeden Augenblick entweder in Ohnmacht fallen oder die Beherrschung verlieren.

Man konnte es ihm nicht verübeln. Wohin Mark auch sah, schaute er in entsetzte Gesichter, die einen bleich, die anderen rot vor unterdrückten Gefühlen.

Es war kaum mehr als eine Stunde vergangen, seitdem der Bauarbeiter in ihre Besprechung geplatzt war und sie hatte wissen lassen, dass sich jemand am Zaun zu schaffen gemacht hatte. Die vereinzelten Haarbüschel, die im Gitter hingen, hatten ihnen schnell Gewissheit verschafft: Matunnos war fort.

Niemand wusste das besser als Mark. Der Bolzenschneider, mit dem er den Zaun geöffnet hatte, befand sich in der alten Sickergrube hinter seinem Haus und versank Stunde um Stunde tiefer im jahrhundertealten Schlick.

»Herr Juranowitsch, noch einmal ganz langsam und von vorn. Jemand hat also ein Gehege aufgebrochen und jetzt ist einer Ihrer Bären im Wald unterwegs. Von was für einem Tier sprechen wir hier?«, fragte der erste Polizist betont sachlich. Er war ein rundlicher, kleiner Mann um die Fünfzig, dem man anmerkte, dass er in seinen Dienstjahren schon viel Skurriles und noch mehr Langweiliges erlebt hatte.

Sebastian rieb sich nervös die Hände. »Ein Kodiakbär. Das ist eine der größten Bärenarten der Welt. Manche sagen sogar, die größte überhaupt, aber da sind sich die Forscher nicht immer einig. Es gibt auch sehr große Kamschatkabären, wissen Sie, und natürlich sind da noch die Eisbären…«

Der Polizist wechselte einen Blick mit seinem Kollegen, dann hob er begütigend die Hand. »Die Einzelheiten sind für den Moment nicht so wichtig. Auf jeden Fall handelt es sich also um ein sehr großes Tier, das jetzt frei im Bayrischen Wald herumläuft. Ich frage Sie ganz direkt: Wie gefährlich ist er?«

Sie zuckten beinahe synchron zusammen. Mark, Theo, Kathrin und auch Gertrud, die sich seit einer geschlagenen halben Stunde erschrocken die Hand vor den Mund hielt und immer wieder ängstlich zum Waldrand spähte.

Ihre Regung entging den Männern in Blau nicht. »Sehr gefährlich also«, bemerkte der zweite Polizist mit einem leisen Kieksen in der Stimme.

Er war deutlich jünger als sein Kollege und nahm die Neuigkeit weniger gefasst auf. Seine ohnehin ungesund blasse Haut hatte einen gräulichen Schimmer angenommen. Damit hätte er sich gut zu den Tierpflegern gesellen können.

In Mark stritten sich zwei Seelen. Auf der einen Seite wollte er, dass dieses ganze Brimborium so zäh und langsam wie möglich vonstattenging. Jede Minute, die sie hier verschwendeten, kam Matunnos zugute. Seinem Matunnos. Der Mitarbeiter des Wildparks in ihm aber wollte auf Eile drängen. Wollte, dass man reagierte, dass man die Angelegenheit in die Hand nahm und sie von jeder Schuld freisprach.

Er verstand die zweite Regung selbst nicht. Vielleicht war eine Art Notfallmodus in ihm angesprungen, der die Zusammenhänge noch nicht ganz erfasst hatte und lediglich darauf reagierte, dass einer ihrer Schützlinge allein durch den Wald stromerte und damit auch die Zukunft des Parks gefährdete.

»Sie dürfen das nicht falsch verstehen«, warf Kathrin ein. Sie stellte sich neben Sebastian und lächelte den Polizisten nervös zu. »Matunnos hat keine Tollwut oder hasst Menschen. Er ist keine wilde Bestie wie Cujo oder so, nur eben groß und sehr stark.«

Mark hätte sie am liebsten umarmt. Aber sicher war den Polizisten genauso klar wie ihm, was Kathrin vorhatte. Sie wollte die Lage herunterspielen, weil ihr längst bewusst geworden war, dass sie Matunnos vielleicht nicht lebendig wiedersehen würden. Je bedrohlicher sie ihn darstellten, desto weiter sanken seine Chancen.

Sebastian räusperte sich. Seine Schultern waren angespannt, und er sah sich nicht um. Weder zu Mark und den anderen Wartenden noch zu Kathrin. »Das ist richtig. Er ist nicht bösartig.«

»Aber?«, hakte der ältere Polizist nach. Man musste ihm zugutehalten, dass er freundlich sprach, als würde er verstehen, wie wichtig ihnen allen jedes ihrer Tiere war.

»Er hat sehr lange unter schlechten Bedingungen gelebt und ist misshandelt worden. Ich denke, man könnte sagen, dass er…« Nun drehte Sebastian sich doch schuldbewusst zu seinen Mitarbeitern um. »Er ist vielleicht ein bisschen aggressiv. Tut mir leid, Mark.«

Mark spürte, wie seine Faust in der Hosentasche zuckte. So fühlte es sich also an, wenn man jemanden schlagen wollte. Nicht nur, dass Sebastian Matunnos zu einer noch größeren Gefahr erklärte, als ein freilaufender Bär ohnehin war, er hatte Mark auch die Aufmerksamkeit der Polizisten eingebracht.

Prompt wandten sie sich ihm zu. »Sie sind sein Pfleger, nehme ich an?«, wollte der Dienstältere wissen.

Mark trat vor. Schweiß begann ihm den Rücken runterzulaufen. Dies war der Moment, vor dem er sich gefürchtet hatte. Auf einmal stand er im Scheinwerferlicht. Das hasste er sowieso schon wie die Pest, aber jetzt, mit der Angst um Matunnos im Hinterkopf, mit der Last dessen Geheimnis auf seinen Schultern, wurde der fragende Blick des Polizisten unerträglich.

»J-ja«, brachte er mühsam hervor.

»Verstehe. Ihnen liegt sicher viel an ihm.«

Mark nickte und spürte den Blick des zweiten Beamten schwer wie Blei auf sich lasten.

»Gut, wir werden uns später sicher noch unterhalten. Vielleicht haben Sie ja den einen oder anderen Ratschlag für uns.« Als der Polizist fortfuhr, klang er nicht länger freundlich und verständnisvoll, sondern sachlich, sogar harsch. »Ich muss Ihnen nicht sagen, dass wir es hier mit einer hochbrisanten Gefährdungslage zu tun haben. Wir verständigen jetzt die Dienststelle und die leitet alles Weitere in die Wege. Forstamt, Amtstierarzt, Stadt und Kreis, Feuerwehr und so weiter. Haben Sie Betäubungsgewehre vor Ort?«

Sebastian schüttelte den zwischen die Schultern gezogenen Kopf.

»Müssten Sie das nicht als öffentliche zoologische Einrichtung? Was ist mit Ihrem behandelndem Tierarzt?«

»Wir haben noch nicht eröffnet, bisher war das nicht nötig. Glaube ich jedenfalls«, erwiderte Sebastian dünn. »Aber ich kann unsere Tierärztin verständigen. Sie hat die passenden Narkotika, aber keinen Waffenschein, um sie zusammen mit einem Gewehr zu verwenden. Und ob wir Ihren Kollegen, der einen hat, sofort abrufen können…«

»Das ist besser als nichts. Geben Sie ihr sofort Bescheid. Schicken Sie alle Arbeiter von der Baustelle weg und gehen Sie mit Ihren anderen Mitarbeitern ins Hauptgebäude. Wir kommen nach, sobald wir mehr wissen. Und dann werden wir mit Ihnen die restlichen Gehege untersuchen.«

»Die restlichen Gehege?«, wiederholte Theo verwirrt.

Dieses Mal antwortete der junge Polizist. Bissig schnarrte er: »Na was glauben Sie denn! Haben Sie nicht diesen Wisch von diesen Tierschutzidioten gefunden?« Er wedelte mit der Nachricht, die Sebastian ihm zur Begrüßung in die Hand gedrückt hatte. »Denken Sie etwa, die wollten nur ein Tier befreien und den Rest hier versauern lassen?«

Mark bemühte sich, keine Regung zu zeigen. Er hörte, wie Theo erschrocken die Luft einsog und wie Kathrin ein fast unhörbares Winseln ausstieß. Bestimmt fragten sie sich, ob sich jemand an der Hauptanlage zu schaffen gemacht hatte, und wenn ja, ob nicht inzwischen auch die anderen Bären und die Wölfe verschwunden waren.

Er hätte ihnen so gern die Angst genommen. Aber damit hätte er sich verraten. Und wenn er sich selbst verriet, dann immer auch Matunnos.

Es dauerte nicht lange, bis Verstärkung anrückte. Vom Fenster des Büros aus beobachteten sie, wie ein Wagen nach dem anderen auf den Hof rollte. Seit dem Auszug der Militärs hatte die Anlage nicht mehr so viele Waffen gesehen.

Mark war inzwischen speiübel. Ein Teil von ihm hatte gehofft, dass man sich Zeit lassen würde, bevor man die schweren Geschütze auffuhr. Dass man erst einmal versuchen würde, Matunnos in Narkose zu legen und zu ihnen zurückzubringen. Er hatte nicht wahrhaben wollen, dass sie dieses Risiko unmöglich eingehen konnten.

Der Schutzpark selbst lag fern jeder Siedlung, aber der Bayrische Wald war von einer Unmenge an Wegen durchzogen, die auch im Herbst noch viel genutzt wurden. Wanderfreunde, Spaziergänger mit Hunden, Mountainbike-Fans, Jogger, Geocacher, Familien mit Kindern, sie alle kamen her, um sich in der freien Natur zu bewegen.

Es würde Stunden, wenn nicht sogar den ganzen Tag dauern, bis die Bevölkerung informiert war, dass ein potenziell gefährlicher Bär herumstreunte. Für die Behörden bedeutete das, dass sie die Unwissenden um jeden Preis schützen musste. Und Jagdgewehre und die Schusswaffen der Polizei waren zahlreicher und leichter heranzuschaffen als eine Unmenge bärentauglicher Narkotika und diejenigen, die damit umgehen konnten und durften.

»Ich glaub das alles nicht«, flüsterte Kathrin. Sie war sich inzwischen so oft durch die kurzen Haare gefahren, dass diese fettig von ihrem Kopf abstanden. »Was haben sich diese Idioten nur dabei gedacht? Sind die denn komplett hirnverbrannt? Um ein Zeichen zu setzen, hätten sie doch auch die Kaninchen freilassen können. Oder die Otter von mir aus! Warum ausgerechnet den größten Bären im ganzen Park?«

»Das hätte nicht halb so viel Aufruhr gegeben«, gab Theo tonlos zurück. Er schlenderte ein Fenster weiter und setzte sich dort auf die Fensterbank, die Beine angezogen und die Füße gegen die Mauer gestützt. Er legte die Wange an die Scheibe. »Je größer die Aktion, desto mehr Leute erfahren davon. Und wenn dabei ein paar Kinder draufgehen, was soll's.«

Dieses Mal konnte Mark sich nicht beherrschen. »M-matunnos f-fällt niemanden an!«, schoss er dazwischen. »N-niemand g-geht drauf!«

»Darauf können wir uns leider nicht verlassen.« Kathrin schloss die Augen. »Wenn ich überlege, wie er in letzter Zeit getobt hat…«

»Wenn er jemandem was antut, ist es jedenfalls nicht seine Schuld, sondern die von den Arschlöchern, die unbedingt ein Statement abgeben wollten«, giftete Theo hasserfüllt.

»Wos de Polizei aba ned interessier'n werd. Sie wer'n unsa Bärchn oafach daschiaß'n.«

Gertrud hatte geweint. Ihre Augen waren immer noch feucht, und sie kauerte auf dem Schreibtischstuhl wie das menschgewordene Elend. Noch nie hatte sie so klein und zerbrechlich gewirkt. Umso erstaunlicher war es, dass ausgerechnet sie die Wahrheit in den Raum warf, die bisher niemand auszusprechen gewagt hatte.

Mark wünschte, sie hätte es gelassen. Ihre Worte waren die eine Umdrehung zu viel, die er nicht mehr ertragen konnte. Er spürte, wie sein Magen sich hob, und stürmte zur Tür.

»Mark! Wo willst du hin? Hast du was gesehen?«, rief Kathrin erschrocken hinter ihm her.

Theo antwortete gepresst: »Nein, er geht kotzen. Am liebsten würde ich mitgehen.«

Der Weg zur den Toiletten war nicht weit. Mark stürzte in den schmalen Raum, in dem kaum genug Platz für die beiden Kabinen und ein Waschbecken war. Sobald er die Tür hinter sich zuschlug, ließ der Brechreiz nach.

Was blieb, war das Gefühl, dass der Boden unter ihm schwankte und dass die Welt, in der er sich bewegte, nicht länger die war, in der er vor ein paar Monaten friedlich jeden Morgen zu Arbeit geradelt war. Eine Welt voll langweiliger Abende, Scheißeschippen, einsamen Nächten und seltenen Ausbrüchen aus der Routine. Es war kein schlechter Ort gewesen, an dem er sich da bewegt hatte, nur kein sonderlich erfüllter.

Mark drehte den Hahn auf und warf sich ein paar Hände Wasser ins Gesicht. Das half ein wenig. Anschließend stützte er sich auf dem Waschbecken auf und betrachtete sein Gesicht im Spiegel. Seine Haare wirkten dunkler als sonst, was sicherlich daran lag, dass er kalkweiß war, als wäre er noch vor Kurzem schwer krank gewesen. Das allein würde ihn aber nicht verraten. Die anderen sahen auch nicht besser aus.

Was er ihnen zumutete, wie gern er sie eingeweiht hätte... Er hoffte nur, dass er nie dem Drang nachgeben würde, sie ins Bild zu setzen. Das würde Matunnos ihm nie verzeihen. Jack. Nicht Matunnos.

Der Name passte gar nicht zu ihm, fand Mark. Er hatte etwas anderes erwartet. Aber was eigentlich? So etwas wie Black Eagle oder Lonely Wolf vielleicht? Das schien passender. Möglicherweise saß Mark da aber auch nur seinen spärlichen Eindrücken über Indianer aus dem Fernsehen auf, die wenig mit der Wirklichkeit zu tun hatten.

Im Flur wurde es laut. Stimmen und Schritte, aufgeregtes Geraune. Vereinzelte Satzfetzen konnte er verstehen.

»… wird gewaltigen Ärger geben, das ist mal klar.«

»Meinst du? ... kann ihnen doch… dass von außen…«

»… Sichtungen…?«

»… ernst? Nene, mit der Munition kommste nicht weit. Weißt du, wie dick die Schädelplatte von so einem Vieh ist?«

Sofort wurde Mark wieder schlecht und zugleich eiskalt. Seine Speiseröhre machte eine warnende Aufwärtsbewegung, er schluckte krampfhaft dagegen an.

Ruhig bleiben, befahl er seinem Spiegelbild. Matunnos ist schon sehr weit weg. Viel weiter als sie ahnen.

Niemand rechnete damit, dass ein Bär in gerader Linie flüchtete. Vielmehr würden sie davon ausgehen, dass er hungrig die Nähe zu alleinstehenden Höfen oder Weiden suchte. Menschen hatten ihn versorgt, also würde seine Nase ihn in ihre Nähe führen. Genau diese These musste er verkaufen, falls es zur Diskussion kam.

Er fuhr sich über die tauben Lippen und wünschte, Matunnos wäre wieder auf der Anlage und abends sicher aufgehoben auf Marks Couch.

***

Das Ufer lag verlassen da. In der Ferne hörte Matunnos in unregelmäßigen Abständen das Rauschen vorbeifahrender Autos. Ihn fröstelte.

Es widersprach seinem menschlichen Verstand, im Tageslicht ins Freie zu treten. Den Bären hätte es nicht gestört, dass die Sonne fast senkrecht über ihm stand und ihm den Pelz wärmte. Seine menschliche Hälfte dagegen fühlte sich nackt und schutzlos.

Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte er aus Pfützen getrunken und sich so tief in den Wald geschlagen wie nur möglich. Er war nicht sicher, ob die Angst im Augenblick sein Freund oder sein Feind war.

Der Abstieg ins Tal hatte länger gedauert als angenommen. Er hatte viele Umwege auf sich nehmen müssen, manche in erster Linie deshalb, weil er es nicht wagte, an steilen Stellen bergab zu springen. Wenn seine Schulter ihn im Stich ließ oder er sich verletzte, war es aus mit der aufwändig geplanten Flucht. Noch so eine Sache, wo Angst vielleicht weise, aber nicht besonders hilfreich war.

Matunnos hielt noch einmal witternd die Schnauze in die Luft, dann senkte er den Kopf, um zu trinken. Das Wasser war eiskalt und schmeckte nach Herbst und Erde. Ganz anders als zu Hause, aber genauso gut. Gierig schlug er sich den Magen voll, bis das Wasser in ihm gluckste und ihm das Gefühl gab, satt zu sein.

Anschließend trat er ins Flussbett. Die Kälte um die Pranken kümmerte ihn nicht. Sein Blick war auf das andere Ufer gerichtet. Es war nicht weit, nur ein paar Meter. Wahrscheinlich würde er nicht einmal schwimmen müssen. Der Fluss – bei näherer Betrachtung doch eher ein Bach – war flach. An den meisten Stellen konnte man den Grund erkennen.

Am liebsten hätte er sich das zu Nutze gemacht und wäre dem Flussbett nach Osten gefolgt, immer einen Fuß nach dem anderen in die Kälte setzend und darauf hoffend, dass seine Abdrücke in dem Gemisch aus weichem Sand und rundgeschliffenen Kieseln weggespült wurden, bevor die Jäger hier nach ihm suchten. An den Stellen, an denen das Wasser schäumend einen Steilhang übersprang, konnte er immer noch klettern.

Aber je nachdem, wie klug sich die Verfolger anstellten, verloren sie bis dahin vielleicht seine Spur. Und eben das sollte ja noch nicht passieren.

Matunnos ächzte innerlich. Was für eine lächerliche Flucht, wenn man gar nicht richtig fliehen durfte! Seine Ahnen hielten es sicher für einen köstlichen Scherz, ihn auf solche Irrwege zu leiten. Früher war sein Stamm im ganzen Westen für seine derben Scherze bekannt gewesen. Anscheinend tobten sich die Geister jetzt an ihm aus.

Widerstrebend tapste Matunnos tiefer in den Bach. Doch statt dessen Verlauf zu folgen, ließ er das Wasser nach wenigen langen Schritten hinter sich. Am anderen Ufer angekommen war er immer noch trocken, von Beinen und der Unterseite seines Bauchs abgesehen.

Er schielte den Steilhang hoch, an dem sich eine Reihe kleinerer Bäume und Weiden krampfhaft festklammerte. Die meisten waren noch belaubt, doch einige wenige hatten bereits alle Blätter abgeworfen. Nicht weit dahinter war wieder das Brummen eines Autos zu hören.

Widerwillig kletterte Matunnos den Hang hoch. Einmal rutschte er mit den Hinterpfoten ab und grub eine tiefe Furche in den Erdboden. Na fein, diese Spur konnte niemand übersehen, nicht einmal ein Blinder.

Sobald er sich in die Höhe gewuchtet hatte, roch er den alten Asphalt. Die Straße zog sich ganz in der Nähe nach einer Spitzkehre den Berg hinauf. Gemessen an der relativ hohen Sauberkeit der Luft war sie nicht stark befahren.

Irgendwo weiter hinten nahm er einen fauligen Geruch wahr. Nicht die Art Fäulnis, die von einem Kadaver ausging, sondern die von Bananenschalen, alten Kaffeebechern und Eisverpackungen, die sich im Sommer auftürmen, ohne rechtzeitig weggeschafft zu werden. Ihm juckte die Nase davon.

Wieder näherte sich ein Wagen. Dieses Mal konnte Matunnos ihn sehen, wenn auch nur, weil er rot war und sich dadurch vom gleichförmigen Hintergrund abhob. Wie ein Käfer flitzte er zwischen den Bäumen hindurch, bremste, als er sich der Kurve näherte, und beschleunigte röhrend, noch bevor er sie wieder ganz verlassen hatte.

Matunnos schwankte von einem Bein aufs andere. Er wollte nicht vorwärtsgehen.

Irgendwann in der Nacht hatte er eine Senke passiert, in der unter einem umgestürzten Baum eine natürliche Ausbuchtung entstanden war. Wenn er nur ein paar Stunden gegraben hätte, wäre daraus ein wunderbares Winterquartier geworden. Wichtiger als das: Die Stelle war dank einiger entwurzelter Tannen und einem Erdrutsch so unzugänglich gewesen, dass es nicht im Mindesten nach Mensch roch. Dort würde man ihn nie finden.

Genau, und du würdest in aller Seelenruhe verhungern. Super Idee, ging es ihm düster durch den Sinn.

Wie seine Artgenossen den Winter schlafend zu verbringen, war für ihn ausgeschlossen. Das setzte einen Aufbau an Fettreserven ab dem allerersten Tag im Frühjahr voraus. Wenn er eines jedoch nicht hatte, dann war das Fleisch auf den Rippen.

Es war ein Wunder, dass Mark ihn nicht erdrückt hatte, als sie miteinander geschlafen hatten. Neben ihm war Matunnos sich wie eine Bohnenstange vorgekommen, und im Gegensatz zu anderen Leuten war er kein Fan von klapperdürren Jüngelchen, nicht mal bei sich selbst. Wenn er erst wieder zu Hause war, würde er essen und rennen und wieder essen und schwimmen, bis er sich in den Mann verwandelt hatte, der er inzwischen war. Ein Mann, der seinen nomadischen Vorfahren Ehre machte und der anpacken konnte. Nicht jemand, der nach einer einzigen Nachtwanderung schon in den Seilen hing.

Der Gedanke an Mark hatte eine beruhigende Wirkung auf Matunnos. Für ihn floh er, zu ihm wollte er zurück. Die Unannehmlichkeiten unterwegs waren nichts weiter als eine Prüfung. Matunnos war im Vorteil, weil er das Beste aus zwei Welten in sich vereinte, ohne dass seine Verfolger davon wussten. Jedes tierische Verhaltensmuster, das sie von ihm erwarteten, konnte er umgehen.

Bären waren von Natur aus faul. Sie vertrieben lieber andere Raubtiere von deren Beute als selbst zu jagen und ließen keine Gelegenheit aus, bequem an Futter zu kommen. Daher kam es in Kanada und Alaska immer wieder zu Zwischenfällen, in denen ein Grizzly oder weiter im Norden ein Eisbär, eine ungesicherte Mülltonne und ein Haufen aufgebrachter Dorfbewohner die Hauptrolle spielten.

Matunnos aber würde nicht den leichten Weg gehen, würde nicht die städtische Müllkippe durchwühlen und erst recht nicht nur seiner Nase folgend quer durch ein Dorf tapsen. Er würde jagen. Im Wald. Fern von Weiden oder anderen Formen von All-you-can-eat-Buffets.

Aber bevor er sich Gedanken um seinen Magen machte, musste er sich wieder in Bewegung setzen und sich – so sehr sich auch alles in ihm dagegen sträubte – an der Straße zeigen.

Den Kopf weit nach vorn gestreckt ging er voran, schob sich zwischen einer Reihe Fichten hindurch, deren Nadeln auf den unteren Metern braun geworden waren, und wechselte dann zu einer Gruppe uralter Buchen und Birken.

Der Geruch von Straße und Fäulnis kam näher. Er erkannte mehrere Straßenschilder, eines war viereckig und stand am Rand eines freien Platzes ein Stück unterhalb der Spitzkehre. Von Zeit zu Zeit spürte er die runden Erhebungen von Kastanien unter seinen Füßen, die er tief in die Erde trat. Dann erreichte er den dazugehörigen Baum und seine rostfarbenen Blätter, die sich gleichmäßig über eine Einfahrt verteilt hatten.

Als Matunnos nah genug war, spähte er zu dem viereckigen Schild hinauf. Es war blau und zeigte zwei Personen. Dahinter stand die Mülltonne, von der der üble Geruch ausging, daneben eine hölzerne Sitzgarnitur. Autoreifen hatten tiefe Furchen im Boden hinterlassen, die sich mit schlammigen Wasser gefüllt hatten. Eine Schicht aus Kies verhinderte, dass Gras wachsen konnte. Dazu gesellte sich die Schärfe von Sommertagen und heißen Abgasen. Ein Parkplatz.

Es gab schlechtere Orte, um sich zu zeigen, besonders wegen der Mülleimer. Wenn er zwei, drei Stellen fand, an denen man ihn in der Nähe von Abfall entdeckte, würde man darin vielleicht ein Muster vermuten – und er konnte gut gelaunt mitten zwischen allen Parkplätzen hindurchwandern, ohne dass sich jemand um ihn scherte.

Matunnos richtete sich auf die Hinterbeine auf und stellte die Vorderbeine auf den Picknicktisch. Das morsche Holz ächzte unter seinem Gewicht, aber seiner Schulter tat die veränderte Haltung gut. Dünne Sonnenstrahlen fielen durch das Blätterdach und malten Lichtkreise auf die Straße. Das feuchte Laub glitzerte, und für einen Augenblick roch es nach nahendem Frost.

Er musste nicht lange warten, bis sich wieder ein Motorengeräusch näherte, wenn auch dieses Mal ein deutlich kräftigeres, untersetzt mit dem Zischen der Hydraulik einer Zugmaschine. Der Fahrer war schnell unterwegs.

Unruhig schwenkte Matunnos den Kopf, als ihm bewusst wurde, dass er auf dem Parkplatz wie auf dem Präsentierteller stand. Wenn der Fahrer sich erschreckte und das Bremsen vergaß, würde er genau auf ihn zurasen. Auch wenn Bären Zusammenstöße mit Autos im Allgemeinen besser überstanden als Fahrer und Wagen, galt das nicht für LKWs.

Das Frösteln kehrte zurück. Er sah sich zum Waldrand um. Vielleicht verschwand er besser und wartete auf einen weniger gefährlichen Zeugen?

Doch da war der LKW schon heran. Matunnos' Sinne hatten ihn nicht getrogen. Der Tankwagen war schnell, sicher viel schneller als er vermutlich sein durfte.

Hoffentlich hast du kein Benzin geladen, dachte er noch.

Da verriss der Fahrer auch schon das Steuer. Bremsen kreischten, Räder blockierten und hinterließen eine schwarze, stinkende Spur auf dem Asphalt.

Matunnos machte einen Satz rückwärts. Er wusste, dass er nicht wegrennen konnte. So schnell war er nicht. Aber sein Körper fragte nicht nach seiner Meinung, der versuchte seine Haut zu retten, ohne vorherige Rücksprache mit dem Gehirn.

Seine Sorge erwies sich als unnötig. Der Trucker war offenbar ein erfahrener Fahrer. Der Motor heulte auf, dann griffen die Räder wieder. Die Beschleunigung katapultierte den Wagen in die Kurve und an Matunnos vorbei.

Er schloss die Augen und lauschte, ob es zum Aufschlag kam. Aber er hörte nur, wie sich das Motorengeräusch veränderte, als der Fahrer schaltete. Dann zog der Tankwagen den Berg hoch, wenn auch nur, um ein paar hundert Meter später zum Stehen zu kommen.

Erleichtert stieß Matunnos die Luft aus, dann machte er kehrt und rannte zurück in den Wald. Er hatte ihnen gegeben, was sie brauchten, um an ihm dranzubleiben. Nun mussten sie ihm nur noch folgen und er sehr schnell sein.

Dass er sich besser ausgeruht hätte, bevor er sich in all seiner Pracht präsentierte, fiel ihm erst danach ein.

***

Sie hatten sich aufgeteilt. Mehr als eine kurze Besprechung war nicht nötig gewesen, um die Kräfte zu organisieren.

Der ältere Polizist namens Weckmann, der als erstes vor Ort gewesen war, erwies sich als hochrangig genug, um Anweisungen zu geben. Er hatte entschieden, dass sie in zwei Trupps das Gelände absuchen würden, bevor weitere Maßnahmen ergriffen wurden.

Theo und Mark führten eine der Gruppen durch den Wald, immer am Zaun entlang. Heike war ebenfalls zu ihnen gestoßen. Mit ihrem dünnen Blasrohr wirkte sie seltsam schwächlich zwischen dem Jäger und den Polizisten, die ihre Schusswaffen betont locker in Händen hielten.

Der Einzige, der wirklich eine gewisse Ruhe ausstrahlte, war der alte Jäger. Mark war ihm nie vorgestellt worden, kannte ihn aber vom Sehen aus dem Waldgasthaus. Mehr als dass er ein standfester Trinker war und sein Lachen einen ganzen Raum füllen konnte, wusste er nicht über ihn.

Eigentlich gab es für Mark keinen Grund unruhig zu sein. Er wusste ja, dass Matunnos längst fort war. Trotzdem zehrte die Unruhe der anderen an seinen Nerven, während sie dicht hintereinander ein Zaunstück nach dem nächsten sicherten.

Besonders Schmitt, der junge Polizist, der sie zu seinem Bedauern begleitete, machte ihm Kopfschmerzen. Mark konnte es ihm nicht übelnehmen, dass er nervös war. Aber er hoffte, dass Schmitt nicht auf die Idee kam, um sich zu schießen, sobald er aus dem Augenwinkel eine Bewegung sah. Im besten Fall würde er dann ein Eichhörnchen erschrecken, im schlimmsten auf eines der Tiere auf der Anlage oder auf die zweite Gruppe feuern. Auf die Goldene Regel, dass kein Jäger und kein Polizist auf etwas anlegen durfte, das er nicht zu 100 Prozent sehen konnte, durfte man in dieser Situation kaum hoffen. Dafür war die Angst viel zu greifbar.

Jedes Mal, wenn etwas im Unterholz raschelte, jedes Mal, wenn ein Vogel aufflog, fuhren sie alle zusammen. Selbst das Geräusch ihrer eigenen Schritte schien sich ab und zu in das Stampfen eines wütenden Bären zu verwandeln.

Heike hielt sich dicht an Marks Seite. Sie hatten in den letzten Jahren schon einiges miteinander durchgestanden, hässliche Entscheidungen gefällt und Nächte auf der Krankenstation verbracht.

Sie erreichten die Nordseite des Parks und damit die Stelle, an der die Lücke im Zaun klaffte. Augenblicklich wurden die Polizisten noch ein wenig wachsamer. Einer ging sogar so weit, die Waffe anzulegen und sich im Krabbengang ein Stück auf die Baustelle zu wagen.

Der Jäger schmunzelte und griff nach der Zigarette hinter seinem Ohr. Nachdem er sie sich in den Mundwinkel geschoben hatte, betrachtete er das Loch im Gitter. Rauch aus seiner rot geäderten Nase ausstoßend murmelte er: »Schon verrückt, das alles. Ob den Deppen klar ist, dass wir den Teddy vielleicht wegen ihnen abschießen müssen?«

»Nur, wenn es nicht zu vermeiden ist, Horst«, schaltete Heike sich ein. Obwohl sie kurzatmig war und immer wieder an ihrem Blasrohr herumfummelte, war ihre Stimme fest. »Matunnos ist an Menschen gewöhnt. Ich glaube, ich habe eine gute Chance, nah genug an ihn heranzukommen.«

»Schon recht, Madel, schon recht. Ich hab auch keine Lust, dem Racker das Licht auszupusten. Aber du erwartest nicht, dass wir ihn dich auffressen lassen, oder? Wäre doch schade um deinen bildhübschen Hintern.«

»Mein Hintern ist immer noch meine Angelegenheit«, gab Heike bissig zurück.

Er lachte gutmütig. »Keine Sorge. Kennst mich doch. Ich bin zu alt, um noch mal hinter dem Ofen vorzukriechen und dir den Hof zu machen.«

Trotz der derben Worte und der Tatsache, dass er es mit einem Jäger zu tun hatte, denen er normalerweise aus Prinzip skeptisch gegenüberstand, stellte Mark fest, dass er diesen Horst mochte. Er glaubte ihm, dass er nicht auf eine Trophäe oder eine Kerbe in seinem Gewehr aus war.

Auf dem nächsten Stück Weg kamen sie besser voran. Die Bauarbeiter hatten eine Schneise in das Unkraut geschlagen, das hier normalerweise am Zaun hochwuchs. Schließlich erreichten sie die Stelle, an der sich das Einzelgehege, in dem Matunnos untergebracht worden war, mit der Hauptanlage traf.

Eine Bewegung unter den Bäumen ließ die Polizisten ihren Waffen heben. Schmitt, der mit jeder Sekunde nervöser zu werden schien, entsicherte sogar.

»Waffen runter!«, donnerte Theo. »Das ist Krümel und er ist auf der anderen Seite des Zauns. Und selbst wenn er nicht hinter Gittern wäre, würde er wahrscheinlich eher vor uns wegrennen als jemanden anzufallen.«

Schmitt zischte: »Mann, sind Sie verrückt? Hätten Sie uns nicht vorwarnen können, dass auf diesem Abschnitt Tiere untergebracht sind?«

Mark wechselte einen beunruhigten Blick mit Heike. Der Kerl hatte keine Nerven. In einer Schreibstube wäre er besser aufgehoben gewesen als bei einer so heiklen Mission.

Theo knurrte zurück: »Was haben Sie denn bitte erwartet? Das hier ist ein Tierpark, falls Ihnen das noch keiner gesagt hat. Also werden hier wohl wahrscheinlich auch Tiere unterwegs sein. Und nein, die dürfen Sie nicht alle abschießen!«

»Nun hören Sie mal, werden Sie nicht frech!« Schmitt lief rot an. »Wenn Sie hier anständig arbeiten würden, hätten wir diesen Ärger jetzt nicht!«

»Wie bitte? Es ist ja wohl kaum unsere Schuld, dass jemand bei uns eingebrochen ist!«

»Mit vernünftigen Sicherheitsmaßnahmen wäre das…«

»Nanana«, unterbrach Horst begütigend, bevor sich die Kampfhähne an die Gurgel gehen konnten. »Für Streitereien ist jetzt aber kein guter Zeitpunkt, oder? Das erledigen wir doch bitte später bei einer schönen Halben Bier. Sie, junger Mann, wie viele Tiere sind denn auf der Anlage da drüben?« Er deutete mit der Zigarette zuerst auf Mark, dann zu der Stelle, an der Krümel längst wieder verschwunden war.

Mark ballte die Hände zu Fäusten. Bisher war er drum herumgekommen zu reden, Theo hatte meist das Wort geführt. Der funkelte aber immer noch Schmitt an und schien ernsthaft zu überlegen, ob er dem Polizisten eine reinhauen sollte.

»Z-z-z-z-zwölf«, würgte Mark angestrengt heraus. »S-s-s-sechs B-bären u-und s-s-s-s-sechs W-w-w-w-w-w…” Hilfesuchend sah er Heike an.

Sie lächelte flüchtig und nahm ihm ausnahmsweise den Rest ab. »Wölfe. Ein ganzes Rudel. Und bevor Sie fragen: Über die müssen wir uns am wenigsten Sorgen machen, das sind Handaufzuchten. Dadurch sind sie weniger scheu als normale Wölfe, aber auch sehr freundlich.«

Horst zog kurz die Augenbrauen hoch, widersprach aber nicht. Er wusste genauso gut wie Mark, dass ein Wolf ein Wolf blieb und in die Ecke gedrängt sehr wohl versuchen würde, sich zu wehren. Besonders, wenn der vermeintliche Angreifer eine neugierige Promenadenmischung war, die mit ihrem Herrchen durch den Wald streifte und nur mal schnell Hallo sagen wollte.

Schmitt ignorierte die Ausführungen ebenso geflissentlich wie Theos böse Blicke, sondern wandte sich plötzlich an Mark. »Warum stottern Sie so? Nervös? Schlechtes Gewissen?«, fragte er scharf.

Theo platzte endgültig der Kragen. »Was ist das denn wieder für eine saudumme Frage? Natürlich sind wir nervös! Ich meine, hier rennt ein Haufen Affen mit Schießeisen durch den Wald und ein paar von denen sehen nicht aus, als sollte man ihnen auch nur ein Küchenmesser in die Hand drücken. Und so was lässt man auf unsere Bären los!«

Auch Heike war mit ihrer Geduld am Ende. »Lassen Sie Mark in Ruhe«, fuhr sie Schmitt an. »Er kann nichts dafür, dass er stottert. Das macht er immer und unter Stress wird es schlimmer. Können Sie jetzt also bitte aufhören, Ihre Laune an uns auszulassen? Wir haben uns diesen Tag auch alle anders vorgestellt, nicht nur Sie!«

Das Geplänkel ging noch ein wenig weiter. Man verbat sich dies oder jenes und dafür hatte Theo keine Lust auf diese Scheiße und Heike murmelte etwas von Machogehabe.

Mark aber klinkte sich innerlich aus. Der eine oder andere entschuldigende Blick von den anderen Polizisten traf ihn, und Horst bot ihm schweigend eine Zigarette an, die er nach kurzem Zögern – etwas zum Dranfesthalten wäre gar nicht so schlecht gewesen – ablehnte.

Er war Heike und Theo dankbar, dass sie für ihn in die Bresche gesprungen waren. Überhaupt tat ihm die Leidenschaft, mit der Theo für Matunnos und den Park eintrat, gut, da sein Kollege in letzter Zeit manches Mal genervt von ihrem schwierigen Kodiak gewesen war. Beiden Freunden fühlte er sich in diesem Augenblick verbunden, wenn auch nur so lange, bis er sich erinnerte, welches Spiel er mit ihnen trieb.

Ohne auf die anderen zu warten, ging er weiter und lehnte sich einige Meter entfernt an den Zaun. Es war Bewegung auf der anderen Seite. Dieses Mal tauchte keiner der Bären auf, sondern die Wölfe. Sie waren unruhig. Für sie roch es bestimmt weithin nach menschlicher Angst, dazu kam die Bewegung an ungewohnter Stelle und die Masse an Fremden, mit denen sie nichts anfangen konnten.

Mark stellte sich auf die Zehenspitzen. Inmitten des Farns und ganz in seiner Nähe entdeckte er Kansas und dicht hinter ihm den auffallend dunklen Kopf von Georgia. Die beiden bildeten das Leitgespann des Rudels. Entsprechend stellten sie sich vor die anderen Tiere und gaben ihnen mit ihrer Körperhaltung zu verstehen, wie sie sich zu verhalten hatten.

»I-ihr m-macht d-das g-gut, ihr z-zwei«, flüsterte Mark. »P-passt n-nur auf d-die anderen a-auf.«

Beinahe hätte er noch etwas wie Bald seid ihr uns los hinzugefügt, aber das schenkte er sich lieber. Am Ende hörte ihn noch jemand und fragte ihn später, warum er sich sicher gewesen war, dass sie nicht mehr lange in der Nähe sein würden.

Endlich setzte sich die Gruppe hinter ihm wieder in Bewegung. Einer der Polizisten – ein etwas bärbeißiger Mittzwanziger, der viel zu laut und zackig sprach – versuchte Heike in ein Gespräch zu verwickeln. Sie beantwortete seine Fragen knapp und ohne ihn anzusehen.

Horst schloss zu Mark auf und verzog das Gesicht. »Wir können uns das Herumschleichen genauso gut sparen. Bei dem Krach, den die veranstalten, ist euer Teddy schon längst über alle Berge. Stark mag er ja sein, aber bescheuert ist der sicher nicht, was?«

Mark lächelte kläglich. »N-ne. B-bestimmt nicht.«

»Wir werden ihn schon finden.«

Endlos tickten die Minuten dahin. Sie gingen gründlich vor, schauten gewissenhaft nach, ob ein Zaunstück vielleicht aufgebrochen und hinterher wieder an seinen Platz geschoben worden war. Immer wieder tauchte einer der Bären auf. Dann wurde jedes Mal die Frage aufgeworfen, ob das nun einer war, den sie zuvor schon gesehen hatten, oder ob es ein neuer war.

Sie waren noch lange nicht am Ende des Zauns und sahen auch die zweite Gruppe noch nicht, als sie die meisten Tiere gefunden hatten, was wenigstens Theo und Heike etwas entspannte. Lediglich zwei der Wölfe hatten sie noch nicht entdecken können. Das lag aber wohl eher an ihren Augen als daran, dass sie sich tatsächlich nicht gezeigt hatten.

Die Unruhe im Gehege war groß, alle Tiere bewegten sich auffallend viel. Mark ging erst mit Verspätung auf, dass ihnen zusätzlich zu aller Verwirrung schlicht der Magen knurrte. Sie waren vor der Besprechung nicht gefüttert worden und danach war niemand mehr dazu gekommen. Entsprechend hofften die Vierbeiner jedes Mal, wenn ihnen der Wind den Geruch ihrer Pfleger in die Nase trieb, dass man ihnen endlich ihr Fressen brachte.

Sie hatten gerade den Knick oberhalb des Wasserlaufs, der bald an den Park angeschlossen werden sollte, hinter sich gebracht, als sie in der Ferne Stimmen hörten.

»Da sind die anderen ja endlich. Waren ganz schön langsam«, grummelte Schmitt.

Theo, inzwischen etwas friedlicher gestimmt, erklärte: »Sie hatten die schwerere Strecke. Da hinten ist alles voller Brombeeren. Hat bestimmt ein paar dicke Kratzer gegeben.«

Ein Rumpeln und Knacken war zu hören. Jemand kam ihnen schnell entgegen. Wieder spannten die Polizisten sich an und wurden erst wieder ruhiger, als sie erkannten, wer sich ihnen näherte.

Es war Weckmann, der sich trotz eigener Anweisung, dass niemand allein herumlaufen sollte, von seiner Gruppe getrennt hatte. Sein Gesicht war purpurfarben, als er sie erreichte. Die Mütze hatte er abgelegt oder verloren.

»Der Bär ist gesehen worden!«, keuchte er. »Er ist schon längst über die Grenze nach Tschechien. Schmitt, Sie bleiben hier und sichern mit Horst, Dr. Lindner und den Kollegen vom Tierpark das letzte Stück Zaun. Wir anderen rücken ab.« Er wischte sich über die Stirn. »Juranowitsch hat mich gerade angefunkt. Vorn geht's schon rund. Die ersten Journalisten sind aufgetaucht und außerdem die Jungs vom THW. Irgendein Hampelmann vom Kreis ist auch schon da und profiliert sich. Gott weiß, was der hier will. Sie bleiben jedenfalls hier und versuchen, ein bisschen Ordnung in das Chaos zu bringen, verstanden?«

»Alles klar, mach ich.«

»Und sorgen Sie dafür, dass niemand irgendwelche Kommentare rausgibt, bevor wir mehr wissen! Sonst reißt mir der Polizeichef den Kopf ab!«

Mark fühlte sich selbst, als hätte jemand versucht, ihm den Schädel abzutrennen. Was in seinem Kopf vor sich ging, passte in keiner Weise zu dem, was in seinem Bauch und Herz los war. Ihm war schleierhaft, wie er tage-, vielleicht wochenlang mit dieser Zerrissenheit zwischen Angst, Hoffnung und schlechtem Gewissen leben sollte.

Kapitel 2

Ein langer Tag war in einen nasskalten Abend übergegangen, bevor Matunnos den Punkt erreicht hatte, an dem er nicht mehr weiterlaufen konnte. Dann aber traf ihn die Müdigkeit mit solcher Wucht, dass er beinahe nicht mehr die Kraft gehabt hätte, sich einen sicheren Schlafplatz zu suchen.

Glücklicherweise befand er sich zu diesem Zeitpunkt tief in einem Tannengehölz, das nicht den Eindruck machte, als würde es häufig von Menschen besucht werden. Die wenigen Anzeichen von Forstwirtschaft waren in weiten Teilen überwachsen und das letzte Mal, dass er das Wummern einer landwirtschaftlichen Maschine oder eines Autos gehört hatte, war lange her.

Er fand Schutz in einem Kreis aus Birken, die sich unerwartet mitten aus den Nadelbäumen erhoben. Sein Großonkel hätte einen solchen Platz als Geisterring bezeichnet, einen Ort, an dem die Natur ohne ersichtlichen Grund plötzlich neue Wege einschlug. Von solchen Plätzen ging große Kraft aus, nicht zuletzt, weil sie häufig ein Hort der Vielseitigkeit waren und man dort Pflanzen fand, die sonst nicht leicht zu entdecken waren.

Eine der Birken war umgeknickt, hing aber noch zur Hälfte an ihrer Wurzel, sodass ein Teil ihrer dürren Äste nach wie vor im Saft stand. Diese würden einen Teil des Regens abhalten, den Matunnos in der Luft riechen konnte.

Bevor er sich einrollte, strich er eine Weile am Rand des Runds entlang. Er fand ein paar Blaubeerbüsche, die voller Früchte waren, und zog sie mühsam ab, bevor er sich daran erinnerte, dass Finger manchmal geschickter waren als eine Zunge.

Sobald er sich verwandelt hatte, brachen Hunger und Erschöpfung endgültig über ihm zusammen. Er war so müde, dass es sich anfühlte, als würde er sich auf einem Traumpfad bewegen. Seine ganze Umgebung erschien ihm weich und samtig, die weiße Rinde der Birken strahlte und blendete ihn. Nur der Wind schlug ihm kalt und beißend um die Ohren und erinnerte ihn an seine Nacktheit und die damit einhergehende Gefahr zu unterkühlen.

Hastig pflückte Matunnos alle Beeren, derer er habhaft werden konnte. Er sammelte sie gar nicht erst, sondern schlang sie sofort hinunter. Der Beerensaft färbte seine Finger blaurot. Sein Hunger war längst nicht bezwungen, als die Sträucher abgeerntet waren, aber wenigstens fühlte sich sein Magen nicht mehr so leer an.

Schleppend kehrte er zu dem abgeknickten Baumstamm zurück und rollte sich seitlich darunter. Das Tageslicht ließ bereits nach und legte einen mattgrauen Filter über seine Augen, während er sich zurechtrückte und zu den dicht verzweigten Ästen aufsah.

Ein paar Minuten lang wollte er noch in Menschengestalt aushalten. Es war nicht gut, wenn er sich zu viel Zeit zwischen den Verwandlungen ließ. Er wollte nicht schon wieder vergessen, wer er war, der Schaden des jahrelangen Bärendaseins war immer noch nicht behoben. Er ahnte, dass der Weg zurück in die Umnachtung des Tiergeistes leichter war, als die zurück zu seinen Erinnerungen. Umso umsichtiger musste er vorgehen, damit er sich nicht erneut verlor.

Wie so oft in den letzten Stunden und Tagen dachte er an Mark. Sie hatten nicht viel Zeit zusammen gehabt. Manches zwischen ihnen hatte sich entwickelt, ohne dass sie es verstanden hatten. Jedenfalls Matunnos war es so ergangen. Der Bär war schon rasend eifersüchtig auf einen gewitterten Nebenbuhler gewesen, bevor der Mensch auch nur begriffen hatte, dass er Mark mochte. Mehr mochte, als dessen Hilfsbereitschaft und Tierliebe erklären konnten.

Seltsam, dass man so vieles verlieren konnte, ohne zu vergessen, dass man Männer wollte. Brauchte. Wie immer man es nennen wollte.

Wie tief musste diese Veranlagung in einem verankert sein, dass nicht einmal der Verlust des eigenen Bewusstseins etwas daran ändern konnte? Man sagte jungen Schwulen und Lesben zwar immer, dass ihre Liebe zum eigenen Geschlecht etwas durch und durch Natürliches war und dass sie sich bloß nichts anderes einreden lassen sollten, aber wie viel Wahres darin steckte, spürte Matunnos erst jetzt. Er hoffte, er würde sich auch dann noch daran erinnern, wenn die Verfolger ihm dicht auf den Fersen waren und ihn nur der Wunsch nach Marks Nähe aufrecht halten konnte.

Der Schlaf kam rasch und brachte nur wenige Bilder mit sich. Das eindringlichste war das des graubraun gefiederten Uhus mit den bernsteinfarbenen Augen, der ihn in weiten Bögen umkreiste. Es war ein gewaltiges Exemplar mit einer Flügelspannweite, die die gesamte Prärie zu umfassen schien. Jedes Mal, wenn der Uhu hinabstieß und sich lautlos auf seinen Schwingen treiben ließ, streckte Jack ihm den Arm entgegen und lockte ihn.

Doch der Seelenvogel traute ihm nicht recht und wagte sich nicht näher. Er kam gerade dicht genug heran, dass man die Zeichnung auf seinem Kopf erkennen konnte. Jemand hatte ihm einen blutigen Streifen auf das Gefieder am Kopf gemalt, einen geraden Strich, der von den Augen bis nach hinten ins Federkleid des Rückens reichte.

Jack wusste nicht, wer dafür verantwortlich war, wohl aber, dass man dem Uhu damit nicht schaden wollte. Vielmehr handelte es sich um einen Segen.

Blut stand nicht immer für Krieg, Verletzung und Tod. Es stand auch für Leben, Kraft und Zugehörigkeit.

***

»… keine weitere Sichtung gegeben. Daher können wir nicht mit Sicherheit sagen, ob der Kodiakbär sich nach wie vor auf tschechischem Gebiet befindet oder ob er inzwischen nach Deutschland zurückgekehrt ist. Es sind zahlreiche Teams unterwegs, um Spuren zu sichern und Meldungen aus der Bevölkerung nachzugehen. Wir sind unseren tschechischen Kollegen sehr dankbar für ihre Kooperation und tun alles, um die Situation so schnell wie möglich zu einem guten Ende für alle Beteiligten zu bringen. Haben Sie noch weitere Fragen?«

Die Pressesprecherin sah sich um. Sie saß hinter einem alten Tisch, den man auf ein provisorisches Podest gehievt hatte. Vor ihr stand ein Wald aus Mikrofonen. Die meisten stammten von regionalen Radio- und Fernsehsendern, es waren aber auch ein paar Vertreter größerer Medienplattformen dabei. Die dazugehörigen Journalisten standen in einem Halbkreis in der ehemaligen Kantine der Kaserne, hinter ihnen klickten die Fotoapparate.

Mehrere Hände hoben sich.

Die attraktive, brünette Polizistin, die die undankbare Aufgabe der Kontaktfrau für die Öffentlichkeitsarbeit übernommen hatte, deutete wahllos auf einen Journalisten. »Bitte schön.«

»Wenn Sie von einem guten Ende für alle Beteiligten sprechen, heißt das dann, dass Sie versuchen werden, den Bären lebend zu fangen?«

Mark versteifte sich unwillkürlich an seinem Platz an der Tür. Um die Bewegung zu kaschieren, rieb er sich über die Augen. Sie brannten vor Müdigkeit.

»Das ist richtig. Wir konnten gewährleisten, dass jedes Team von mindestens einem Fachmann begleitet wird, der versuchen wird, den Bären zu betäuben. Es ist ein großer Glücksfall, dass wir auf so viel Hilfe außerhalb der Polizeikräfte zugreifen können.«

Ein zweiter Journalist war mit ihrer Antwort sichtlich nicht zufrieden und hakte nach. »Heißt das mit anderen Worten, dass die Sicherheit der Bevölkerung hinter das Leben eines gefährlichen Raubtiers zurückgestellt wird?«

Die Pressesprecherin mochte wenig Erfahrung haben, aber sie ließ sich nicht in die Enge treiben. »Nein, das heißt es selbstverständlich nicht «, erklärte sie ruhig. »Alle unsere Kolleginnen und Kollegen dort draußen, sowie die Veterinäre und Förster, die sie begleiten, sind sich der Brisanz der Lage bewusst. Unsere oberste Priorität gilt dem Schutz der Bewohner der Region zu beiden Seiten der Grenze. Das bedeutet jedoch nicht, dass wir um jeden Preis den leichtesten Weg beschreiten werden, wenn sich eine vertretbare und für das Tier bessere Lösung finden lässt.«

»Weiß man denn inzwischen, wie es zu dem Ausbruch kommen konnte?«, warf ein Mann in breitem Sächsisch ein.

»Wie wir gestern bereits in der Pressemitteilung bekannt gegeben haben, wurde auf dem Gelände des Schutzparks eingebrochen und der Zaun des Bärengeheges bewusst und in eindeutiger Absicht beschädigt. Ein Bekennerschreiben lässt einen Hintergrund aus dem radikalen Tierschutz vermuten. Wir ermitteln derzeit in mehrere Richtungen, haben aber noch keinen konkreten Verdacht gegen eine bestimmte Gruppierung oder Einzelperson.«

»Und wenn ihr den hättet, würdet ihr es uns sicher nicht sagen«, murmelte jemand in den hinteren Reihen.

Mark warf dem Sprecher einen Blick zu, konnte aber nicht mehr als eine rote Windjacke und ein Stück graumelierten Vollbart erkennen. Sein Magen spannte sich unheilverkündend an. Er hatte seit mehr als 24 Stunden nichts gegessen. Obwohl er Hunger hatte, konnte er sich beim besten Willen nicht vorstellen, sich gemütlich an den Tisch zu setzen und Butterbrote zu schmieren, während Matunnos um sein Leben rannte.

»Und was passiert, wenn das Vieh unsere Tiere reißt? Wer übernimmt dann die Kosten?«, blökte plötzlich jemand hinter Mark. Er fuhr herum und erkannte im Halbdunkel des Korridors einen der Bauern aus der Umgebung. Die Augen des alten Landwirts blitzten vor Ärger.

Die Pressesprecherin schien zu überlegen, ob sie den Zuruf ignorieren sollte, aber da wurde die Frage von einem der Journalisten aufgegriffen. »Das ist doch mal eine interessante Frage! Allein der Polizeieinsatz verschlingt doch ein Vermögen. Geht das wieder zulasten der Steuerzahler?«

Mark knirschte mit den Zähnen und war froh, dass er Theo überredet hatte, der Pressekonferenz fernzubleiben und lieber mit einer der Gruppen, die jenseits der tschechischen Grenze den Wald absuchten, mitzufahren. Bestimmt wäre sein Kollege explodiert.

Auch Mark ärgerte sich hinter dem Nebel aus Sorge, der all seine Empfindungen zuverlässig dämpfte. Kein Mensch fragte, wie viele öffentliche Gelder jedes Jahr auf der Autobahn liegen blieben, weil irgendwelche Idioten unbedingt fast im Kofferraum des vor ihnen fahrenden Wagens rumrutschen mussten und nicht mehr bremsen konnten, sobald etwas Unvorhergesehenes geschah. Niemanden scherte es, welches Vermögen regelmäßig für den Polizeischutz während irgendwelcher Fußballspiele verbraten wurde. Und erst recht redete keiner über die Gemeinden, die alle zwei Jahre dieselben Straßen aufreißen ließen, weil sie einen unverbrauchten Verkehrsetat nie wieder beantragen konnten, wenn sie ihn einmal verloren. Aber wenn es um Sicherheit und Leben eines lebendigen Wesens ging, brüllte man sofort nach einem Kostenvoranschlag?

»Die finanzielle Situation steht derzeit nicht im Vordergrund«, verkündete die junge Polizistin eine Spur kühler als zuvor. »Bevor man darüber spekuliert, welche Kosten von welcher Stelle getragen werden, müssen diese Kosten erst einmal entstehen. Das gilt insbesondere im Fall möglicher Schäden bei landwirtschaftlichen Betrieben. Es ist überhaupt noch nicht abzusehen, ob der Bär sich Weidegründen nähern wird oder nicht. Was sonstige Schäden angeht: Der Schutzpark ist ordnungsgemäß versichert. Allerdings liegt hier eindeutig ein Fremdverschulden vor. Sollten der oder die Täter gefasst werden, dürfen Sie also davon ausgehen, dass sie für den verursachten Aufwand zur Verantwortung gezogen werden.«

Damit blieb offen, was geschah, wenn die Täter nicht gefasst wurden. So etwas konnte man an aufmerksamen Reportern aber nicht vorbeischmuggeln. Sofort war es mit der Ruhe und Ordnung der Pressekonferenz vorbei. Fragen flogen durch den Raum und überkreuzten sich; die einen reißerisch und provokant, die anderen interessengesteuert. Glücklicherweise fand sich auch jemand, der lautstark wissen wollte, ob man damit rechnen müsse, dass man ähnlich radikal wie damals bei Problembär Bruno vorgehen würde. Das lenkte die Debatte in eine etwas tierfreundlichere Richtung.

Mark hatte trotzdem genug. Er nickte Sebastian, der ganz vorn in der Nähe des Tischs an der Wand lehnte, zu und verschwand ins Freie. Dort war es auch nicht ruhiger.

Überall standen Sprinter mit den Logos verschiedenster Sender, dazwischen Polizeiwagen, weiter dahinter eine Handvoll Privatautos. Hunderte Schuhabdrücke hatten den Vorplatz in eine Schlammsuhle verwandelt, und auch jetzt standen immer noch genug Leute herum und redeten mal leise, mal lautstark aufeinander ein.

Als sie Mark bemerkten, beäugten sie ihn neugierig. Ein besonders engagierter Jungreporter, der offenbar draußen auf das Ende der Pressekonferenz warten musste, kam auf ihn zugeschossen und hielt ihm ein Diktiergerät vor die Nase.

»Gibt es was Neues? Sie arbeiten hier, oder? Was können Sie mir über diesen Bären sagen? Ist er gefährlich?«

Wortlos schob Mark sich an dem Jungspund vorbei und ging hinüber zu einer kleinen Gruppe Polizisten, unter denen sich auch Weckmann und Schmitt befanden. Sie grüßten ihn knapp, blieben aber auf die Landkarte konzentriert, die jemand mit Reißzwecken an die Außenwand der Baracke geheftet hatte.

»Hier und hier und hier«, verkündete Weckmann, während er mit dem Finger auf drei Stellen kurz hinter der roten markierten Grenzlinie deutete. »Die Kollegen an diesen Standorten melden, dass das Gelände nach dem Regen heute Nacht extrem rutschig ist. Sie kommen ziemlich schlecht voran. Lindemann hat sich außerdem den Knöchel verstaucht, sodass seine Gruppe abbricht und ihn erst mal zurückbringt. Ich würde daher sagen, wir versuchen es noch einmal hier.« Er zog einen Kreis um eine Ortschaft. »Die Ecke ist nicht gut abgedeckt.«

»Kvilda?«, fragte jemand überrascht. »Da ist doch die Stelle, an der er gestern gesehen wurde. Glaubst du echt, dass er noch in dieser Gegend rumstreunt? Die Spuren, die sie gestern Nachmittag gefunden haben, waren schon Stunden alt.«

»Keiner von uns weiß, was im Kopf des Kerlchens vor sich geht«, gab Weckmann ruhig zurück. »Wir wissen nicht, ob er weitergezogen oder zurückgelaufen ist oder ob er sich irgendwo um Kvilda einen Unterschlupf gesucht hat. Solange er nicht nochmal gesehen wird, können wir nur raten. Ich will aber keinen Einlauf kassieren, weil wir ausgerechnet in der Gegend geschlampt haben, in der er schon gesehen wurde.«

Einhelliges Brummen signalisierte die Zustimmung der Truppe. Sie alle wurden auf eine harte Probe gestellt. Die Beamten in der Region waren nicht sonderlich erfahren, wenn es um Großeinsätze dieser Art ging. Sie hatten normalerweise eher mit aufgebrochenen Ferienhäusern, Autodiebstahl und dem ewigen Kampf gegen die tschechischen Meth-Schmuggler zu tun.

»Schmitt, Sie bleiben hier und kümmern sich darum, dass die Pressefritzen friedlich abrücken und nicht im Park rumlungern.« Der Angesprochene nickte erleichtert. »Fuchs, Spieker. Ihr fahrt mit mir zusammen raus. In Zwiesel stößt ein Dr. Menzel mit einem Betäubungsgewehr zu uns. Er hat sich vorhin bei der Leitstelle gemeldet und seine Hilfe angeboten.«

Mark wurde hellhörig. Dr. Menzel? Ihr Aushilfstierarzt? Das waren gute Nachrichten. Achim würde es nicht zulassen, dass man schon wieder mit scharfer Munition auf Matunnos schoss. Immerhin war er selbst dabei gewesen, als sie ihm die letzten Geschosse aus dem Körper geholt hatten. Eine Odyssee aus Hitze, Blut und Stress, als Matunnos nicht sauber aus der Narkose hochkam. Und danach hatte er begonnen, der ganze Irrsinn, der inzwischen zu Marks Leben gehörte.

Er räusperte sich, um auf sich aufmerksam zu machen.

Weckmann wandte sich ihm zu und lächelte zerstreut. »Ja?«

Mark sprang über seinen Schatten. »D-d-darf ich m-mitfahren?«

Weckmann zögerte keine Sekunde. »Na sicher doch! Das kommt mir sogar sehr entgegen, immerhin kennen Sie Ihren Pappenheimer ja ein bisschen. Wer weiß? Vielleicht können Sie ihn ja becircen und anlocken.« Es sollte ein Witz sein, aber niemand lachte.

Als Mark eine halbe Stunde später auf dem Rücksitz des Streifenwagens saß, bereute er seine Entscheidung beinah. Das Gitter zwischen den Vordersitzen und ihm befeuerte sein schlechtes Gewissen. All der Aufwand, all die Angst, und keiner außer ihm wusste, dass weder das eine noch das andere nötig war.

Anfangs hatte er nicht mit den anderen Suchtrupps rausfahren wollen. Jemand musste immerhin die Arbeit im Park erledigen. So hatte er seine Entscheidung jedenfalls verkauft. In Wirklichkeit fürchtete er sich davor, dass ausgerechnet seine Gruppe auf Matunnos stieß und er hilflos zusehen musste, wie auf ihn angelegt wurde.

Doch dann war ihm aufgegangen, dass ein bisschen Engagement seinerseits einen besseren Eindruck hinterlassen würde. Niemand durfte merken, dass er gar nicht wollte, dass Matunnos gefunden wurde – und zumindest Schmitt hatte ihn sowieso schon auf dem Kieker. Er beobachtete Mark ein wenig zu genau, spürte vielleicht, dass seine Angst anders war als die der anderen Tierpfleger. Oder bildete Mark sich das nur ein? So wie er sich heute Nacht immer wieder eingebildet hatte, in der Ferne Schüsse knallen zu hören?

Eine Gruppe, in der Weckmann und besonders Achim waren, konnte er ertragen. Beide hatte er als gelassene, vernünftige Männer kennengelernt. Sie würden nicht sofort in Panik geraten, sobald sie einen Pfotenabdruck entdeckten, und erst recht keine übereilten Entscheidungen fällen. Die Ausnahme wäre höchstens eine akute Gefahrenlage, aber zu der würde es nicht kommen. Matunnos würde kaum über einen Schulhof wandern oder sich mitten auf einem Marktplatz zum Schlafen ablegen.

Während sie die gewundene Landstraße entlangrollten, dachte Mark an die Pressekonferenz und an die eine Frage, über die er sich bisher viel zu wenig Gedanken gemacht hatte. Was, wenn herauskam, dass er derjenige gewesen war, der Matunnos freigelassen hatte? Dann wäre er nicht nur seinen Job los und nebenbei jede Chance, jemals wieder in seinem erlernten Beruf zu arbeiten, man würde ihn auch anklagen und kräftig zur Kasse bitten. Die Schulden würde er sein Lebtag nicht mehr loswerden.

Bei dieser Vorstellung stieg ihm Schmerz in die Schläfen. Besser nicht darüber nachdenken.

Auf einem Supermarktparkplatz in Zwiesel wartete wie versprochen Verstärkung auf sie. Weckmann sprang nur kurz aus dem Auto, um sich mit ihm abzusprechen, dann hängte Achim sich ohne weiteres Geplänkel mit seinem SUV hinter sie und folgte ihnen.

Die Fahrt zog sich endlos. Während Matunnos sich in einer geraden Linie nach Osten durch den Wald geschlagen hatte, mussten sie mit den Autos einen gewaltigen Umweg auf sich nehmen. Von Zwiesel aus ging es nach Norden, bis sie bei Bad Eisenach die Grenze überqueren konnten, nur um auf der anderen Seite fast dieselbe Strecke zurück nach Süden zu fahren. Dass Mark sich den Rücksitz mit dem gewaltig großen und noch gewaltiger trainierten Polizisten namens Fuchs teilen musste und sie beide nicht recht wussten, wie sie ihre Beine sortieren sollten, machte es nicht besser.

Kurz vor dem tschechischen Dörfchen Kvilda bogen sie endlich auf einen Wanderparkplatz ein und stiegen aus. Sofort kam Achim zu ihnen und begrüßte sie reihum. Zuletzt ging er auf Mark zu und umarmte ihn zu dessen Überraschung kurz und kräftig.

»Dumme Situation, was? Aber das wird schon werden«, verkündete er im Brustton der Überzeugung. »Wir finden ihn. Kann ja nicht angehen, dass wir den Kollegen erst mühsam aufpäppeln und hinterher wieder verlieren.«

Weckmann sah interessiert von einem zum anderen. »Ach, Sie kennen sich? Und den Bären auch, Dr. Menzel?«

»Ja, ich bin ab und zu im Park unterwegs, und Dr. Lindner hat mich vor einer Weile wegen Matunnos konsultiert. Wir haben ihn gemeinsam operiert.« Achim lächelte. Dieses Mal war Mark immun gegen das Kinngrübchen, das ihn früher manches Mal zu dem einen oder anderen sehnsüchtigen Gedanken verleitet hatte. »Er war unser Sorgenkind. Daher hat es mich auch nicht gewundert, dass er es ist, der jetzt frei rumläuft. Matunnos zieht Pech an wie Motten das Licht.«

Die beiden anderen Polizisten hatten sich inzwischen ein Stück von ihnen entfernt und mit wachsamen Blick das umliegendene Gebüsch gesichert. Weckmann winkte sie zu sich zurück, um eine kurze Lagebesprechung abzuhalten.

»Dr. Menzel, meinen Informationen zufolge haben Sie ein Betäubungsgewehr? Gut, dann seien Sie so nett und machen es gleich bereit. Aber eben für Sie auch noch einmal zu den Fakten: Der Bär…« Er korrigierte sich. »… Matunnos war hier an der Sitzgruppe zugange, als ein Lastwagenfahrer ihn entdeckt hat. Der Mann hat natürlich den Schreck seines Lebens bekommen und beinahe die Leitplanke rasiert.« Er wies auf eine Reihe schwarzer Bremsspuren auf dem Asphalt. »Nachdem er den LKW wieder unter Kontrolle hatte, hat er im Rückspiegel gesehen, wie Matunnos wieder im Wald verschwunden ist. Wo genau, konnte er nicht sagen, aber die Stelle müsste sich ja finden lassen.«

»Na, wo so ein dicker Hintern durchgeht, brechen bestimmt ein paar Bäume«, warf Spieker – ein untersetzter Kerl mit prominenten, raupenartigen Brauen – feixend ein. Er hatte seine Dienstwaffe gezogen, hielt sie aber so locker, als handelte es sich um eine Wasserpistole. Besonders aufgeregt wirkte er nicht. Dasselbe galt für Fuchs, der sich neugierig umschaute und fast den Eindruck machte, als hoffte er sogar, dass Matunnos auftauchte und ihnen eine Show lieferte.

Heimlich fragte Mark sich, ob Weckmann bewusst dieses Team so zusammengestellt und ebenso bewusst Schmitt im Park zurückgelassen hatte. Wenn ja, war er dem Mann dankbar.

»Ich spreche jetzt eben noch mal mit der Leitstelle, dann können wir los. Niemand entfernt sich bitte weiter als zehn Meter von der Gruppe, das gilt besonders für Sie, Mark. Bei aller Fürsorge für Ihren Schützling möchte ich nicht, dass Sie zu Bärenfutter verarbeitet werden.«

Nachdem Achim das Narkosegewehr vorbereitet hatte, stellte sich doch eine gewisse Anspannung in der Gruppe ein. Selbst Mark konnte sich nicht davon freimachen. Sein Verstand konnte ihn hundert Mal daran erinnern, dass Matunnos gar nicht hier war, es half nicht: Als sie gemeinsam loszogen, dröhnte ihm der Herzschlag in der Brust wie eine Bronzeglocke.

Es dauerte nicht lange, bis sie einen deutlichen Hinweis entdeckten. Aufgeworfenes Laub bildete eine geschwungene Linie, die auf einen niedrigen Steilhang zuführte. Es sah fast aus, als wäre Matunnos bewusst geschlurft, um eine möglichst breite Spur zu hinterlassen. Mark hoffte, dass es so war und dass keine andere Ursache hinter seinem plumpen Gang steckte.

Den Steilhang selbst hatte Matunnos an einer Stelle geradezu massakriert. Seine Tatzen hatten tiefe Furchen in das weiche Gemisch aus Erde und Lehm gegraben. Wo er sich abgestützt hatte, waren büschelweise Gräser ausgerissen worden.